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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Disneyland für Patrioten

    Disneyland für Patrioten

    Gerade ist wieder ein Zeppelin mit neuen Gästen aus Moskau gelandet, der Panorama-Panzerzug mit Boden-Luft-Rakete schaukelt Besucher durch den Park, während der Reichstags-Nachbau erstürmt wird oder auf der maßstabsgetreuen Kopie des Roten Platzes eine Übung für die Militärparade am 9. Mai stattfindet – so könnte es demnächst aussehen im Freizeitpark Patriot, den das russische Verteidigungsministerium derzeit vor den Toren Moskaus errichten lässt. Was man auf dem über 5000 Hektar großen Gelände (25 Mal der Berliner Tiergarten) als Besucher bereits geboten bekommt, berichtet Dimitri Okrest auf Snob:

    „Wir müssen unsere Zukunft auf ein stabiles Fundament stellen. Ein solches Fundament ist der Patriotismus. Selbst wenn wir noch so lange darüber debattieren würden, was für ein Fundament, welche feste moralische Basis unser Land haben könnte, wir würden auf nichts Anderes kommen“, erklärte im September 2012 auf einem Empfang für die Jugend in Krasnodar Wladimir Putin. 

    Jetzt zieren die Worte des Präsidenten ein Werbeplakat an der Autobahn M1, das für den Park Patriot wirbt. Der Park ist zwar erst zu 10 Prozent fertig, empfängt aber schon Besucher. Das Getöse hier flaut nie ab, und jetzt ist auch noch der Lärm der Bagger dazugekommen. Die Fläche des Parks beträgt 5500 Hektar, 100.000 Quadratmeter davon sind mit Ausstellungspavillons bebaut. Der Park soll 20.000 Patrioten täglich begrüßen können – ihnen zuliebe wurde der angrenzende Wald für 6000 Autoparkplätze niedergewalzt. Vorläufig kommen jedoch in halbleeren Marschrutkas meist zentralasiatische Bauarbeiter.

    „Ich war früher Lehrer, er war Musiker und der da Arzt. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion arbeiten wir aber alle mehr mit Schaufel und Beton M-300“, erzählt Abdugan, der seit Anfang des Jahres am Park mitbaut.

    Abdugan muss das Projekt zusammen mit seinen Landsleuten bis 2020 vollenden, Verstärkung ist vorhanden: In den Wäldern der Umgebung sind 650 Einheiten von Militärgerät und zwei Baubrigaden stationiert. Die Baustelle, so die Bewohner der umliegenden Dörfer, ist auch nachts in Betrieb. Im Frühling hat Abdugan das „Partisanendorf“ fertiggestellt. Das ist die bisher einzige fertiggestellte Attraktion – bis zu diesem Zielpunkt rumpelt die Marschrutka durch Morast und Bauschutt.

    In der Partisanenhütte hängt ein Foto Stalins an der Wand – Fotos © Dimitri Okrest
    In der Partisanenhütte hängt ein Foto Stalins an der Wand – Fotos © Dimitri Okrest

    Ein Security in schwarzer Uniform rückt sein Barett zurecht. Pünktlich um 10:00 Uhr öffnet er das Tor zum Park. Dann steht er wie erstarrt an der Metalldetektorschleuse und wartet auf Besucher. Gegen 10:00 Uhr fegen die einen Usbekinnen alles zum x-ten Mal durch, während die anderen ihre Plätze an der Kasse einnehmen. Es gibt noch gar keine offiziellen Eintrittskarten in den Park, doch einzelne Gäste schauen schon mal vorbei.

    Partisanen-Darsteller in Rotarmisten-Uniform

    Das Vergnügungs-Partisanendorf soll den Alltag der Untergrundkämpfer zeigen und dem Betrachter das Gefühl geben, dabei zu sein. Die Partisanen hier versuchen, die historische Wahrheit treu nachzustellen – in den Erdhütten liegen Wattejacken, die Bücher sind auf die 30er Jahre datiert. Entlang der makellosen Blockhütten aus noch nicht nachgedunkeltem Holz spazieren Widerstandskämpfer in Rotarmisten-Uniform herum. Auf dem Kopf ein Schiffchen und an den Füßen ungeachtet der brütenden Hitze hohe Stiefel. Ist ja schnurzpieps, dass die Partisanen von Brjansk damals eher wie Bauern und nicht wie Kämpfer der Roten Armee aussahen.

    Hier gibt es einen Keller mit Gurkengläsern und gekeimten Kartoffeln, eine Rote Ecke mit einer Lenin-Büste, einen Stall für sechs Kaninchen, eine Banja und ein Gasthaus. Irgendwo im Abseits finden sich Eisenbahnschienen, an denen Schülern einer Diversantenschule gezeigt bekommen, wie man dort Dynamit befestigt, um deutsche faschistische Okkupanten in die Luft zu jagen.

    „Was ist denn das für ein Keller?“, fragt ein kleines Mädchen, auf Papas Schoß in einer Erdhöhle sitzend.

    „Hier lebten die Onkel und Tanten Partisanen. Damals war ein grooooßer Krieg. Es gab keine Freundschaften, alle haben gekämpft.“

    „Und wer ist das auf dem Foto?“ Die Kleine zeigt auf das Portrait Josef Stalins, das in jedem Bunker hängt.

    „Das ist ein Foto von Stalin, der aaaalle anführte.“

    „Und wo ist dann das Foto von Putin?“

    Armee-Merchandise und Grütze mit Dosenfleisch

    Zwischen Dynamit-Attrappen, Landkarten und Aluminiumgeschirr leuchtet ein LCD-Fernseher, die Stimme aus dem Off erzählt: „Während die Partisanen von Putywl bis in die Karpaten vordrangen, änderten sie die Taktik. Sie verübten nicht mehr nur Anschläge und Sabotageakte, sondern hatten nun genügend Schlagkraft, um die faschistischen Truppen in deren Hinterland zu treffen. Sie befreiten Dörfer und sogar Städte, in denen sie die bittere Wahrheit über die Brutalität der Besatzer zu hören bekamen.“

    „Die Magnet-Buttons mit der Topol-M kosten 300 Rubel [4 Euro], die T-Shirts mit dem Partisanen-Opa 1000 Rubel [13,70 Euro]“, sagt die Verkäuferin in ihrer grünen Uniform müde. Zu Mittag ist die Hitze sogar im Wald unerträglich.  

    Schülern einer Diversantenschule wird gezeigt, wie man mit Dynamit die deutschen Okkupanten stoppt
    Schülern einer Diversantenschule wird gezeigt, wie man mit Dynamit die deutschen Okkupanten stoppt

    Die Verkäuferin hängt gelangweilt am Ausgang des runden Shops herum, der wie eine Hobbithöhle aussieht, niemand steht nach den Spielzeugsoldaten Schlange. Bei großen Veranstaltungen wurden hier schon massenweise Putin-T-Shirts und Schokokonfekt der Sorte Höfliche Bärchen verkauft, doch heute gibt es die nicht. Seufzend erhebt sich die Verkäuferin bei jedem, der hereinkommt, von ihrer Bank, wartet, bis er wieder geht, und kehrt dann zu ihrem Buch zurück. Über dem Dorf ertönt das Lied des Fahrers an der Front:

    Keine Bombe kann uns schrecken,
    Zum Sterben ist’s zu früh –
    Wir haben zuhaus noch was vor.

    Der hier herumsitzende Partisan lässt sein Smartphone in der Jackentasche verschwinden und drückt die soundsovielte Zigarette aus. Gott sei Dank muss er sich nicht der historischen Authentizität zuliebe Papirossy aus Bauerntabak drehen. Da er als Partisan die ungeschriebenen Gesetze des Parks befolgen und genau wie ein Kellner immer beschäftigt wirken muss, verkrümelt er sich in die Küche – die Glut schüren. Aus der Soldatenkantine, in der eine große Familie mit stämmigen Kindern Platz genommen hat, ist soeben die Bestellung eingegangen:

    „Fünf Mal Würstchen. Schön saftige! Und die Soldaten-Grütze, was ist das? Buchweizengrütze mit Dosenfleisch? Na, dann auch fünf Mal. Wo steht denn der Samogon? Kriegt man hier hundert Gramm, wie an der Front?“

    Der Partisan eilt zum Kohlegrill, das Fleisch braten, und jetzt stellt er plötzlich nicht mehr die Zeit des Zweiten Weltkriegs nach, sondern die 1990er, in denen rechtlose „Geister“ auf die Datschen der Generäle geschickt wurden, um dort private Dienste zu verrichten.

    „Die Gestaltung beruht durchgehend auf dem maximalen Einsatz patriotischer Symbolik“

    Am Rand des Kiefernwaldes donnern Salven: Besucher vergnügen sich beim Schießen mit entschärften Gewehren. Ihnen stehen zur Verfügung: ein Dragunow-Gewehr, Kalaschnikows AK-47 und AK-103, eine Mossinka und eine Witjas Maschinenpistole PP-19-01. Strahlend lächeln Mädchen mit umgehängten Maschinengewehren in die Kameras.

    Der Schießanleiter Nikolai sieht begeistert in die Zukunft und verspricht, dass die langersehnten Parkbesucher bald mit einem Zeppelin aus Chimki hertransportiert werden. Für die Mobilität vor Ort werden Segways und eine Panoramabahn auf Schienen sorgen. Während man im Disneyland von Paris in einer Eisenbahn im Stil des 19. Jahrhunderts durch die Landschaft zieht, lädt man die Gäste des patriotischen Lunaparks zur Fahrt in einem Panzerzug mit Boden-Luft-Rakete in einem der Waggons ein.  

    Im Torpedoanhänger werden Snickers in russischer Armeequalität verkauft
    Im Torpedoanhänger werden Snickers in russischer Armeequalität verkauft

    Im Januar 2015 stand hier noch ein Wald: Die Frösche quakten im Sumpf, im nahen Waldort Sjukowo sammelte man Morcheln. Jetzt ziehen Bauarbeiter eine „Stadt der Militärberufe“ in die Höhe. Im Luftfahrtsektor wird es Flugsimulatoren geben, im Sektor der Kriegsmarine echte Schiffe, bei den Luftlandetruppen ein Übungsfeld für Soldaten und Besucher. Geplant sind auch Sektoren für den Generalstab, die Bodentruppen, Raketentruppen und die Weltraumverteidigung.

    „Dieser Sektor soll der heranwachsenden Generation Patriotismus beibringen, mit einem Thema, das Kinder fasziniert: der Weltraum. Die Gestaltung beruht durchgehend auf dem maximalen Einsatz patriotischer Symbolik. Aufgabe aller Sektoren ist es, künftige Vertragssoldaten und Wehrpflichtige anzuziehen. Im Zentrum des Parks befinden sich die Alexander-Newski-Kirche und die Allee der Helden aller Kriege, die der russischen Armee Ruhm gebracht haben“, heißt es in einem Werbefilm auf Youtube. Ob da auch Teilnehmer an den Kampfeinsätzen in Afghanistan, Tschetschenien, Georgien und Syrien geehrt werden, bleibt unerwähnt. Nebenan wird es ein 3D-Kino geben, wo man die Brester Festung verteidigen oder Sturm auf Berlin nehmen kann.

    Eine Kopie von Kreml und rotem Platz für Militärparaden

    Das Militär wird einen eigenen Kreml mit Mausoleum und Lobnoje Mesto haben – sie wollen im Maßstab 1 : 1 den Roten Platz mitsamt dem Historischen Museum, der Basilius-Kathedrale und dem GUM nachbauen. Die Idee ist, dass dieses gigantische Modell während der Proben für die Parade zum Tag des Sieges am 9. Mai die Hauptstadt entlasten soll. Im Winter soll es hier eine Eisbahn geben, auf der dann Eishockey-Turniere stattfinden, wie sie – seiner aktiven Teilnahme an der Nachthockeyliga nach zu schließen – der Oberste Befehlshaber gern hat.

    Alles passiert unter Zeitdruck: Das Kongresszentrum Patriot-Expo, wo moderne Technik ausgestellt ist und neue Gebäude aus dem Boden wachsen, erinnert an Sotschi vor den Olympischen Spielen. Letzten Sommer fand hier die dreitägige Messe Armee – 2015 statt, auf der 300 Kriegstechnik-Exponate von 1500 einheimischen Herstellern präsentiert wurden. Laut Wjatscheslaw Presnuchin, dem Chef der Abteilung für Wissenschaft und Forschung im Verteidigungsministerium, besteht das wichtigste Ziel darin, Hersteller und Anwender militärischer Produkte an einem Ort zusammenzubringen. Das scheint die ehrlichste Beschreibung der Idee hinter diesem Park zu sein.

    Das Maschinengewehr des Schützenpanzers BTR-60 weist in Richtung Westen
    Das Maschinengewehr des Schützenpanzers BTR-60 weist in Richtung Westen

    Über die gesamte Wand des Kongresszentrums erstreckt sich ein Bildschirm – darauf ein Countdown der Tage bis zu den nächsten Konferenzen. Dann leuchten die Gesichter Putins, Medwedews und Schoigus auf – doch weil der Bildschirm defekte Stellen hat, kann man die oberste Führung nicht sofort erkennen. Die VIP-Gesichter werden von muskelbepackten Kerlen abgelöst, die mit Waffen aller Art schießen, mit Fallschirmen aus Hubschraubern springen und Extremisten liquidieren. Auf dem Dach des Gebäudes funkelt rubinrot ein Stern.  

    Die sich träge fortbewegenden Besucher werden von noch trägeren Wachleuten beobachtet. Die dürfen weder lesen noch rauchen noch Sonnenblumenkerne knabbern. Doch was macht man, wenn man die nächsten acht Stunden absolut nichts zu tun hat? Schatten ist hier auch keiner, also schmoren sie in der Sonne und kaufen sich einer nach dem anderen ein Eis. Und fragen einander per Funk:

    Eskimo am Stiel oder ein Hörnchen?“

    Eis wird von einer Usbekin in einem grünen, torpedoförmigen Anhänger der     Militärhandelsorganisation mit der Aufschrift „Armeequalität“ verkauft. Jeden Tag beginnt sie damit, Snickers, Twix und Mineralwasser der Marke Armee auszulegen. Dann bereitet sie gemächlich Hotdogs (150 Rubel [2 Euro]) und Pommes (50 Rubel [70 Cent]) zu.

    „Möchten Sie nicht vielleicht eine Einmannpackung Militärverpflegung? Nur 700 Rubel [9,60 Euro]! Ganz echt – mit Dosenfleisch, Dosengemüse, Knäckebrot, Fruchtgelee und Schokocreme. Außerdem Streichhölzer, die sogar unter Wasser brennen“, preist die Verkäuferin ihre Ware an. Fotos genau solcher Packungen, die bei Donezk weggeworfen worden waren, haben ukrainische User in sozialen Netzwerken verbreitet. Sie waren für sie ein Beweis, dass die Armee des Nachbarlandes am Konflikt mitmischt.   

    Die Läufe aller Waffen weisen Richtung Westen

    Gleich in der Nähe stehen das Raketensystem Topol [dt. Pappel], eine Panzerfähre auf Ketten und ein Brückenlegefahrzeug. Von der Größe her erinnern sie an kämpfende Ents, die wandelnden Bäume aus Herr der Ringe. Angesichts solcher Riesen wirken die Menschen auf dem Platz wie Zwerge. Neben den Giganten steht das Flugabwehrraketensystem Buk [dt. Buche] – für den Kampf gegen bewegliche aerodynamische Ziele auf geringer und mittlerer Höhe, wie es auf dem Schild heißt. Wahrscheinlich das einzige Modell dieses Flugabwehrraketensystems, das Laien je zu Gesicht bekommen. Das Selbstfahrgeschütz in der Größe eines Lastwagens erlangte im Sommer 2014 Berühmtheit, als eine malaysische Boeing 777 in der Ostukraine vom Himmel fiel.

    Über dem leeren Platz, auf dem Panzer, Schützenpanzer, Kampfjets und anderes Kriegsgerät aufgereiht sind, erschallt eine Melodie, die wir aus Filmen über den Großen Vaterländischen Krieg kennen:

    Die Hütte von Feinden verbrannt  
    Die ganze Familie vernichtet.
    Wohin soll jetzt der Soldat,
    Wem seine Trauer klagen?

    Bis auf die Gedenk-Tracklist und die Georgsbändchen an den Zäunen fehlt das, was man patriotische Symbolik nennt, fast vollständig. Im Patriotenpark ist vorerst alles einfach, wie beim Militär: Das hier ist ein Panzer, der kann schießen und schwimmen. Vor jedem Modell sind akribisch genau seine technischen Daten angeführt – Maße, Geschwindigkeit, Kraftstoffreserve, Standardmunition. Wie viele Menschen damit auf einen Schlag getötet werden können, ist nicht angegeben.    

    „Hey, das sieht echt super aus, wow. Stell dich dazu und leg die Arme um sie“, sagt ein Typ zu seiner Freundin, das Handy knipsbereit. Parallel dazu streicht ein Hobbyfotograf über einen Schützenpanzer BTR-60 mit Frontpanzerung und Strahlenschutz.

    Das Maschinengewehr des BTR weist, wie alle Läufe im Vergnügungspark Patriot, Richtung Westen.

     
    Werbefilm für den Militärpatriotischen Park „Patriot

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  • Noworossyrija – Freiwillig für Assad in den Krieg

    Noworossyrija – Freiwillig für Assad in den Krieg

    Wie schon in der Ukraine sind auch in Syrien russische Kämpfer als Freiwillige am Konflikt beteiligt. Die Vermittlung dieser Kräfte übernehmen spezielle Agenturen im Internet. Das russische Portal The Insider, das vornehmlich Informationen aus schwer zugänglichen Quellen sowie geleakte Dokumente veröffentlicht, hat mit dem Vertreter einer solchen Vermittlungsagentur gespochen. Dabei entstand ein Interview, das seltene Einblicke in diese fast unbekannten Abläufe gewährt.

    Wir veröffentlichen das Material einschließlich des redaktionellen Vorspanns von The Insider.

    Nachdem in der Süd-Ost-Ukraine eine relative Waffenruhe eingetreten ist, hat sich Russland auf einen neuen Krieg zur Verteidigung des syrischen Dauerpräsidenten Baschar al-Assad eingestellt. Wie im Fall der Ukraine befinden sich an diesem Brennpunkt neben regulären Truppen auch Freiwillige. „The Insider“ berichtete bereits davon, wie deren Anwerbung für den Krieg in der Ukraine erfolgte. Jetzt wurden dieselben Mechanismen bei der Suche nach Freiwilligen im Krieg für Assad angewandt.

    Am 24. September kündigte dobrovolec.org [wörtl. Freiwilliger.org – dek] ein Auswahlverfahren für Interessenten an, die im Rahmen der „russischen heroischen Passion“ nach Syrien wollen, um dem „proamerikanischen oder religiös-extremistischen Regime Widerstand zu leisten“. Um für den Einsatz angenommen zu werden, muss man älter als 23 sein, eine Ausbildung im Umgang mit Schusswaffen haben, eine suchtmedizinische Unbedenklichkeitsbescheinigung und Angaben zu den nächsten Verwandten vorlegen.

    Wie viele russische Kriegsfreiwillige in Syrien tatsächlich im Einsatz sind, wie sie mit Assads Regierungstruppen kooperieren und warum durchaus nicht jeder, der in der Süd-Ost-Ukraine im Einsatz war, nun gegen die Dschihadisten kämpfen darf, erzählt einer der Koordinatoren von dobrovolec.org, hier unter dem Namen Kirill.

    Warum hat Ihr Projekt eine neue Richtung genommen?

    Wir haben das Programm erstmal dichtgemacht, zumindest vorübergehend. Schon seit einigen Tagen ist das Auswahlverfahren gestoppt – für die wichtigsten Gebiete der Organisation waren die Kontingente voll. Wir sehen das so: Es gibt eine Front, es gibt da Arbeit, warum also nicht hinfahren? Ich denke, der Bedarf wird sich in nächster Zeit verdoppeln. Wenn sich die Front ausweitet, braucht man mehr Fachleute. Nach diesem für die Verhältnisse der syrischen Armee derart erfolgreichen Angriff kann das jetzt durchaus so kommen. Also, sagen wir mal, jetzt werden Fachleute für die Panzerabwehr gebraucht. Später sinkt der Bedarf dann wieder …

    Mit der Vorbereitung Richtung Syrien haben wir Ende des Sommers begonnen, aber die Front Noworossija hat nach wie vor Priorität – in Prozenten ausgedrückt beansprucht die neue Richtung nur 5 Prozent unserer organisatorischen Kapazität und null der materiellen. Alles ist auf Noworossija und die angrenzenden Gebiete abgestimmt.

    In welchen Teil von Syrien gehen diejenigen, die Ihre Dienste in Anspruch nehmen?

    Geografisch kann ich das nicht sagen. Das wird alles geheimdienstlich kontrolliert – da wird ja schließlich geschossen. Die ausgewählte Truppe arbeitet eng mit der Regierungsarmee zusammen, aber auch Russen haben direkte Befehlsgewalt. Ja, letztlich stehen sie unter Leitung des Befehlshabers Baschar al-Assad, aber sie sind ihm nicht direkt unterstellt.

    Wie das alles abläuft? Jemand schreibt uns: „Ich diene in der-und-der-Einheit der Volksrepublik Lugansk, kann bis zum so-und-so-vielten kündigen, möchte zwei Wochen zu meiner Familie und besorge dort gleich alle Papiere.“ Alles auf freiwilliger Basis – der Betreffende entscheidet selbst, ob er am nächsten Tag fährt oder nicht. Wir drängen schon darauf, dass sie länger bleiben, aber auch wenn es weniger als ein halbes Jahr ist, passt das – niemand wird dort festgehalten. Es gab schon Fälle, da wollten die Leute aus familiären Gründen weg, wenn irgendwas Schreckliches passiert war zum Beispiel.

    Was die Ausrüstung angeht, empfehlen wir das mitzunehmen, was jeder Profi sowieso hat – Schießbrille, Kolben, Visiere. Jeder nimmt das, woran er gewöhnt ist. Aber eine Schutzweste und eine Munitionstasche MOLLE sollte man dabeihaben. Für seine Verlegung muss der Betreffende nichts zahlen.

    Das heißt, die Transferkosten übernimmt die andere Seite?

    Das geht auf Kosten verschiedener Fonds, Spenden, also alles aus dem Wohltätigkeitssektor, kurz gesagt. Auch den Kurden haben wir ein paar Freiwillige geschickt, das war noch im Frühjahr. Aber das waren wirklich buchstäblich Einzelfälle – ein junger Mann aus Petersburg ging zu den YPG (Volksverteidigungseinheiten von West-Kurdistan). Er wollte die syrische Kultur kennenlernen, ein wenig kämpfen vielleicht, ja, und er hatte schon immer mit den Kurden sympathisiert. Er ist Orientalist, wollte gern Erfahrungen sammeln – wir konnten ihm Kontakte vermitteln. Mittlerweile ist er wieder in Russland. Die Kurden stellen keine ernstzunehmende Kraft dar. Wenn man von irgendeiner Art Organisiertheit sprechen will, dann sind sie das genaue Gegenteil – vom Niveau her eine schlichte Volksmiliz.

    Für den Fall einer Gefangennahme, ist da eine Versicherung vorgesehen?

    Es ist überhaupt nicht vorgesehen, dass sich jemand gefangennehmen lässt, schließlich sind die Leute nicht unmittelbar in der Nähe von gefährlichen Einsatzorten. Ein Techniker der Funküberwachung hält sich womöglich 300 Kilometer von einem gefährlichen Ort entfernt auf. Wir haben eine Karte, auf der die Gebiete eingezeichnet sind, wo man so etwas gern macht, Geiselnahmen, Sklavenhaltung. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt herrscht in diesen Gebieten keine derartige Gefahr. Aber sollte etwas passieren, dann wird was unternommen – wir brauchen die Fachleute ja selbst, warum sollten wir sie jemandem anders überlassen? Viel wahrscheinlicher ist es, dass Journalisten, von denen es dort weitaus mehr gibt, in so eine Lage geraten.

    Welche Motivation hat Ihre Klientel?

    Viele fahren aus patriotischen Beweggründen – sie waren im Ersten und Zweiten Tschetschenienkrieg, haben sich an den Antiterrormaßnahmen im Nordkaukasus beteiligt. Diese Menschen kennen das bärtige Gesicht des Feindes, und viele sind revanchistisch gestimmt, schließlich haben sie mit schon einmal mit solchen Rebellen gekämpft, vom gleichen Typ.

    Was sind das für Rebellen?

    In dem Fall eher Usbeken und Tadshiken, auch Tschetschenen. Solche, die in den 1990er Jahren [aus den russischen Teilrepubliken – dek] ausgereist sind, sich in Westeuropa niedergelassen haben und dann in der Ukraine im Bataillon Scheich Mansur und im Bataillon Dschochar Dudajew [auf ukrainischer Seite gegen die Russen – dek] gekämpft haben.

    Wir haben einen tollen Jungen bei uns, der hat von Ende Mai 2014 bis zum August im Gebiet um den Flughafen von Donezk gekämpft. Er ging nach Syrien mit den Worten: „Ich war noch nie da, aber eine aufregendere Last-Minute-Tour hätte ich nicht finden können!“ Die Leute sympathisieren schon rund fünf Jahre mit Assad – nicht mit seinen Ideen, nicht mit der Baath-Partei (Arabische Sozialistische Partei der Wiedererweckung), sondern weil dieser Mann der westlichen Aggression, den radikal eingestellten Bartträgern und sonstigem Unsinn Widerstand leistet. Und nun gibt es die Möglichkeit, dorthin zu gehen, und die Leute denken sich: „Vier Jahre lang habe ich Posts geteilt, ihn geliked, da muss ich ihm doch jetzt helfen.“

    Das Auftauchen des großen und schrecklichen IS hat eine Rolle gespielt, aber eine kleinere als für den durchschnittlichen Zuschauer. Die meisten von uns haben den Konflikt lange beobachtet und wissen, dass beim Thema IS viel Mythos ist, der unbesiegbare Staat, die haben ja selbst ein solches Medienbild geschaffen, alles ein bisschen an den Haaren herbeigezogen. Der IS kontrolliert einen riesigen Medienraum, und den füllen sie mit einzigartigen Inhalten.

    Das Projekt nennt sich dobrovolec.org [Freiwilliger.org], arbeiten die Menschen im Fall von Syrien tatsächlich nur aufgrund ihrer Motivation oder bekommen sie ein Honorar?

    Das kann ich nicht sagen. Wir zahlen niemandem etwas, schauen aber später auch niemandem in die Tasche. Allerdings ist es ein wichtiges Kriterium – wenn jemand in seinen ersten Briefen schreibt, dass er einen bestimmten Lohn in bestimmter Frist braucht, dann lehnen wir ihn ab. Solche Anfragen gab es ziemlich häufig, aber im Wesentlichen sind das so Freundchen, die uns überhaupt nicht interessieren.

    Das sind zwanzigjährige Jungs, die sich für coole Kämpfer halten, die sehen aus wie Agenten oder Supersöldner aus einem Hollywoodfilm. Aber sie haben keine ernstzunehmenden Erfahrungen, keine Ausbildung – das sieht man in den ersten Zeilen ihrer Briefe. Es gibt viele Abenteurer, die sich nicht nur auf europäischem Territorium aktiv dabeisein wollen, sondern auch an exotischen Orten. Aber wir können ihnen keine wilden Partys bieten – die Arbeit hier ist einigermaßen ernst und in gewisser Weise eine sitzende Tätigkeit.

    Treten Leute aus Ihrer Organisation als Ausbilder auf?

    Naja, Ausbilder für irgendeine Spezialeinheit auf nicht-militärischer Ebene können sie schon sein. In Syrien waren unsere Berater in den letzten fünfzig Jahren gelegentlich, aber konkret habe ich nie gehört, dass unsere Leute unmittelbar die Armee ausgebildet hätten.

    Wie viele Menschen, die von Ihnen kommen, befinden sich insgesamt in Syrien?

    Das kann ich nicht sagen.

    Mehr als hundert oder weniger?

    Mehr als hundert, aber nicht sehr viel mehr. Worin der Unterschied zur Rekrutierung nach Noworossija liegt? Dort zählten sowohl Quantität als auch Qualität. Wir mussten damals die goldene Mitte finden, hier haben wir ein solches Problem nicht – Massen sind hier nicht gefragt. Es werden nur Profis ausgewählt, die wirklich gebraucht werden. Deswegen schicken wir nicht mal welche in Reserve, sondern nur so viele, wie wirklich gebraucht werden.

    Wurden viele von denen abgelehnt, die sich beworben haben?

    Von 40 Personen lehnen wir 39 ab. Man muss das Auswahlprinzip verstehen – es ist nicht das Ziel, so viele wie möglich zu finden, es gibt genügend, die kämpfen wollen. Unsere Leute sind nicht nicht direkt an Kampfhandlungen beteiligt, kurz, sie rennen nicht mit Maschinengewehren herum. Unsere Aufgabe ist, grob gesagt, mit Grips zu helfen und nicht mit Händen. Dort fehlen Militärexperten, echte Profis.

    Das an Militärakademien ausgebildete Offizierskorps der syrischen Armee kann es mit unseren jungen Offizieren nicht aufnehmen – das ist ein völlig anderes Niveau. Es fehlt dort an Personal für Hochtechnologie-Anlagen, die mit der Technik umgehen können, an Analytikern. Wenn man kein Profi ist, kann man zum Beispiel viel weniger aus Aufklärungsdaten herauslesen – da fehlt es einfach an der Ausbildung.

    Verstehe ich es richtig, dass alle, die dorthin gehen, Offiziere sind?

    Bei weitem nicht jeder, der dorthin geht, ist Offizier. Natürlich geben wir den Absolventen von Militärakademien den Vorzug, aber es gibt auch solche, die keine militärische Hochschulbildung haben, aber eine Hochschulbildung haben natürlich alle. Oft kann man das durch vielfältige militärische Erfahrungen kompensieren. Manche haben Kampferfahrung aus Noworossija – von denen kommen sehr viele Bewerbungen. Von denjenigen, die wir jetzt nach Syrien schicken, waren 30 bis 40 Prozent in Noworossija. Jetzt sind sie in Syrien, weil dort die Lage eben allgemein unklar ist.

    Und warum sind es so wenige? Reicht die Qualifikation nicht?

    Zum einen ja. Das sind schließlich völlig unterschiedliche Kriege. Können Sie sich vorstellen, welche militärischen Aktionen in Noworossija durchgeführt wurden und wie sehr sie sich von denen im Nahen Osten unterscheiden? Außerdem hat der IS Raketenwerfer, Panzer, Haubitzen – die sind alle genauso veraltet wie die der syrischen Armee, aber klar, in der letzten Zeit wird da erneuert. Aber auch hier gibt es Mangel – es fehlt nach den Luftangriffen an Profis. Die Europäer, die auf Vertragsbasis im Islamischen Staat gearbeitet haben, sind jetzt wieder zu Hause, weil die Summen, die sie bekommen, es nicht wert sind, sich umbringen zu lassen.

    Gibt es vor dem Hintergrund der Waffenruhe immer noch die gleiche Zahl von Freiwilligen, die in die Gegend westlich von Rostow wollen?

    Sie ist geringer geworden im Vergleich mit den Kämpfen von Debalzewo im Januar und Februar, aber der Zustrom ist recht groß, auch wenn das Interesse zurückgegangen ist. Jetzt lehnen wir die Leute oft selbst ab – wenn jemand nur einfacher Schütze ist, hat er da nichts verloren. Dann kann er da höchstens Wache schieben, aber wen interessiert das schon? Dann sagen wir ihm das auch so – du wirst doch höchstens auf der Wache sitzen.

    Wir stehen in Kontakt mit denen, die schon wieder zurück sind, und bei einer Wiederaufnahme irgendwelcher militärischen Handlungen werden sie schnell mobilisiert. Das geht dann alles viel schneller – wir können nach kürzester Zeit alle Positionen besetzen. Etwas anderes sind Ausbilder, die einen intellektuellen Beitrag leisten wollen, die sind bei uns immer willkommen. Aber wenn jetzt jemand dorthin fährt, um zu kämpfen, und in seinem Bereich gibt es keine Einsätze, was soll er dann machen? Warum soll man zur Arbeit gehen, zum Beispiel in ein Büro oder sagen wir in einen Schützengraben, wenn es nichts zu tun gibt?

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