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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Warum sind so viele Russen für den Krieg?

    Warum sind so viele Russen für den Krieg?

    Vor über einem Monat startete Russland den Angriffskrieg in der Ukraine. Die ganze Welt verfolgt heute quasi in Echtzeit die Kämpfe um Mariupol und Charkiw, sieht die Morde an der Zivilbevölkerung in Butscha. Und in Russland? Wie nehmen dort die Menschen die Ereignisse wahr – gerade auch angesichts der massiven Propaganda und Zensur? Wie wirkt sich all das auf die Umfragewerte aus?

    Denis Wolkow, Direktor des unabhängigen Umfrageinstituts Lewada-Zentrum, analysiert auf Riddle aktuelle Umfrageergebnisse, wonach mehr als 80 Prozent den Krieg in der Ukraine befürworten.



    Umfragen zeigen, dass ein Großteil der Befragten den Einsatz der russischen Streitkräfte in der Ukraine unterstützt. Dabei ist die Mehrheit – 53 Prozent – „eindeutig dafür“, während 28 Prozent angeben, „eher dafür“ zu sein. Rund 14 Prozent der Russen sind dagegen, weitere sechs Prozent wussten es nicht.

    Die Unterstützung ist groß, aber nicht homogen

    Etwa die Hälfte der Bevölkerung lässt sich zur Gruppe der eindeutigen Befürworter zählen – sie zweifeln nicht an der Richtigkeit des Geschehens, weisen Kritik an der russischen Führung sowie den Streitkräften zurück, und die Ereignisse erfüllen sie mit Stolz auf ihr Land. In dieser Gruppe ist die Haltung besonders entschlossen, die Befragten sind am ehesten bereit, das Ganze als einen „Kampf gegen Nationalisten“ zu sehen, als „notgedrungene Maßnahme“, „Präventivschlag“ und „Verteidigung gegen die NATO“. Sie stellen die Berichterstattung der staatlichen Medien praktisch nicht infrage, glauben bereitwillig den Erklärungen von Wladimir Putin, der in dieser Gruppe die größte Unterstützung hat. Die Befragten dieser Kategorie betonen, das Geschehen sei nichts anderes als eine „Spezialoperation“, weil „wir nichts erobern, sondern [die Ukraine – dek] von Nazis und Faschisten befreien“, weil dort sonst „alles dem Erdboden gleichgemacht und niemand überleben würde“ oder „weil Wladimir Wladimirowitsch das so sagt. Und ich glaube ihm.“

    Gefühle wie Unsicherheit, Angst oder Grauen

    Unter den Befragten, die das Vorgehen des russischen Militärs „eher befürworten“, ist die Unterstützung weniger eindeutig, es gibt gewisse Vorbehalte: Im Vergleich zur ersten Gruppe werden hier doppelt so häufig Gefühle wie Unsicherheit, Angst oder Grauen angesichts der Ereignisse genannt, das Gefühl von Stolz ist deutlich geringer ausgeprägt. Für diese Gruppe ist die „Spezialoperation“ in erster Linie durch den Wunsch motiviert, die russischsprachige Bevölkerung zu schützen. Sie verfolgen die Ereignisse nur halb so oft, die Unterstützung für die Regierung ist hier, genau wie das Interesse an Politik insgesamt, geringer. In dieser Kategorie sind Aussagen wie diese typisch: „Ich würde das gerne nicht unterstützen, aber es muss sein, es gibt keinen anderen Ausweg mehr … Acht Jahre lang haben sie Luhansk und Donezk bombardiert … Mir wäre lieber, es gäbe keinen Krieg und die, die das Sagen haben, würden das Problem friedlich lösen … Aber es funktioniert nicht“, kommentierte eine Teilnehmerin bei der Umfrage im März ihre Antwort.

    Wie auch bei Wahlforschungen lässt sich auch hier ein großer Teil der Befragten zum sogenannten „Sumpf“ zählen: Typischerweise vertreten sie weniger eindeutige Ansichten und tendieren dazu, sich der vorherrschenden öffentlichen Meinung anzuschließen und der offiziellen Linie. Ein Teil tut das nach dem Motto: „Nicht, dass noch was passiert.“ Aber zu sagen, dass sie alle „in Wirklichkeit“ anders denken, eigentlich in der Opposition sind und nur Angst haben zu antworten, wäre falsch. Sie sind immer noch dafür, wenn auch mit Einschränkungen.

    Eine Generationenfrage?

    Unter den Gegnern der „Spezialoperation“ sind überproportional viele junge Menschen (obwohl es nicht nur die junge Generation ist), Menschen, die in Moskau und in anderen Metropolen leben, und solche, die sich über das Internet und Telegram-Kanäle informieren. In dieser Gruppe finden sich deutlich weniger ältere Menschen, Fernsehzuschauer und Putin-Anhänger. Das ist der Teil der russischen Bevölkerung, der weniger abhängig ist vom Staat, eine kritischere Einstellung gegenüber der russischen Regierung vertritt, gegen die Verfassungsänderungen 2020 gestimmt hat, die Opposition unterstützt und 2021 auf die Straße gegangen ist. Diese Menschen sind besser in die globale Welt integriert, sie haben Europa bereist und sind dem Westen gegenüber positiver eingestellt. Man kann also sagen, dass in der Haltung zur sogenannten „Spezialoperation“ im Grunde dieselben Widersprüche hervorgetreten sind, die in der russischen Gesellschaft schon lange bemerkbar sind.

    Für diejenigen, die nicht einverstanden sind mit den Ereignissen, kommt die Situation in der Ukraine einer Katastrophe gleich: Sie sprechen davon, dass man die menschlichen Opfer, den Tod von Zivilisten und die Zerstörung nicht hinnehmen dürfe; sie verurteilen die Einmischung in die Angelegenheiten eines anderen Staates. Vor allem junge Respondenten sprechen sich häufig grundsätzlich gegen jedes militärische Vorgehen aus. Den Konflikt mit der Ukraine und dem Westen empfinden sie als Zerstörung von Zukunftsperspektiven, persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten und der Entwicklung des Landes als Ganzem, als Abgeschnittenwerden von der globalen Welt. Es ist kein Zufall, dass unter den Emigranten der neuen Welle so viele junge, politisch aktive, englischsprachige Russen sind, deren Arbeit nicht an den Staat gebunden war.

    Meinungsstabilität

    Die verfügbaren Daten zeigen im Verlauf, dass die Unterstützung für die sogenannte „Spezialoperation“ anfangs geringer war: Sie lag etwa bei zwei Drittel (zwischen 65 und 68 Prozent). Bis zu einem Viertel der Befragten gab an, dagegen zu sein. Es ist wichtig hervorzuheben, dass die Haltungen in ihren Grundzügen bereits Mitte Februar, also noch vor dem Beginn des bewaffneten Konflikts, feststanden. Damals waren drei Viertel der Befragten überzeugt, dass die USA und die Ukraine für die Eskalation verantwortlich seien, nur ein Drittel äußerte Sympathien für die Ukraine. Die Unterstützung für Wladimir Putin lag laut Umfragen Mitte Februar bei 71 Prozent (Ende März waren es schon 83 Prozent). 

    Diese Zahlen spiegeln das Verhältnis der zwei Lager wider, die sich in den Umfragen von Anfang März gezeigt haben: Zwei Drittel waren bereits einverstanden mit der offiziellen Interpretation der Ereignisse und unterstützten die „Spezialoperation“, rund ein Viertel war dagegen. Die Veränderungen in der öffentlichen Meinung innerhalb des letzten Monats sind sichtbar, aber nicht gravierend.

    Russland vom Westen umzingelt

    Zumindest teilweise erklärt sich diese Meinungsstabilität damit, dass sich die Nachrichten zu den Ereignissen in der Ukraine in ein längst feststehendes Weltbild der Befragten einfügen. Diese Vorstellungen hatten sich über Jahre durch politische Präferenzen, Alltagserfahrungen und die jeweils konsumierten Informationskanäle geformt. So besteht für einen Großteil der Befragten, vor allem innerhalb der älteren Generation, kein Zweifel daran, dass der Westen unter der Führung der USA schon lange versucht, Russland zu schwächen und mit Militärstützpunkten zu umzingeln. Durch das Prisma der russisch-amerikanischen Feindschaft wurden sowohl der Georgienkrieg 2008 als auch der Ukraine-Konflikt 2014, die Militäroperation in Syrien und jetzt die „Spezialoperation“ betrachtet. Junge Menschen und Großstädter, die das Internet nutzen, vertreten solche Ansichten weitaus seltener.

    Nachrichten aus der Ukraine, die sich in das bestehende Weltbild einfügen, werden bereitwillig akzeptiert. Alles, was dem widerspricht – egal, wie schrecklich die Nachrichten sein mögen –, wird kategorisch als Lüge und feindliche Propaganda abgetan. In dem Maße, wie sich der internationale Konflikt verschärft, spitzt sich die Logik von „Freund oder Feind“ in Bezug auf die russischen und die ausländischen Medien zu. 

    Propaganda und Zensur 

    Bezeichnend sind hier Aussagen von Teilnehmern der Fokusgruppen, die die Kampfhandlungen unterstützen: „Wenn man sich die ausländischen Fernsehsender so anschaut – an Stelle des Durchschnittsamerikaners würde ich auch sagen: Was macht Russland da? Ich meine, es gibt so viel Desinformation!“ „Gut, dass sie Echo Moskwy zugemacht haben … Diesen Dreck kann man sich ja nicht anhören … Das ist ja echt  eine Zombiekiste.“ 

    Vor dem Hintergrund der „Spezialoperation“ wächst das Vertrauen in die staatlichen Fernsehkanäle, weil „man jetzt wirklich offizielle Informationen braucht“. 2014 war die Situation ganz ähnlich. Unter solchen Bedingungen sind die Meinungen zu den Ereignissen sehr beständig und können sich  wohl kaum schnell ändern. Wenn unabhängige Medien gesperrt und Kritik an den russischen Streitkräften unter Strafe gestellt wird, verändert das nicht so sehr die öffentliche Meinung, sondern zementiert die bereits bestehende (schließlich benutzt ein Viertel der russischen Bevölkerung bereits VPN).

    Krim-Effekt 2.0

    Im März konsolidierte sich die öffentliche Meinung: Die Unterstützung für die sogenannte „Spezialoperation“ nahm zu, während die Zahl ihrer Kritiker abnahm. Schon zu Jahresbeginn hatten wir erwartet, dass eine Militäraktion zu steigenden Zustimmungswerten für die Staatsorgane führen würde. Die Unterstützung für den Präsidenten, die Regierung, die Duma und die Regierungspartei wuchs (die Umfragewerte der anderen Parteien zeigten keine wesentliche Veränderung). All das ähnelt der Situation von 2014. Rasch wuchsen nach der Krim die Zustimmung für die Staatselite und das Vertrauen in den nächsten Tag sowie das Vertrauen, dass sich die Dinge in die richtige Richtung entwickeln würden.

    Rally-’round-the-Flag-Effekt

    Psychologen erklären, dass in bedrohlichen Situationen von außen, unter Sanktionen und steigendem internationalen Druck Schutzmechanismen aktiviert werden: Das Vertrauen in die Politik steigt, das soziale System wird gerechtfertigt – der sogenannte Rally-’round-the-Flag-Effekt tritt ein, moralische Verantwortung wird abgelehnt, und zwar mithilfe von Enthumanisierung („die Herrscher der anderen Länder sind durchgedreht“), Schuldzuweisung („sie sind selbst schuld“) und Abwälzen der Verantwortung („was können wir denn dafür, wir treffen doch nicht die Entscheidungen“). Unsere Umfragen zeigen, dass die Vorstellung, man könne „sowieso nichts ändern“, sowohl unter den Befürwortern als auch unter den Gegnern des Militäreinsatzes verbreitet ist. Dieses Gefühl erlaubt, das Geschehen nicht an sich heranzulassen, sich an die sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen, sich noch weiter ins Privatleben zurückzuziehen und von den Nachrichten über zivile Opfer und die Zerstörung ukrainischer Städte abzuschirmen.

    Die Zustimmungswerte waren vor dem Hintergrund der eskalierenden internationalen Spannungen bereits seit Ende letzten Jahres angestiegen. So lag die Zustimmung für den Präsidenten im November noch bei 63 Prozent, Mitte Februar bei 71 Prozent und im März bereits bei 83 Prozent. Dabei ist die Unterstützung des Regimes praktisch deckungsgleich mit der Unterstützung der „Spezialoperation“. Rund 90 Prozent von Wladimir Putins Anhängern befürworten auch die „Spezialoperation“, unter den Kritikern des Präsidenten sind es nur ein Drittel.

    „Jetzt müssen wir dahinterstehen“

    Die Unterstützung für den Präsidenten ist wiederum, genau wie die Unterstützung der „Spezialoperation“, nicht homogen. So geben rund 45 Prozent an, „absolut einverstanden“ mit dem Vorgehen des Präsidenten zu sein – das sind doppelt so viele wie noch im Januar. Ein fast genauso großer Teil (38 Prozent) ist „eher einverstanden“, wobei die Unterstützung weniger entschlossen ist. Aber der internationale Konflikt zwingt die Menschen dazu, Partei zu ergreifen. Oft hört man Aussagen wie: „Jetzt müssen wir dahinterstehen, in Kriegszeiten darf man nicht dagegen sein!“; „Ich bin nicht mit allem einverstanden … Meine Rente ist klein, unsere Lebensbedingungen sind … Viele Vergünstigungen kommen bei uns nicht an … Aber Putins Politik ist richtig, gegen Russland werden überall Intrigen geschmiedet“; „Im Nachhinein denke ich, dass man die Führung zu Unrecht mit Dreck übergossen hat. Sie haben schließlich ihre Arbeit gemacht. Peskow, Rogosin, Schoigu – alle hat man in den Schmutz gezogen, ständig haben sie ihre Datschen und Häuser gefilmt“ und so weiter. Genau wie vor acht Jahren führen der internationale Konflikt, der zunehmende Druck und die Sanktionen des Westens dazu, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich um die Führung des Landes konsolidiert. Auch wenn es natürlich solche gibt, die ihre Unterstützung deklarieren, um auf Nummer sicher zu gehen.


    Die Euphorie von 2014 bleibt aus

    Aber es gibt auch Unterschiede zu 2014. Die wachsende Zustimmung wird nicht von Euphorie begleitet. So wurde die russische Gesellschaft angesichts der Krim von einer ganzen Reihe positiver Gefühle erfasst: Stolz, Freude und das Gefühl, dass die Gerechtigkeit gesiegt hatte. Lediglich drei Prozent sprachen von Besorgnis und Angst. Heute sind die Gefühle deutlich gemischter: Im März überwog unter den Befragten zwar der „Stolz auf das Land“, besonders in der Gruppe der absoluten Befürworter, rund ein Drittel der Befragten äußerte aber auch „Angst und Sorge“, und zwar nicht nur unter den Gegnern (wenn auch dort in höherem Ausmaß). Begeisterung und Freude angesichts der Ereignisse in der Ukraine empfinden nur marginale Gruppen. Aber auf das Ausmaß der Unterstützung insgesamt wirken sich diese Stimmungen nicht aus.

    Kann man diesen Zahlen trauen?

    Die hohen Zustimmungswerte für die sogenannte „Spezialoperation“ und die russische Regierung sorgten bereits für Streit, inwiefern man diesen Zahlen überhaupt glauben kann. Kritiker der Umfragen sprechen davon, dass die Angst und der Unwille zur Teilnahme an Umfragen unter dem Druck auf Andersdenkende, durch die Androhungen von Strafen für die Diskreditierung der Streitkräfte und andere repressive Maßnahmen innerhalb der letzten Wochen stark zugenommen hätten. Unsere Erhebungen konnten das bisher nicht belegen.

    Ein wichtiger Faktor für die Qualität von Meinungsumfragen ist die Erreichbarkeit bzw. der Anteil der erfolgreich durchgeführten Interviews. Um diesen Faktor zu bestimmen, greifen wir in unseren Umfragen auf die Methode der American Association for Public Opinion Research (AAPOR) zurück. Unseren Erhebungen zufolge hat sich dieser Faktor in den letzten Monaten weder bei Haustür- noch Telefonumfragen verändert. Die Situation der Feldforschung ist zum Teil angespannt, vereinzelt kommt es sogar zu Konflikten zwischen Befragten und Interviewern (vor allem, wenn sie unterschiedliche Positionen vertreten), aber die Arbeit geht weiter.

    Unsere Erfahrung zeigt, dass es schwer ist, an die ganz junge Generation heranzutreten, bei Telefonumfragen gibt es da eine zusätzliche Quote. Aber auch das ist kein neues Phänomen, und mithilfe einer Auswertung der Umfrageergebnisse nach Geschlecht, Alter und Bildungshintergrund lässt sich die Unterrepräsentation der Meinung von Jugendlichen ausgleichen. Von einem plötzlichen Anstieg der Angst unter den Befragten kann man zu diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht sprechen. Man muss die Situation weiterhin genau beobachten.

    Umfragen spiegeln nur das Bild wieder, was die Befragten in der Öffentlichkeit von sich zu zeigen bereit sind

    Interessant sind die Versuche, die Aufrichtigkeit der Befragten mithilfe von Umfrageexperimenten zu messen. Aber mit der Interpretation der Ergebnisse muss man vorsichtig sein, es braucht weitere Untersuchungen. Auf den ersten Blick decken sich die Zahlen, die man mithilfe solcher Versuchsanordnungen erhält, mit denen der uneingeschränkten Unterstützung der Kampfhandlungen. Aber das bedeutet nicht, dass die „Unterstützung mit Einschränkungen“ auf Falschaussagen der Befragten beruht. Wie weiter oben geschildert, gibt es eine ganze Reihe von Faktoren, die die Menschen dazu bringen, sich der Mehrheitsmeinung anzuschließen. Alles auf die Angst zu schieben, wäre deutlich zu kurz gegriffen. Abgesehen davon sollte man in Umfragen nicht die Antwort darauf suchen, was die Menschen „wirklich denken“. Meinungsumfragen erfassen nur das, was die Befragten bereit sind, dem Interviewer mitzuteilen – das heißt, sie spiegeln nur das Bild wider, was die Befragten in der Öffentlichkeit von sich zu zeigen bereit sind.   

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  • Krieg – was sagen die Menschen in Russland?

    Krieg – was sagen die Menschen in Russland?

    Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine haben sich zahlreiche liberale Stimmen in Russland entsetzt gezeigt, gerade in Sozialen Netzwerken Schock und Scham geäußert, darunter auch viele Kulturschaffende und Künstler. Laut OWD-Info sind bis Donnerstagnacht in 52 russischen Städten mehr als 1742 Menschen bei Protestaktionen gegen den Krieg festgenommen worden [Stand: 23:57 Ortszeit (MSK)].

    Aber wie steht die breite Masse zu diesem Krieg: Glauben die Menschen in Russland, es sei legitim, in die Ukraine einzumarschieren? Hat Putin mit seinem Krieg Unterstützung in der Gesellschaft? Gibt es gar eine ähnliche Euphorie wie 2014? Diese Fragen hat Meduza wenige Tage vor Kriegsbeginn dem Soziologen Denis Wolkow, Direktor des unabhängigen Meinungsforschungszentrums Lewada, gestellt. 

    Dazu muss man wissen: Tatsächlich erschienen vielen Menschen in Russland solche Probleme wie Armut und Inflation bislang drängender als geopolitische Themen, die für die Gesellschaft ganz unten auf der Prioritätenliste rangierten.
    Hinzu kommt, dass Meinungsumfragen in Russland nur eine begrenzte Aussagekraft haben: Da Menschen in autoritären Systemen Angst haben, eine sozial nicht erwünschte Meinung kundzutun, würden sie häufig das wiedergeben, was sie aus den Abendnachrichten vom Vortag behalten haben, so der Soziologe Grigori Judin: „Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen.“ 

    Demgegenüber liefert die Soziologie aber handfeste Hinweise, dass Meinungsumfragen die öffentliche Meinung in Russland abbilden können: Wenn Menschen ihre Informationen etwa jahrelang nur aus Propaganda-Medien beziehen, dann ist es naheliegend, dass sie diesen Informationen irgendwann glauben, dann verfestigt sich bei ihnen auch die Meinung, die ihnen schon seit Jahren vorgesetzt wird: Dass die Ukraine etwa vom Westen gesteuert, dass sie eigentlich kein richtiger Staat sei, oder eben dass die „Ukro-Faschisten“ Russen in der Ukraine töten würden – und die Ukraine deshalb, wie Putin es in seiner TV-Rede vor dem Marschbefehl sagte, „entnazifiziert“ werden müsse. 

    Wie also steht die russische Gesellschaft zu einem Krieg? Denis Wolkow spricht im Interview vom Dienstag über die Wirkung von Propaganda, Angst und darüber, wie sich die Haltung zu Putin entwickeln könnte. 

    Denis Wolkow sprach im Interview mit Meduza über die Wirkung von Propaganda, Angst und darüber, wie sich die Haltung zu Putin entwickeln könnte / Foto © duma.gov.ru/wikimedia unter CC BY-SA 4.0

    Anastasia Jakorewa: Putin hat in seiner Rede zur Anerkennung der Donezker und Luhansker Volksrepublik [am Montag, 21.02.2022 – dek] gesagt, er sei sicher, dass die Bürger in Russland diese Entscheidung unterstützen werden. Kann man wirklich von einer rückhaltlosen Unterstützung sprechen? 

    Denis Wolkow: Die Daten, die wir in den vergangenen Jahren gesammelt haben, geben uns eine grobe Vorstellung davon, wie die Menschen reagieren. Es gibt unterschiedliche Einstellungen zu einem Krieg und zu dem, was da vor sich geht. Die erste: Amerika ist an allem Schuld. Nicht mal die Ukraine, nein, Amerika und der Westen: Die setzen die Ukraine unter Druck, die ihrerseits irgendwas gegen die nicht anerkannten Republiken im Schilde führt – auf deren Seite soll Russland sich einmischen. Denn es geht um die russischsprachige Bevölkerung, um Menschen mit russischen Pässen, also „unsere“ Leute. Es ist eine Situation, in der auf unsere Leute eingeprügelt wird, und natürlich müssen wir ihnen helfen und sie verteidigen. 

    In den vergangenen sieben Jahren haben wir die Menschen regelmäßig befragt, welches Schicksal sie für diese Republiken sehen. Ein gutes Viertel sagt, die Republiken müssten unabhängig werden. Ein weiteres Viertel sagt, sie müssten Russland angegliedert werden. Und in etwa ähnlich viele sind für einen Verbleib in der Ukraine. Der Rest ist unentschieden. 

    Die Situation wird als Bedrohung dargestellt für das russischsprachige Brudervolk. Beziehungsweise nicht mal für das Bruder-, sondern für das eigene Volk

    Es gibt also keine vorherrschende Meinung. Aber als wir gefragt haben: Wenn die Republiken darum bitten, an Russland angegliedert zu werden, sollten wir sie dann angliedern? Da haben etwa 70 Prozent mit „Ja“ geantwortet: Man muss ihnen helfen, und man muss sie aufnehmen. Darum denke ich, dass jetzt, wo die Anerkennung entschieden ist, die Mehrheit diese Entscheidung unterstützen wird – zumal die Situation, wie auch schon 2014, als Bedrohung dargestellt wird für das russischsprachige Brudervolk, beziehunsgweise sogar nicht mal für das Bruder-, sondern für das eigene Volk.
     
    Wie groß ist die Angst bei den russischen Bürgern vor westlichen Sanktionen und den damit verbundenen ökonomischen Einbußen?

    Die Angst vor Sanktionen, den ersten Schock gab es ganz am Anfang, als sie verhängt wurden. Dann hat man sich mit der Zeit daran gewöhnt. Zusätzlich haben viele der Befragten das Gefühl: Was auch immer Russland tut – Sanktionen wird es so oder so geben, denn der Westen will Russland schwächen und demütigen. So, wie man uns schon 2014 gesagt hat: Wenn es die Krim nicht gäbe, hätten sie sich was anderes ausgedacht. Das ist eine feste Überzeugung, die auf einem Misstrauen gegenüber der US-Außenpolitik gründet – die konnten wir schon Ende der 1990er Jahre feststellen, als die NATO-Osterweiterung begann.

    In einem Ihrer Gastbeiträge [Wolkow publiziert regelmäßig in unabhängigen russischen Medien – dek] habe ich gelesen, in Russland würden sowohl diejenigen, die der Staatsführung gegenüber loyal sind, als auch diejenigen, die ihr gegenüber oppositionell eingestellt sind, dem Westen die Schuld für den Konflikt geben. Die Mehrheit beider Gruppen meint, dass Amerika schuld sei – nur die Prozentanteile der Mehrheiten unterscheiden sich. Woher diese Eintracht?

    Eine eindeutige Antwort habe ich darauf nicht. Ich denke, hier spielt mit rein, dass man die Konfrontation zwischen Russland und den USA als internationalen Hauptkonflikt wahrnimmt. Das ist ein Ausdruck von Patriotismus. Man muss sich klar positionieren, wo man steht. Und wenn es so einen Konflikt gibt – dann sind natürlich mehr Leute auf der Seite Russlands.

    Wobei ja offensichtlich ist, dass diese beiden Gruppen ihre Informationen aus unterschiedlichen Quellen schöpfen.

    Das sagt wirklich etwas darüber aus, wie Menschen Nachrichten konsumieren: Über den Konflikt berichten vor allem das Fernsehen und die offiziellen Medien, und sobald Menschen etwas davon interessant finden, dann suchen sie noch nach weiteren Quellen. Zu diesem Thema suchen die Menschen aber anscheinend nicht nach zusätzlichen Quellen. Wie sie auch in den Umfragen sagen: Wenn ich nur etwas über die Ukraine höre, schalte ich sofort um, ich will nichts davon hören, will nichts davon wissen. 

    Die Politik gegenüber den „ausländischen Agenten“-Medien beeinflusst auch, wie der Informationsfluss gelenkt wird

    Das heißt, bei vielen läuft der Fernseher im Hintergrund, er ist irgendwie einfach da, und dann [sagen die Menschen – dek]: Ich sehe nur fern, und wenn mich diese Geschichte berühren würde, dann würde ich noch was im Internet lesen [unabhängige russische Medien sind fast ausschließlich online zugänglich, wie auch der TV-Sender Doshd dek]. Oder eben nicht.

    Die Politik gegenüber den „ausländischen Agenten“-Medien beeinflusst auch, wie der Informationsfluss gelenkt wird. Früher hat es der Fernsehsender Doshd zumindest manchmal in die Top-Suchergebnisse von Yandex geschafft. Ich habe Nachrichten über Alissa [eine von Yandex entwickelte virtuelle Sprachassistentin] gehört. Als all das anfing, hat Alissa plötzlich keine Nachrichten [der „ausländischen Agenten“-Medien – dek] mehr wiedergegeben. 

    Wie stehen die Menschen zu einer möglichen Militäraktion [das Interview wurde am 22.02.2022 geführt – dek]?

    Schwer vorherzusagen, denn womit können wir es vergleichen? Wir können das nur mit [dem Georgienkrieg] 2008 vergleichen. Worin besteht hier die größte Gefahr? Darin, dass unsere Truppen tatsächlich Gefechte gegen ukrainische Truppen führen. Früher gab es dazwischen einen Puffer; vielleicht waren [russische Truppen im Donbass], aber nicht offiziell …

    Angst, Widerwillen – doch weil die Schuld dafür den anderen zugeschrieben wird: Was sollen wir schon tun?

    Wir haben den Menschen folgende Frage gestellt: „Glauben Sie, dass die Situation zu einem Krieg zwischen Russland und der Ukraine führen könnte?“ Ende 2021 hat dies rund eine Hälfte für wahrscheinlich gehalten, und die andere für nicht wahrscheinlich. Die Gefühle diesbezüglich: Angst, Widerwillen – doch weil die Schuld dafür den anderen zugeschrieben wird: Was sollen wir schon tun? Wir wollen Frieden, von den Normalbürgern hängt nichts ab ab. Nicht mal von der russischen Staatsführung hängt [dem öffentlichen Bewusstsein nach] etwas ab. Also sagen die Leute: Ja, wir müssen uns verteidigen, ja, wir dürfen nicht klein beigeben, aber was genau ist dieses Klein-Beigeben – die werden versuchen, uns niederzuwalzen, sollen wir uns da etwa zurückziehen?

    In einem Ihrer Gastbeiträge haben Sie geschrieben, die Gesellschaft sei „innerlich auf einen Konflikt vorbereitet“. Auch auf einen militärischen Konflikt?

    Im Grunde ja, auf einen militärischen Konflikt. Auch hier gilt es, dass die Gesellschaft latent bereit ist – denn wie lange schon wird darüber gesprochen. Das heißt aber nicht, dass sich diese Haltung nicht ändern wird, dass keine Müdigkeit einsetzt. Es ist unmöglich vorherzusagen, wie sich die Situation entwickeln wird und wie die Menschen darauf reagieren werden. Anfangs wird es wahrscheinlich eine Mobilisierung um den Führer geben. Aber was dann?

    Wenn es ein kurzer Krieg wird, dann wird es wahrscheinlich ähnlich wie mit Georgien: Auch damals hatten die Menschen das Gefühl, dass es nicht um Georgien und Russland ging – sondern um die USA und Russland. Und dass wir unsere Brüder gerettet hätten. Wichtig war, dass es schnell vorbei war und niemand das Gefühl von ernsthaften Verlusten hatte.

    Ein andauernder Krieg kann [Putins] Zustimmungswerten einen beachtlichen Schlag verpassen, ich kann aber ganz bestimmt nicht vorhersagen, wie sich der Konflikt entwickeln wird. 

    Gibt es mögliche Trigger für russische Bürger, wegen derer sie sich scharf gegen einen Krieg wenden würden?

    Das ist schwer zu sagen. Ich denke, vor allem eine große Zahl an Opfern oder die Dauer des Konflikts, ein Sich-Hinziehen.

    Welche Möglichkeiten sehen die russischen Bürger, um den aktuellen Konflikt zu lösen – außer einen Krieg?

    Sie sehen nicht wirklich welche. Am häufigsten haben die Menschen Verhandlungen genannt. Aber man kann nicht sagen, dass sie geglaubt haben, dass daraus etwas wird, dass die Verhandlungen helfen würden, etwas zu zu lösen. Wir wollten, baten, haben vorgeschlagen, aber niemand ist darauf eingegangen – so sehen die Menschen das. 
     
    Wenn man die Situation 2014 mit heute vergleicht, worin unterscheidet sie sich?

    Die Sorge, die Angst vor einem Krieg, ist größer. Aber auch um die Zivilgesellschaft ist es inzwischen ganz anders bestellt – damals war sie viel freier, viel präsenter, es gab eine Antikriegsbewegung, es gab Oppositionspolitiker, die noch Unterstützung aus den Jahren 2011/2012 in Teilen der Gesellschaft genossen: Boris Nemzow, Alexej Nawalny, eine ganze Reihe. Jetzt ist da niemand, außer Jabloko als Partei – die, ich sag mal so, nicht sehr populär ist. Und: Proteste sind verboten. Auch deswegen sehen wir keine Antikriegsbewegung. Sowohl die unabhängigen Politiker als auch die unabhängigen Medien sind ausgedünnt.

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  • Wie groß ist die Kriegsgefahr in Europa?

    Wie groß ist die Kriegsgefahr in Europa?

    Die Sorge um die Sicherheit in Europa wächst, angesichts des russischen Säbelrasselns an der Grenze zur Ukraine: So haben einzelne NATO-Mitgliedstaaten wie Dänemark und Spanien erklärt, die Militärpräsenz in Osteuropa zu verstärken. Demnach sollen etwa im Ostseeraum zusätzliche Schiffe und Kampfflugzeuge stationiert werden. Die USA und Großbritannien reduzieren mit Verweis auf die ungewisse Lage das Botschaftspersonal in der Ukraine, die EU und auch Deutschland dagegen belassen das Personal vor Ort. Der EU-Außenbeauftragte Borrell warnte davor, die Lage unnötig zu „dramatisieren“.

    Gefährlicher Bluff oder ernsthafte Bedrohung der europäischen Sicherheit: Wie groß ist die Gefahr, dass Russland die Ukraine angreift? Auch in Russland ist man sich darüber uneins. In unterschiedlichen Medien äußern sich dazu unter anderen der Lewada-Soziologe Denis Wolkow, Kreml-Berater Sergej Karaganow und Politikwissenschaftlerin Lilija Schewzowa. dekoder hat eine Zusammenschau der drei unterschiedlichen Stimmen zusammengestellt.

    „Die Angst vor einem bewaffneten Konflikt ist ziemlich groß“

    Im Interview mit Republic erläutert Lewada-Direktor Denis Wolkow neueste Umfrageergebnisse. Das renommierte Meinungsforschungszentrum Lewada fragte nicht nur danach, wie sehr die russische Bevölkerung die Sorge vor einem Krieg umtreibt, sondern auch, wen sie für den Konflikt verantwortlich macht.

    Original

    Im Alltag denken die Leute natürlich nicht ständig darüber nach, aber die Angst vor einem bewaffneten Konflikt ist ziemlich groß. Im vergangenen Frühjahr erreichte sie einen Maximalwert: 62 Prozent der Befragten sagten, sie hätten Angst vor einem großen Krieg. Gegen Ende des Jahres ließ diese Angst ein wenig nach, im Dezember waren es noch 56 Prozent. Das ist auch viel, aber immerhin weniger. Vermutlich, weil wenigstens Gespräche begannen – zuerst zwischen Putin und Biden, dann auf der Ebene der Außen- und Verteidigungsministerien.
    Von einem möglichen Konflikt mit den USA und der NATO spricht jetzt rund ein Viertel der Befragten, von einem Konflikt mit der Ukraine sprechen in verschiedenen Umfragen 35 bis 40 Prozent. Wobei die Verantwortung eher auf die andere Seite geschoben wird – nicht einmal auf die Ukraine, sondern auf den Westen, die USA. „Die haben ja angefangen“, was die Sache noch beängstigender macht, nach dem Motto: Wenn wir angefangen hätten, dann könnten wir ja aufhören. Aber es sind die anderen, und die machen vor nichts Halt.     

    Die Verantwortung wird eher auf die andere Seite geschoben – auf den Westen, die USA

    Auch wenn die Gesellschaft also Angst vor dem Krieg hat, ist sie wohl innerlich schon darauf vorbereitet. In den Fokusgruppen klingt das ungefähr so: „Wir werden gegen unseren Willen in einen Krieg hineingezogen.“

    „Das ganze Geschrei, wir würden Kiew einnehmen wollen – das ist heiße Luft“

    Das Massenblatt Argumenty i Fakty bringt ein Interview mit dem Politikwissenschaftler Sergej Karaganow – Dekan der Fakultät für Wirtschafts- und Außenbeziehungen der HSE sowie Vorsitzender des Rats für Außen- und Verteidigungspolitik. Der Außenpolitik-Experte bezeichnet die NATO darin als „Krebsgeschwür und mahnt, dass sie kontrolliert werden müsse, andernfalls könne sie die Ukraine zum „Hauptmotor der antirussischen Politik in Europa“ machen. Gleichzeitig betont er, dass Russland kein Interesse daran habe, die Ukraine zu besetzen. 

    Original
     
    […] Die Ukraine ist ein Puffer. Mal trennt sie uns von potentiellen westlichen Aggressoren, mal wird sie dazu benutzt, um Druck auf uns auszuüben. Aktuell geht es in der Ukraine-Frage in erster Linie darum, dass sich kein feindliches Bündnis in diese Pufferzone ausbreitet. 
    […]
     

    aiF: Selbst wenn NATO-Truppen in der Ukraine wären, wäre das denn wirklich so gefährlich? Die baltischen Staaten sind schließlich seit fast 18 Jahren in der NATO – und bisher ist die Katastrophe ausgeblieben.
     
    Als die Länder Osteuropas, also Polen und die baltischen Staaten, der NATO beigetreten sind, sagte der Westen zu uns: Keine Sorge, das wird sie besänftigen, sie werden euch friedliche, gute Nachbarn sein. Doch das Gegenteil ist eingetreten – sie wurden nur noch wilder. Allein schon die Zugehörigkeit zu einem Bündnis, das auf Konfrontation setzt, stärkt die schlimmsten Elemente in Politik und Gesellschaft. Wir sehen, was im Baltikum passiert ist, wie dreist die Polen geworden sind, weil sie jetzt an vorderster Front der NATO stehen. Eine solche Ukraine können wir überhaupt nicht gebrauchen. Dort gibt es zwar viele prorussisch denkende Menschen, die uns geistig und kulturell nahestehen. Aber es gibt auch andere, dunkle Kräfte. Wollen wir, dass dieser Bodensatz an die Oberfläche gespült wird, dass die Ukraine, genau wie das Baltikum und Polen, zur treibenden Kraft einer russlandfeindlichen Politik in Europa wird? Ganz zu schweigen von den Waffen, die dort stationiert würden.

    Ja, unsere Soldaten stehen an der ukrainischen Grenze, aber doch nur, damit von der anderen Seite niemand auf die Idee kommt, sich über den Donbass herzumachen

    Aber wir sind keineswegs darauf aus, bis zum letzten Ukrainer um die Ukraine zu kämpfen, wir wollen dort sicher keinen Krieg führen. Das ganze Geschrei, wir würden Kiew einnehmen wollen – das ist heiße Luft. Ja, unsere Soldaten stehen an der ukrainischen Grenze, aber doch nur, damit von der anderen Seite niemand auf die Idee kommt, sich über den Donbass herzumachen. Eine Besetzung der Ukraine, davon bin ich überzeugt, gehört ganz sicher nicht in unseren Militärplan. Und sei es nur deshalb, weil die Besatzung eines Landes, das wirtschaftlich, moralisch und intellektuell kastriert ist, eines Landes mit desolater Infrastruktur und verbitterter Bevölkerung, das denkbar schlechteste Szenario ist. Das Schlimmste, was uns im Moment passieren kann, ist, dass die USA uns die Ukraine in dem Zustand schenken, den sie dort selbst geschaffen  haben.

    „Wir sind an einem Punkt, an dem Russland entweder in den Abgrund springt oder den Rückzug antritt“

    Die Politikwissenschaftlerin Lilija Schewzowa sieht im Säbelrasseln Russlands eher einen Bluff, der auf die Instabilität des Systems verweist – und der aber gefährlich sei, da Russland sich damit in eine Position manövriert habe, aus der es nur schwer einen Ausweg gebe. 

    Original

    Was Putin macht, indem er den Westen in die Ecke drängt, – das zeugt davon, wie angreifbar das von ihm geschaffene System ist. Stärke zu demonstrieren, indem man einen „Feind vor den Toren“ zeichnet, gleicht einem Eingeständnis, keine anderen Ressourcen zu haben, und ist die Kehrseite einer Schwäche.

    Mit Russlands Säbelrasseln drängt es den Westen zu einer kollektiven Antwort. Länder, die noch nicht zur NATO gehören, sprechen jetzt von einem Beitritt – zum Beispiel Finnland und Schweden. Anfang 2021 dachte Biden über eine Reduktion des Atomwaffenpotenzials der USA nach. Das überlegt er sich jetzt zweimal.

    Ein Bluff wirft die Frage auf, ob der Bluffende es sich wirklich leisten kann zu bluffen

    Moskau lehrt den Westen, anhand von Ultimaten zu kommunizieren. Wir sagen zu ihnen: „Stoppt die NATO“, und sie zu uns: „Gebt die Krim zurück an die Ukraine, raus aus dem Donbass, raus aus Transnistrien, Abchasien und Südossetien; weg mit den Iskander-Raketen aus Kaliningrad.“ Es ist ein Tauziehen. Und die militärische und wirtschaftliche Überlegenheit liegt nicht auf russischer Seite.
    Ein Bluff wirft die Frage auf, ob der Bluffende es sich wirklich leisten kann zu bluffen: Wie realitätsbewusst ist er und wie wahrscheinlich ist eine unangenehme Reaktion. Trump hat mit seinen Bluffs und Erpressungen die Führungsrolle der USA untergraben.
    […]
    Jetzt, wo Amerika Russland sagt: „Nein, Stopp!“, und Moskau Kompromisse ablehnt, ist eine Pause entstanden. Der Kreml wartet auf ein Gegenangebot seitens der USA und der NATO. Aber es ist doch schon alles gesagt! Die Pause braucht eher Präsident Putin, um einen Entschluss zu fassen. Wir sind an einem Punkt, wo Russland aus Rache für die Weigerung, sein Spiel zu spielen, entweder in den Abgrund springt oder den Rückzug antritt. Aber ein Rückzug ist immer beschämend, nicht wahr?

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    Corona: „Die Leute sind desorientiert“

    Corona hat Russland derzeit fest im Griff: Nahezu täglich werden neue Negativrekorde bei Neuinfektionen und Sterbezahlen gemeldet, am gestrigen Donnerstag erst verzeichneten die Behörden mit 1159 Toten einen neuen Höchstwert, landesweit gab es mehr als 40.000 Neuinfektionen. Ab dem 30. Oktober soll es russlandweit arbeitsfreie Tage geben, einzelne Regionen führten sie schon ab dem 25. Oktober ein. Seit gestern ist auch Moskau bereits weitestgehend im Lockdown: Schulen und Geschäfte sind zu, Restaurants und Cafés dürfen Speisen und Getränke nur zum Mitnehmen anbieten.

    Behörden und Regierung versuchen so, die vierte Welle in den Griff zu bekommen. Denn die offizielle Impfquote in Russland ist mit rund 35 Prozent (Stand 22.10.2021) nach wie vor niedrig – und das, obwohl mit Sputnik V im August 2020 der weltweit erste Impfstoff gegen das Coronavirus registriert wurde.

    Denis Wolkow, Direktor des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada, spricht im Interview mit RFE/RL zu den möglichen Gründen für die hohe Skepsis, mit der die russische Gesellschaft auf die Impfung reagiert. Lewada veröffentlichte den Text auch auf der eigenen Seite und ergänzte ihn um aktuelle Informationen.

    RFE/RL: Als das Lewada-Zentrum im April 2021 eine Studie über die Einstellung der Russen zur Impfung veröffentlichte, waren weniger als zehn, eher nur fünf Prozent der Bevölkerung Russlands vollständig geimpft. Jetzt sind es etwas mehr als 30 Prozent [offiziell etwa 35 Prozent am 22.10.2021 – dek], doch die tägliche Zahl der Toten, die damals irgendwo um die 100 lag, ist inzwischen sogar den offiziellen Daten zufolge zehnmal so hoch. Warum führt die katastrophale Situation mit Ansteckungen und der hohen Sterblichkeit durch Corona bei den Russen nicht zum massenhaften Wunsch, sich impfen zu lassen?

    Denis Wolkow, Lewada: Solche Studien haben wir später wiederholt, zum Beispiel im Juli, aber die Einstellung zur Impfung ist in Russland sehr stabil. Generell will sich die Mehrheit – rund 50 Prozent – eben nicht impfen lassen. Nur Anfang Sommer, nach einer großen Kampagne, kam ein klein wenig Bewegung rein, ein bisschen mehr Leute erklärten sich bereit zur Impfung.
    Aber auch wenn die Leute durchaus beunruhigt sind, auch wenn sie erzählen, dass rundherum Bekannte und Verwandte sterben, wollen sich viele trotzdem nicht impfen lassen, weil sie den Worten der Staatsmacht nicht glauben – erstens, dass diese Krankheit gefährlich sei, und zweitens, dass die Impfung schütze.

    Warum das passiert? Ich glaube, dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens das bei bestimmten Themen fehlende Vertrauen in die Staatsmacht – es sind bis zu 40 Prozent, die der Regierung stillschweigend misstrauen und ihre Entscheidungen nicht mittragen. Das heißt automatisch, dass sie alles, was von der Regierung kommt, jede ihrer Initiativen ablehnen. Jene, die der Staatsmacht misstrauen, trauen weder der Impfung, noch dem elektronischen Wahlsystem, noch der Installation von Kameras [in Wahllokalen – dek]. Jede Initiative stößt auf Widerstand.

    Sie glauben den Worten der Staatsmacht nicht – erstens, dass diese Krankheit gefährlich sei, und zweitens, dass die Impfung schütze

    Zweitens sind in Russland zu wenige Beamte, einschließlich Präsident und Gouverneure, mit gutem Beispiel vorangegangen. Sie haben es versäumt, sich vor laufender Kamera impfen zu lassen, um zu zeigen, dass das wichtig ist, dass sie es auch selber machen, dass es ungefährlich und notwendig ist. In Fokusgruppen haben wir oft gehört: „Na, wenn sie sich nicht mal selbst impfen lassen, warum verlangen sie es dann von uns.“

    Ein dritter wichtiger Grund ist, dass zu Beginn der Impfkampagne über einen langen Zeitraum sehr widersprüchliche Informationen verbreitet wurden. Es wurden komplett unterschiedliche Signale gegeben, auch im Fernsehen. Obwohl das mittlerweile nachgelassen hat, gibt es das immer noch, dass zum Beispiel jemand sagt, die Impfung sei unnötig, die natürliche Immunität reiche aus, und die müsse man daher mit Atemübungen und dergleichen stärken. All diese Botschaften wiederholen die Leute in den Fokusgruppen. Es gab von Anfang an kein eindeutiges Signal, dass die Impfung unbedingt notwendig ist, dass nur sie wenigstens irgendwie die Gefahr entschärfen kann. Die Leute waren desorientiert, viele sind immer noch desorientiert.

    Zu Beginn der Impfkampagne wurden über einen langen Zeitraum sehr widersprüchliche Informationen verbreitet. Es wurden komplett unterschiedliche Signale gegeben

     

    Daher glaube ich, dass nur eine allgemeine Impfpflicht funktionieren kann – aber die Regierung kann sich noch nicht dazu entschließen, weil sie fürchtet, an Popularität zu verlieren. Und das kann tatsächlich passieren, weil der Wunsch, sich nicht impfen zu lassen ja in einem stabilen Ausmaß fortbesteht.

    Corona-Impfung in Moskau. „Die meisten Leute, die sich nicht impfen lassen wollen, sind keine „Impfgegner“ im herkömmlichen Sinn.“ / Foto © mos.ru CC BY 4.0

    Hier muss man wissen, dass die meisten Leute, die sich nicht impfen lassen wollen, keine „Impfgegner“ im herkömmlichen Sinn sind, sondern Leute, die sich nicht festlegen können, die sich in dieser widersprüchlichen Informationsflut nicht mehr zurechtfinden und sagen: „Nein, warten wir lieber ab, das dauert noch ein wenig, das braucht noch ein paar Studien.“ So geht das schon seit einem Jahr, und im Grunde ändert sich nichts.

    Sie erwähnen Misstrauen gegenüber der Staatsmacht. Mein Umfeld ist natürlich soziologisch nicht relevant, aber wenn wir uns Leute ansehen, die in Opposition zur Regierung stehen, die sogenannten Liberalen, dann sind von denen fast alle geimpft. Wie passt das mit dem zusammen, was Sie erzählen?

    Stimmt, das gibt es. Ich betone noch einmal, ich spreche von der Masse, von der Bevölkerung als ganzer. Und ja, es gibt unter jenen, die der Regierung misstrauen, Geimpfte, und es gibt Ungeimpfte unter jenen, die der Regierung sehr wohl vertrauen.

    Die Mehrheit jener, die sich nicht impfen lassen wollen, sind keine „Impfgegner“ im herkömmlichen Sinn, sondern Leute, die sich nicht festlegen können, die sich in dieser widersprüchlichen Informationsflut nicht mehr zurechtfinden

    Das, was Sie beschreiben, ist eine ziemlich dünne Gesellschaftsschicht, für die medizinische und wissenschaftliche Autorität einen hohen Stellenwert hat. Das sind Leute, die die Impfung und ihre Gefährlichkeit selbst einschätzen können. In der Masse können die Leute diese Entscheidung aber nicht selbständig treffen: Sie brauchen Rat, sie brauchen ein Signal von oben, dass es unbedingt erforderlich ist, ungefährlich etc. Ohne solche eindeutigen Signale ist der Mensch in der Masse nicht impfbereit, weil er sich selbst kein Urteil bilden kann und die Entscheidung immer weiter aufschiebt.

    Woher nehmen die Impfgegner die Informationen, die sie ihre Entscheidung gegen die Impfung treffen lassen? Sieht man sich Publics und Gruppen von „Hardcore-Impfgegnern“ an, dann findet man dort massenhaft Links auf ausländische Versionen von Russia Today, wo zum Beispiel die Notwendigkeit der Impfung ständig in Zweifel gezogen wird und Fälle breitgetreten werden, in denen Menschen nach der Impfung starben oder mit Komplikationen zu kämpfen hatten. Außerdem wissen wir von dem Skandal, dass eine regierungsnahe russische Werbeagentur versucht hat, westeuropäische Blogger für Kritik am Impfstoff von Pfizer zu bezahlen. Dass Russland sozusagen ein doppeltes Spiel spielt und einerseits die Impfung im Westen zu torpedieren versucht, andererseits die eigene Bevölkerung zu einer Impfung mit Sputnik bewegen will, trägt das dazu bei, dass Russland jetzt bei der Durchimpfungsrate hinterherhinkt?

    Ich glaube, das spielt schon auch eine Rolle. Dazu muss man noch nicht einmal auf Russia Today gehen. Die Strategie, im Rahmen derer es hieß, nur unsere, nur die Impfung aus Russland sei gut und alle anderen schlecht, „also lasst euch mit dem russischen Impfstoff impfen“, ging nach hinten los. Wie reagieren die Menschen auf diesen unlauteren Wettbewerb, in Russland und bis zu einem gewissen Grad bestimmt auch im Westen?

    Mit Sarkasmus: „Na klar, alles lauter Deppen rundherum, nur wir sind so schlau.“

    „Die Strategie „die einzige gute Impfung ist unsere“ ging nach hinten los“

    Die schmutzige Kampagne gegen ausländische Impfstoffe versetzte dem eigenen einen Schlag. Die Leute sagen, alles sei schlecht, alles sei unfertig, roh, man müsse das alles noch weiter testen, prüfen und erst dann könne man dem Impfstoff vertrauen, wahrscheinlich auch dem eigenen. Deswegen brauchen wir sowohl europäische als auch internationale Nachweise der Wirksamkeit jedes verfügbaren Impfstoffs. Das wird natürlich auch nicht alle sofort überzeugen, aber es wäre ein Argument: Seht, die Weltgemeinschaft hat den russischen Impfstoff anerkannt, und wir haben andere Impfstoffe anerkannt. Das würde den Leuten, die meinen, nichts sei fertig, nichts wirke, man müsse noch abwarten, einen Teil ihrer Ängste nehmen. Wichtig ist die Botschaft, dass wir nicht mehr warten dürfen, dass die Impfung jetzt vorgenommen werden muss.

    Gibt es Leute, denen es wichtig ist, womit sie geimpft werden, mit Sputnik oder mit westlichen Impfstoffen, die offiziell in Russland bisher nicht oder nur in extrem begrenzten Mengen verfügbar sind?

    Ja, die gibt es, aber diese Gruppe ist klein. Grundsätzlich ist es so, wenn das Vertrauen in die Impfung fehlt, dann betrifft das alle Impfstoffe. Aber es gibt ein paar Prozent, die bereit wären, sich mit ausländischen Impfstoffen impfen zu lassen, und wahrscheinlich würden diese paar Prozent auch einen gewissen Effekt erzielen. Es ist wichtig, mit allen Gruppen zu arbeiten, verschiedene Gruppen reagieren auf verschiedene Botschaften. Wir müssen jeden erreichen, für jede Gruppe die richtigen Argumente finden.

    Wenn das Vertrauen in die Impfung fehlt, dann betrifft das alle Impfstoffe

    Am Anfang der Impfkampagne waren die Signale, wie Sie sagen, wirklich widersprüchlich, aber seitdem ist viel Zeit vergangen. Putin gab offiziell bekannt, dass er sich mit Sputnik impfen ließ, und appelliert an alle, das auch zu tun. Viele Beamte haben sich wie ihre Kollegen im Westen vor laufender Kamera impfen lassen, aber trotzdem zeigt sich keine Wirkung. Von diesen 50 Prozent, die sich nicht impfen lassen wollen – wie viele von denen sind prinzipielle Impfgegner, und auf wie viele haben diese Signale aus anderen Gründen keinen Effekt?

    Schwer zu sagen, aber anhand unserer Daten gehe ich davon aus, dass etwa 15 Prozent der Impfunwilligen überzeugte Impfgegner sind, die auch alle anderen Impfungen ablehnen und ihre Kinder nicht impfen lassen. Aber der Großteil sind Leute, die sich nicht festlegen können, die den aktuellen Aufrufen keinen Glauben schenken, weil gerade noch ganz andere Aufrufe galten.

    Der Großteil sind Leute, die sich nicht festlegen können, die den aktuellen Aufrufen keinen Glauben schenken, weil gerade noch ganz andere Aufrufe galten

    Noch etwas ist wichtig: Im Vergleich zu anderen Ländern wurden in Russland zum Beispiel die strengen Beschränkungen nur sehr kurz und nur ganz zu Beginn der Pandemie verhängt. Dann wurden sie aufgehoben, zum Teil, glaube ich, weil die Wirtschaft ziemlich schwach ist, und zum Teil, weil die Leute diese Beschränkungen sehr schlecht aufgenommen haben – die Umfrageergebnisse verschlechterten sich, angesichts dieser Beschränkungen gab es viele negative Bewertungen. Keine Beschränkungen sind auch eine Art Signal an die Leute. Die Leute sagen: „Na, und jetzt? Nichts passiert. Nichts ist verboten. Wieso sollen wir eigentlich etwas tun, wenn es sowieso keine Beschränkungen gibt, wenn das Leben ganz normal weitergeht, wenn es schon ein paarmal geheißen hat, wir hätten die Pandemie besiegt?“

    Keine Beschränkungen sind auch eine Art Signal

    Das Ausbleiben strenger Beschränkungen, die die Leute vor die Wahl stellen würden: entweder Impfung und Rückkehr in ein normales Leben oder weiter im Lockdown sitzen – auch das motiviert die Leute nicht zur Impfung.

    Kann man den Schluss ziehen, dass die Menschen in Russland mehr oder weniger genauso gestrickt sind wie in anderen Ländern? Dass die Russen keine historischen Ressentiments gegen die Impfung haben, aber in Russland wurde eben von Anfang an alles falsch gemacht, und jetzt lässt sich das sehr schwer korrigieren?

    Ja, irgendwie so scheint es zu sein.

    Sie sagen, rund 35 Prozent der Menschen wollen sich Ihren Daten zufolge „noch“ nicht impfen lassen, weil sie sich noch nicht dazu entschieden haben. Das bedeutet, dass man zu den ca. 30 Prozent, die aktuell geimpft sind, gut und gern noch mindestens 20 Prozentpunkte dazurechnen kann, dann läge die Impfrate gegen das Coronavirus in Russland ungefähr bei 50 Prozent.

    Ja, so kann man das sehen, nicht unbedingt „gut und gern“, aber in absehbarer Zukunft ist das schon eine Ressource, die wir haben. Immerhin sehen wir, dass sich im Sommer die Einstellung der Russen zur Impfung ein kleines bisschen verändert hat. Während die Zahl derer, die die Impfung kategorisch verweigern, fast ein Jahr lang 60 Prozent betrug, sank sie über den Sommer immerhin um 10 Prozentpunkte. Das heißt, man kann die Situation verändern, man braucht eben einfach viele Ressourcen, Überzeugungsarbeit, es braucht eine Informationskampagne, an der Beamte teilnehmen, der Präsident, Leute, denen die Russen vertrauen, Künstler zum Beispiel. Wobei es auch unter den Künstlern viele gibt, die sich nicht impfen lassen wollen, weil sie ja auch Menschen sind wie alle anderen.

    Es braucht eine Informationskampagne, an der Beamte teilnehmen, der Präsident, Leute, denen die Russen vertrauen

    Ohne eine solche Kampagne wird man die öffentliche Meinung natürlich nicht ändern können. Aber ändern kann man sie, es ist nur besonders schwierig, weil zu Beginn die erwähnten Fehler unterlaufen sind. Trotzdem, es ist möglich, man muss es nur mit mehr Entschlossenheit angehen.

    Kann man zusammenfassend sagen, dass es ein Bündel an Maßnahmen gäbe – Lockdowns, die Erweiterung bestimmer Bevölkerungsgruppen, die der Impfpflicht unterliegen, eine weitere Überzeugungskampagne, dass sich alle impfen lassen sollen – die, wenn man sie sofort ergreifen würde, Russlands Durchimpfungsrate auf ein mit anderen europäischen Ländern vergleichbares Niveau anheben könnten, also auf etwas mehr als 50 Prozent?

    Ja, diese Möglichkeit besteht, nur würde es viel länger dauern als in anderen Ländern, vor allem, wenn man Russlands Dimensionen bedenkt. Wir müssen daher mehr und bessere Überzeugungsarbeit leisten, mehr in Kampagnen investieren, vielleicht braucht es irgendwo Zwang, vielleicht irgendwo ein zusätzliches Angebot wie etwa Impfstoffe aus dem Ausland. Wenn das Ziel eine Durchimpfungsrate von 50 bis 60 Prozent ist, dann muss man das alles im Komplex anwenden, aber das wird nicht einfach sein.


     

    Am 19. Oktober räumte auch Wladimir Putins Pressesprecher Dmitri Peskow die Verantwortung der russischen Regierung für das langsame Impftempo ein. In seinem Kommentar zur Aussage von Pjotr Tolstoj, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Staatsduma, dass „der Staat die Informationskampagne zur Covid-Impfung verspielt“ habe, erklärte Peskow, die Regierung „spüre und kenne ihren Teil der Verantwortung“ für diese „Misere“.

    Gleichzeitig wurden einige Details zu den „arbeitsfreien Tagen“ in Russlands Hauptstadt bekannt. So müssen ungeimpfte und nicht Covid-genesene Moskauer über 60 Jahren sowie Menschen mit chronischen Krankheiten für einen präzedenzlos lang andauernden Zeitraum einen Modus der Selbstisolierung einhalten – bis 25. Februar 2022. Für denselben Zeitraum müssen alle Moskauer Arbeitgeber mindestens 30 Prozent ihrer Mitarbeiter (Geimpfte und Genesene wieder ausgenommen) auf Teleworking umstellen, und Dienstleistungsunternehmen müssen bis 1. Januar die Impfung von mindestens 80 Prozent ihrer Angestellten gewährleisten.

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  • Nawalny, Proteste – und wie geht’s weiter?!

    Nawalny, Proteste – und wie geht’s weiter?!

    Die landesweiten Proteste nach Nawalnys Rückkehr waren die größten in Russland seit 2011/12. Nachdem Sicherheitskräfte hart durchgegriffen hatten – laut der Menschenrechtsorganisation OWD-Info gab es mehr als 10.000 Festnahmen –, erklärte Nawalnys Stab nach dem Gerichtsurteil gegen den Oppositionspolitiker, die Proteste nun aussetzen zu wollen. In staatsnahen Medien wurden die Demonstrationen als „Kinder-Kreuzzug“ diskreditiert.

    Vergangenes Wochenende machten wieder Bilder die Runde in den Sozialen Medien, versehen mit dem Hashtag Liebe ist stärker als Angst. Statt zur Demo waren die Menschen zum Flashmob aufgerufen worden: Sie sollten abends für eine Viertelstunde raus vors Haus, ihre Handytaschenlampe anschalten oder eine Kerze anzünden. Auch wenn es am Abend selbst nur 19 Festnahmen gab – im Vorfeld waren zahlreiche Büros von Nawalnys Team durchsucht worden, einzelne Medien wurden angehalten, Berichte über die Aktion zu löschen. Die im Ausland ansässigen russischen Medien Meduza und Spektr gerieten ebenfalls ins Visier der Medienaufsichtsbehörde: Meduza musste einen Bericht über staatliche Reaktionen löschen, Spektr wurde aufgrund des Verweises auf die Aktion blockiert, weil es angeblich zu „Massenveranstaltungen“ aufrief, die „die bestehende Ordnung verletzen“ würden. Am heutigen Dienstag geht eine Verleumdungsklage gegen Nawalny in die nächste Runde vor Gericht. 

    Was machen all die Ereignisse der vergangenen Wochen mit der Stimmung im Land selbst? Wie viele Menschen stehen hinter Nawalny, wie viele hinter Putin? Und welche Aussichten gibt es, dass der Protest nach der angekündigten Pause weitergeht? 
    Lewada-Soziologe Denis Wolkow beantwortet diese Fragen auf Forbes anhand aktueller Umfrageergebnisse des Meinungsforschungsinstituts.

    In ganz Russland folgten die Menschen am Wochenende dem Aufruf zum Flashmob zur Unterstützung Alexej Nawalnys, wie hier in Jekaterinburg / Foto © Schtab Nawalnogo, Jekaterinburg
    In ganz Russland folgten die Menschen am Wochenende dem Aufruf zum Flashmob zur Unterstützung Alexej Nawalnys, wie hier in Jekaterinburg / Foto © Schtab Nawalnogo, Jekaterinburg

    Ohne jeden Zweifel ist Alexej Nawalny zur Hauptfigur des politischen Saisonauftakts geworden. Seine Rückkehr nach Russland, seine Verhaftung, die Veröffentlichung seines neuen Enthüllungsfilms im Internet, die rasche Gerichtsverhandlung und Verurteilung, der neue Prozess wegen Verleumdung eines Kriegsveteranen – das alles sorgt dafür, dass der Politiker seit einem Monat ständig Thema ist, sowohl im In- als auch im Ausland.
    Doch wie haben sich die Ereignisse auf die öffentliche Meinung in Russland insgesamt ausgewirkt, und was könnte uns in Zukunft erwarten? Dazu gibt es neue Umfragewerte.

    Gemäßigt empört

    Beginnen wir mit dem Film über den Palast. In drei Wochen wurde das Video über 100 Millionen Mal angeschaut – beispiellos für diese Art von Material. Die Umfragen bestätigen ein starkes Interesse an der Untersuchung, obwohl sie von etwas niedrigeren Zuschauerzahlen in Russland ausgehen: So haben 70 Prozent der Russen zumindest etwas von dem Film gehört. Wobei nur etwa ein Viertel der Befragten angab, den Film gesehen zu haben. Mit anderen Worten: Die Zahl der Zuschauer in Russland beläuft sich nach vorsichtigen Schätzungen auf etwa 30 bis 35 Millionen.

    Bei allen exorbitanten Zuschauerzahlen sind die Reaktionen auf den Film zurückhaltend. Nur knapp ein Fünftel der Befragten zeigte sich empört über die im Film geschilderten Tatbestände der Korruption – deren Einstellung zu Putin hat sich dementsprechend verschlechtert. Insgesamt überwiegen in der Gesellschaft jedoch Distanziertheit, der Unwille, sich mit den Details der Untersuchung zu beschäftigen, sowie die Bereitschaft, Putin zu rechtfertigen. Die Menschen sagen Dinge wie: „Und was ist daran neu?“, „Putins Palast – ja, und?“, „Der Präsident muss schließlich gut leben!“, „Nach 20 Jahren kann er sich das doch ruhig gönnen“ und sogar „Das ist doch bescheiden – sehen Sie sich mal die Gemächer von ganz normalen Staatsbeamten an!“.

    Viele ältere Befragte halten derartige Untersuchungen gar für eine Provokation aus dem Westen, einen Versuch, das Land zu destabilisieren. Viele werfen Nawalny vor, sozialen Unfrieden zu schüren. Diese in der russischen Gesellschaft weit verbreiteten Ansichten lassen sich nur schwer ins Wanken bringen. Ein, zwei Untersuchungen – selbst so effektvolle wie Nawalnys Filme – reichen da nicht aus.

    Immun gegenüber Enthüllungen

    Es darf daher nicht verwundern, dass es in der russischen Gesellschaft in den letzten Monaten keine großen Verschiebungen weder zugunsten Alexej Nawalnys noch zugunsten Putins gegeben hat. Die Zahl derjenigen, die Nawalnys Tätigkeit befürworten, liegt seit September vergangenen Jahres unverändert bei 20 Prozent. Demgegenüber ist unter dem Einfluss der jüngsten Ereignisse die Zahl seiner Gegner sogar leicht angestiegen – auf 56 Prozent (hier schlagen vor allem diejenigen zu Buche, die sich früher nicht für Nawalny interessierten). Etwas gestiegen ist das Vertrauen in Nawalny als Politiker, doch das wirkt eher so, als hätte er in den Augen seiner Sympathisanten ein neues Image: Sie sehen in Nawalny zunehmend eine Alternative zu Putin. Auf ein breiteres Publikum scheint sich diese Vorstellung allerdings nicht zu erstrecken.

    Auch die Einstellung zum Präsidenten hat sich nicht wesentlich verändert. Seine Zustimmungswerte sind seit Ende 2020 um einen Prozentpunkt gesunken (seit vergangenen September um fünf) und liegen heute bei rund 64 Prozent. Das Vertrauen in den Präsidenten ist innerhalb von drei Monaten um drei Prozentpunkte gesunken (auf 29 Prozent; gestellt wurde eine offene Frage, bei der die Befragten Politiker nennen sollten, denen sie vertrauen). Obwohl die Gründe für diese Veränderungen nur schwer eindeutig zu beurteilen sind, klingt das mehr nach den Auswirkungen der zweiten Welle von Corona-Verboten als nach einer Reaktion auf Nawalnys Untersuchung.

    Also bestätigt der Film die schlimmsten Befürchtungen derjenigen, die sowieso schon von den Machthabern enttäuscht sind – vor allem junge Leute, Internet-Nutzer und Follower von Telegram-Kanälen. Diejenigen, die die Regierung unterstützen, sind gewissermaßen immun gegen solche Enthüllungen.

    Man sollte anmerken, dass selbst in den sozialen Gruppen, die dem Regime am kritischsten gegenüberstehen, die Zahl der Loyalisten immer noch hoch bleibt (bis zur Hälfte der Befragten) – bei weitem nicht alle Kritiker des Regimes sind auch Befürworter Nawalnys. Der Anteil seiner Unterstützer bewegt sich in diesen Gruppen normalerweise zwischen einem Drittel und einem Viertel der Befragten.

    Proteste als „Aufstand der Kinder“ … 

    Kommen wir zu den Protesten. Die werden überwiegend negativ bewertet. Damit unterscheiden sich die jüngsten Ereignisse deutlich von den Protesten in Chabarowsk und sogar von denen in Moskau 2019. Damals war die Bevölkerung eher bereit, mit den Protestierenden zu sympathisieren. Wie sich unschwer erraten lässt, herrscht die negative Einstellung vor allem unter Vertretern der älteren Generation, Fernsehzuschauern und Unterstützern des Regimes vor.

    Der größte Vorwurf gegen die Organisatoren scheint darin zu bestehen, dass sie Jugendliche, Schüler und Kinder auf die Straße gelockt hätten. Charakteristisch ist folgendes Bild, das einer unserer Befragten äußerte: „Das ist ein Kreuzzug der Kinder“, die am Ende alle „in die Sklaverei verkauft“ würden. Dabei spielt es keine Rolle, dass dieser Eindruck den Fakten nicht standhält: Untersuchungen zeigen, dass die Hauptmasse der Demonstranten Menschen zwischen 25 und 35 Jahren waren – keineswegs Kinder. Das Bild des „Schülerprotests“ hat sich tief in die Köpfe eines großen Teils der Bevölkerung eingebrannt, und es wird schwer werden, sie vom Gegenteil zu überzeugen.

    … und Nawalny als „Verführer der jungen Generation“ 

    Das Problem mit den Januar-Protesten ist also gar nicht, ob sie nach der Pause, die Nawalnys Stab ausgerufen hat, weitergehen. Es ist gut möglich, dass sie in irgendeiner Form weitergehen. Das Problem ist, dass die aktuellen Proteste beim Großteil der russischen Gesellschaft keinen Rückhalt finden. Das bedeutet wiederum, dass es schwierig wird, die Teilnehmerzahl zu steigern. Die Machthaber haben einen Nerv getroffen, indem sie die Proteste als einen Aufstand der Kinder und Nawalny als Verführer der jungen Generation zeichneten: die Überzeugung des überwiegenden Teils der älteren Bevölkerung, dass „wir unsere Jugend verlieren“ und dass wir diesen Prozess so schnell wie möglich unterbinden müssen, auch mit harten Mitteln.

    Ein weiterer Faktor, der ein Zunehmen der Proteststimmung hemmen könnte, ist die angelaufene Massenimpfung, die schrittweise Aufhebung der Quarantäne-Beschränkungen und die Rückkehr zum normalen Leben. Erinnern wir uns daran, dass im vergangenen Jahr schon die kurze Atempause zwischen der ersten und der zweiten Welle den Russen ein gewisses Maß an Optimismus einflößte und sie die Situation deutlich positiver einschätzen ließ.

    Nawalny versus Trägheit

    Das alles schmälert natürlich nicht die Verdienste von Alexej Nawalny und seinem Team. Die Umfragen zeigen, dass er heute der prominenteste Oppositionspolitiker ist. Er gehört längst zu den zehn Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, denen die Russen am meisten vertrauen. Aber es bedurfte jahrelanger mühevoller Arbeit und ständiger Medienpräsenz, um dieses Vertrauen zu gewinnen. Ein Verschwinden aus den Nachrichten könnte ihn schnell in Vergessenheit geraten lassen. Die Frage ist, ob die politische Maschine, die Nawalny über die Jahre aufgebaut hat, auch ohne ihn funktionsfähig ist.

    Zudem wird die Wahrnehmung Nawalnys unter anderem auch von Faktoren beeinflusst, die nur geringfügig von seinen Bemühungen abhängen: vom Verhältnis von Internet- zu Fernsehpublikum, von den sinkenden Ratings der Machthaber, die vor allem auf ihrem eigenen Unvermögen beruhen, den Wohlstand der Bürger zu mehren, und anderen ureigenen Fehlern. Die Anstrengungen Nawalnys und seiner Mitstreiter prallen immer wieder auf die Toleranz der russischen Gesellschaft gegenüber Korruption, die Akzeptanz der staatlichen Gewalt, auf den Generationenkonflikt, auf die erlernte Hilflosigkeit, die in unserer Gesellschaft sehr weit verbreitet ist, sowie auf das Gefühl der Alternativlosigkeit der aktuellen Ordnung der Dinge. 

    Das Beispiel Nawalny zeigt, dass jeder, der in Russland etwas grundlegend verändern will, nicht nur gegen das Regime ankämpfen muss, sondern auch gegen eine ungeheure Trägheit in der Gesellschaft.

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  • Das überschätzte Internet

    Das überschätzte Internet

    Das staatliche Fernsehen ist die wichtigste Nachrichtenquelle in Russland. Wie der Soziologe Denis Wolkow in seinem Beitrag auf Vedomosti schreibt, informiert sich gerade bei außenpolitisch wichtigen Ereignissen wie in der Ukraine oder in Syrien etwa die Hälfte der Bevölkerung ausschließlich über staatliche Kanäle. Das Staatsfernsehen ist über Infrastruktur aus Sowjetzeiten überall gut zu erreichen. Unabhängige Online-Medien dagegen haben eine weitaus geringere Reichweite. Auch deswegen hängen die meisten Russen der offiziellen Darstellung aktueller Ereignisse an. Wäre das anders, wenn sich mehr Menschen über unabhängige Medien informieren würden? Denis Wolkow, der am renommierten Lewada-Zentrum forscht, kommt zu einem überraschenden Schluss.

    Das Wie, die Art und Weise der Berichterstattung, wird in Russland in den letzten Jahren immer wesentlicher von den staatlichen Fernsehsendern gestaltet. Und das trotz der stetig wachsenden Bedeutung des Internets als Informationsquelle. Heute informiert sich ungefähr jeder fünfte Bewohner Russlands über verschiedene Websites und die sozialen Netze. Vor sieben Jahren waren es noch weniger als zehn Prozent. All das geschah auf Kosten von Radio und Presse – deren Reichweite sank erheblich.

    Mit dem Beginn des Ukraine-Konflikts hat sich der Propaganda-Ton in Sendungen heftig verschärft. Dann haben die Fernsehsender fast zwei Jahre lang in einem Ausnahmemodus gearbeitet, ähnlich dem während des Georgienkrieges 2008.

    DAS INTERNET NICHT ZU HOCH BEWERTEN

    Die Bedeutung des Internets als Raum frei zugänglicher Informationen sollte nicht zu hoch bewertet werden. Wenn auch fast 70 Prozent der Bevölkerung heute regelmäßig das Internet nutzen, beziehen je nach befragter Quelle nur 20 bis 25 Prozent der Russen Nachrichten aus dem Internet. Wobei der Hälfte von ihnen als Haupt-Informationsquelle Medien dienen, die Nachrichten aggregieren und nur selektive, bruchstückhafte Informationen bieten, ohne Kontext und Analyse.

    Unterteilt man das Segment der Nachrichten-Websites mit Hintergrundinformationen grob in regierungstreue und unabhängige, so ist die Leserschaft der unabhängigen Medien online sogar in etwa so groß wie die der regierungstreuen. Das ist nicht nur dem interessanten Content zu verdanken, den letztere produzieren, sondern liegt auch daran, dass die Redaktionspolitik erfolgreicher Online-Medien stark gesteuert wird.

    Lenta.ru beispielsweise, eines der beliebtesten Online-Nachrichtenportale Russlands (seine Leserschaft betrug in Moskau ungefähr ein Fünftel der Bevölkerung, was mit der Publikumsgröße eines mittleren Fernsehsenders vergleichbar ist) verlor im Frühjahr 2014 seine Chefredakteurin [Galina Timtschenko – dek] samt Redaktion – infolge eines Konflikts mit dem Besitzer über die Berichterstattung zu den Ereignissen in der Ukraine. Das neue Onlineportal Meduza, das von einem Teil der einstigen Redaktionsmitglieder gegründet wurde, wird bisher von weniger als einem Prozent der Bevölkerung regelmäßig genutzt.

    QUALITÄTSJOURNALISMUS IST NUR IN INFORMATIONSGHETTOS MÖGLICH

    Mit anderen Worten: Erfreut sich ein russisches unabhängiges Medium zunehmender Beliebtheit, riskiert es den Verlust seiner Unabhängigkeit. Qualitätsjournalismus ist in Russland nur in kleinen, vom Staat sorgfältig überwachten Informationsghettos möglich. Wobei ein großer Teil der russischen Bevölkerung außerhalb der Reichweite der unabhängigen Medien liegt.

    Insgesamt lässt sich das Publikum aller unabhängigen russischen Medien – also die Zahl jener Menschen, die Beiträge von wenigstens einem unabhängigen Medium lesen, hören oder sehen – mit 30 Prozent der Bevölkerung beziffern, in Moskau mit ungefähr 60 Prozent. Denn in der Hauptstadt, der größten russischen Metropole, ist die Medienlandschaft am vielseitigsten.

    Der Zugang zu Informationsalternativen bedeutet allerdings noch nicht, dass man ihre Meinung übernimmt. Und die Ansichten der oben genannten Bevölkerungsgruppe zur Situation im Land und zur Regierungspolitik unterscheiden sich praktisch nicht von den Meinungen der Gesamtbevölkerung.

    AUCH DIE INFORMATIONSELITE BEFÜRWORTET DIE KRIM-ANNEXION

    Merklich andere Meinungen finden sich nur bei den Mediennutzern, die die Entwicklungen der Ereignisse über verschiedene unabhängige Kanäle gleichzeitig verfolgen und dafür drei oder mehr unabhängige Informationsquellen nutzen. Aber das sind nur rund 10 Prozent der Bevölkerung, unter den Moskauern ungefähr 30 Prozent. Diese besonders gut informierten Bürger kann man als Informationselite Russlands bezeichnen, und gerade bei ihr ist die Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik bedeutend größer als in der Gesamtbevölkerung.

    Auch diese elitäre Gruppe unterstützt jedoch in großen Teilen das russische Regime (wenn auch die Werte niedriger liegen als im Bevölkerungsdurchschnitt). Die Mehrheit von Lesern unabhängiger Medien befürwortet die Krim-Annexion, misst der Geschichte um den Tod der Pskower Fallschirmjäger keine große Bedeutung bei und freut sich, wenn von einem Schiff im Kaspischen Meer aus russische Raketen auf syrische Ziele geschossen werden.

    Diese Mediennutzer sollten besser als alle anderen Bescheid wissen, deshalb lassen sich ihre Ansichten nicht etwa damit erklären, dass sie zu wenig informiert seien, der offiziellen Propaganda blind vertrauten oder Geschichten über „gekreuzigte Jungen“ und „missbrauchte Mädchen“ glauben würden. Hier braucht es eine andere Erklärung.

    Untersuchungen zur Einstellung der Bevölkerung hinsichtlich der Vorkommnisse in der Ukraine oder in Syrien zeigen, dass die Zustimmung zur russischen Ukraine-Politik maßgeblich mit einer besonderen Sicht auf das Geschehen zusammenhängt.

    RUSSLAND IST DAS GUTE, SEINE GEGNER SIND DAS BÖSE

    Die russische Propaganda zeichnet ein ziemlich primitives Bild, wonach Russland ausschließlich auf der Seite des Guten, des Friedens und der Ordnung steht, alle seine Gegner dagegen das Böse, Chaos und Gewalt verkörpern. Eine solche Auffassung des Geschehens gibt dem russischen Durchschnittsbürger ein Gefühl des Auserwähltseins. Gleichzeitig erscheint die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen als Beweis der wiedererwachenden Größe des eigenen Landes.

    Wie Teilnehmer aus den Fokusgruppen bei Diskussionen in soziologischen Untersuchungen meinen, „zeigt Russland die Zähne“, „zwingt es andere dazu, die Rechnung nicht ohne Russland zu machen“ und „ihm den nötigen Respekt zu erweisen“ und bringt anderen bei, wie man den internationalen Terrorismus bekämpft. Das erzeugt Befriedigung und vermittelt das Gefühl, bedeutend zu sein. Das Gefühl, am Wirken der Großmacht beteiligt zu sein, ist dem aufgeklärten russischen Publikum also genau so lieb und teuer wie dem russischen Durchschnittsbürger.

    Demgegenüber ist das Russlandbild, das unabhängige Medien zeichnen, weit weniger attraktiv: Hier wird Russland als Aggressor, Erpresser, Bremsklotz dargestellt. Weder Ruhm noch Respekt kann man hier ernten. Da ist es viel angenehmer, gegenüber all diesen unangenehmen Dingen die Augen zu verschließen und einfach die offizielle Version des Geschehens zu übernehmen.

    Nach wie vor ist für die Russen also das staatliche Fernsehen die wichtigste Nachrichtenquelle. Seine Bedeutung hat in den vergangenen Jahren sogar noch zugenommen, obwohl die Zahl der Internetnutzer im Verhältnis gestiegen ist. Unabhängige Qualitätsmedien sind nicht einmal im Internet die wichtigsten Nachrichtenvermittler. Die Frage, wie groß das Vertrauen der Russen ins Fernsehen ist, ist gar nicht entscheidend – das Bild, das es dem Großteil der Bevölkerung vermittelt, bleibt alternativlos.

    Aber sogar die bestinformierten Bürger, die in erster Linie unabhängige Medien nutzen und Zugang zu höchst detaillierten und objektiven Informationen haben, hängen mehrheitlich der offiziellen Darstellung an.

    Sogar bei den aufgeklärtesten Bürgern wird eine kritische Rezeption der Wirklichkeit durch Großmachtsambitionen blockiert. Es ist einfach zu betrügen – sowohl den, der keine Ahnung hat, als auch den, der sich selbst betrügen will.

     


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