Anastasia Taylor-Lind „Diese Menschen haben auch ein Leben jenseits des Krieges“
[bilingbox]Ich arbeite jetzt seit acht Jahren im Donbass, immer zusammen mit der Autorin Alisa Sopova, die aus der Stadt Donezk stammt. Wir haben uns 2014 in Swjatohirsk kennengelernt, als Alisa dort als Übersetzerin arbeitete. Mittlerweile lebt sie in den USA und promoviert in Anthropologie an der Princeton Universität. Ich bin die Autorin dieser Fotografie und im Grunde ist Alisa die Co-Autorin, da wir unsere Berichterstattung für das Projekt 5K from the frontline immer zusammen gemacht haben. Derzeit ist es im Imperial War Museum in Manchester ausgestellt und wird im Februar 2023 nach London wandern.
Die letzten fünf Jahre haben wir immer wieder dieselben Familien und Gemeinden besucht, die manchmal nur 30 Meter von militärischen Stellungen entfernt lebten. Die meisten Menschen, die wir kennen, sind inzwischen von zu Hause geflohen und zu Binnenflüchtlingen geworden. Einige Männer sind zur Armee gegangen.
Das Bild von Anna ist aus dem Jahr 2019. Es war ihr erster Besuch am Grab ihres Sohnes. Der Sohn hatte eine Granate in seinem Garten gefunden, sie aufgehoben und wurde getötet. Der Friedhof selbst liegt inmitten eines Minenfelds. Tatsächlich gelangt man nur über eine schlammige Straße und dann über ein schwer vermintes Feld nach Opytne.
Ich habe mehrere Menschen fotografiert, die gekommen waren, um die Gräber zu besuchen und zu pflegen. Wir haben uns dann entschieden, uns auf die Geschichte von Anna zu konzentrieren. Typischerweise fängt Alisa an, eine Geschichte zu schreiben, dann zeige ich ihr die Fotos und dann kombinieren wir die Wörter und Fotos und publizieren sie in den Sozialen Medien unter dem Hashtag #5Kfromthefrontline.
Wie immer bei kreativer Zusammenarbeit, ist die Urheberschaft von Text und Fotos eher fluide. Außerdem haben wir zwei Perspektiven: die Innensicht und die Außensicht.
Ich lebe in einem Land, wo meine Familie seit einer Generation nicht direkt betroffen ist von Krieg. Mich interessiert sehr, wie wir Geschichten vom Krieg erzählen können auf eine Art, die Menschen bewegt, die das nie erlebt haben: Wie können wir Menschen helfen sich vorzustellen, wie es wäre, wenn Krieg heute hierher kommen würde, auf die Straße draußen vor meinem Fenster? Welche Dinge würde ich mitnehmen, wie würde auch mein Hund ins Auto passen? Zum Beispiel.
Alisa dagegen kommt aus der Stadt Donezk, musste 2014 zu Beginn des Konflikts fliehen und lebt jetzt in einem anderen Land. Aus dieser Perspektive, treibt sie – und im Ergebnis auch mich – die Frage um, wie wir diese Menschen respektvoll und nicht als andersartig zeigen können? Sobald der Krieg irgendwo hinkommt, wird das Leben der Menschen ziemlich schnell unangenehm und hässlich, doch das heißt nicht, dass wir die Menschen so zeigen müssen. Sie sind nicht nur Opfer des Krieges, sondern auch Menschen mit einer Biographie und einem Leben jenseits des Krieges.
Auch hinsichtlich unseres Publikums gibt es Dualität: Diese Bilder sollen von Menschen betrachtet werden, die nicht wissen, was und wie Krieg ist. Aber wir wollen auch, dass die Menschen auf unseren Fotos diese Bilder sehen und sich darin wiedererkennen.
Fotografen können keine Kriege beenden. Aber natürlich spielen sie eine Rolle darin, besonders die Fotojournalisten. Letzten Monat war ich in einem Pressebüro in Charkiw und einer der Pressereferenten sagte mir, dass seit der russischen Invasion mehr als 7000 Presseakkreditierungen ausgegeben worden seien. Das ist nicht genug. Wir brauchen mehr als 7000 Journalisten, die die Geschichten erzählen, was in dem Land geschieht. So funktioniert das natürlich nicht – aber wenn man jede kleine Siedlung, die angegriffen wurde, nehmen und einen Fotografen, einen Schriftsteller und einen Fernsehjournalisten dorthin schicken würde, hätten wir nicht genug Journalisten. Es gibt so viele wichtige Geschichten zu dokumentieren – für die Nachrichten und als historische Dokumente.~~~„These are people with lives that extend beyond the events of war“
I’ve been working in Donbas for eight years, always together with writer Alisa Sopova, who is herself from Donetsk city. We met in 2014 in Sviatohirsk back when Alisa was working as a translator. She now lives in the United States where she is finishing an anthropology PHD at Princeton University.
I am the author of this photograph and Alisa is the co-author since we made all our reporting together for this project 5K from the frontline. It is currently exhibited at the Imperial War Museum in Manchester and touring to London in February 2023. Over the last five years we visited the same families and communities who lived sometimes as close as 50 meters from military positions. The largest battle in Europe since WW2 is currently taking place in Donbas. Most of the people we know have fled their homes and become IDPs. Some men have joined the military. This picture of Anna is from 2019. It was the first time she’s visited her son’s grave. Her son found a grenade in his garden, picked it up, and was killed. And the graveyard itself lies in a minefield. In fact, you had to drive along a mud track, through a field that is heavily mined, in order to get to Opytne itself.
I photographed different people visiting and cleaning the graves, and we decided to focus on the story of Anna. Typically Alisa starts writing stories and then I show her the photographs and we match up these words and photographs to publish on social media with the hashtag #5Kfromthefrontline.
As with all creative collaborations, in terms of authorship over the text and the photographs, there is some fluidity. And we have two perspectives: the insider and the outsider. I live in a country where war hasn’t directly affected my family for one generation. And I am very interested in how we can tell war stories in a way that is engaging for people who’ve never experienced it. How we can help people imagine, what it might be like if war arrived here today, on the street outside my window? What of my things would I pick up and carry with me, how would I get the dog in the car too? for example.
Whereas Alisa is from Donetsk city and had to flee at the start of the conflict in 2014 and now lives in another country. From that perspective, what she thinks very carefully about – and as a result, I do too – is how do we represent these people in a way that’s respectful and not othering? As soon as war arrives in a place, people’s lives become miserable and ugly pretty quickly, but that doesn’t mean we have to depict individuals in that way. They are not only victims of war, but also a person with a biography and a life that extends beyond the events of that war. There’s also duality in terms of our audience: We want people who don’t know what war is like to see the pictures, but we also want the people in our photographs to see them and to recognize themselves in these images.
Photographers can’t stop wars. But they certainly have a part to play in them, especially photojournalism. I was at a press office in Kharkiv last month and one of the press officers told me there have been more than 7000 journalist accreditations given out since the full scale Russian invasion. It’s not enough. We need more than 7000 journalists to tell the stories of what is happening in the country. I mean, of course, it doesn’t work like this but if you took every small settlement that had been attacked and assigned one photographer and one writer and one TV journalist to go there, we don’t have enough journalists. There are so many important stories to record – for the news and as historical documents.[/bilingbox]
ANASTASIA TAYLOR-LIND
ist eine britisch-schwedische Fotojournalistin, die über Frauen, Krieg und Gewalt berichtet. Sie fotografiert für das National Geographic Magazine, sie ist TED Fellow und Harvard Nieman Fellow 2016. Anastasia schreibt Gedichte über aktuelle Konflikte und über Erfahrungen, die sie nicht fotografieren kann.
PUBLIKATIONEN u.a. in National Geographic Magazine, Time, The New Yorker, The Wall Street Journal, The Guardian, Die Zeit.
Foto: Anastasia Taylor-Lind Bildredaktion und Konzept: Andy Heller Textprotokoll: dekoder-Redaktion Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf/dekoder Veröffentlicht am 20.10.2022
Überraschungen gab es bei diesen Wahlen keine: Drei Tage lang waren rund 45 Millionen Wahlberechtigte in mehr als 80 russischen Regionen an die Wahlurnen gerufen. Weit vorne bei diesen ersten Regionalwahlen seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine, liegt die Regierungspartei Einiges Russland.
Doch wie verlief der Wahlkampf, wie verliefen die Wahlen selbst? Und können sie als eine Art Stimmungstest für oder gegen den Krieg gelesen werden? Jan Matti Dollbaum beantwortet diese und weitere Fragen in unserem Bystro.
1. Können diese Wahlen als eine Art Stimmungstest für oder gegen den Krieg gelesen werden?
Nein. Keine der größeren Parteien hat sich gegen den Krieg positioniert. Neben der dominanten Partei Einiges Russland haben sich sowohl die LDPR, als auch die KPRF und die (im letzten Jahr mit zwei Kleinstparteien fusionierte) Partei Gerechtes Russland eindeutig für die sogenannte „Spezialoperation“ ausgesprochen. Insofern gab es in Bezug auf die Position zum Krieg keine Auswahl – und daher taugten die Wahlen auch kaum zum Stimmungstest.
Darüber hinaus griffen bei den Wahlen die bekannten Mechanismen des russischen autoritären Regimes, mit denen einige Kandidaten von der Wahl ausgeschlossen wurden, Beobachter teils in ihrer Arbeit behindert und einige sogar festgenommen wurden. Außerdem lassen insbesondere die Ergebnisse des online erfolgten Teils der Wahlen große Zweifel an ihrer Korrektheit aufkommen. Auch wenn es also eine echte Auswahl zwischen einem pro- und einem Anti-Kriegslager gegeben hätte, dann hätte der Kreml dafür gesorgt, dass letzteres klar verliert.
2. Die Regionalwahlen waren die ersten Wahlen seit Beginn des Angriffskriegs. Wie hat der Krieg den Wahlkampf oder die Wahlbeteiligung beeinflusst?
Der Krieg hat die Wahlen insofern beeinflusst, als dass er den politischen Wettbewerb und den Diskurs noch einmal stärker eingeschränkt hat. Das begann schon im Jahr 2021 mit der außerordentlichen Repression gegen oppositionelle PolitikerInnen und AktivistInnen sowie gegen unabhängige Medien, die in der Rückschau plausibel als Kriegsvorbereitung erklärt werden kann. Aufgrund der repressiven Gesetzgebung, die die Berichterstattung zum Krieg stark einschränkt, konnte er zudem nicht auf eine Weise diskutiert werden, die eine unabhängige Meinungsbildung ermöglicht hätte.
In Regionen mit relativ hohem Potential für Protestwahl, wo die systemischen Oppositionsparteien bei der letzten Dumawahl im Herbst 2021 gut abgeschnitten und diesmal bei den Gouverneurswahlen theoretisch Chancen gehabt hätten – etwa in Marii El, Udmurtien und Jaroslawl – haben diese Parteien ihre stärksten Kandidaten nicht ins Rennen geschickt – oder sogar überhaupt niemanden aufgestellt.
All das hat dazu beigetragen, dass die Regionalwahlen im Schatten des Krieges zu einem noch unwichtiger erscheinenden Ereignis wurden, als sie es ohnehin sind.
3. Gab es bei dieser Wahl irgendeine Überraschung?
Bei den Gouverneurswahlen liegen ausnahmslos die vom Kreml unterstützten Kandidaten vorn und auch bei die regionalen und lokalen Wahlen gab es keine Überraschungen. Ella Pamfilowa, Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission, hat die Wahlen als „ziemlich langweilig“ bezeichnet.
Aufmerksamkeit haben, wenn überhaupt, die Nachrichten über Fälschungen erregt. Neben den üblichen Verfahren – etwa wenn Wahlhelfer große Pakete vorausgefüllter Wahlzettel in die Urnen werfen – haben diese auch mit der im letzten Jahr eingeführten elektronischen Stimmabgabe zu tun. In Moskau liegt bei den Lokalwahlen die offizielle Wahlbeteiligung nach Auszählung der elektronisch abgegebenen Stimmen unrealistisch hoch bei über 30 Prozent. Zum Vergleich: Im Jahr 2017, als es eine breite und sichtbare Oppositionskampagne gab, lag sie bei gut 14 Prozent. Sogar Sergej Mironow, der Vorsitzende der systemischen Oppositionspartei Gerechtes Russland, beklagte, dass er in seinem Wahllokal abgewiesen wurde, weil er laut Wahlhelfern schon elektronisch abgestimmt hatte. Die Vermutung liegt also nahe, dass die nicht kontrollierbare elektronische Wahl zu erheblichen Manipulationen genutzt wird.
4. Ist überhaupt noch irgendeine Art von Opposition im Land, die bei solchen Wahlen antreten kann?
Nach der Zerstörung von Alexej Nawalnys Organisationen im Jahr 2021 haben die Behörden auch im Vorfeld dieser Wahlen noch verbliebene kritische Stimmen zum Verstummen gebracht. Die wichtigsten sind der ehemalige Bürgermeister Jekaterinburgs Jewgeni Roisman und Nawalnys Mitstreiter und Oppositionspolitiker Ilja Jaschin. Die Festnahmen waren Reaktionen auf Äußerungen der beiden gegen den Krieg.
Funktionierende Oppositionsgruppen, die – wie im Herbst 2019 in Moskau – Protest gegen Wahlmanipulationen organisieren könnten, gibt es so gut wie nicht mehr, wenn man von den systemischen Oppositionsparteien absieht, die derzeit vollkommen loyal sind. Allein die marginale sozialliberale Partei Jabloko trat „Für Frieden“ an – als einzige Organisation, die sich nicht dem sogenannten „Donbass-Konsens“ unterordnet. Doch aufgrund der geltenden Gesetzeslage ist auch Jabloko sehr vorsichtig.
5. Gab es Strategien, die Wahlen kreativ zum Ausdruck von Protest zu nutzen?
Nawalny hatte aus dem Gefängnis zur Teilnahme an seinem Projekt Smart Voting aufgerufen, und auch sein Chefstratege Leonid Wolkow hat regelmäßig den Nutzen des taktischen Wählens beschworen. Beim Smart Voting gibt Nawalnys Team Empfehlungen an oppositionell gesinnte Wählerinnen und Wähler dazu, welchen Kandidaten sie ihre Stimme geben sollen – um die Chance zu erhöhen, gegen die Kandidaten der Partei Einiges Russland zu gewinnen. Diesmal hatte sich das Team entschieden, nur Kandidatinnen und Kandidaten zu empfehlen, die sich gegen den Krieg ausgesprochen hatten – eine Abweichung vom früheren Vorgehen, bei dem die ideologische Position für Empfehlungen zweitrangig war, was in der Vergangenheit regelmäßig Streit innerhalb der Opposition provoziert hatte.
Doch selbst in Nawalnys Team schien die Überzeugung nachzulassen, dass dieses Instrument in den aktuellen Umständen etwas bewirken kann. Wolkow erklärte in einem Interview, dass man lange abgewogen habe und sich nur aufgrund der Nachfrage aus den eigenen Reihen dazu entschlossen habe, Smart Voting auch diesmal – und nur in Moskau – zu organisieren. Auch wenn heute, am 12. September, das offizielle Endergebnis noch aussteht, ist nicht damit zu rechnen, dass Smart Voting Erfolge zu vermelden hat.
6. Warum gibt es denn überhaupt noch Wahlen, wenn das Regime sich doch offenbar auf Repressionen stützt und daher eigentlich keiner Legitimität bedarf?
Wahlen einfach abzuschaffen, läge sicher in der Macht des Kreml, käme aber einem Signal der Kapitulation gleich. Denn auch höchst repressive autoritäre Regime überleben nicht allein durch Repression. Zur Generierung von Legitimität können wirtschaftliche Erfolge, militärische Siege und eben auch gewonnene Wahlen dienen. In Russland sind die ersten beiden derzeit rar, also bleiben nur Wahlerfolge, insbesondere die von Gouverneuren. Es ist den Entscheidern im Kreml allerdings wohl klar, dass wenige tatsächlich von diesen Wahlerfolgen überzeugt sein werden. Doch auch wenn die meisten Menschen von Manipulationen ausgehen, zeigen diese Wahlen doch, dass es keine Organisationen gibt, die etwas dagegen setzen können. Die Wahlen dienen also aktuell weniger dazu, Legitimität zu erzeugen, als die Dominanz des Kreml zu illustrieren und seine Fähigkeit, die gewünschten Ergebnisse zu produzieren. Sie können und sollen in erster Linie entmutigen.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.