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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Infografik: Das Wahlwunder von Primorje

    Infografik: Das Wahlwunder von Primorje

    Fast wäre Andrej Ischtschenko Gouverneur geworden. Gouverneur des Primorski Krai mit der Hauptstadt Wladiwostok im Fernen Osten Russlands. Nachdem am Einheitlichen Wahltag am 9. September keiner der Kandidaten dort eine absolute Mehrheit erzielen konnte, kam es am Sonntag zur Stichwahl zwischen Andrej Ischtschenko von der Kommunistischen Partei und dem Interims-Amtsinhaber Andrej Tarassenko von Einiges Russland. Während der Auszählung sah es die meiste Zeit gut aus für den Kommunisten – doch dann änderte sich das Ergebnis schlagartig.

    Ein Kommunist als Gouverneur – das wäre im gegenwärtigen Russland eine Sensation gewesen. Von den über 80 Föderationssubjekten werden die allermeisten von Mitgliedern der Machtpartei Einiges Russland geführt, nur zwei Gouverneure sind dagegen von der KPRF. 

    Nun sah es lange so aus, als würde mit Andrej Ischtschenko ein dritter dazu kommen. Als 95 Prozent aller Protokolle aus den Wahllokalen ausgewertet waren, führte Ischtschenko noch mit fast 6 Prozentpunkten Abstand gegenüber seinem Kontrahenten Tarassenko (51,6 Prozent zu 45,8 Prozent). Medienberichten zufolge gab es später über eine Stunde lang keine Aktualisierungen mehr auf der Seite der Zentralen Wahlkommission

    Bei einem Auszählungsstand von 99 Prozent aller Protokolle sah das Ergebnis jedoch ganz anders aus: Plötzlich lag Interims-Amtsinhaber Tarassenko vorn. Im vorläufigen Endergebnis wird dessen Stimmanteil mit 49,55 Prozent angegeben, der von Ischtschenko mit 48,06 Prozent. Das bedeutet, dass die neuen bzw. geänderten Ergebnisse aus nur einer Handvoll Wahllokalen den plötzlichen Sprung im Gesamtergebnis verursacht haben. Welche das sind, lässt sich in unserer Karte mit der entsprechen Filterauswahl nachvollziehen:

     


    Zum Zoomen mit dem Mausrad die Strg-/Ctrl-Taste gedrückt halten oder in den Vollbildmodus wechseln. Die Auswahl „Neue Ergebnisse“ zeigt Wahllokale, deren Protokolle um 6:41 Uhr Moskauer Zeit erstmals in der Gesamtrechnung berücksichtigt wurden. „Geänderte Ergebnisse“ zeigt Wahllokale, deren bereits berücksichtigte Protokolle noch nachträglich umgeschrieben wurden. Dargestellt sind 1310 von 1537 Wahllokalen – für die fehlenden lagen keine Koordinaten vor. Quelle: ZIK

    Die KPRF spricht von Wahlfälschungen, ihr Kandidat Ischtschenko hat auf seiner Facebook-Seite zum Protest aufgerufen und einen Hungerstreik verkündet. Auch Wahlanalysten äußern Zweifel an einem regelkonformen Zustandekommen eines solch abrupten Wechsels in den Ergebnissen. So schreibt etwa Alexander Kirejew auf seinem Blog: „Genau so sieht es aus, wenn Wahlergebnisse nachträglich umgeschrieben werden.“ 

    Der Physiker Sergej Schpilkin, der auch schon Unregelmäßigkeiten etwa bei der Dumawahl 2016 oder der diesjährigen Präsidentschaftswahl publik gemacht hatte, weist auf Besonderheiten in der Stimmverteilung hin. Diese werden erkenntlich, wenn man die Ergebnisse aus den Wahllokalen nach deren Wahlbeteiligung sortiert und in einem sogenannten Histogramm darstellt:

     

    Quelle: ZIK

    Die Glockenkurve um die Spitze bei etwa 30 Prozent Wahlbeteiligung markiert für Schpilkin den Bereich, der am ehesten einer Gaußschen Normalverteilung gleicht, was Schpilkin als Indiz für eine weitgehend ehrliche Auszählung wertet. Dort hat tatsächlich der Kandidat der KPRF mehr Stimmen geholt. 

    Der Kandidat von Einiges Russland dagegen hat deutlich mehr Stimmen in den Wahllokalen mit überdurchschnittlich hoher Wahlbeteiligung geholt. Der berühmte „Zackenbart“, die Ausreißer bei bestimmten Wahlbeteiligungs-Werten am rechten Ende der Skala (oft bei runden Zahlen wie 80 oder 95 Prozent), die eine deutliche Abweichung von einer Normalverteilungskurve darstellen, deuten für Schpilkin auf erfundene Ergebnisse hin.

    Ella Pamfilowa, Chefin der Zentralen Wahlkommission, erklärte, dass man erst allen Beschwerden nachgehen wolle, bevor das amtliche Ergebnis der Gouverneurswahl im Primorski Krai verkündet wird. Dabei schloss sie auch eine Annullierung der Wahl nicht aus. 

    Update: Am 20. September hat die Wahlkommission des Primorski Krai die Ergebnisse der Stichwahl vom 16. September für ungültig erklärt. Eine Wiederholung der Wahl fand am 16. Dezember statt. Andrej Ischtschenko von der Kommunistischen Partei blieb die Zulassung zur Wahl verwehrt. Eine Reihe von Wahlbeobachtern sprach in diesem Zusammenhang von einem Verstoß gegen das Wahlrecht. Außerdem gab es zahlreiche Hinweise auf Wahlfälschungen. Laut offiziellem Wahlergebnis gewann Oleg Koshemjako, der neue Kandidat von Einiges Russland, mit rund 62 Prozent der Stimmen.

    Text und Datenvisualisierung: Daniel Marcus
    erschienen am 17.09.2018 (Aktualisierung: 17.01.2019)

    Diese Infografik wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Editorial: Der Urknall des Gnosmos

    Editorial: Der Urknall des Gnosmos

    Der Urknall des Gnosmos,

    liebe Leserinnen und Leser, war ein eher geräuschloser. Die Materie, das geballte Russland-Wissen aus den dekoder-Gnosen, existierte ja bereits, sie suchte nur einen neuen Raum. Den gibt es nun hier: gnosmos.dekoder.org.

    Im April hatte ich in Hamburg eine Fortbildung zum Thema Datenjournalismus besucht. Die neu erworbenen Fähigkeiten wollten natürlich im Feld erprobt werden. Schnell waren die 270 dekoder-Gnosen mit ihren 1465 Verlinkungen in ein solches Bild verwandelt: 

    Ich war elektrisiert. Dieses Spinnennetz, gewoben aus dekoder-Gnosen, erinnerte mich an Ideen, die dekoder-Gründer Martin Krohs immer wieder in unseren Planungskonferenzen auf den Tisch gebracht hatte, die aber, weil scheinbar zu kompliziert, vorerst in der mentalen Schublade „schön, aber aktuell nicht realisierbar“ gelandet waren.

    Ich schickte das Bild zu Martin herüber, und ein paar Augenblicke später kam von ihm die Antwort: „Super! Der Gnosmos!“

    Es war von Anfang an Teil von Martins dekoder-Vision, dass unsere Plattform nicht nur Hintergrundkompetenzen und aktuelle Artikel liefern sollte, sondern auch die Bezüge zwischen diesen Inhalten zeigen – das, so sein Ansatz, wäre mindestens ebenso wichtig, um Russland zu entschlüsseln. In seiner Idealvorstellung vom Gnosmos, dem „Kosmos der Gnosen“, sollte es eine grafische Darstellung dieser Bezüge geben, die sich automatisch aktualisiert und durch die der User in einer dynamischen Art und Weise hindurchnavigieren kann.

    Mit dem obigen Spinnennetz war ich der Sache nun ein entscheidendes Stück näher gekommen. Also beschloss ich, diese Fährte wieder aufzunehmen, was mich – der ich eigentlich gar kein Programmierer bin, sondern studierter Philosoph – vor einige Herausforderungen stellte. Zum Beispiel sollte sich, dachte ich mir, die Größe der Knotenpunkte nach der Anzahl ihrer Verlinkungen richten, man bräuchte farblich unterschiedene Kategorien, eine Suchfunktion, Vorschau-Texte, und natürlich sollte das Ganze am Besten noch in 3D sein.  

    Wie ein besessener Maulwurf grub ich mich durch unzählige Tutorials (Gott schütze die Nerds und ihre Foren, in denen sie so großzügig ihr Wissen teilen!), klickte mich durch die kuriosesten Beispiele und experimentierte mit allerlei Code-Fetzen herum.

    Zwischenzeitlich drohte das Projekt zu einem riesigen Schwarzen Loch für mich und meine Freizeit zu werden. An anderen Tagen war die größere Gefahr, anstelle einer interaktiven Datenbank einen 90er-Jahre-Space-Shooter zu programmieren:

    Nun, mehrere Wochen, einige schlafdeprivierte Nächte, nicht wenige ausgerupfte Haare und gut tausend Zeilen Code später, stelle ich erleichtert fest: Draußen scheint die Sonne, ich bin nicht vollends zum Maulwurf geworden und der Gnosmos nicht zum Ballerspiel. 

    Im Russlanddiskurs geht es ja oft um gefühlte Wahrheiten oder Behauptungen, die mit Tatsachen bestenfalls noch ansatzweise zu tun haben. Umso wichtiger sind die Stimmen von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, die sich methodisch und über Jahre hinweg mit ihrer jeweiligen Thematik auseinandergesetzt haben, ihre vielschichtige Literatur aufs Genaueste kennen, eigene Interviews geführt, statistische Daten ausgewertet haben. Auf dekoder finden sie zu einem ständig wachsenden Wissensschatz zusammen, den man gar nicht spektakulär genug präsentieren kann.

    Erkenntnisreiche Erkundungsflüge wünscht allen Gnosmonautinnen und Gnosmonauten

    euer Daniel
    Social-Media-Redakteur und Gnosmos-Architekt

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  • Editorial: Buch mit bewegten Bildern

    Editorial: Buch mit bewegten Bildern

    Eine reine News-Seite sollte dekoder.org nie sein. Zwar informieren wir auch über aktuelle Entwicklungen in und um Russland: über die gemischten Gefühle ob des gigantischen Umsiedlungsprogramms in Moskau etwa, oder die Diskussionen um die ukrainischen Internetsperren. Doch übersetzen wir ebenso sowjetische Familienschicksale aus dem Zweiten Weltkrieg und andere zeitlose Geschichten. dekoder ist auch „so etwas wie ein Buch über Russland“: ein Buch, das – ganz wie das Land selbst – einlädt zum Stöbern, Staunen und Sich-Verlieren.
     
    Damit dabei die Übersicht nicht verloren geht (das Buch wird immer dicker, inzwischen finden sich über 500 Artikelübersetzungen, Debattenschauen und Gnosen darin!), haben wir damit begonnen, alte, aber nach wie vor höchst lesenswerte Texte in Dossiers zu bündeln. 
    Themen, die immer wieder eine Rolle spielen, sind zum Beispiel der Große Vaterländische Krieg 1941–1945 oder die Medienlandschaft in Russland – während der mittlerweile bald zwei Jahre dekoder sind dazu eine Vielzahl unterschiedlichster Materialien zusammengekommen. Weitere Dossiers folgen in Kürze.
     
    Das virtuelle Russland-Buch wird nicht nur sortierter, sondern auch bunter. Als der gerade freigelassene Ildar Dadin von Foltererlebnissen während seiner Haft berichtete oder als der russische Diplomat Wladimir Safronkow neulich im UN-Sicherheitsrat mit einem wenig diplomatischen Tonfall für Empörung sorgte, stand für uns fest: Das lässt sich nicht in Texten beschreiben, das muss man sehen. Nun freuen wir uns, mit den Videobotschaften des Oligarchen Alischer Usmanow unser erstes untertiteltes dekoder-Video präsentieren zu können. Auch das soll kein Einzelfall bleiben – Anlässe gibt es ja genug: bewegte Bilder für bewegte Zeiten.
     
    Wer kein Kapitel verpassen möchte, der kann sich bequem jeden Freitag über die neuesten Zuwächse im dekoder-Buch informieren lassen – über unseren Newsletter.
     
    Es grüßt herzlich
     
    Daniel Marcus
    Social-Media-Redakteur 

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  • Editorial: Wenn es kompliziert wird

    Editorial: Wenn es kompliziert wird

    Sei es die europäische Flüchtlingskrise, sei es der Ukraine-Konflikt: Wenn fundamental gegensätzliche Narrative das Gespräch erschweren oder gar unmöglich machen – was ist da die Rolle der Medien? Um Fragen wie diese ging es auf der n-ost Medienkonferenz On the Tightrope. Journalism in a polarized Europe, zu der an diesem Wochenende in Moskau mehr als 100 Teilnehmer zusammenkamen. Wir von dekoder waren als Medienpartner dabei und haben in unserem Workshop Curate, Translate, Contextualize intensiv darüber diskutiert, inwiefern ein Nationalgrenzen überschreitender Journalismus eine Antwort auf die Herausforderungen für einen Dialog sein kann. 

    Vor allem aber haben wir viele spannende Menschen kennengelernt – darunter nicht wenige, die wir auch schon auf dekoder übersetzt haben: Etwa Irina Prochorowa, die neulich im Meduza-Interview eine neue politische Sprache forderte. In ihrem Diskussionsbeitrag betonte sie, dass totalitäre Ideen derzeit in Ost wie West attraktiv und populär werden, und rief zu einer gemeinsamen Anstrengung auf, um sie zu überwinden: „Russland und Europa“, sagte sie, „sitzen im selben Boot.“

    Alexey Kovalev, der Nudelentferner, berichtete über die Anfänge seines Projekts InoSMI.ru, das ausländische Medienartikel ins Russische übersetzt und inzwischen – ohne ihn – Teil der staatlichen Medienagentur Rossija Sewodnja ist. Von Dmitry Okrest konnten wir uns nochmal ausführlich schildern lassen, was Besucher im militärpatriotischen Park Patriot erwartet. Und daheim bei Olga Beshlej (die mit dem riesigen rosa … und der hassgeliebten Studienkameradin aus Lettland) haben wir – ganz nach sowjetischer Tradition – bis spät in die Nacht philosophisch-politische кухонные разговоры, Küchengespräche, geführt. 

    Die großen Probleme konnten in diesen drei Tagen nicht geklärt werden. Viele der Panel-Diskussionen schienen die Kommunikationsschwierigkeiten eher zu veranschaulichen als zu lösen. Und dennoch ist es gut zu wissen, dass es so viele Menschen gibt, die sich auch in einer derart polarisierten Welt und allen oft ernüchternden Resultaten zum Trotz immer wieder zusammensetzen, um nach einer gemeinsamen Sprache zu suchen – Menschen, denen gerade aufgrund der bestehenden Deutungs- und Meinungsunterschiede an einem tieferen Verständnis der Lage gelegen ist.

    „Russland und Europa sitzen im selben Boot.“ (Irina Prochorowa)
    „Russland und Europa sitzen im selben Boot.“ (Irina Prochorowa)

    Das nehmen wir dankbar mit, um auch weiterhin mit unseren Artikelübersetzungen, Gnosen und Presseschauen einen Beitrag zu leisten dafür, dass Ost und West füreinander lesbar werden. Mehr und mehr bemühen wir uns, dabei neben den Text auch das Bild zu stellen: Mit unseren Infografiken haben wir im vergangenen Monat ein neues Format eingeführt, um Informationen unmittelbar visuell darzustellen. 

    Die Grafiken zeigen etwa, wie sich Putins Umfragewerte über die letzten Jahre entwickelt haben, wie sich die neu gewählte und in dieser Woche konstituierende Duma zusammensetzt oder welche statistischen Anomalien der Physiker Sergej Schpilkin bei der Dumawahl festgestellt hat. Bei fast allen Darstellungen lässt sich dabei allerlei klicken, auseinander- und zusammenschieben oder auswählen – es war uns wichtig, dass die Grafiken viele interaktive Möglichkeiten bieten, was technisch gesehen mitunter unerwartet kompliziert war. Aber so ist es eben mit der Interaktion: Es ist nicht immer einfach, sie in Gang zu bringen. Doch wenn sie einmal funktioniert, dann lohnt sie sich.

    Es grüßen aus Moskau

    Social-Media-Redakteur Daniel Marcus und Gnosen-Redakteur Leonid Klimov

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  • Presseschau № 31: Freilassung Sawtschenkos

    Presseschau № 31: Freilassung Sawtschenkos

    Lange war darauf hingearbeitet worden: Am Mittwoch dieser Woche, dem 25. Mai, durfte die ukrainische Militärpilotin Nadija Sawtschenko in die Ukraine ausreisen.

    Sie war zwei Jahre in Russland festgehalten und im März zu 22 Jahren Haft verurteilt worden. Nun wurde sie gegen die russischen Staatsbürger Alexander Alexandrow und Jewgeni Jerofejew ausgetauscht. Die beiden waren 2015 im Donbass aufgegriffen worden. Ihnen wurde vorgeworfen, als Angehörige des russischen Militärgeheimdienst gegen die Ukrainische Armee gekämpft zu haben, was Moskau allerdings bestritt. Ein Kiewer Gericht hatte sie noch im April zu je 14 Jahren Haft verurteilt.

    Sawtschenko war während ihrer Gefangenschaft zur Ikone in ihrer Heimat aufgestiegen: In Abwesenheit wurde ihr etwa die Auszeichnung „Heldin der Ukraine“ verliehen. Im Fall Jerofejew/Alexandrow dagegen hatte Moskau vor allem betont, dass sie als Freiwillige in der Ukraine gekämpft, ihren Dienst in Russland zuvor quittiert hätten. Offiziell sind keine russischen Einheiten vor Ort.

    Entsprechend fiel der Empfang für die drei Freigelassenen in ihren Heimatländern jeweils sehr unterschiedlich aus: Sawtschenko wurde von Präsident Petro Poroschenko und weiteren hochrangigen Politikvertretern geradezu triumphal willkommen geheißen, Jerofejew und Alexandrow dagegen in Moskau lediglich von ihren Frauen begrüßt.

    International fand die Freilassung große Resonanz. Hochrangige Politiker, darunter der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier, äußerten die Hoffnung, dass der Gefangenenaustausch sich auch auf die weitere Lösung des Konflikts positiv auswirke.

    Rossijskaja Gaseta: Auf Wunsch der Hinterbliebenen

    Der Kreml betonte, dass die Freilassung vor allem den Hinterbliebenen der – laut Anklage von Sawtschenko – getöteten Medienleuten zu verdanken sei. Die Witwe und die Schwester zweier Verstorbener hätten Putin bei einem Treffen um Begnadigung Sawtschenkos gebeten und so einen Gefangenenaustausch erst ermöglicht. Die Rossijskaja Gaseta, Amtsblatt der russischen Regierung, berichtet:

    [bilingbox]Wie der Pressesprecher des Präsidenten Dimitri Peskow erklärte, „waren dem Treffen Schreiben der genannten Personen vom 22. und 23. März an das Staatsoberhaubt vorausgegangen, in denen sie, Marianna Dimitrijewna und Jekaterina Sergejewna, aus humanitären Erwägungen den Präsidenten darum bitten, Sawtschenko zu begnadigen.“ Das Staatsoberhaupt unterschrieb einen Ukas über die Begnadigung der ukrainischen Pilotin.~~~Как пояснил пресс-секретарь президента Дмитрий Песков, „этой встрече предшествовали обращения на имя главы государства от упомянутых родственниц, которые были написаны еще 22 и 23 марта соответственно, в котором Марианна Дмитриевна и Екатерина Сергеевна исходя из соображений гуманности просят президента помиловать Савченко“. Глава государства подписал указ о помиловании украинской летчицы.[/bilingbox]

    Slon.ru: Verlegenes Schweigen

    Nun sind auch die beiden Gefangenen Jerofejew und Alexandrow wieder in ihrer Heimat – Russland wisse jedoch einfach nicht, wie es mit ihnen umgehen soll, kommentiert Oleg Kaschin auf dem unabhängigen Portal Slon.ru:

    [bilingbox]Jewgeni Jerofejew und Alexander Alexandrow sind für Russland nicht einfach nur keine Helden, sondern es ist völlig unklar, wer sie überhaupt sind – im besten Fall Opfer des ukrainischen, repressiven Systems . […]

    Das verlegene Schweigen, mit dem Russland Nadeshda Sawtschenko zum Flugzeug begleitet und mit dem es zwei der eigenen Staatsbürger mit unklarem Status empfängt – das ist vielleicht die wichtigste psychologische Folge des Donbass-Krieges für Russland. Der hat Russland gelehrt, verlegen zu schweigen. Und begleitet von diesem Schweigen müssen wir nun immer weiterleben.~~~Евгений Ерофеев и Александр Александров для России не просто не герои, а вообще непонятно кто, в лучшем случае жертвы украинской репрессивной системы. […]

    Неловкое молчание, которым Россия провожает Надежду Савченко и встречает двух своих граждан с непонятным статусом, – это, может быть, главное психологическое последствие донецкой войны для России. Она приучила Россию неловко молчать, и под аккомпанемент этого молчания нам еще жить и жить.[/bilingbox]

    Spektr: Nadeshda, halte durch!

    Auch der Journalist und Kriegsreporter Arkadi Babtschenko vergleicht die unterschiedliche Art und Weise, mit der Sawtschenko, Jerofejew und Alexandrow in ihren Heimatländern jeweils empfangen werden. Auf dem russischen Exil-Medienprojekt Spektr, das unter dem Dach einer lettischen Medien-NGO firmiert, warnt er Sawtschenko:

    [bilingbox]Meiner Meinung nach beginnt für die ukrainische Gesellschaft im Fall Sawtschenko jetzt tatsächlich eine der schwierigsten Zeiten: die Entheiligung. Denn ein lebender Mensch wird niemals dem von der Gesellschaft für ihn erdachten Bild entsprechen – und das ist für viele schmerzhaft und schwer. Für manche mag es gar wie Verrat wirken. Und nach Sawtschenkos Temperament zu urteilen – geradeheraus, harsch und nicht gewohnt, sich in Worten und Taten zurückzunehmen – wird sie diesen Vorgang nur beschleunigen.

    Also, Nadeshda, halte durch: Jetzt werden sie dich so richtig in die Mangel nehmen, wie noch nicht mal vorm Kadi in Donezk.~~~На мой взгляд, для украинского общества в вопросе Савченко теперь вообще начинается один из самых трудных периодов — деканонизация. Потому что живой человек никогда не будет соответствовать придуманному ему обществом образу, а это для многих очень болезненно и тяжело. А кем-то воспринимается даже как предательство. И, судя по характеру Надежды — прямому, резкому, не привыкшему сдерживать себя ни в словах, ни в поступках — она этот процесс только ускорит.

    Так что, Надежда, держись: как теперь тебя начнут «полоскать» — не полоскали даже на судилище в Донецке.[/bilingbox]

    TASS: Guter Anfang

    International wurde der Gefangenenaustausch immer wieder mit der Hoffnung auf weitere Fortschritte im Rahmen der Minsker Vereinbarungen verbunden. Ähnlich äußerte sich auch Pawel Krascheninnikow, Chef des Duma-Ausschusses für Gesetzgebung, den die staatliche Nachrichtenagentur TASS zitiert:

    [bilingbox]„Wir lassen unsere Leute nicht im Stich. […] Sowohl im Fall Sawtschenko als auch bei unseren Jungs wurden alle Verfahrensweisen eingehalten. Alles wurde im Einklang mit der Russischen Verfassung und den Rechtsnormen durchgeführt“, erklärte Krascheninnikow gegenüber der Nachrichtenagentur TASS.

    Ihm zufolge sei das ein Ausdruck für die immer noch bestehende Möglichkeit eines Dialogs zwischen Russland und der Ukraine auf völkerrechtlichem Gebiet. „Es ist durchaus erfreulich, dass es auf juristischer Ebene Kontakt zwischen den Ländern gibt“, fügte Krascheninnikow hinzu.~~~„Мы своих не бросаем. […] А в случае и с Савченко, и с нашими ребятами все процедуры были соблюдены. Все было проведено в соответствии с Конституцией РФ и правовыми нормами“, – заявил Крашенинников ТАСС.

    По его словам, это говорит о сохраняющейся возможности диалога между Россией и Украиной в международно-правовой сфере. „Не так плохо, что есть контакт в правовой области“, – добавил Крашенинников.[/bilingbox]

    Vedomosti: Kein großer Schritt vorwärts

    Die Autoren der regierungsunabhängigen Tageszeitung Vedomosti dagegen warnen vor allzu großen Hoffnungen:

    [bilingbox]Die Rückkehr von Sawtschenko sowie Jerofejew und Alexandrowitsch zeigt wohl eher, dass Fortschritt prinzipiell möglich ist. Was die Erfüllung des Minsker Abkommens angeht, ist es ein Schritt vorwärts, aber kein großer. Zumal das Minsker Abkommen einen gleichzeitigen Austausch „aller gegen alle“ vorsieht. Andererseits ist nun auch möglich, dass sich etwas bewegt in den Fällen anderer Gefangener, die es auf beiden Seiten gibt. […] Hat der Kreml Sawtschenko ausgetauscht für eine Lockerung der Sanktionen im Gegenzug? Da wird sich in den nächsten Monaten nichts bewegen. Das ist erst für das Jahr 2017 realistisch, sofern es weitere Fortschritte bei der Konfliktlösung gibt. Vorerst hat sich Russland vor allem damit hervorgetan, dass es Humanität gezeigt hat.~~~Возвращение Савченко и Ерофеева с Александровым скорее обозначает принципиальную возможность прогресса. Это шаг вперед в плане выполнения минских соглашений, но небольшой. Тем более что минские соглашения предусматривают обмен „всех на всех“ и одномоментно. С другой стороны, теперь возможны подвижки в делах других кандидатов на обмен, которые есть с обеих сторон. […] Обменял ли Кремль Савченко на ослабление санкций? Не в ближайшие месяцы. Реалистичный срок при условии прогресса в урегулировании – 2017 год. А пока главная награда для России – ощущение проявленного гуманизма.[/bilingbox]

    dekoder-Redaktion

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  • Presseschau № 29: Tag des Sieges

    Presseschau № 29: Tag des Sieges

    Der Tag des Sieges am 9. Mai erinnert an den Sieg der Sowjetunion über Hitlerdeutschland und gilt als wichtigster Nationalfeiertag im russischen Kalender. Der Große Vaterländische Krieg, wie der Krieg zwischen 1941 und 1945 auch heute noch in Russland überwiegend genannt wird, hat kaum ein Familienschicksal unberührt gelassen. Die Erinnerung daran sitzt tief im kollektiven Bewusstsein. Daher ist der Tag des Sieges für viele Menschen in Russland ein Tag großer Emotionen – sowohl bei denen, die sich in der offiziellen Form des Gedenkens wiederfinden, als auch bei denen, die sich genau daran reiben.

    Insbesondere die Einführung neuer Gedenktraditionen, wie das Tragen von Georgsbändchen oder das sogenannte bessmertny polk (dt. Unsterbliches Regiment), und der Krieg im Osten der Ukraine befördern in der Mediendiskussion ganz grundlegende Fragen: Was ist es eigentlich, was hier gefeiert werden soll? Und ebenso: Wie soll es gefeiert werden?

     

    RBC: SÄULE NATIONALER IDENTITÄT

    Olga Malinowa, Professorin für Politikwissenschaften an der Higher School of Economics, sieht im Sieg von 1945 das wichtigste identitätsstiftende Ereignis nach dem Zerfall der Sowjetunion, wie sie auf dem unabhängigen Wirtschaftsportal RBC schreibt:

    [bilingbox]Der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg wurde in den 2000er Jahren zu einer zentralen Identitäts-Säule des „Wir“, das hinter dem modernen russischen Staat steht. […]

    Dass ausgerechnet der Große Sieg die Hauptstütze einer Erinnerungspolitik wurde, die auf die Bildung einer neuen russischen Identität zielt, ist nur logisch. Es ist fast das einzige Ereignis der russischen Geschichte, welches alle Kriterien der „politischen Tauglichkeit“ erfüllt: Es ist im kollektiven Bewusstsein fest verankert, insofern es auf einer soliden Erinnerungs-Infrastruktur fußt, die hauptsächlich in den 70er und 80er Jahren geschaffen wurde, sowie auf den lebendigen Erinnerungen der älteren Generation; es deckt ein breites Spektrum symbolischer Bedeutungen für die Charakterisierung des „Wir“ ab (und zwar positive) und ist nicht Gegenstand konträrer Bewertungen, die in einem Nullsummenspiel konkurrieren.

    Gleichzeitig wurde angesichts knapper „aktualisierter“ symbolischer Ressourcen der Mythos des Großen Siegs in den letzten 15 Jahren buchstäblich unser aller; er gewann eine Vielzahl neuer Bedeutungen und symbolisiert beinahe alle Aspekte der modernen russischen Identität.~~~Победа в Великой Отечественной войне превратилась в 2000-х годах в центральный столп идентичности „нас“, стоящих за современным российским государством. […]

    То, что именно великая Победа стала главной опорой политики памяти, нацеленной на формирование новой российской идентичности, вполне закономерно. Это чуть ли не единственное событие российской истории, которое отвечает всем критериям „политической пригодности“: оно актуализировано в массовом сознании, поскольку опирается на солидную инфраструктуру памяти, созданную главным образом в 1970–1980-х годах, и пока еще живую память старшего поколения; имеет широкий спектр символических значений для характеристики „нас“ (причем позитивной) и не является предметом противоположных оценок, конкуренция которых воспринимается по принципу игры с нулевой суммой. Вместе с тем в силу скудости „актуализированных“ символических ресурсов миф о великой Победе за последние 15 лет стал буквально нашим всем; он приобрел множество новых смысловых значений и символизирует чуть ли не все аспекты современной российской идентичности.[/bilingbox]

    RUS2WEB: 1945 – PUTINS SIEG

    Einen Schritt weiter geht der Journalist und Blogger Oleg Kaschin auf dem unabhängigen Online-Portal Rus2Web: Er sieht in der offiziellen Erinnerungspolitik eine Art Vereinnahmung des Sieges durch den Kreml.

    [bilingbox]Die Mythologie des Großen Vaterländischen Krieges, die in den 2000er Jahren entstand, ist eine neue Mythologie. In ihr ist Raum sowohl für imperialistischen Revanchismus („Wir können das wiederholen“) als auch für den Chanson-Pathos als auch für die liberal-intellektuelle Empörung – alles hat seinen Ort und alle sind zufrieden.

    Der Witz, dass Putins größte Errungenschaft in den 16 Jahren seiner Herrschaft der Sieg von 1945 sei, ist tatsächlich gar nicht nur ein Witz. Der Sieg ist für den putinschen Staat wirklich von allergrößter Bedeutung – wichtiger geht nicht. […]

    Putin hat den 9. Mai tatsächlich völlig mit sich selbst verknüpft: Wenn du gegen Putin bist, bist du – ob du willst oder nicht – naturgemäß auch gegen die Georgsbändchen, dann gegen die Parade und gegen das Unsterbliche Regiment und überhaupt gegen die Großväter, die gekämpft haben.~~~Мифология Великой отечественной войны, сложившаяся в нулевые, — это новая мифология. В ней есть место и имперскому реваншизму („Можем повторить“), и шансонному надрыву, и либерально-интеллигентскому возмущению — все на месте и все довольны. Шутка о том, что главным достижением Владимира Путина за 16 лет пребывания у власти оказалась победа 1945 года, на самом деле не такая уж и шутка. Победа действительно имеет для путинского государства самое важное — важнее нет — значение. […]

    Путин действительно привязал 9 мая к себе до такой степени, что, если ты против Путина, ты естественным образом, даже сам того не желая, становишься сначала против георгиевской ленточки, потом против парада, и против „бессмертного полка“, и против воевавших дедов вообще.[/bilingbox]

    SPEKTR: AGGRESSIONS-SYMBOLIK

    Zu den alljährlichen Stimmen der Empörung, von denen Kaschin spricht, zählt auch die scharfe Kritik des russischen Journalisten und Autors Arkadi Babtschenko. Sein aktueller Text, der in dem in Lettland erscheinenden Medium spektr sowie auf seinem Blog auf Echo Moskwy veröffentlicht wurde, stieß insbesondere in den sozialen Medien auf große Resonanz.

    Der Tag des Sieges, so Babtschenko, trage inzwischen eine neue Bedeutung, die der ursprünglichen diametral entgegengesetzt sei: Ging es anfangs bei der Militärparade noch um Verteidigung und nicht um Angriff, sei das Fest für ihn – vor dem Hintergrund der Kriege in Georgien und der Ukraine – mittlerweile ein Ausdruck von Aggression und Okkupation.

    Auf drastische Weise äußert er, der als Kriegsberichterstatter in Tschetschenien und Südossetien größtes Unheil hautnah miterlebt hat, sein Unbehagen über den kritiklosen Militarismus:

    [bilingbox]„Nun sehen Sie, wie die Mehrfach-Raketenwerfer vom Typ Uragan über den Roten Platz rollen. Sie kamen in Tschetschenien und Georgien erfolgreich zum Einsatz.“ Diesen Satz schnappte ich auf, als ich auf die Live-Übertragung der Parade im Fernsehen stieß. Eine junge Moderatorin sagte den Satz, mit freudig erhobenem Tonfall.

    Mein Gott, Mädchen, was erzählst du da? Hast du mal gesehen, was diese Uragans mit Tschetschenien gemacht haben? Hast du je gesehen, in was sie die Dörfer verwandeln? Hast du das tschetschenische Dorf Zony gesehen, in dem nicht ein einziges Haus heil geblieben ist, sondern nur Schornsteinschlote aus Aschebergen ragen?

    Ein ganzes Dorf nur mit Schornsteinschloten – eins zu eins wie in den Kriegsfilmen. Nur haben das hier nicht die deutsch-faschistischen Okkupanten angerichtet, sondern diese deine Mehrfach-Raketenwerfer.~~~„Сейчас вы видите, как по Красной площади идут системы залпового огня Ураган. Они успешно применялись в Чечне и Грузии“, — эту фразу я услышал как-то, когда наткнулся по телевизору на трансляцию парада. Произносила её девочка-телеведущая, с приподнято-радостной интонацией. Бог мой, девочка, что ты несешь? Ты вообще видела, что эти Ураганы с Чечней сделали? Ты видела, во что они превращают села? Видела чеченское село Зоны, в котором не осталось ни одного целого дома, а только лишь печные трубы посреди пепелищ? Целое село печных труб — один в один как в кино про войну, только наделали все это уже не немецко-фашистские оккупанты, а вот эти вот твои системы залпового огня.[/bilingbox]

    KOMMERSANT: DAS UNSTERBLICHE REGIMENT UND DIE ERSTKLÄSSLER

    Zu den umstrittensten Elementen des offiziellen Gedenkens zählt die 2012 initiierte und seitdem regelmäßig durchgeführte Aktion vom Unsterblichen Regiment, in die auch die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft einbezogen werden. Im Kommersant berichtet Mascha Traub von den WhatsApp-Gesprächen irritierter Eltern, deren Kinder in der 1. Klasse zur Vorbereitung auf den 9. Mai eine besondere Hausaufgabe bekommen hatten:

    [bilingbox]Den Erstklässlern wurde aufgetragen, Portraitfotos [ihrer Vorfahren, die im Krieg gekämpft hatten – dek.] für das Unsterbliche Regiment mitzubringen. Da die Kinder das mit dem Regiment nicht verstanden und auch die Eltern nicht, entbrannte ein wildes Hin-und-her-Geschreibe:
    – Es müssen Portraits im A4-Format mitgebracht werden, eingerahmt und mit einem Stab zum Hochhalten. Von Großvätern, die im Krieg waren.
    – Gehen auch Großmütter?
    – Nein, wohl nur Großväter.
    – Und wenn wir keinen solchen Großvater haben?
    – Dann findet einen.
    – Bei uns waren weder Großvater noch Großmutter im Krieg, sie sind in Rente.
    – Dann Urgroßväter!!!
    – Ja, man soll drunterschreiben, wo der Großvater gekämpft hat und welchen Rang er hatte. Möglichst in Paradeuniform und mit Orden. Und er sollte … na, ihr wisst schon … er sollte passen … Die Kinder sollen mündlich vortragen, wo der Urgroßvater gekämpft hat, wo er gefallen ist oder nicht gefallen ist und so weiter.~~~Детям-первоклашкам велели принести портреты для „Бессмертного полка“. Поскольку дети про полк ничего не поняли, родители тоже, началась бурная переписка.
    – Нужно принести портреты формата А4 в рамке и на палке. Дедушек, которые воевали.
    – А можно бабушек?
    – Нет, вроде бы нужны только дедушки.
    – А если у нас нет такого дедушки?
    – Найдите.
    – А у нас ни дедушки, ни бабушки не воевали, они на пенсии.
    – Прадедушки!!!
    – Да, нужно подписать, где дедушка воевал, в каком звании. Желательно, чтобы в парадном мундире и с орденами. И чтобы… ну вы понимаете… чтобы подходил… Ребенок должен устно рассказать, где воевал прадед, как погиб или не погиб и прочее.[/bilingbox]

    SLON: AUCH STALIN WAR AGGRESSOR

    In der Debatte um den Tag des Sieges geht es immer auch um eine allgemeine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte beziehungsweise um die Vergegenwärtigung von Geschichte. Im Interview mit dem unabhängigen Nachrichtenportal Slon bemängelt der Historiker und Publizist Boris Sokolow, dass gewisse Aspekte im offiziellen Gedenken ausgeblendet oder zumindest nachrangig behandelt werden:

    [bilingbox]Die Sowjetunion trat als Aggressor in den Krieg ein. Entsprechende Akte der Aggression waren die Besetzung des Baltikums, Bessarabiens, der nördlichen Bukowina sowie der Angriff auf Finnland. Und nur weil Hitler am 22. Juni 1941 Stalin angegriffen hat, heißt das nicht, dass die UdSSR kein Aggressor mehr war.

    Wenn es nämlich umgekehrt gewesen wäre und Stalin hätte es geschafft, Hitler zuerst anzugreifen (und solche Pläne hatte er sowohl 1940 als auch 1941, es gab sogar eine ursprüngliche Angriffsfrist bis zum 12. Juni 1941, festgehalten in den Strategieplänen der Roten Armee vom 11. März desselben Jahres), dann wäre Deutschland in den Augen der Anti-Hitler-Koalition immer noch der Aggressor.

    Warum sollten wir die Sowjetunion hier anders behandeln? Nur weil sie unter den Siegern war?~~~Советский Союз вступил в войну как агрессор. Точно такими же актами агрессии были оккупация Прибалтики, Бессарабии, Северной Буковины и нападение на Финляндию. И от того, что 22 июня 1941 года Гитлер напал на Сталина, СССР не перестал быть агрессором. Ведь если бы было наоборот и Сталин успел бы первым напасть на Гитлера (а такие планы у него были и в 1940-м, и в 1941 году, и был даже установлен первоначальный срок нападения на 12 июня 1941 года, зафиксированный в плане развертывания РККА от 11 марта того же года), то Германия после этого все равно не перестала бы быть агрессором в глазах стран антигитлеровской коалиции. Почему же к Советскому Союзу у нас должен быть иной подход? Только потому, что он оказался среди победителей?[/bilingbox]

    IZVESTIA: SIEG ÜBER DEN FASCHISMUS

    Immer wieder werden Bezüge zu aktuellen weltpolitischen Geschehnissen und insbesondere zum Ukrainekonflikt hergestellt. Entsprechend dem offiziellen Narrativ von der Kontinuität im Kampf gegen den Faschismus schreibt die Schriftstellerin Diana Kadi in der staatsnahen Tageszeitung Izvestia über die Bedeutung des 9. Mai für die Krim:

    [bilingbox][…] Der 9. Mai ist heute für die Bewohner der Krim nicht nur der Tag des Sieges über Deutschland. Mit Blick auf die gegenwärtige Ukraine, als Teil derer die Krim all die Jahre ihr Dasein gefristet hat, haben die Menschen auf der Halbinsel begonnen, den friedlichen Himmel über ihren Köpfen wertzuschätzen.

    Das, was als gegeben galt. Das, wofür unser Urgroßväter ihr Leben gaben. Wir haben das vergessen, erst jetzt erinnern wir uns wieder. Tragische Ereignisse in einst heimatlichen Randgebieten haben uns dazu verholfen, die Erinnerung aufzufrischen und die Bedeutung des Sieges über die Faschisten. Dort, wo Mitglieder der OUN und der UPA […] nicht nur rehabilitiert, sondern als Unabhängigkeitskämpfer gefeiert werden.~~~[…] 9 мая для крымчан сегодня — не только день победы над Германией. Глядя на нынешнюю Украину, в составе которой Крым влачил существование все эти годы, жители полуострова стали ценить мирное небо над головой.

    То, что воспринималось как данность. То, ради чего наши прадеды отдали свои жизни. Мы забыли об этом, а вспомнили только сейчас. Освежить память и значение победы над фашистами нам помогли трагические события, произошедшие в некогда родной окраине. Там, где члены ОУН и УПА […] не только реабилитированы, но и признаны борцами за независимость.[/bilingbox]

    ROSSIJSKAJA GASETA: POSTSOWJETISCHE ZENTRIFUGALKRÄFTE

    In der von der russischen Regierung herausgegebenen Rossijskaja Gaseta beklagt die stellvertretende Chefredakteurin Jadwiga Juferowa, dass durch die individuellen Gedenkformen in der Ukraine und anderen postsowjetischen Ländern das verbindende Element des Sieges vernachlässigt werde. Abgrenzungstendenzen vom sowjetischen Erbe und von Russland würden die gemeinsame Erinnerung gefährden:

    [bilingbox]Warum kamen in vielen postsowjetischen Republiken derartige Zentrifugalkräfte zum Tragen? Jedes Volk möchte eine eigene Geschichte haben und ehren. Wir haben sie zum wiederholten Mal zerstört. Im Jahr 1991 genau wie im Jahr 1917 … Bis auf die Grundfesten. Unter dem gemeinsamen Fundament lag Dynamit von solcher Sprengkraft, dass ihm mit Müh und Not einzig der Große Sieg standhielt (mit all seiner Wucht!).

    Alle begannen ihre eigene großartige Geschichte zu schreiben, „sowjetlos“. Die Historiker schafften es nicht, diese im Leben mehrerer Generationen so wichtige Periode gedanklich zu erfassen, nachdem sie ebenfalls zu Revolutionären geworden waren.~~~Почему многие постсоветские республики взяли такой центробежный разбег? Каждый народ хочет иметь и уважать свою историю. А мы в очередной раз ее уничтожили. В 1991-м так же, как в 1917-м… До основания. Под общий фундамент был заложен такой силы динамит, что с трудом устояла лишь одна Победа (с ее-то мощью!). Каждый начал писать свою великую историю "без совка". Историки не справились с осмыслением этого очень важного периода в жизни нескольких поколений, став тоже революционерами.[/bilingbox]

    NOVAYA GAZETA: LEBEND VERSCHOLLEN

    Die Journalisten der unabhängigen Novaya Gazeta haben anlässlich des 9. Mai die Geschichten ihrer eigenen Vorfahren nachrecherchiert und aufgeschrieben, um einen individuellen Blick auf Kriegsschicksale zu geben, die im allgemeinen Gedenken oft untergehen. So schreibt etwa Dmitri Muratow, Chefredakteur und einer der Gründer der Zeitung, über die Probleme seines Großvaters, als einstiger Feldarzt nach dem Krieg in das zivile Leben zurückzufinden:

    [bilingbox]Bis zu seinem Tod litt er aufgrund seiner schweren Kriegsverletzungen unter Kopfschmerzen und dämpfte sie mit Wodka. Vor nicht allzulanger Zeit begegnete ich Daniil Granin. Er sagte, dass sie, die Frontsoldaten, nach ihrer Heimkehr nicht wussten, was sie mit dem Sieg anfangen sollten. Mein Großvater wusste es wahrscheinlich auch nicht.

    Granin: „Ohne Krieg war alles vorbei, ja, es war ein Glück, dass man noch lebte, ein kurzes Glück, das bald endete. Was würde nun folgen?“

    Mein Großvater hat sich nie als Arzt im zivilen Leben wiedergefunden. Er blieb lebend verschollen.~~~До самой смерти его мучили головные боли от тяжелого ранения и контузии, он глушил их водкой. Я совсем недавно видел Гранина, он заметил, что они, фронтовики, вернувшись, не знали, что им делать с победой. Мой дед, наверное, тоже не знал.

    Гранин: „Без войны все оборвалось, да, есть счастье, что остался жив, короткое счастье, что кончается. И что дальше?“

    Дед не нашел себя на гражданской службе санитарным врачом. Не мог быть без вести живым.[/bilingbox]

    Daniel Marcus, Leonid A. Klimov

     

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