дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Gorbimanie – Gorbiphobie: Rezeption Gorbatschows in Russland

    Gorbimanie – Gorbiphobie: Rezeption Gorbatschows in Russland

    Eine kleine Zeichnung zeigt Michail Gorbatschow mit Hut, über ihm ein Heiligenschein, hinter ihm steht seine Ehefrau in russischer Pelzmütze. Er fragt sie: „Schwebt dieses verdammte Ding immer noch über mir, Raissa?“. 
    Treffender als auf dieser Zeichnung des Karikaturisten Hans Traxler1 aus dem Jahr 1993 ließ sich nicht ausdrücken, dass Gorbatschow in der öffentlichen Wahrnehmung als Heilsbringer überhöht und unerfüllbare Erwartungen an ihn gestellt wurden. Traxler hatte dabei die deutsche Bevölkerung im Blick. Die unmittelbaren Wendejahre 1989/90 waren zwar vorbei, aber Gorbi blieb in Deutschland eine Kultfigur.

    Anders in Russland. Ein russischer Cartoonist hätte zu Beginn der 1990er Jahre einen gegensätzlichen Bezugspunkt gewählt und das Muttermal auf der Stirn Gorbatschows als Zeichen des Antichrist gedeutet. Verschwörungstheorien geisterten durch die russische Öffentlichkeit, dunkle Kräfte galten als verantwortlich für den Untergang des Landes. Dies aber war die Kehrseite davon, dass auch in der Sowjetunion Gorbatschow in den ersten Jahren seiner Amtszeit als Erlöserfigur gesehen wurde. Das Bad in der Menge, begeisterte Zurufe von Bürgerinnen und Bürgern, die euphorisierenden Gespräche mit Arbeitern – all das fand nicht nur 1989 in Bonn auf dem Rathausplatz oder bei Stahlarbeitern in Dortmund statt. 

    Dieselben Szenen hatte es im Sommer 1985 in der Sowjetunion gegeben, als Gorbatschow nach seiner Wahl zum Generalsekretär gemeinsam mit seiner Frau Raissa eine Antrittsreise durchs Land unternahm. Die ersten Stationen waren Leningrad im Mai, Dnepropetrowsk und Kiew im Juni sowie unterschiedliche Orte in Sibirien im September.

    Gorbatschow als Sündenbock

    Zu Beginn der Regierungszeit projizierte die Bevölkerung der Sowjetunion zunächst alle Träume von einem besseren Leben auf den neuen Generalsekretär. Gorbatschow versprach einen allgemeinen Aufschwung des Landes, bessere Wirtschaftsleistung, Entbürokratisierung, demokratische Mitwirkung und einen höheren Lebensstandard – eine optimierte Version des real existierenden Sozialismus. Die Politik von Perestroika und Glasnost setzte jedoch einen dynamischen, unkontrollierbaren Prozess in Gang, der in wenigen Jahren die Grundpfeiler der sowjetischen Ordnung zum Einsturz brachte. Ende Dezember 1991 trat Gorbatschow zurück, die Sowjetunion hörte auf zu existieren, die russländische Föderation unter Führung von Präsident Boris Jelzin trat die rechtliche Nachfolge an. Für den Kollaps des Landes und alle negativen Ergebnisse, die der Reformprozess gebracht hatte, wurde Gorbatschow verantwortlich gemacht. So überzogen die anfangs in ihn gesetzten Erwartungen, so übertrieben dann die kritischen und ablehnenden Beurteilungen. Gorbatschow dient seither in Russland als Sündenbock und negative Integrationsfigur. Aus den verschiedenen politischen Lagern und allen Schichten der Bevölkerung kommen abwertende, oft hasserfüllte Kommentare; regelmäßig kursiert in den Medien das Gerücht, er sei („endlich“) gestorben. 

    1989 – Besuch bei Stahlarbeitern in Dortmund / Foto © thyssenkrupp
    1989 – Besuch bei Stahlarbeitern in Dortmund / Foto © thyssenkrupp

    Noch ist die russische Gesellschaft, aber ebenso die Historikerzunft, weit davon entfernt, die historische Rolle Gorbatschows angemessen und in all ihren Facetten zu beurteilen. Die Gründe, warum er im eigenen Land derart ungeliebt ist, lassen sich jedoch nennen und drei Bereichen zuordnen: 
    Erstens gibt es Ursachen, die unmittelbar mit Gorbatschows politischem Handeln in seiner Regierungszeit in Zusammenhang stehen, zweitens lässt sich die Kritik an ihm auf ein sehr lückenhaftes historisches Gedächtnis der russischen Bevölkerung zurückführen und drittens haben die auf ihn folgenden Regierungen seine Reformen gezielt dämonisiert, um mit dieser Abgrenzung den eigenen politischen Kurs zu legitimieren. 

    Politisches Handeln

    Für die spätere Beurteilung seiner Politik wirkte sich besonders negativ aus, dass Gorbatschow in den Jahren 1985 bis 1991 eine Vermittlerposition zwischen Reformgegnern und Reformanhängern bezog und damit die Unterstützung beider Seiten verlor. Seine Entscheidungen wirkten oft zögerlich und widersprüchlich, seine Reden zwar wortreich, aber folgenlos, sein Handeln unentschlossen und planlos.

    Nur ein Beispiel dafür war seine Haltung zur führenden Rolle der Kommunistischen Partei an der er festhielt, aber gleichzeitig freie Wahlen, Pluralismus und die Errichtung eines Mehrparteiensystems versprach. Gescheitert wäre Gorbatschow vermutlich in jedem Fall an der viel zu großen Aufgabe, das Land in allen Bereichen zu reformieren. Da er aber die Anhängerschaft überall verloren hatte, stand er schließlich als der alleinige Verantwortliche für die Niederlage da, dem nicht nur die eigenen politischen Fehler, sondern ebenfalls die daraus folgenden Probleme wie die katastrophale Wirtschaftslage, die Verarmung der Bevölkerung, der Verlust des Großmachtstatus und die steigende Kriminalität angelastet wurden.

    Öffentliche Erinnerung

    Die öffentliche Erinnerung an die Perestroika weist viele Lücken auf. Die positiven Resultate, an erster Stelle der enorme Zuwachs an Bürger- und Freiheitsrechten, werden heute nicht mit dem Namen des letzten Generalsekretärs verbunden. Der Hauptvorwurf an Gorbatschow lautet, er habe die Sowjetunion zerstört. Dabei wird (ähnlich wie im Westen) ausgeblendet, dass er mit dem Einsatz von Panzern zu Beginn des Jahres 1991 versuchte, die Abspaltung der baltischen Republiken zu verhindern. Die Bürgerinnen und Bürger Moskaus und Leningrads gingen gegen diese gewaltsamen Maßnahmen auf die Straße. Gorbatschow veranlasste im März 1991 ein Referendum für den Fortbestand der Sowjetunion. Er versuchte, einen neuen Unionsvertrag mit den Republiken auszuhandeln, dessen Unterzeichnung zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr realistisch gewesen sein mag. 
    Den faktischen Endpunkt unter die Existenz der UdSSR setzten jedoch die Präsidenten Russlands, der Ukraine und Belarus’, Jelzin, Krawtschuk und Schuschkewitsch, mit dem Abkommen von Beloweshskaja Puschtscha vom 8. Dezember 1991. Gorbatschow als „Totengräber der Sowjetunion“ zu bezeichnen, vernachlässigt die Rolle Jelzins und auch die der russischen Bevölkerung, die hinter den weiterführenden Demokratisierungsplänen Jelzins stand und die Souveränität Russlands begrüßte. 

    Gorbatschow-Bild in der russischen Politik

    Der von persönlicher Feindschaft geprägte Machtkampf der Jahre 1989 bis 1991 zwischen Gorbatschow und Jelzin setzte sich in der Regierungszeit Jelzins fort. Jelzin und seine Regierungsmannschaft begründeten die radikalen Maßnahmen, die sie nach 1991 ergriffen, auch mit dem Verweis auf die Zaghaftigkeit der Gorbatschowschen Reformen. Die Politik unter Jelzin bestand aus der Abgrenzung zu Gorbatschow: Russland statt Sowjetunion, Mehrparteiensystem statt KPdSU, Privatisierung statt kollektive Eigentumsformen, Handeln statt Reden. 
    Mit der Machtübernahme durch Wladimir Putin bekam das Bild Gorbatschows weitere dunkle Flecken. Für Putin stand von Beginn an die Wiederherstellung eines starken Staates im Mittelpunkt seiner politischen Agenda. Da Putin von Jelzin ins Amt gebracht worden war, konnte die Abgrenzung von dessen Politik zunächst nicht auf eine personalisierte Weise stattfinden. Stattdessen sprach Putin vom Untergang der Sowjetunion als größte Tragödie des 20. Jahrhunderts. Zunehmend wurden die „wilden 1990er Jahre“ als abschreckendes Gegenbild zum „neuen Russland“ konstruiert. Daraus folgte die Ablehnung derjenigen, die für die Ergebnisse der Reformen – reduziert auf Untergang, Regellosigkeit und Chaos – die Verantwortung tragen. In der öffentlichen Wahrnehmung sind dies Gorbatschow und Jelzin. Gorbatschows Ansehen scheint jedoch noch schlechter als das Jelzins zu sein, denn während Letzterer vor allem den Makel des „Säufers“ trägt, so gilt Gorbatschow als „Verräter“ und „Volksfeind“.

    Bis zu seinem Tod Ende August 2022 versuchte Gorbatschow, aktiv Politik zu betreiben, sein Image als großer Staatsmann zu pflegen und die Geschichte der von ihm initiierten Perestroika mitzuschreiben. Die von ihm gegründete Gorbatschow-Stiftung wirkt in diese Richtung mit der Veröffentlichung von Dokumenten und öffentlichen Veranstaltungen. Allerdings ist der Erfolg beschränkt. Gorbatschows Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen 1996 endete mit einem katastrophalen Resultat, seine Kommentare zur Rechtmäßigkeit der russischen Besetzung der Krim 2014 verstörten die westliche wie auch die liberale russische Öffentlichkeit.

    Offen ist, wie sich die Wahrnehmung Gorbatschows im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ändert: Alexej Wenediktow, ehemaliger Chefredakteur von Echo Moskwy, sagte in einem Interview kurz vor Gorbatschows Tod im August 2022, dass dieser über den Krieg bestürzt sei: „Natürlich versteht er, was da passiert. Das war sein Lebenswerk. Die Freiheit – das war Gorbatschow.“  Wenn der Wunsch nach Wandel in Russland also irgendwann wachsen sollte, dann werden die Reformen der 1980er und 1990er und ihre Vertreter eventuell in ein positiveres Licht rücken. 

    aktualisiert am 31.08.2022


    Zum Weiterlesen
    Brown, Archie (2001): Gorbachev, Yeltsin and Putin: Political Leadership in Russia’s Transition, Oxford
    Dalos,György (2011): Gorbatschow: Mensch und Macht: Eine Biographie, München
    Gorbatschow, Michail (2013): Alles zu seiner Zeit: Mein Leben, Hamburg
    Kašin, Oleg (2014): Gorbi-drim, Moskau
    Taubmann,William (2017): Gorbachev: His life and times, New York

    1. Traxler, Hans (1993): Der Große Gorbi, Zürich ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

    Weitere Themen

    Perestroika: Wirtschaft im Umbruch

    Musik der Perestroika

    „Die Perestroika lebt“

    Einfache Momente – Alltag der Perestroika

    Truppenabzug 1991–1994

    Perestroika

  • Gerechtigkeit (Sprawedliwost)

    Gerechtigkeit (Sprawedliwost)

    Gegen die breite Ablehnung in der Bevölkerung und gegen die Stimmen aller anderen Parteien hat die Regierungspartei Einiges Russland am 19. Juli 2018 in der Staatsduma in erster Lesung eine Gesetzesänderung über die Erhöhung des Rentenalters befürwortet. 
    In der Sache geht es um die Frage, ob das Rentenalter ab 2019 bis sukzessiv 2034 bei Frauen von 55 auf 63 Jahre und bei Männern von 60 auf 65 Jahre heraufgesetzt werden soll.1Mehr als 80 Prozent der Bürger äußern sich entschieden gegen diese Pläne2, die sie als äußerst ungerecht empfinden. 
    Gerade in der Klage über Ungerechtigkeit scheinen die in einer Gesellschaft geltenden Gerechtigkeitsvorstellungen auf. Und so werfen auch die Reaktionen auf die Erhöhung des Rentenalters ein Schlaglicht darauf, was in der russischen Bevölkerung als gerecht und was als ungerecht gilt.


    In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Eine besonders starke Empörung ruft der Umstand hervor, dass die geplanten Reformen auf einer grundlegenden Ebene die Vorstellung von einem gerechten (Tausch-)Verhältnis zwischen Staat und Bürger verletzten. Dieses beruht auf der Idee, dass die Bürger für die Allgemeinheit Leistung erbringen und dafür eine Gegenleistung in Form von Lohn, gesellschaftlicher Anerkennung und Sicherheit im Alter erhalten.
    Das Gefühl, es mit Ungerechtigkeit zu tun zu haben, wird unter anderem durch die Art und Weise, wie die Gesetzesreform in Gang gebracht wurde, zusätzlich verstärkt. Einerseits entstand der Eindruck, sie sollte im Schatten der Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land unauffällig durchgewinkt werden, andererseits nährte dieser zeitliche Zusammenfall den Verdacht, dass mit der Rentenreform die enormen Kosten der Weltmeisterschaft kompensiert werden sollen. 

    Verantwortlich für das zweifelhafte Vorgehen, das vielen als Betrug am Volk gilt, wird die bürokratische Elite gemacht, die traditionell immer der Korruption und des Egoismus verdächtig ist.

    Der Bürokratie als Ursache für Ungerechtigkeit steht in der Wahrnehmung der „gerechte Herrscher“ als Hüter der Gerechtigkeit gegenüber. Eben nach diesem Muster hat sich Putin bisher aus der Debatte über die Rentenreform herausgehalten, um eventuell in einem späteren Stadium mit einer Abmilderung der Pläne auftreten zu können. Immerhin steht er im Wort, denn 2005 hat er sich klar gegen die Erhöhung des Rentenalters ausgesprochen.3

    Soziale versus politische Gerechtigkeit

    Hier nur kurz skizziert, scheinen in diesem Fall einige Besonderheiten des Gerechtigkeitsverständnisses in Russland auf. Zunächst ist auffällig, dass es meist Verletzungen der sozialen Gerechtigkeit sind, die von weiten Teilen der Bevölkerung wahrgenommen werden und zu Protesten führen können. Moralische Gerechtigkeit als Anforderung an das politische Führungspersonal spielt eine wichtige Rolle, und auffällig ist die herausgehobene Stellung des Staatsführers als höchste gerechtigkeitsschaffende Instanz. 
    Diese Prioritäten im Verständnis von Gerechtigkeit haben ihre Wurzeln in der politischen Ordnung der Sowjetunion, in der rechtsschaffende Institutionen schwach ausgeprägt und nicht unabhängig waren. Herrschaft durfte nicht in Frage gestellt werden und blieb immer stark personalisiert. Der soziale Status und das materielle Wohlergehen des Einzelnen in der Gesellschaft hingen ausschließlich von der Obrigkeit ab.4

    Gleichzeitig bedeutet dies nicht, dass Prinzipien der politischen Gerechtigkeit (wie Gewissens- und Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung und Kontrolle der Macht) sowie der juridischen Gerechtigkeit (wie Forderung nach unabhängigen Rechtsorgangen und Gleichheit aller vor dem Gesetz) keine Rolle spielen würden. Alle russischen Reformer seit den Dekabristen waren diesen Ideen verpflichtet, und alle politischen Führungen bis heute sehen sich unter dem Zwang, diesen Forderungen wenigstens formal zu entsprechen.

    In den verschiedensten konkreten politischen Situationen hat sich jedoch immer wieder gezeigt, dass im Zweifelsfall die soziale Gerechtigkeit gegen die politische ausgespielt wird. Der Mensch lebt zwar „nicht vom Brot allein“5, aber ohne Brot lässt sich auch nicht leben. 
    Die Begründung der Ordnung unter Putin folgt dieser Logik, indem permanent der Zusammenbruch der Staatlichkeit in den 1990er Jahren als negatives Gegenbild zur Gegenwart beschworen wird. Es heißt, hätte Putin nicht Anfang der 2000er Jahre das Ruder herumgerissen, so gäbe es heute keinen Staat mehr und damit weder elementare persönliche noch jegliche soziale Sicherheit, die Gesellschaft wäre in einen Urzustand ohne Gerechtigkeit verfallen. Wo es nichts mehr gäbe, ließe sich auch nichts verteilen.
    Angesichts dieser elementaren Bedrohung scheint die Sicherung der Ordnung die erste Aufgabe des „gerechten Herrschers“, und dem hat sich im Zweifel alles andere unterzuordnen. Bürger, die in dieser Situation die Einhaltung von Prinzipien politischer Gerechtigkeit einfordern, haben es schwer und sehen sich leicht dem Vorwurf ausgesetzt, die Gesellschaft spalten, den Staat schwächen und die Einheit zerstören zu wollen. Sicherheit ist an die Stelle von Gerechtigkeit getreten.6

    Prawda – Wahrheit und Gerechtigkeit

    Auch die Frage, ob sich nun das Verständnis von Gerechtigkeit in Russland von dem in Europa unterscheidet, führt letztlich zur Idealisierung von Einheit als idealem, gottgegebenen Zustand. Diese wurzelt in der engen Verbindung von kirchlicher und weltlicher Gewalt, einer harmonischen Einheit, der sogenannten „Symphonia“, die aus der byzantinischen Tradition ins Moskowiter Zarentum übernommen wurde. Die Vorstellungen von einer göttlichen Ordnung des Guten werden mit dem Begriff Prawda beschrieben, der „Wahrheit“ und zugleich „Gerechtigkeit“ bedeutet.7 Der andere Begriff für Gerechtigkeit, Sprawedliwost, bezieht sich ursprünglich eher auf die moralische Integrität des Individuums.8 Heute werden die Begriffe oft synonym benutzt, eine deutliche Abgrenzung der Semantiken fällt schwer. 
    Es ist aber zu betonen, dass die doppelte Bedeutung des Worts Prawda als Wahrheit und Gerechtigkeit spätestens seit dem 19. Jahrhundert zum Merkmal der kulturellen Identität Russlands hochstilisiert wurde und bis heute dazu dient, ein spezifisches, russisches Verständnis von Gerechtigkeit zu konstatieren. Dazu gehört auch, dass der Gedanke der Gerechtigkeit kaum mit den Vorstellungen von einem autonomen Recht, von Gesetz, Rechtsgleichheit und Rechtsstaat in Verbindung gebracht wird. Auf dieser Grundlage lässt sich auf populistische Weise ein Gegensatz zum „Westen“ konstruieren, der vergeblich versuche mit dem Rechtsstaat Gerechtigkeit zu verwirklichen, während Russland schon aus Tradition über ein höheres Verständnis von Gerechtigkeit verfüge.

    Derartigen Diskursen haftet Beliebigkeit an, oder sie folgen einer bestimmten Intention. Sehr viel greifbarer und „wahrer“ sind dagegen Forderungen nach Gerechtigkeit in konkreten gesellschaftlichen Konflikten. In den vergangenen Jahren waren es meist Verstöße gegen die soziale Gerechtigkeit, die vermochten, die Menschen zu Protesten zu mobilisieren; ob bei der Monetarisierung von Sozialleistungen oder dem Abriss von Plattenbauten, es kommt zu einer explosiven Situation, wenn den Bürgern etwas genommen werden soll, was ihnen verdienter- und damit gerechterweise zusteht. Kritisches Potential und Dynamik entstehen außerdem, wenn die Bürger den Eindruck gewinnen, von einer moralisch zweifelhaften Führung betrogen und für dumm verkauft zu werden. So provozierten allzu offensichtliche Wahlmanipulationen die landesweiten politischen Demonstrationen im Dezember 2011.


    1. Duma.gov.ru: Odobren v pervom čtenii proekt zakona o soveršenstvovanii pensionnoj sistemy ↩︎
    2. Levada.ru: Pensionnaja reforma ↩︎
    3. Am 27. September 2005 im Rahmen der alljährlichen im Fernsehen übertragenen Fragestunde Primaja linia. ↩︎
    4. vgl. Brewer, Aljona/Lenkewitz, Anna/Plaggenborg, Stefan (Hrsg., 2014): „Gerechte Herrschaft“ im Russland der Neuzeit: Dokumente, München ↩︎
    5. Bibelwort, hier: Bezug auf Titel eines bekannten Romans von Valdimir Dudincev, der in der sowjetischen Tauwetterperiode 1956 erschien und die Wirtschaftsbürokratie kritisierte. ↩︎
    6. vgl. Kuhr-Korolev, Corinna: Gerechtigkeit und Herrschaft. Von der Sowjetunion zum neuen Russland, Paderborn 2015. ↩︎
    7. Der erste Gesetzeskodex der Kiewer Rus aus dem 11. Jahrhundert hieß Russkaja Prawda. ↩︎
    8. vgl. Haardt, Alexander u. a.: Kulturen der Gerechtigkeit: Normative Diskurse im Transfer zwischen Westeuropa und Russland, unveröffentlichter Antrag beim BMBF auf Förderung eines Verbundprojektes ↩︎

     

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

    Weitere Themen

    Protest im Netz

    Wlast

    Wer kommt nach Putin und wenn ja, wie viele?

    Russland und Europa

    Juristische Sonderwege

    Infografik: Wer ist Freund, wer Feind?

  • Gulag

    Gulag

    Der Begriff Gulag steht im weitesten Sinne für das sowjetische Lagersystem und damit für den Terror und den Repressionsapparat, den die kommunistische Partei der Sowjetunion zum Erhalt ihrer Macht aufbaute. Der westlichen Öffentlichkeit ist der Gulag seit den 1970er Jahren durch Solschenizyns Buch breiter bekannt geworden: Der Archipel Gulag war die grausame Seite des erklärten ruhmreichen Aufbaus der lichten Zukunft im Kommunismus. Gulag ist die Abkürzung für Glawnoe Uprawlenie isprawitelno-trudowych Lagerei (dt. Hauptverwaltung der Erziehungs- und Arbeitslager). Das Lagersystem unterstand dem sowjetischen Sicherheitsdienst OGPU, seit 1934 NKWD. Es existierte von 1922 bis 1956.

    Die Bolschewiki verfolgten schon unmittelbar nach der Oktoberrevolution 1917 und dem folgenden Bürgerkrieg sogenannte Klassenfeinde und Gegner des Regimes. Auf den Solowezki-Inseln im Weißen Meer entstand der erste Lagerkomplex, dessen Insassen Zwangsarbeit leisten mussten. Während der forcierten Industrialisierung der UdSSR im Rahmen des ersten Fünfjahrplans 1928–1932 wurde das Lagersystem ausgebaut. Die Zahl der Häftlinge stieg in dieser Zeit von 30.000 auf 300.000. Die Lagerhaft zielte offiziell auf wirtschaftlichen Nutzen sowie die Umerziehung der Inhaftierten durch Arbeit. Bekannte Schriftsteller und Künstler wie Maxim Gorki oder El Lissitzky setzten die ersten Großbaustellen mit Zwangsarbeitern propagandistisch in Szene. Zur Erschließung von Rohstoffen sowie zum Aufbau von Industrie und Infrastruktur entstanden Lagerkomplexe in klimatisch unwirtlichen Gegenden Sibiriens und des Fernen Ostens. Neben den Insassen der Lager mussten in diesen Regionen sogenannte Sondersiedler schwere Arbeit leisten. Viele von ihnen waren als Kulaken bezeichnete Bauern, die im Zuge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in den Jahren 1930/31 deportiert worden waren.

    Nach dem bis heute ungeklärten Mord am Leningrader Parteichef Kirow im Jahr 1934 kam eine Repressionswelle in Gang, die in den sogenannten Großen Terror der Jahre 1936 bis 1938 einmündete. Etwa 1,7 Millionen Menschen wurden vom NKWD als Volksfeinde verhaftet, 700.000 von ihnen erschossen. Besonders betrafen die Verhaftungen die Spitze von Partei und Armee, aber ebenso die wissenschaftliche, künstlerische und technische Elite. Da vorgegebene Quoten erfüllt werden mussten, es also pro Gebietseinheit eine vorgegebene Mindestzahl von Verhaftungen geben sollte, konnte es jeden Bürger treffen. Verschwörungen und Beweise wurden erdacht, Schauprozesse inszeniert, Geständnisse unter Folter erpresst. Die Vernichtungsmaschine erfasste selbst den Apparat des NKWD. Nachdem der Geheimdienstchef Jagoda 1936 und sein Nachfolger Jeschow 1938 erschossen worden waren, übernahm Berija bis 1953 die Leitung der Hauptverwaltung der Lager.

    In den Jahren nach Beginn des Zweiten Weltkriegs setzten sich Vernichtungs- und Repressionsmaßnahmen gegen die Bevölkerung fort. Sie betrafen nun auch Polen, Ukrainer, Belarussen und Balten, die durch den Hitler-Stalin-Pakt unter sowjetische Herrschaft gekommen waren. Nach Ende des Krieges wurden ehemalige sowjetische Armeeangehörige, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren, und der Kollaboration verdächtigte Zivilpersonen in den Lagern interniert.

    Als Stalin 1953 starb, saßen circa 2,5 Millionen Menschen in sowjetischen Lagern. Insgesamt waren bis zu 20 Millionen Menschen durch den Gulag gegangen. Nach Schätzungen sollen etwa 2,7 Millionen Menschen im Lager ums Leben gekommen sein. Mehr als eine Million kam 1953 durch eine Amnestie frei. Der Großteil der politischen Häftlinge erlangte nach Chruschtschows Geheimrede 1956 die Freiheit zurück. Die Lagerhauptverwaltung wurde aufgelöst. Die wenigen verbliebenen Lager dienten auch weiterhin als Haftanstalten für politische Häftlinge, deren Zahl mit 8000 bis 20.000 zwischen 1957 und 1989 aber deutlich niedriger blieb als in den Jahrzehnten zuvor.

    Das Thema Gulag konnte seit der Öffnung der sowjetischen Archive in den 1990er Jahren gut erforscht werden. Über die Fakten besteht unter HistorikerInnen weitgehend Einigkeit. Strittig ist in der russischen Fachwelt und Öffentlichkeit jedoch die Frage, welchen Stellenwert dem Thema in der Vaterländischen Geschichte eingeräumt werden soll. Während die einen im staatlichen Terror den Kern des sowjetischen Herrschaftssystems sehen, versuchen die anderen, ihn als möglicherweise unumgängliche Begleiterscheinung des forcierten Aufbaus der Sowjetunion zur modernen Großmacht zu legitimieren.


    Weiterführende Literatur:
    Afanas’ev, Jurij u. a. (Hrsg.) (2004): Istorija Stalinskogo Gulaga, 2. Bd., Moskau
    Applebaum, Anne (2003): Der Gulag, Berlin
    Ivanova, Galina M. (2001): Der Gulag im totalitären System der Sowjetunion, Berlin
    Khlevniuk, Oleg (2004): The History of the Gulag. From Collectivization to the Great Terror, New Haven, London
    Landau, Julia/Scherbakowa, Irina (Hrsg.) (2014): GULAG: Texte und Dokumente 1929–1956, Göttingen
    Memo.ru: SSSR. Istorija repressij: 1917-1991 (wichtigste Sammlung von Materialien online)
    Gulagmap.ru: Karte des Lagersystems

    Weitere Themen

    Die Fragen der Enkel

    Historische Presseschau: Oktober 1917

    Die Täter-Debatte

    Der Große Vaterländische Krieg in der Erinnerungskultur

    „Wir müssen die Erinnerung wiederbeleben“

    Perestroika

  • Perestroika

    Perestroika

    Im engeren Sinne bezeichnet Perestroika die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung, die auf Initiative von Michail Gorbatschow ab 1987 in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Politische Öffnung und größere Medienfreiheit führten bald dazu, dass sich die Forderungen nach Veränderung verselbständigten – obwohl die Reformen neben viel Hoffnung auch viel Enttäuschung brachten. Die Perestroika läutete einen unaufhaltsamen Prozess des Wandels ein und mündete im Ende der Sowjetunion.

    Brot oder Freiheit? Um was ging es den Menschen in der Sowjetunion, als sie die Reformpolitik Gorbatschows begrüßten? Und warum wurde aus dem „Wind of Change“ letztlich ein Hurrikan, der eine Großmacht hinwegfegte?

    Es hat sich eingebürgert, von der Zeit der Perestroika (deutsch: Umbau, Umgestaltung) zu sprechen und damit die gesamte Umbruchphase vom sowjetischen System zum neuen russischen Staat zu meinen. Enger gefasst handelte es sich um die Reformpolitik des letzten Generalsekretärs der KPdSU Michail Gorbatschow, die 1986/87 begann und mit der offiziellen Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 endete.

    Michail Gorbatschow wurde am 11. März 1985 im Alter von 54 Jahren zum Generalsekretär gewählt und erlöste das Land von der Herrschaft der alten Männer. Er gehörte zu jenem Teil der sowjetischen Parteiführung, der deutlich erkannte, dass das Land sich in einer schwierigen innen- und außenpolitischen Situation befand. Besonders im Bereich der Wirtschaft waren Reformen nötig. Durch die Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts (uskorenie) und eine verschärfte Disziplin sollte die Produktivität gesteigert werden. Dies griff zu kurz. Im Januar 1987 kündigte Gorbatschow mit den Schlagworten Perestroika und Glasnost (Offenheit, Transparenz, Öffentlichkeit) eine deutlich entschlossenere Umgestaltung an. Die Mitsprache der Bürger sollte erhöht, die Rechtsordnung gestärkt und die Gesetzgebung verbessert werden. Neue Gesetze erlaubten privatwirtschaftliche Unternehmungen, um Impulse für einen wirtschaftlichen Aufschwung zu geben und die Bevölkerung besser mit Lebensmitteln und Verbrauchsgütern versorgen zu können. Im Frühjahr 1989 fanden die Wahlen zu einem Kongress der Volksdeputierten statt, die den Durchbruch für eine demokratische Entwicklung bedeuteten.

    Briefmarke zu Glasnost und Perestroika aus dem Jahr 1988
    Briefmarke zu Glasnost und Perestroika aus dem Jahr 1988

    Zunächst noch „von oben“ gesteuerte Medienkampagnen gegen Missstände schufen Raum, immer offener über Probleme des politischen Systems zu sprechen. Dieser Prozess entfaltete eine ungeheure Dynamik und konnte bald nicht mehr kontrolliert oder gebremst werden. Umweltprobleme und ihr verantwortungsloser Umgang damit – die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 war nur ein Beispiel dafür – konnten nun ebenso diskutiert werden wie die Verbrechen der Stalinzeit, Misswirtschaft, Amtsmissbrauch, Korruption und Schwarzmarkt. In den Mittelpunkt der Kritik gerieten zunehmend die Parteiherrschaft und das Machtmonopol der Kommunistischen Partei.

    Besonders in den kaukasischen und baltischen Republiken setzten sich Gruppen durch, die stärkere Autonomie oder sogar die Unabhängigkeit von der UdSSR anstrebten. Es kam zu Unruhen und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Nationalitäten, wie zwischen Armeniern und Aserbaidschanern im Konflikt um die Enklave Nagorny Karabach. Die Balten forderten die Veröffentlichung des geheimen Zusatzprotokolls des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 und eine Erklärung über dessen Unrechtmäßigkeit. Schnell stellten die nationalen Unabhängigkeitsbewegungen die Staatlichkeit der UdSSR insgesamt in Frage.

    Zu Beginn der Reformen herrschte Euphorie und die Illusion, die Zukunft brächte bürgerliche Freiheiten und westlichen Wohlstand und bewahre gleichzeitig die gewohnten Sicherheiten des Lebens im Sozialismus. Schon 1990 machte sich Enttäuschung breit. Die Versorgungslage verschlechterte sich dramatisch und die Kriminalität stieg spürbar an. Die Popularität Gorbatschows in der Bevölkerung sank. Konservative Kräfte in der Kommunistischen Partei versuchten, den Reformprozess zu bremsen und entschieden sich im August 1991 zu einem Putsch. Dieser scheiterte am Unvermögen der Putschisten, vor allem aber am Widerstand der demokratischen Kräfte und der russischen Regierung unter der Führung von Boris Jelzin.

    In den letzten Monaten seiner Präsidentschaft bemühte sich Gorbatschow um die Erneuerung des Unionsvertrages. Die Unabhängigkeitserklärungen eines Teils der sowjetischen Republiken und die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) kamen dem allerdings zuvor. Am 25. Dezember wurde die rote Fahne der Sowjetunion im Kreml eingeholt und stattdessen die Trikolore des Nachfolgestaates Russland gehisst. Die Sowjetunion existierte nicht mehr. Das Gesellschaftsprojekt Kommunismus fand damit in Osteuropa ein Ende.


    1. Weiterführende Literatur: ↩︎
    2. Altrichter, Helmut (2009): Russland 1989: Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München ↩︎
    3. Brown, Archie (2009): Aufstieg und Fall des Kommunismus, Berlin ↩︎
    4. Gorbatschow, Michail (1995): Erinnerungen, Berlin ↩︎
    5. Kappeler, Andreas (Hrsg.) (1989): Umbau des Sowjetsystems: Sieben Aspekte eines Experiments, Stuttgart/Bonn ↩︎
    6. Kuhr-Korolev, Corinna (2015): Gerechtigkeit und Herrschaft: Von der Sowjetunion zum neuen Russland, Paderborn ↩︎
    7. Mommsen, Margareta / Schröder, Hans-Henning (Hrsg.) (1987): Gorbatschows Revolution von oben: Dynamik und Widerstände im Reformprozeß der UdSSR, Frankfurt a.M./Berlin ↩︎

    Weitere Themen

    Gorbatschow und die Befreiung von der Lüge

    Presseschau № 28: Tschernobyl

    Leonid Breshnew

    Die 1990er

    Die Wilden 1990er

    Auflösung der Sowjetunion