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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Eine sibirische Odyssee

    Eine sibirische Odyssee

    An den Ufern des Amur im russischen Fernen Osten leben indigene Gemeinschaften bis heute in enger Verbindung mit der Natur. Nenzen, Ultschen und Nanai ernähren sich traditionell vom Fischfang und von der Jagd, sammeln Beeren und Kräuter. Der Amur ist der Mittelpunkt ihres Lebens. Er dient ihnen nicht nur als Nahrungsquelle, viele ihrer Rituale, Lieder und Erzählungen sind mit dem Fluss verbunden. 

    Die indigenen Völker Sibiriens stehen heute vor der Herausforderung, sich an eine sich ändernde Umwelt anzupassen und gleichzeitig ihre Traditionen zu bewahren. Raubbau an der Natur, Umweltverschmutzung und Klimawandel bedrohen ihren Lebensraum. Junge ziehen in die Städte auf der Suche nach Arbeit, immer weniger sprechen noch ihre Stammessprache, traditionelle Lebensformen verändern sich. Gleichzeitig gibt es Versuche, kulturelle Praktiken zu bewahren oder neu zu beleben, etwa durch Sprachkurse oder Kunstprojekte. 

    Kurz nach der Auflösung der Sowjetunion begab sich die französische Fotografin Claudine Doury erstmals auf eine Reise an den Amur. Für ihr Projekt Peuples de Sibérie (deutsch: Völker Sibiriens) wurde sie 1999 mit dem Prix Leica Oskar Barnack ausgezeichnet. Thema ihrer träumerisch-poetischen Bilder sind Erinnerung, Identität und die Übergangsphasen des Lebens. Dourys Arbeit ist eine Mischung aus Dokumentarfotografie und persönlicher Erzählung – sie geht über reine Reportage hinaus und schafft eine subjektive, fast mythische Sicht.  

    2018 kehrte Doury an den Amur zurück, um zu erkunden, wie sich das Leben der indigenen Gemeinschaften über die Jahrzehnte verändert hat. Die Serie A Siberian Odyssey dokumentiert den Verlust traditioneller Lebensweisen, die Folgen der Modernisierung und die Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dieses Projekt ist nicht nur eine visuelle Erkundung Sibiriens, sondern auch eine Reflexion über Erinnerung und Identität. Mit einer weichen, fast malerischen Farbgebung schafft Doury eine träumerische Ästhetik und verweist auf eine tiefere, emotionale Dimension des Lebens in der sibirischen Weite.  

    Die Welle (Siedlung Bulawa im Ultschewski Rajon, Region Chabarowsk) / Foto © Claudine Doury 
    Das Dorf Nergen (Nanaiski Rajon) im Winter / Foto © Claudine Doury
    Der Spiegel (Siedlung Ust-Gur, Nanaiski Rajon) / Foto © Claudine Doury 
    Ein blauer Schmetterling (Siedlung Nergen, Nanaiski Rajon) / Foto © Claudine Doury 
    Die Brüder Kostja und Daniil zuhause in der Siedlung Ust-Gur (Nanaiski Rajon) / Foto © Claudine Doury 
    Das Haus von Anjas Eltern in Nergen (Nanaiski Rajon) / Foto © Claudine Doury 
    Dascha in Nergen, einer Siedlung der Nanai / Foto © Claudine Doury 
    Eine Mahlzeit, Bulawa / Foto © Claudine Doury 
    Anjas Hochzeit in Nergen / Foto © Claudine Doury 
    Marinas Eltern, Nergen / Foto © Claudine Doury
    Kostja, Ust-Gur / Foto © Claudine Doury
    Warten auf Tauwetter, Nergen / Foto © Claudine Doury 
    Der Autofriedhof, Nergen / Foto © Claudine Doury 
    Sommer in Bulawa / Foto © Claudine Doury 
    Margarita, die ehemalige Bürgermeisterin von Nergen / Foto © Claudine Doury 
    Schmetterling und Libelle / Foto © Claudine Doury 
    Eine junge Tänzerin in der Tracht der Ultschen, im Dorf Bulawa / Foto © Claudine Doury 
    Blick aus dem Fenster des Tragflügelboots in Komsomolsk. Es verbindet die Dörfer an beiden Ufern des Amur-Flusses / Foto © Claudine Doury 
    Hochwasser in Chabarowks / Foto © Claudine Doury 
    Amelia in ihrer Schuluniform, Nergen / Foto © Claudine Doury 

     

    dekoder: Was hat Sie dazu bewegt, nach so vielen Jahren nach Sibirien zurückzukehren? 

    Claudine Doury: 1991 machte ich auf einer Reise entlang des Amur-Flusses – von der Quelle bis zur Mündung – Halt im Dorf Nergen. 1997 kehrte ich dann zurück in die Dörfer, um mehr über das Leben der indigenen Sibirier zu erfahren. Die Zeit verging und ich begann mich zu fragen, was wohl aus den Menschen geworden war, die ich damals getroffen hatte.

    Mit dieser Reise hat sich  ein Kreis geschlossen: Ich bin an die Orte meiner ersten eigenen Arbeit zurückgekehrt, um zu sehen, was die Zeit mit ihnen gemacht hat. Und mit mir. 

    Was hat Sie in den 1990er-Jahren überhaupt nach Sibirien gezogen und dazu gebracht, sich fotografisch mit der Region zu beschäftigen? 

    Auf meiner ersten Reise in den russischen Fernen Osten, nach Chabarowsk im Jahr 1991, traf ich Angehörige des Nanai-Volkes. Ich musste sofort an Edward Curtis denken, den amerikanischen Fotografen, der die nordamerikanischen Ureinwohner porträtierte. 
    Damals wusste ich nicht, dass es indigene Völker in Sibirien gibt – und dass sie mit den amerikanischen Ureinwohnern verwandt sind. Ich beschloss daraufhin, Sibirien zu bereisen, um das Leben dieser Menschen fotografisch zu dokumentieren. 

    Zu welcher ethnischen Gruppe gehören die Menschen, die Sie fotografiert haben? 

    Die meisten gehören dem Volk der Nanai im Dorf Nergen und dem Volk der Ultschen im Dorf Bulawa an. Die Nanai leben auf beiden Seiten des Amur, in Russland und in China. 

    Die Ultschen, die ich in Bulawa traf, leben rund 500 Kilometer weiter nördlich am Fluss, gegenüber der Insel Sachalin

    Was hat sich seit den 1990er-Jahren verändert? 

    Das Leben im Fernen Osten Russlands hat sich in den Städten seit 1990 bis 2017 stark verändert – in den Dörfern, die ich besucht habe, dagegen nur sehr wenig. Nach fast dreißig Jahre hatte Nergen noch immer kein fließendes Wasser, und die Straßen waren weiterhin unbefestigt. Es war, als sei die Zeit dort stehen geblieben. 

    Was hat es mit dem geheimnisvollen Spiegel auf sich, der in einem Ihrer Bilder auftaucht? 

    Ich begegnete einer Familie am Amur-Fluss, die viele Kinder hatte, und blieb eine Weile bei ihnen. Für mich war das ein Ort des Glücks. Alle Kinder waren vom Bruder der Mutter adoptiert worden, weil sie krank war und sich nicht um sie kümmern konnte. Die Kinder halfen bei den täglichen Arbeiten, aber sie spielten auch ausgelassen am Fluss. Bei einem Spiel nahm eines der Kinder einen Spiegel und spielte mit dem Licht. 

    In Ihren Bildern tauchen immer wieder Schmetterlinge auf. Haben sie eine besondere Bedeutung? 

    Vielleicht liegt das daran, dass ich nie dem Amur-Tiger begegnet bin…Da habe ich mich auf die Schmetterlinge konzentriert, die in der Sommerzeit in großer Zahl vorhanden waren. 

    Welche Rolle spielt Erinnerung in Ihrer fotografischen Arbeit? 

    Erinnerung steht im Mittelpunkt dieser Arbeit, die sich über fast dreißig Jahre erstreckt. Es geht um die Wirkung der Zeit – auf das Leben der Menschen, die ich fotografiert habe, und auf mein eigenes. Erinnerung und Identität: Ich betrachte das Hier und Jetzt durch das Prisma der Zeit. Zwischen dem, was im Begriff ist zu verschwinden, und dem, was bleibt. 

    Ihre Bilder aus A Siberian Odyssey wirken oft zeitlos, fast traumartig. Würden Sie dieses Projekt heute – nach dem 24. Februar 2022 – anders angehen?  

    Im Moment kann ich mir nicht vorstellen, nach Russland zu reisen. Aber ich hoffe sehr, dass ich meine Freunde dort eines Tages wiedersehen werde.  


    Die französische Fotografin Claudine Doury (geb. 1959) arbeitete als Bildredakteurin für die renommierte Nachrichtenagentur Gamma und die Zeitung Libération, bevor sie sich dokumentarischen Langzeitprojekten widmete. 2000 erhielt sie den World Press Photo Award, 2004 wurde sie mit dem Prix Niépce ausgezeichnet, einem der wichtigsten französischen Fotopreise. In Artek, un été en Crimée (2004) und Sasha (2011) widmet sie sich dem Aufwachsen in post-sowjetischen Gesellschaften. Ihre jüngere Serie A Siberian Odyssey (2018–2020) knüpft an ihr früheres Werk in Sibirien an und reflektiert über kulturellen Wandel, Erinnerung und Zugehörigkeit. 

    Fotografie: Claudine Doury  
    Bildredaktion: Andy Heller 
    Interview: Julian Hans 
    Veröffentlicht am: 15.07.2025 

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