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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Deutscher Überfall auf die Sowjetunion

    Deutscher Überfall auf die Sowjetunion

    In den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 überfiel Hitlers Wehrmacht die Sowjetunion. Eine dreieinhalb Millionen Mann starke Streitmacht marschierte, aufgeteilt in die drei Heeresgruppen Nord, Mitte und Süd, auf einer Frontlinie von mehr als 2000 Kilometern ein. Während Bomber der Luftwaffe Görings die ersten Angriffe auf Kiew, Odessa und Sewastopol flogen, eilte in der Berliner Wilhelmstraße Wladimir Dekanosow, Stalins Botschafter und früherer Chef der Auslandsspionageabwehr, mit versteinerter Miene in das Arbeitszimmer des deutschen Außenministers Joachim von Ribbentrop. 22 Monate zuvor hatte von Ribbentrop im Moskauer Kreml – beseelt vom diplomatischen Coup des Hitler-Stalin-Pakts – noch die deutsch-russische Freundschaft beschworen. Nun informierte er Dekanosow knapp, dass „die Sowjetregierung die Verträge und Vereinbarungen mit Deutschland verraten und gebrochen“ habe und „Deutschland nicht gewillt [ist], dieser ernsten Bedrohung seiner Ostgrenze tatenlos zuzusehen“. Der Führer, beschied Hitlers Außenminister, „hat daher nunmehr der deutschen Wehrmacht den Befehl erteilt, dieser Bedrohung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln entgegenzutreten.“1

    In den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 überfiel Hitlers Wehrmacht die Sowjetunion / Foto © Anatoliy Garanin/Sputnik
    In den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 überfiel Hitlers Wehrmacht die Sowjetunion / Foto © Anatoliy Garanin/Sputnik

    Hitlers Befehl, den lange geplanten und mehrfach verschobenen Fall „Barbarossa“ – so der Deckname für den Feldzug gegen die Sowjetunion – am 22. Juni 1941 in die Tat umzusetzen, war in mehrfacher Hinsicht ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. 

    Unter der fadenscheinigen Behauptung einer sowjetischen Bedrohung, die Stalin in den vorausgegangenen Wochen unbedingt vermieden hatte, begann das „Dritte Reich“ einen grausamen, tatsächlich apokalyptischen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, gegen die Rote Armee und die Zivilbevölkerung, gegen angebliche und wirkliche Widerstandskämpfer, kurzum, gegen all jene, die der vermeintlich unbesiegbaren Wehrmacht und der perfiden völkisch-rassischen Kriegslogik im Wege standen. Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion kostete Dutzende Millionen Menschen das Leben, brachte unvorstellbares, bis in die Gegenwart hineinwirkendes Leid und führte in den Holocaust: die Vernichtung der europäischen Juden in den Bloodlands (Timothy Snyder) Osteuropas. 

    Innerhalb weniger Wochen drangen die Wehrmachttruppen und in ihrem Gefolge die mörderischen SS-Einsatzgruppen Heinrich Himmlers weit auf das sowjetische Territorium vor, bis sie – militärisch bereits jedweder Blitzkriegsillusionen beraubt – im Herbst vor Moskau zum Stehen kamen. Das „Unternehmen Barbarossa“ endete unter anderem an der legendären Wolokolamsker Chaussee, die der russischen Schriftsteller Alexander Bek in seinem gleichnamigen Roman zum Sinnbild für den heroischen Kampfesmut der Roten Armee nahm, ohne die Härten dieses brutalen Überlebens an der Front auszusparen. 

    Am 22. Juni 1941 begann der Große Vaterländische Krieg – der im Nachhinein siegreiche Verteidigungskampf der Sowjetunion gegen die nationalsozialistischen Aggressoren. Das Datum markiert gleichzeitig das Ende der ersten Weltkriegsphase und damit einen  Wendepunkt des Krieges , der in Europa seit September 1939 noch vom Bündnis und nicht von der Gegnerschaft zwischen Hitlers Reich und Stalins Sowjetunion geprägt gewesen ist. In den knapp zwei Jahren des Hitler-Stalin-Pakts wurde Polen geteilt und zu einem ersten Laboratorium des deutschen Vernichtungskrieges. Westeuropa geriet unter die deutsche Besatzung, so, wie das Baltikum, die Westukraine, Westbelarus, Bessarabien und die Nordbukowina in den Machtbereich Stalins. Der allmähliche Niedergang des verheerenden Pakts hatte bereits im Juni 1940 eingesetzt, als Moskau nach den überraschenden „Blitzkriegen“ Hitlers erklärte, nun „selbst im Baltikum zur Tat zu schreiten“.2 In Südosteuropa und in Finnland schließlich karambolierten die geopolitischen Konkurrenzen, so dass auch letzte Verständigungsversuche während der Berlinvisite von Wjatscheslaw Molotow im November 1940 zum Scheitern verurteilt waren: Noch bevor Stalins Außenkommissar die deutsche Hauptstadt überhaupt erreichte, hatte Hitlers Führerweisung Nr. 18 am 12. November bereits klargestellt, dass „gleichgültig, welches Ergebnis diese Besprechungen haben werden, alle schon befohlenen Vorbereitungen für den Osten fortzuführen [sind]. Weisungen darüber werden folgen, sobald die Grundzüge des Operationsplanes des Heeres mir vorgetragen und von mir gebilligt sind.“3    

    Der Überfall der Wehrmacht veränderte die politischen Konstellationen und Bündnissysteme des Krieges auf entscheidende Art und Weise. Er führte mit der Anti-Hitler-Allianz zum Zusammenschluss von Großbritannien und der Sowjetunion; eine Koalition, die seit dem Machtantritt der Bolschewiki im Jahr 1917 außerhalb jeglicher Vorstellungskraft war. Die zentrale europäische Triade zwischen Großbritannien, Deutschland und der Sowjetunion, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entweder zu einer deutsch-sowjetischen (Rapallo) oder einer deutsch-britischen (Flottenvertrag und Appeasement) Verständigung geführt hatte, nahm im Juni 1941 eine fast unerhörte Wendung. Auch hierfür waren die Zeichen lange erkennbar gewesen. Schon im Juli 1940 hatte Premier Winston Churchill – mit großem Gespür für die Risse im Pakt – mit Stafford Cripps einen moskaufreundlichen neuen Botschafter zu Stalin entsandt, der erste Sondierungsgespräche führte. Unmittelbar nach dem Einmarsch der Deutschen hielt Churchill dann jene legendäre „lesser of the two evil“ – Rede, mit der er vor der britischen Bevölkerung das Bündnis mit dem Sowjetkommunismus rechtfertigte. „Das Naziregime“, so Churchills vielzitierte Worte, „lässt sich von den schlimmsten Erscheinungen des Kommunismus nicht unterscheiden. Es ist bar jedes Zieles und jedes Grundsatzes, es sei denn Gier und Rassenherrschaft. Es übertrifft jede Form menschlicher Verworfenheit an Grausamkeit und wilder Angriffslust. Niemand war ein folgerichtigerer Gegner des Kommunismus als ich in den letzten fünfundzwanzig Jahren. Ich nehme kein Wort von dem zurück, was ich darüber gesagt habe. Aber dies alles verblasst vor dem Schauspiel, das sich nun abspielt. Die Vergangenheit mit ihren Verbrechen, ihren Narrheiten und ihren Tragödien verschwindet im Nu.“4       

    Hybris und Nemesis des „Dritten Reiches“

    Vor dem Hintergrund der britisch-sowjetischen Annäherung in einer Zeit, in der Hitler gegen London einen verlorenen Luftkrieg führte, hat sich die Entscheidung zum Krieg gegen die Sowjetunion letztendlich als fatal herausgestellt. Dass zahlreiche Stimmen vor diesem Zwei-Fronten-Krieg und dem unkalkulierbaren Abenteuer eines Russlandfeldzugs warnten, ist bekannt. Umso mehr ist der 22. Juni 1941 auch das Symbol für den schier unglaublichen militärischen Größenwahn und die eklatanten politischen Fehleinschätzungen zugunsten des ideologischen Furor. Hitler wollte diesen Krieg: die Vernichtung des „jüdischen Bolschewismus“ und die gewaltsame, unbedingte Verwirklichung aller rassistischen Lebensraumkonzepte des deutschen Nationalsozialismus. 
    Der 22. Juni 1941 war Hybris und Nemesis des „Dritten Reiches“. Der Höhepunkt der militärischen, politischen und ideologischen Selbstüberschätzung ebenso wie die ideologisch, kulturell und rassisch begründete arrogante Herabwürdigung der sowjetischen Bevölkerung, die sich hinter dem Diktator Stalin, dessen Großer Terror erst abgeklungen war, zu versammeln wusste.

    Der „Zusammenbruch“ der Roten Armee

    Tatsächlich war die Sowjetunion zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges militärisch schwach. Stalin hatte die Defizite der Roten Armee noch Anfang Mai bei einem seiner raren Auftritte vor Absolventen der Militärakademien, unter anderem der Frunse-Akademie in Moskau, persönlich beklagt. Nicht nur die schleppende technische Modernisierung und ein von Stalin harsch kritisierter Reformunwillen waren für die mangelhafte Kriegsvorbereitung verantwortlich. Auch fähige Heerführer wie Marschall Tuchatschewski waren dem Großen Terror zum Opfer gefallen – diese Tatsache war ein offenes Geheimnis. Die Gewalt des Stalinismus hatte dafür gesorgt, dass die Sowjetunion im Juni 1941 auf den Verteidigungskampf personell und technisch schlecht vorbereitet war. In den ersten Wochen des Krieges fielen über 236.000 Sowjetsoldaten, während mehr als zwei Millionen in deutsche Kriegsgefangenschaft gerieten, wo sie elendig an Hunger und Krankheit zugrunde gingen.5 „Die Rote Armee“, so das nüchterne Fazit der britischen Historikerin Catherine Merridale, „brach in den ersten Kriegswochen zusammen.“6

    Die militärische Schwäche der Roten Armee nährte selbst in britischen Regierungskreisen und bei Churchill die Befürchtung, dass auch dieser Feldzug für die Deutschen siegreich ausgehen könnte. Dennoch war London mit der Wendung des Krieges zufrieden und hoffte darauf, dass sich Deutschland und die Sowjetunion für lange Zeit ineinander verkämpften. Mit einem schnellen Sieg der Roten Armee rechnete niemand, auch nicht Stalin, der auf den drohenden Zusammenbruch mit drakonischen Maßnahmen und neuer Gewalt reagierte. Schon am ersten Kriegstag, am 22. Juni, ermächtigte der Oberste Sowjet die Armeeführung, Deserteure durch neu geschaffene Militärtribunale zu bestrafen, die an die berüchtigten Troika-Tribunale aus der Zeit der Säuberungen erinnerten. In der ohnehin unterbesetzten Armee häuften sich daraufhin die Todesurteile. Hunderttausende wurden verhaftet oder landeten in Strafeinheiten, wo sie zum Räumen von Minenfeldern oder bei besonders verlustreichen Aktionen eingesetzt wurden. Im Juli 1941 ließ Stalin auf Divisionsebene „Besondere Abteilungen“ des NKWD einrichten, die den Auftrag hatten, einen erbarmungslosen Kampf gegen Spione, Verräter und Deserteure zu führen. Im Umgang mit der eigenen Armee waren die Traditionslinien zum Terror der 1930er Jahre unverkennbar. Militärstrategisch jedoch verstand es Stalin, die eigene Schwäche, insbesondere aber die Hybris der Nationalsozialisten für sich zu nutzen und in Stärke zu verwandeln. 

    Stalins Kalkül

    Weit verbreitet, auch in der wissenschaftlichen Literatur ist die Erzählung, dass Stalin vom 22. Juni und dem schnellen Vormarsch der Deutschen überrascht gewesen sei, mehr noch, dass er alle Warnungen, unabhängig davon, ob sie von eigenen Agenten oder aus dem Umfeld der britischen Regierung stammten, ignoriert habe. Es gibt jedoch Gründe, dieses Narrativ mindestens einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. 
    Hitlers Befehle waren über die Geheimdienste verlässlich nach Moskau gelangt, daher war Stalin weder überrascht noch ignorierte er die Meldungen zum bevorstehenden Angriff. Dass der „Verrat“, mithin der Bruch des Pakts, nur eine Frage des Datums war, gehörte zu alten politischen Wahrheiten, die auch Stalin verinnerlicht hatte. Wie unter anderem Lew Besymenski detailliert dargestellt hat, bereitete sich Stalin seit Monaten auf den bevorstehenden Überfall vor.7 Seine Anweisung, alle Provokationen an der deutsch-sowjetischen Grenze zu unterlassen, ebenso wie der Verzicht auf große Truppenkonzentrationen – entgegen den Plänen von Generälen wie Shukow – waren nicht naiv oder rätselhaft, sondern überlegt. Dass sich Hitler und Ribbentrop bei der fadenscheinigen Kriegsbegründung auf eine herbeigeredete Bedrohung beziehen würden, war zu erwarten und somit unerheblich. 

    Im Unterschied zu den Plänen von Generälen wie Shukow vermied Stalin dieses Bedrohungsszenario bewusst, um klar in der vorteilhaften Position des Verteidigers zu bleiben. In diesem Sinne handelte er geradezu wie der gelehrige Schüler der Kriegstheorie von Clausewitz, der zufolge Verteidigung die überlegene Kampfform darstellt. Schon 1939 hatte er sich mit dem Einmarsch in Polen zwei Wochen Zeit gelassen, um nicht mit der Aggression Hitlers in Verbindung gebracht zu werden, und um den Vormarsch der Wehrmacht und die Reaktion der Westmächte abzuwarten. Im Juni 1941 war die Position des Verteidigers symbolisch, politisch und militärisch wichtiger denn je. Den Angriff in Kauf zu nehmen, sparte die raren Ressourcen der Roten Armee. Stalin überließ es Hitler, einen ressourcen- und kräftezehrenden Angriffskrieg zu führen, dessen Verluste sich schon im August bemerkbar machten.8 
    Darüber hinaus begann der Krieg in einer für Stalin problematischen Grenzregion, die erst im Zuge des Pakts 1939 und 1940 mit Gewalt sowjetisiert worden war. Die Bevölkerung der westukrainischen und westbelarusischen Gebiete hatte den „Organen“ des NKWD seitdem immer wieder große Schwierigkeiten bereitet. Die Flüchtlingsströme waren ebenso schwer unter Kontrolle zu bringen, wie die antikommunistischen und nationalen Widerstandsbewegungen, beispielsweise der Ukrainer. Abermals in einer Parallele zu 1939, als Stalin entgegen ersten Verabredungen die zentralpolnischen Gebiete dem „Dritten Reich“ überantwortete, überließ er den deutschen Truppen im Juni 1941 die Zentren des Widerstandes zu zerstören, und er nahm große Opferzahlen zu Beginn des Krieges in Kauf. Antibolschewistische Einstellungen wusste das „Dritte Reich“ nicht zur eigenen Herrschaftssicherung zu nutzen. Im Gegenteil, veränderte der rassenideologische Terror der deutschen Besatzungsherrschaft, der die Hoffnungen ukrainischer Nationalisten schnell enttäuschte, wichtige Loyalitäten: nicht für Hitler, sondern zugunsten Stalins. 

    Es gab im Juni 1941 gute Gründe, auf die zahlreichen Warnungen vor „Barbarossa“ nicht mit einem vorschnellen Angriff zu reagieren. Die Vorstellung, dass die Rote Armee in das Generalgouvernement – das deutsche Besatzungsgebiet in Zentralpolen – einmarschiert wäre, um so den Hitler-Stalin-Pakt zu brechen und das „Dritte Reich“ anzugreifen, ist so abwegig wie die vor einiger Zeit diskutierte Präventivkriegsthese. Stattdessen kann entgegen geläufiger Sichtweisen argumentiert werden, dass Stalin zwar mit einer hochriskanten Option, doch kalkuliert, rational und nachvollziehbar reagierte. Dass er den Angriff der Deutschen mit einigen Konzessionen, wie etwa der Beschleunigung von Warenlieferungen in das „Dritte Reich“, so lange wie möglich hinauszögern wollte, steht diesem Argument nicht entgegen. Zeit zu gewinnen war die oberste Maxime. Denn letztendlich wollten weder Stalin noch die Sowjetunion den Krieg. Hitler hatte ihn mit „Barbarossa“ schon verloren. Am Ende dieses Vernichtungskrieges gab es 27 Millionen sowjetische Todesopfer – 14 Millionen davon Zivilisten.


    Anmerkung der Redaktion:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


    1. Proklamation des Führers an das Deutsche Volk und Note des Auswärtigen Amtes an die Sowjet-Regierung nebst Anlagen ↩︎
    2. Pätzold, Kurt / Rosenfeld, Günter (Hrsg., 1990): Sowjetstern und Hakenkreuz 1938–1941: Dokumente zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen, Berlin, S. 297 ↩︎
    3. Hubatsch, Walther (Hrsg., 1965): Hitlers Weisungen für die Kriegführung: 1939–1945: Dokumente des Oberkommandos der Wehrmacht, München, S. 77–82, hier S. 81 ↩︎
    4. Churchill, Winston S. (1947): Reden 1940–1941: Der unerbittliche Kampf, Band 2, Zürich, S. 260 ↩︎
    5. Overy, Richard (2005): Die Diktatoren: Hitlers Deutschland,Stalins Russland, Stuttgart, S. 651 ↩︎
    6. Merridale, Catherine (2006): Iwans Krieg: Die Rote Armee 1939 bis 1945, Frankfurt/Main, S. 118 ↩︎
    7. Besymenski, Lew (2006): Stalin und Hitler: Das Pokerspiel der Diktatoren, Berlin, S. 354-368 ↩︎
    8. dazu jüngst: Dimbleby, Jonathan (2021): Barbarossa: How Hitler lost the war, London, S. 246ff. ↩︎

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  • Der Hitler-Stalin-Pakt

    Der Hitler-Stalin-Pakt

    Am 23. August 1939 landete das Flugzeug des deutschen Außenministers in Moskau. Nur ungern hatte Joachim von Ribbentrop seine Sommerfrische bei Salzburg verlassen, um einen Vertrag zu unterzeichnen, an dem seiner Meinung nach sowieso nichts mehr zu rütteln war. Auch seinem Zustandekommen drohte nach dem Scheitern der britisch-französischen Gespräche in Moskau keine Gefahr mehr. Wozu also der Aufwand?
    Für Stalin freilich war noch nichts entschieden. Er verlangte Ribbentrop in Moskau, um, wie Hitler rasch zusicherte, „das von der Regierung der Sowjetunion gewünschte Zusatz-Protokoll […] in kürzester Zeit substantiell“ zu klären. Nach sieben Stunden harter Verhandlungen lag das geheime Zusatzprotokoll vor: Darin einigten sich Deutschland und die Sowjetunion auf die Teilung Polens und Osteuropas, inklusive Finnlands. Nach weiteren vier Stunden unterschrieben Ribbentrop und Stalins Außenkommissar Wjatscheslaw Molotow den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag. Damit war der Weg zum Zweiten Weltkrieg in Europa frei.

    Nach elfstündiger Verhandlung unterzeichneten Wjatscheslwaw Molotow (links) und Joachim von Ribbentrop (Mitte) im August 1939 den Hitler-Stalin-Pakt / Foto © gemeinfrei
    Nach elfstündiger Verhandlung unterzeichneten Wjatscheslwaw Molotow (links) und Joachim von Ribbentrop (Mitte) im August 1939 den Hitler-Stalin-Pakt / Foto © gemeinfrei

    Wenige Tage später, am 1. September, marschierte die deutsche Wehrmacht in Polen ein, und am 17. September folgte die Rote Armee aus Osten kommend. In den ersten 22 Monaten des Zweiten Weltkriegs waren das „Dritte Reich“ und die Sowjetunion Verbündete, die den europäischen Kontinent gewaltsam untereinander aufteilten. Als der Pakt knapp zwei Jahre später, am 22. Juni 1941, brach, herrschte Hitler über ein um 800.000 Quadratkilometer erweitertes Territorium, während Stalin sein Imperium nach Westen und in den Südosten um 422.000 Quadratkilometer ausdehnen konnte. Historische Freunde, wie die nationalsozialistische Propaganda behauptete und auch Ribbentrop selbst, der sich in Moskau „wie unter Parteigenossen“ fühlte, waren sie allerdings nie. Der stets von Misstrauen und Skepsis begleitete Hitler-Stalin-Pakt folgte eindeutigen geopolitischen Interessen, die weniger für Hitler, aber stets für Stalin Vorrang hatten vor den Imperativen der Ideologie. Diese Expansionsinteressen wurden im berühmt-berüchtigten geheimen Zusatzprotokoll vereinbart. Bis zur Reformära Michail Gorbatschows in den 1980er Jahren stritt die damalige Sowjetunion die Existenz des Geheimprotokolls vehement ab.    

    Die Teilung Polens

    Die im Geheimprotokoll vereinbarte Teilung Polens war das erste Ziel, das Deutschland und die Sowjetunion erreichten. Zynisch hatte Molotow das Land als „Bastard des Versailler Vertrages“ verunglimpft, dem im Herbst 1939 weder Großbritannien noch Frankreich – ungeachtet bestehender Garantieerklärungen – zur Hilfe eilten. Nach der erfolgreichen Besatzung errichteten Hitler und Stalin grausame Gewalt- und Terrorregime. Die Deutschen verwandelten das sogenannte Generalgouvernement in ein „Auffangbecken“ für tausende deportierte Juden und Polen. Im Generalgouvernement nahm der Holocaust, die Vernichtung der europäischen Juden, seinen Anfang. Stalin wiederum setzte die Sowjetisierung der gewonnenen Gebiete brutal in die Tat um. Von nun an gehörten Westbelarus und die Westukraine zu seinem Imperium. 

    Beide Diktaturen verübten grausame Kriegs- und Massenverbrechen. Im Frühjahr organisierten die deutschen Besatzer die so genannte AB-Aktion, in deren Zuge tausende vermeintliche und tatsächliche Mitglieder des polnischen Widerstands verhaftet und hingerichtet wurden. Etwa zur selben Zeit erschossen Kommandos des sowjetischen NKWD weit über 20.000 polnische Offiziere in den berüchtigten Massenerschießungen von Katyn. 
    Dass die Vollstrecker des Terrors nicht nur neben-, sondern häufig auch miteinander planten und agierten, gehört zu den vergessenen Kapiteln in der Geschichte des Hitler-Stalin-Pakts. Mehrfach trafen SS-Schergen und teils hochrangige NKWD-Offiziere zusammen und besuchten sich gegenseitig in den Besatzungsgebieten. Gemeinsam berieten sie etwa im Dezember 1939 über Aktionen gegen den polnischen Widerstand, koordinierten groß angelegte Umsiedlungsaktionen und setzten 1940 eine deutsch-sowjetische Flüchtlingskommission in Kraft, deren Aufgabe es unter anderem war, illegale Flüchtlingsströme zu unterbinden. 

    Auf dem Höhepunkt des Bündnisses 

    Die verheerenden Folgen des Hitler-Stalin-Pakts gingen weit über Polen hinaus. Auf dem Höhepunkt im Frühjahr 1940 ermöglichte das Bündnis Hitlers „Blitzkriege“ in Westeuropa. Immense Wirtschaftslieferungen aus der Sowjetunion versorgten die deutsche Kriegsmaschinerie mit notwendigen Rohstoffen wie Erdöl und Eisen. Auf der Grundlage eines umfangreichen Wirtschaftsabkommens vom Februar sandte Deutschland im Gegenzug Fabrik- und Industrieanlangen nach Osten. Mit dem deutschen Einmarsch in Paris und der Kapitulation Frankreichs im Juni 1940 erreichte die nationalsozialistische Expansionspolitik in Westeuropa ihren Zenit. Ohne den Hitler-Stalin-Pakt wäre sie nicht möglich gewesen. 

    Die scheinbar mühelosen Siege der Deutschen markierten gleichzeitig die Kehrtwende im deutsch-sowjetischen Bündnis. Stalin hatte sie mit wachsender Skepsis und Sorge beobachtet. Um sich seinen Teil der „Beute“ zu sichern, besetzte er die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, die seit 1939 mit lädierter Souveränität überlebt hatten. „Sie hatten keine Chance“, gab Molotow noch Jahrzehnte später zu: „Ein Land muss sich um die eigene Sicherheit kümmern. Als wir unsere Forderungen formulierten – man muss handeln, bevor es zu spät ist – schwankten sie noch. […] Aber schließlich mussten sie sich entschließen. Und wir brauchten die baltischen Staaten.“ 

    Dass die Sowjetunion danach Ansprüche auf Bessarabien und die Nordbukowina erhob, provozierte eine handfeste bündnispolitische Belastungsprobe. Denn auch Deutschland stand diesen, zu Rumänien gehörenden Gebieten, nicht gleichgültig gegenüber: Es benötigte im Zuge der nationalsozialistischen Wirtschaftspläne in Südosteuropa das Wohlwollen Rumäniens, um auf dessen Ölfelder und Landwirtschaftsressourcen zugreifen zu können. Stalin entschied die Bessarabienkrise für sich. Danach aber konnten keine Freundschaftsschwüre mehr die tiefen Risse im deutsch-sowjetischen Bündnis übertünchen. Schon im Frühherbst 1940 streckten beide die Fühler nach anderen Partnern aus. Stalin empfing in Moskau einen Sondergesandten Londons. Hitler schuf mit dem Dreimächtepakt, den das Deutsche Reich, Italien und Japan am 27. September in der Reichskanzlei unterzeichneten, die Achse Berlin-Rom-Tokio. 

    November 1940: Molotow in Berlin

    Der Besuch des sowjetischen Außenkommissars in der Reichshauptstadt im November 1940 gilt gemeinhin als letzter Versuch der Verständigung und Wiederbelebung des Hitler-Stalin-Pakts. Dabei hatte Hitler den Entschluss zum Krieg gegen die Sowjetunion bereits getroffen. Die militärischen Vorbereitungen waren im Gange, die Führung der Wehrmacht war unterrichtet und schon im Sommer wurden Militäreinheiten aus dem Westen gen Osten und nach Finnland verlegt, wo sie für Moskau zu großer Besorgnis Anlass gaben. 
    Vor diesem Hintergrund versuchte Hitler seinen Bündnispartner, die Sowjetunion, nach Asien und in einen Konflikt mit Großbritannien zu treiben. Denn als Ausgleich für die Aufgabe territorialer Ambitionen in Finnland und in Südosteuropa bot Hitler der Sowjetunion Indien an; ein „primitives Spiel“, das Molotow leicht durchschaute. Dass Stalin insbesondere auf Finnland beharrte – sein Anspruch war im geheimen Zusatzprotokoll verankert und von den Deutschen anerkannt worden – bestätigte den ideologischen Antibolschewismus, den Hitler nie abgelegt, sondern nur hintangestellt hatte. Die Sowjetunion als gleichberechtigten Partner und nicht als minderwertigen Erfüllungsgehilfen zu betrachten, war in seiner ideologischen Überheblichkeit unvorstellbar. Am 18. Dezember 1940 diktierte Hitler in der Weisung Nr. 21 den Überfall auf die Sowjetunion. Der Weisung zufolge sollte die Wehrmacht bis 15. Mai 1941 alle Vorbereitungen für einen Einmarsch abgeschlossen haben. 

    Vom Bündnis zur Feindschaft 

    Die Geschichte des Hitler-Stalin-Pakts endete am 22. Juni 1941. Noch Jahre später, mitten im Kalten Krieg, bedauerte Stalin den Bruch seiner Tochter Swetlana zufolge mit den Worten: „Zusammen mit den Deutschen wären wir unschlagbar gewesen“. Und er meinte wohl, unschlagbar, hätte Deutschland keinen Krieg gegen die Sowjetunion begonnen. Es war Hitlers fanatischer Wille, Stalin aus Europa zu vertreiben, einen ideologischen Kreuzzug gegen den Bolschewismus zu führen. Diesen setzte er als grausamen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion in die Tat um. Aus den Verbündeten wurden erbitterte Gegner, die sich auf altbewährte ideologische Feindschaften stützen konnten. Stalin hätte diesen Krieg gern vermieden. Gegen territoriale Eroberungen hatte er nichts. Hitler aber wollte den Krieg, der im Mai 1945 nach unvorstellbarem Leid und Millionen Toten mit der Niederlage des „Dritten Reiches“ endete.

    Der Hitler-Stalin Pakt und die Erinnerung

    Das deutsch-sowjetische Bündnis bestimmte die ersten 22 Monate des Zweiten Weltkriegs in Europa. Ungeachtet seiner immensen historischen Bedeutung erscheint es oft wie ein Präludium, wie ein hinführendes Vorspiel zum „eigentlichen“ Krieg, der, so der Tenor vieler Geschichtsdarstellungen, erst mit dem erbitterten Kampf zwischen Hitlers „Drittem Reich“ und Stalins Sowjetunion begann. In der teleologischen Sichtweise läuft der Weltkrieg auf diesen Moment zu, in dem der Entscheidungskampf zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus aller Gewalt im Zeitalter der Ideologien Sinn verleihen sollte. Die Kriegsgegnerschaft zwischen Hitler und Stalin bestätigte die Grundspannung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und war für Zeitgenossen wie für die Nachgeborenen das sichere Terrain der Weltkriegserinnerung, während die Geschichte ihres Pakts ein damals wie heute beeindruckendes Unbehagen auslöst.

    Die Geschichte des Pakts endete am 22. Juni 1941 – deutsche Gebirgsjäger überschreiten im Morgengrauen die Grenze / Foto © Bundesarchiv, Bild 146-2007-0127/CC-BY-SA 3.0
    Die Geschichte des Pakts endete am 22. Juni 1941 – deutsche Gebirgsjäger überschreiten im Morgengrauen die Grenze / Foto © Bundesarchiv, Bild 146-2007-0127/CC-BY-SA 3.0

    Nach wie vor wird die historische Bedeutung, die der Hitler-Stalin-Pakt für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs hat, unterschätzt. Auf das „Dritte Reich“ bezogen fristet er ein Dasein als taktischer Schachzug, der Hitler den Feldzug gegen Polen gestattete, ohne an der Absicht, die Sowjetunion zu vernichten, auch nur einen Deut zu ändern. In der sowjetischen Lesart galt er als Versuch Stalins, den vermeintlich zwangsläufigen Überfall hinauszuzögern; eine Interpretation, die Stalin 1941 selbst erfolgreich in die Welt setzte. Die in den 1990er Jahren favorisierte Deutung lenkte den Blick auf die im geheimen Zusatzprotokoll vereinbarte geopolitische Teilung Osteuropas. Für das nationale Selbstverständnis der sich aus dem sowjetischen Imperium lösenden osteuropäischen Staaten besaßen die damaligen Erinnerungsdebatten große Bedeutung. In dieser Zeit prägte der Pakt die Kontroversen um eine gemeinsame historische Erinnerung Europas. Die Forderungen nach der gleichberechtigten Anerkennung der Opfer stalinistischer Gewalt neben denen des Nationalsozialismus und nach einer europäischen Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt sind dabei gelegentlich als Angriff auf die Singularität des Holocaust missverstanden worden. Tatsächlich ging es in diesen Debatten nicht darum, die singuläre Bedeutung des Holocaust zu mindern. Sondern es ging darum, ein westeuropäisch zentriertes Geschichtsbild zu hinterfragen, das die grundstürzende Tragik Osteuropas im 20. Jahrhundert verkannte. Dass die dort vehement erhobenen Ansprüche den Eindruck stärkten, der Hitler-Stalin-Pakt sei eine vornehmlich osteuropäische Angelegenheit, gehört ebenfalls zu den Resultaten der Geschichtsaufarbeitung in den Jahrzehnten nach dem Kalten Krieg. Und nicht einmal die Einführung des 23. August als europäischer Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus konnte daran bislang viel ändern.


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    Von der Autorin ist aktuell zum Thema erschienen: Der Pakt: Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz, München 2019 

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  • Die Massenerschießungen von Katyn

    Die Massenerschießungen von Katyn

    Im Frühjahr 1940 haben Erschießungskommandos des stalinistischen NKWD – des berüchtigten Innenkommissariats unter der Leitung von Lawrenti Berija – über 22.000 polnische Offiziere und Elitemilitärs getötet. Sie waren nach dem Einmarsch der Roten Armee in Polen interniert, in sowjetische Sonderlager gebracht und später verhaftet worden. Die präzise geplante Geheimdienstaktion wurde an mindestens drei Orten durchgeführt: in den Kellern der regionalen NKWD-Hauptquartiere in Kalinin und Charkow sowie in einem Waldgebiet unweit der westrussischen Stadt Smolensk. Die Gräber von circa 8000 Ermordeten entdeckten deutsche Wehrmachteinheiten im April 1941. Die von Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels daraufhin inszenierte Kampagne gab dem Verbrechen seinen Namen: Katyn, so heißt ein Dorf in der Nähe des Erschießungsortes.

    Heute steht Katyn als Chiffre für eines der schrecklichsten Verbrechen, die das stalinistische Regime im Zweiten Weltkrieg an der Bevölkerung Osteuropas verübte. In Polen ist Katyn das zentrale nationale Geschichtssymbol für das Leiden und Märtyrertum des polnischen Volkes und seiner nationalen Tragödien. Deren Schicksalshaftigkeit schien der Absturz der polnischen Präsidentenmaschine am 10. April 2010 bei Smolensk auf beklemmende Art und Weise zu bestätigen: Die Insassen der Maschine waren auf dem Weg zur Gedenkfeier anlässlich des 70. Jahrestages der Erschießungen.

    Leugnung und Tabuisierung

    Die Sowjetunion leugnete ihre Täterschaft jahrzehntelang und tabuisierte das Verbrechen. Mit allen Mitteln – von politischen Drohungen bis hin zur Verfolgung und Bestrafung einzelner Personen – versuchten alle sowjetischen Regierungen im Kalten Krieg, die Rede über Katyn zu verhindern. Sie erreichten das Gegenteil. Katyn war das zentrale Thema des polnischen Widerstands und der Dissidentenbewegung, die das staatskommunistische System in den 1980er Jahren zum Einsturz brachte.

    Quasi als Antwort auf die Goebbelsche Propagandakampagne, beabsichtigte die Sowjetunion, Katyn als nationalsozialistisches Verbrechen dem Kriegsgegner anzulasten. Diese Unternehmungen, unter anderem während des Nürnberger Militärtribunals, trugen allerdings dazu bei, dass die Massenerschießungen in West- und Osteuropa bekannt wurden. Obwohl niemand – von den Richtern in Nürnberg, über Winston Churchill, John F. Kennedy, der polnischen Bevölkerung bis hin zu allen sowjetischen Regierungschefs selbst – der sowjetischen Version wirklich glaubte, gelang es zumindest, die Frage der Täterschaft in der Schwebe zu halten. Schließlich war die Ungeheuerlichkeit des deutschen Vernichtungskrieges so groß, dass immer auch die Deutschen an dem Verbrechen schuld sein konnten. Außerdem hatte Goebbels Propagandamaschine die sowjetische Täterschaft behauptet, und wer wollte sich schon mit Goebbels gemein machen, selbst wenn dessen Version plausibel war?

    Narrative des Zweiten Weltkriegs

    Nur ein einziges Mal – während des Koreakrieges von 1950 bis 1953 – initiierte das US-amerikanische Repräsentantenhaus eine Untersuchung, die, wenig überraschend, zu dem Ergebnis kam, dass die polnischen Offiziere vom NKWD getötet worden waren. Juristische Folgen hatte dieses Ergebnis nicht. Danach erlosch das Interesse des Westens an einer Geschichte, die im Kalten Krieg allenfalls die politische Verständigung mit Moskau erschwerte. Darüber hinaus aber drohte sie die etablierten Narrative des Zweiten Weltkriegs und seine Erinnerungsordnung durcheinander zu bringen.

    Die Konfrontation mit dem tragischen Schicksal der Katynopfer bedeutete die Auseinandersetzung mit einem Kriegskapitel, das sich den Eindeutigkeiten der deutschen und der sowjetischen Propaganda ebenso entzog wie denen der Kriegserinnerung. Katyn war ein Verbrechen aus der Zeit des deutsch-sowjetischen Bündnisses von 1939 bis 1941. Es geschah in jenen ersten 22 Monaten des Zweiten Weltkrieges, in denen der Hitler-Stalin-Pakt und nicht die Feindschaft der Diktatoren den Gang der Ereignisse bestimmte. Dass Katyn die Folge der „tödlichen Verstrickung“ (Sebastian Haffner) von Nationalsozialismus und Stalinismus war, geriet durch die jahrzehntelang offen gehaltene Täterfrage in den Hintergrund. Seit dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion im Juni 1941 ist diese Geschichte mehr verdrängt als vergessen worden.

    Mythos vom Großen Vaterländischen Krieg

    Dass die Massenerschießungen von Katyn eine irritierende geschichtsrevisionistische Kraft besaßen, wusste bereits Michail Gorbatschow, der letzte Nachfolger Stalins und Generalsekretär der KPdSU. Inmitten der von ihm initiierten Glasnost-Politik – der schonungslosen Aufarbeitung der stalinistischen Gewaltgeschichte – bekannte Gorbatschow die lange verleugnete NKWD-Täterschaft. Er tat dies nicht etwa, weil es ihm in diesem Fall um eine aufarbeitende Auseinandersetzung mit der kommunistischen Gewalt- und Terrorgeschichte ging. Vielmehr befürchtete er, dass die alte Strategie der Leugnung im gesellschaftlichen Klima der 1990er Jahre mehr Schaden anrichten würde als ein Schuldbekenntnis. Gorbatschow hoffte, durch das Ende des Täterstreits im Fall Katyn eine gefährliche Debatte um sowjetische Kriegsverbrechen „im Keim zu ersticken“. Sie bedrohte den letzten sowjetischen Integrationsmythos vom Großen Vaterländischen Krieg. Aus diesem Grund rieten ihm Außenminister Eduard Schewardnadze, sein Berater Valentin Falin und der Chef des KGB, Wladimir Krjutschkow, „zu sagen, was wirklich geschehen ist“, um „die Sache zu beenden“ und keine „Diskussion des Hitler-Stalin-Pakts in Gang zu setzen“.
    „Der Hintergrund dieser Kampagne ist klar – den Polen soll eingeredet werden, die Sowjetunion sei keineswegs besser, sondern eher noch schlechter als das damalige Deutschland; sie trage keine geringere Verantwortung für den Ausbruch des Krieges und sogar für die militärische Zerschlagung des damaligen polnischen Staates.“1 Gorbatschows Berater ahnten die grundstürzende Infragestellung des Mythos vom Großen Vaterländischen Krieg in einer Zeit, in der die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus schon (zu) viele Gewissheiten erschütterte.

    Von der russischen Regierung werden die Massenerschießungen heute nicht mehr geleugnet. Die Staatsduma definierte Katyn im Jahr 2010 als Kriegsverbrechen, sprach den Opferfamilien ihr Mitgefühl aus, und der gleichnamige Film des polnischen Regisseurs Andrzej Wajda wurde in russischen Kinos gezeigt. Allerdings war mit diesen Zugeständnissen nicht das Recht auf eine juristische Rehabilitation oder Entschädigung der Opferfamilien verbunden. Darüber hinaus relativieren politische Diskurse die Tat mit dem Hinweis auf den Polnisch-Russischen Krieg 1919/21, und tatsächlich haben einschlägige Autoren wie der Verschwörungstheoretiker Juri Muchin die NKWD-Täterschaft wieder infrage gestellt. Putin lässt sie gewähren, während das Gedenken an die Verbrechen des Stalinismus aus der öffentlichen Erinnerung verschwindet. Das Interesse an einer breiten historischen Aufarbeitung, die Katyn beispielsweise in den Kontext der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit in den ersten Weltkriegsmonaten stellt, ist – ähnlich wie zur Zeit Gorbatschows – auch heute nicht vorhanden.

    Für die Geschichtswissenschaft gerät mit dem Blick auf Katyn als Ereignis der deutsch-sowjetischen Verflechtungsgeschichte eine kontrovers diskutierte Forschungsfrage in den Fokus. Warum trafen Stalin und sein Politbüro die Entscheidung zur Erschießung in den ersten Märztagen des Jahres 1940 und nicht schon unmittelbar nach der Verhaftung? Warum wartete Berija?

    „Liquidiert sie selbst“

    Die polnischen Offiziere, im Unterschied zu den einfachen Soldaten, konnten nicht in Arbeitslager deportiert werden. Im Winter 1940 hatte das NKWD mehrmals probiert, die Polen über ein bilaterales Umsiedlungsabkommen in das deutsche Besatzungsgebiet zu überführen. Obwohl das im November 1939 ausgehandelte Abkommen auf „Volksdeutsche“, Ukrainer und Belarussen beschränkt war, war dies in der Vergangenheit mehrmals gelungen. Beide Regime hatten das Abkommen auf diese Art und Weise genutzt. Im Frühjahr 1940 allerdings scheiterten die erneuten Verhandlungen, vor allem weil Deutschland bereits weitaus mehr Menschen (circa 130.000) aufgenommen hatte als die Sowjetunion (circa 12.000). Mit dem Hinweis, dass der Umsiedlungsvertrag am 1. März 1940 auslief, lehnte das Dritte Reich die Übernahme weiterer Gefangenen ab.

    Diese Begründung war rechtlich nicht zu beanstanden und gleichzeitig ein bequemer Vorwand. Im Frühjahr 1940 planten die Besatzungsbehörden im Generalgouvernement eine große Vernichtungs- und Säuberungsaktion gegen den polnischen Widerstand, die berüchtigte „AB-Aktion“. Vor diesem Hintergrund hatten sie schlichtweg kein Interesse, noch mehr potentielle „Widerständler“, die in der Begründungslogik dieser Aktion ebenfalls „zu säubern“ gewesen wären, zu übernehmen. „Liquidiert sie selbst“ war der Subtext, mit dem die Deutschen ablehnten.2
    Die Gefangenen auszutauschen war keine Option mehr, ebenso wenig, sie als Angehörige der polnischen Militärelite in der Sowjetunion am Leben zu lassen. Wenige Tage nachdem der deutsch-sowjetische Umsiedlungsvertrag offiziell ausgelaufen war, schlug Berija die Massenerschießungen vor. Kurz nach der Entscheidung begann der geheime Abtransport aus den Sonderlagern an die drei Erschießungsorte. Es gehört zu der an tragischen Momenten reichen Katyngeschichte, dass viele der Opfer zuerst tatsächlich glaubten, die Züge würden sie zurück zu ihren Angehörigen in das deutsche Besatzungsgebiet bringen.

    Täterstreit

    Drei Jahre nach den Erschießungen organisierte Joseph Goebbels seine Propagandakampagne. Der Wind des Krieges hatte sich gedreht, der Überfall Hitlers auf die Sowjetunion hatte aus den Verbündeten erbitterte Feinde gemacht. Das Propagandaministerium karrte Tausende – einfache Wehrmachtsoldaten, internationale Pressegruppen, namhafte Schriftsteller, renommierte Gerichtsmediziner und Delegationen des Polnischen Roten Kreuzes – an den Tatort, wo ihnen die „grausame Hinterlassenschaft des jüdischen Bolschewismus“ vorgeführt wurde.

    Aber wieder drehte sich der Krieg, und im Herbst 1943 eroberte die Rote Armee das Gebiet von den Deutschen zurück. Danach inszenierten Stalins Propagandisten und das NKWD ihre Version eines nationalsozialistischen Verbrechens und ließen ebenfalls internationale Besucher die Massengräber besichtigen, darunter die Tochter des damaligen US-amerikanischen Botschafters in Moskau: Kathleen Harriman bestätigte die offizielle Darstellung der Sowjetunion.
    Der „Täterstreit“ hatte begonnen. Er verdeckte für viele Jahre, dass Katyn als eines der schrecklichsten stalinistischen Kriegsverbrechen zur Geschichte des Hitler-Stalin-Pakts gehört; eine Geschichte, die nach wie vor im Schatten der großen Weltkriegserzählungen liegt.


    1. Falin, Valentin (1997): Konflikte im Kreml: Zur Vorgeschichte der deutschen Einheit und Auflösung der Sowjetunion, München, S. 108 ↩︎
    2. Stanisław Mikołajczyk, ein Mitglied der polnischen Exilregierung in London, berichtete: „[Sie] wollten keine polnischen Offiziere mehr und schlugen den Russen vor, sie doch selbst zu töten.“ Zu den Details siehe: Weber, Claudia (2015): Krieg der Täter: Die Massenerschießungen von Katyń, Hamburg, S. 76-86 ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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