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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • SWR – Die russische Auslandsaufklärung

    SWR – Die russische Auslandsaufklärung

    In der deutschen Öffentlichkeit ist es seit geraumer Zeit still um den zivilen russischen Auslandsgeheimdienst SWR – Slushba Wneschnei Raswedki (dt. Dienst der Außenaufklärung). Traditionell erhält der FSB, der größte der russischen Geheimdienste, die meiste mediale Aufmerksamkeit. Neben der schieren Größe an Personal, Ressourcen und Vollmachten ist dafür auch die Vergangenheit von Wladimir Putin verantwortlich: Der russische Präsident war erst Offizier des sowjetischen KGB und später Chef von dessen Nachfolger FSB. Das häufige Geraune über seine „special relationship“ zum FSB lässt sich jedoch nicht beweisen.
    Eines der bekanntesten Beispiele für die verzerrte Wahrnehmung russischer Nachrichtendienste ist der Fall Skripal: Nach dem Giftanschlag auf den ehemaligen GRU-Offizier waren zahlreiche Stimmen zu vernehmen, die vorschnell den FSB mit dem Attentat in Verbindung brachten. Dass dieser aber nur unter besonderen Umständen im Ausland aktiv wird, blieb dabei völlig außen vor. Nur wenig später kam dann der tatsächliche Urheber an die Öffentlichkeit: der Militärgeheimdienst GRU. Nur vom SWR sprach niemand, mal wieder. Den von Sergej Naryschkin geleiteten russischen Auslandsgeheimdienst dürfte es gefreut haben. Denn erfolgreiche Spione stehen selten (gerne) im Rampenlicht.

    Entstehung des SWR

    Wie der gesamte Sicherheitsapparat im heutigen Russland, hat der SWR seine Wurzeln in der Sowjetunion. Offiziell gegründet wurde er im Dezember 1991, als „Auslagerung“ aus dem KGB. Dessen Erste Hauptverwaltung PGU (Perwoje glawnoje urpawlenije) war für die Auslandsarbeit zuständig gewesen. Die PGU wurde nun zum SWR. 
    Die Neuformierung des Sicherheitsapparates war eine Reaktion auf den Augustputsch 1991, an dem sich maßgeblich auch der damalige KGB-Vorsitzende Wladimir Krjutschkow beteiligte: bis 1985 Leiter der PGU. Der KGB wurde aufgelöst, verschiedene Aufgaben beziehungsweise Abteilungen wurden als eigenständige Behörden etabliert. Dazu gehörten der Inlandsgeheimdienst FSB und eben die Auslandsaufklärung SWR.
    Der erste SWR-Chef war von 1991 bis 1996 Jewgeni Primakow, der schon zuvor als Diplomat inoffiziell für die PGU gearbeitet hatte. Primakow führte die neue Auslandsaufklärung einerseits in die neue politische Ordnung der jungen Russischen Föderation, andererseits hielt er aber fest an Personal, Mitteln und Methoden, die vom sowjetischen Erbe geprägt waren. Dasselbe galt auch für Primakows Nachfolger Wjatscheslaw Trubnikow (1996-2000) und Sergej Lebedew (2000-2007), die ebenfalls eine KGB-Vergangenheit hatten. 

    Struktur des SWR

    Der zivile russische Auslandsgeheimdienst hat heute mindestens 15.000 Mitarbeiter und damit rund 5000 mehr als in den 1990er Jahren.1 Seine Zentrale befindet sich in der südwestlichen Moskauer Vorstadt Jassenewo, wo schon die PGU seit den 1970er Jahren residierte.
    Dem Direktor des SWR stehen heute nicht nur ein administrativer Stab sowie ein davon getrennter Beraterstab und Staatssekretär zur Seite. Ihm unterstehen auch das Kollegium des SWR sowie ein Erster und vier weitere Stellvertreter.2 Dem Kollegium und einem der Stellvertreter (für operative Angelegenheiten) sind unter anderem die wichtigsten operativen Abteilungen zugeordnet: für „Analyse und Information“, „Äußere Gegenaufklärung“, „Wissenschaftlich-Technische Aufklärung“ und „Wirtschaftsaufklärung“. 

    Aufgabengebiete

    Die Arbeitsgebiete des SWR haben sich seit den Zeiten des Kalten Krieges genauso wenig verändert wie die maßgeblichen Zielregionen und Doktrinen. Der SWR ist eben ein „klassischer Geheimdienst“ wie sein Vorgänger PGU. Das heißt, seine grundlegende Aufgabe ist die Informationsbeschaffung im Ausland. 

    Dabei ist der SWR sowohl in der politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlich-technischen sowie militärischen Aufklärung aktiv. Darüber hinaus betreibt er auch weiterhin Konkurrenzspionage, auch um (halb-)staatlichen russischen Unternehmen einen Technologievorsprung zu verschaffen. Was im alten KGB-Jargon „aktive Maßnahmen“ (russ. aktiwnyje meroprijatija) genannt wurde, betreibt der SWR heute weiter als „Einflussoperationen“, auch als „Informationskrieg“ oder „hybride Kriegsführung“ bezeichnet. Die Beeinflussung von politischen Ereignissen, aber auch die Manipulation der öffentlichen Meinung im Ausland ist nach wie vor ein genuines und von der Politik mandatiertes Aufgabengebiet des SWR. 
    Ähnlich wie die alte KGB-Aufklärung während des Kalten Krieges, ist der SWR auch heute weltweit aktiv. Dies entspricht dem russischen Selbstverständnis als politische und wirtschaftliche Weltmacht auf Augenhöhe mit den USA oder China. Der russischen Sicherheitsdoktrin folgend, sind die USA und NATO für den SWR die Gegner und Aufgabengebiet № 1, gefolgt von Europa, China und dem internationalen Terrorismus.3 

    Nachrichtendienstliche Methoden

    Die Methoden, auf die der SWR bei seiner Arbeit nachweislich zurückgreift, weisen auch heute noch teilweise erstaunliche Parallelen zur Arbeit des KGB im Kalten Krieg auf. HUMINT (human Intelligence), also das Anwerben, Einschleusen und Führen von menschlichen Quellen, nimmt für den SWR nach wie vor einen hohen Stellenwert ein. Als die US-amerikanische Spionageabwehr des FBI 2009/10 einen russischen Spionagering aushob, waren Experten überrascht über den hohen Aufwand, der für dessen Aufbau und Betrieb betrieben worden war.4 
    In Deutschland wurden 2011 zwei sogenannte illegale Agenten des SWR verhaftet: ein Ehepaar mit den Tarnidentitäten Heidrun und Günther Anschlag. Die sogenannten Illegalen waren schon eine Methode der sowjetischen Aufklärung, bei der Agenten über mehrere Drittstaaten und Identitäten in ein Zielland eingeschleust wurden, wo sie ihre letztendliche Identität annahmen und Aufklärungsaufträge ausführten.5 Auch Heidrun und Günther Anschlag trainierten ab den 1970er Jahren bei der PGU, um 1989 wurden sie dann über Südamerika und Österreich nach Deutschland geschleust. Rund 20 Jahre führten sie hier eine unscheinbare bürgerliche Existenz, während sie gleichzeitig unter anderem Quellen der russischen Aufklärungen aus dem niederländischen Militärsektor trafen und Informationen nach Moskau übermittelten.6 
    Eigentlich galt diese Methode, bei der Aufwand und Nutzen selten in einem nachweisbar angemessenen Verhältnis standen, nach dem Ende des Kalten Krieges als obsolet. Doch offensichtlich hatte sich der SWR niemals von diesem Programm verabschiedet, womit er heute zumindest ein breitgefächertes Instrumentarium des Spionage-Handwerks bieten kann. 
    Dies gilt auch für die Arbeit der sogenannten Legalresidenturen. Im Gegensatz zu Illegalen werden darunter Büros und Mitarbeiter des SWR verstanden, die in offiziellen Auslandsvertretungen Russlands tätig sind.7 Obgleich diese dem Gastland selten wirklich verborgen bleiben, nutzt vor allem der SWR weiterhin seine Legalresidenturen als Ausgangsbasis für seine weltweite Arbeit.

    Kryptologie – Verschlüsselung und Entschlüsselung

    Dass der SWR bei seiner Arbeit eine manchmal erstaunliche Kontinuität mit seiner sowjetischen Vergangenheit aufweist, heißt jedoch nicht, dass er das digitale Zeitalter verschlafen hat. So kommunizierte das Ehepaar Anschlag über hochmoderne Kommunikationskanäle, die erst durch die westlichen Nachrichtendienste GCHQ und NSA geknackt werden konnten. Laut dem niederländischen Geheimdienst sollen außerdem auch die in den letzten Jahren zu Berühmtheit gelangten Hackergruppen ATP29 oder Cozy Bear zum SWR gehören.8 
    Kryptologie war schon zu Sowjetzeiten eine Stärke des KGB. Wegen der Wirtschaftskrise wurde sie in den 1990er Jahren zwar kaum geheimdienstlich genutzt, heute bedienen sich jedoch auch das russische Militär und der Sicherheitsapparat aus diesem Arsenal der Informationssicherheits-Technologie.9 Dass in den russischen Diensten laut dem ehemaligen FSB-Chef Nikolaj Kowaljow des Öfteren per Hand oder Schreibmaschine geschrieben wird, um ein elektronisches Entwenden sensibler Dokumente zu verhindern10, sollte nicht über deren IT-Fähigkeiten hinwegtäuschen.

    Der SWR im politischen System Russlands

    Anders als in den 1990er Jahren wird der SWR seit 2007 von Zivilisten ohne vorherige Geheimdienst-Erfahrung geleitet. Ähnlich wie die SWR-Chefs Sergej Lebedew (2000–2007) oder Michail Fradkow (2007– 2016), stammt auch Sergej Naryschkin aus der politischen Entourage um Präsident Putin. Vor seinem Amtsantritt beim SWR absolvierte Naryschkin Stationen in verschiedenen hohen Regierungsstellen. 

    Seit Oktober 2016 Leiter des Auslandsgeheimdienstes – Sergej Naryschkin / Foto © kremlin.ru
    Seit Oktober 2016 Leiter des Auslandsgeheimdienstes – Sergej Naryschkin / Foto © kremlin.ru

    Dass der Auslandsgeheimdienst nicht nur von einem Vertrauten des Präsidenten, sondern auch von einem Zivilisten mit Erfahrung in den politischen Schaltzentralen des Landes geführt wird, verdeutlicht die Rolle des SWR im System Putin: Einerseits ist der Auslandsgeheimdienst eine feste Größe im politischen Prozess, soll diesen mit Informationen unterstützen und sich ihm unterordnen. Dafür braucht es einen Polit-Profi, der weiß, welchen Input die Entscheidungsträger erwarten. Andererseits soll der Dienst keinesfalls eine übermächtige Stellung einnehmen, soll in Konkurrenz zu anderen Sicherheitsbehörden gehalten und niemals ein eigenständiger politischer Akteur werden.11 Der SWR ist somit eher ein Vehikel und Instrument russischer Außenpolitik, nicht jedoch deren kreativer Urheber und Gestalter. Dafür jedenfalls gibt es kaum Anzeichen.12

    Ein entscheidendes Merkmal des SWR im politischen System Russlands ist dessen Konkurrenz zum militärischen Geheimdienst GRU und dem Inlandsgeheimdienst FSB.13 Dies drückt sich vor allem durch die Doppelungen von Aufgaben aus: So beschaffen beispielsweise sowohl SWR als auch GRU militärische Informationen im Ausland, beide führten in Vergangenheit Hackerangriffe in den USA oder Europa aus, und sowohl SWR als auch FSB und GRU fielen durch Desinformations- und Einflussversuche in der Ukraine oder in Westeuropa auf. 

    Außerdem verfügt offenbar auch der SWR über eine eigene mehrere hundert Mann starke Spezialeinheit, genannt Saslon. Diese soll der Nachfolger der PGU-Elitetruppe Wympel sein und den berüchtigten SpezNas-Truppen der GRU ähneln. Im Vergleich dazu soll Saslon laut offiziellen Angaben allerdings nicht für spezielle Sabotage- und Aufklärungsmissionen konzipiert worden sein, sondern als Sicherungs- und Eingreiftruppe für russische Auslandsvertretungen. 
    Im Gegensatz zu den oft aufsehenserregenden Spezialeinsätzen von GRU und FSB ist über ähnliche Aktivitäten des SWR wenig bekannt. Irgendwie schafft es der Geheimdienst immer noch unter dem Radar und im Kielwasser des FSB zu schwimmen. Dies hat jedoch wenig mit seinen realen Fähigkeiten zu tun.


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  • FSB

    FSB

    Im Dezember 2018 holte den russischen Präsidenten Wladimir Putin seine Vergangenheit ein: Der Mann, der in Russland seit nunmehr fast 20 Jahren die Fäden zieht, begann seine Karriere 1985 in Dresden, beim sowjetischen Geheimdienst KGB (Komitet gossurdarstwennoi besopasnosti, dt. Komitee für Staatssicherheit). Und nun tauchte der Ausweis auf, mit dem KGB-Major Putin Zugang zu allen Dienststellen seiner ostdeutschen Kollegen hatte.1

    Als 1989 aufgebrachte DDR-Bürger das KGB-Büro in der Dresdner Angelikastraße belagerten, gab sich Putin als Dolmetscher aus. Dabei war er zu der Zeit wohl mindestens stellvertretender Abteilungsleiter und unter anderem Verbindungsglied des KGB zur DDR-Staatssicherheit.

    Der Karriere des jungen Silowik tat diese Episode keinen Abbruch, im postsozialistischen Russland stieg Putin über Stationen als Hochschulrektor, stellvertretender Bürgermeister, stellvertretender Chef der Präsidialverwaltung 1998 zum Chef des damals schon umbenannten Inlandsgeheimdienstes FSB (Federalnaja slushba besopasnosti, dt. Föderaler Sicherheitsdienst) auf. Das war nur ein Jahr bevor ihn der scheidende Präsident Boris Jelzin zum Ministerpräsidenten und Ende 1999 zum Interimspräsidenten machte.

    Unauflöslich ist der Name Putin mit den gefürchteten russischen Geheimdiensten verbunden. Besonders seine alten Kollegen vom FSB – so die landläufige Meinung – hätten dabei nicht nur Putins Hausmacht gebildet, sondern seien auch seine besonderen Günstlinge. Doch diese Annahme ist nicht haltbar, wenn man sich die Geschichte des FSB nach 1990 genauer anschaut.

    Gründung, Erbe und Aufgaben des FSB

    Eine der wesentlichen demokratischen Reformen im ehemaligen sowjetischen Machtbereich nach 1990 war die Zerschlagung der nahezu allmächtigen Staatssicherheitsapparate. Der sowjetische KGB war ein gigantischer Apparat mit über 700.000 Mitarbeitern.2 Diese enorme Anzahl erklärt sich durch die Akkumulation verschiedener Aufgabengebiete über die Jahrzehnte. Neben typischen Funktionen wie der Auslandsspionage, Spionageabwehr und der von der kommunistischen Partei auferlegten Bekämpfung jeglicher politischer und gesellschaftlicher „Feinde“, gehörten zum KGB auch verschiedene bewaffnete Truppen, die Grenztruppen der Sowjetunion sowie Personenschutz und Versorgung der Systemträger.

    Mit dem Ende der Sowjetunion wurde dieser Machtapparat zerschlagen und seine Aufgaben wurden auf eigenständige Behörden übertragen: Der Auslandsgeheimdienst (Slushba wneschnei raswedki – SWR) wurde zu einer separaten Behörde, genauso wie der Personen- und Objektschutz, die Telekommunikationsüberwachung und zunächst auch die Grenztruppen. Damit sollte die enorme Machtkonzentration aufgelöst und ein System von Checks and Balances geschaffen werden.

    Die Inlandsaufgaben, die vormals der KGB ausgeführt hatte, also Spionageabwehr, Terrorismusbekämpfung, aber auch organisierte Kriminalität und Wirtschaftskriminalität, waren von nun an das Arbeitsgebiet des FSB. Dieser wurde offiziell am 3. April 1995 gegründet, in den vier Jahren zuvor hatte er wechselnde Bezeichnungen getragen.

    In gewisser Hinsicht erlosch das sowjetische Erbe tatsächlich nie, auch heute findet man klare Anklänge und Kontinuitäten zur sowjetischen Geheimpolizei: vor allem wenn es um politische Verfolgung geht. Genau wie zu Sowjetzeiten verläuft die Grenze zwischen typischen Sicherheitsfunktionen, die auch in liberalen Demokratien von Geheimdiensten ausgeführt werden, und Repressionen gegen Andersdenkende immer noch fließend. Zwar wurden viele KGB-Abteilungen in den 1990er Jahren aufgelöst und zahlreiches Personal entlassen, viele Traditionsmuster, Ausbildung, kulturelle und soziale Prägungen sowie die Mentalitäten der Mitarbeiter, blieben jedoch weitgehend erhalten. Seine Wurzeln sieht der FSB auch heute in der revolutionären Tscheka, der Geheimpolizei der Bolschewiki nach der russischen Revolution.

    Der FSB im politischen System

    Eine Konstante erhielt sich der FSB auch bei seinem Leitungspersonal. In den letzten 20 Jahren hatte die Behörde gerade einmal drei Direktoren: Auf Wladimir Putin folgte bis 2008 Nikolaj Patruschew, der dann als enger Vertrauter Putins Chef des Nationalen Sicherheitsrates wurde. Seitdem ist Alexander Bortnikow im Amt.

    Allerdings gibt es heute einen großen Unterschied: Ganz anders als zu Sowjetzeiten ist der FSB heute in eine vielschichtige Sicherheitsarchitektur eingebunden. Er ist zwar der größte russische Geheimdienst, nichtsdestoweniger jedoch nur noch ein Akteur unter mehreren. Neben dem Militärgeheimdienst GRU und dem Auslandsgeheimdienst SWR gehören dazu auch das Innenministerium, das Verteidigungsministerium, die Nationalgarde, der Ermittlungsdienst des Generalstaatsanwalts und der Föderale Dienst für Bewachung FSO. Zusammengefasst sind alle Sicherheitsdienste und Ministerien im Nationalen Sicherheitsrat, wobei die drei klassischen Geheimdienste FSB, SWR und GRU sich zudem gegenüber der Präsidialadministration verantworten müssen. Beide – Sicherheitsrat und Präsidialadministration – fungieren damit als Gatekeeper: sowohl Hürde als auch Schnittstelle zwischen den Diensten und der Politik.

    Alleine deshalb wird die heutige Stellung des FSB in der russischen Sicherheitsarchitektur nicht selten überschätzt. Neben den bewusst geschürten Reminiszenzen an die Allmacht des sowjetischen KGB kommen diese Fehleinschätzungen nicht von ungefähr: Tatsächlich stammt Putin aus dem KGB-/FSB-Apparat. Tatsächlich tritt der FSB aggressiv auf, sowohl in der Öffentlichkeit als auch hinter den Kulissen: Dies reicht von martialischer Rhetorik bis hin zu oftmals dem FSB zugeschriebenen Auftragsmorden, wie jener am ehemaligen FSB-Offizier Alexander Litwinenko. Hinzu kommt tatsächlich auch, dass der FSB in den letzten 15 Jahren systematisch seine Aufgabengebiete auf Kosten anderer Stellen erweiterte. So unterstehen ihm auch heute wieder die Grenztruppen, auch Kommunikationsüberwachung und Anti-Drogen-Kampf kamen im Laufe der Zeit dazu. Inklusive der Grenztruppen hat die Mitarbeiterstärke dadurch wieder enorme Ausmaße angenommen: Der bundesdeutsche Verfassungsschutz geht von mindestens 350.000 FSB-Mitarbeitern aus.3

    Systemische Schwächen

    Doch aus diesen äußeren Umständen darf man nicht die falschen Schlüsse ziehen: So beruht die Ausweitung der Aufgaben nicht auf einer vermeintlichen Machtposition des FSB, sondern ist vor allem eine Folge der ständigen Konkurrenzkämpfe zwischen den Sicherheitsbehörden. Geschickt spielen der Präsident und seine Administration die Silowiki gegeneinander aus und halten einen ständigen Wettbewerb um die Gunst des Präsidenten und die staatlichen Pfründe am Leben. Nicht umsonst werden die Geheimdienstmitarbeiter als „Russlands neuer Adel“ bezeichnet.4

    Ab und an verschiebt sich das Pendel der Präsidentengunst zwischen den einzelnen Diensten. Dies führt regelmäßig zu Aufgabenüberschneidungen zwischen FSB, SWR und GRU und damit auch zu Kompetenzgerangel. Putin und die Präsidialverwaltung scheinen diesen Wettbewerb gezielt zu fördern – auch, um sich daraus immer wieder die Legitimität für die eigene Schiedsrichterrolle zu verschaffen.5 Außerdem erhofft man sich vom Wettbewerb offensichtlich auch eine Belebung des geheimdienstlichen Geschäfts und somit wirksamere Mittel zur Politikgestaltung.

    Zwar hat Präsident Putin im Laufe seiner Amtszeiten immer wieder führende Geheimdienstler aus dem FSB in staatliche Führungspositionen gehoben. Die Informationen des FSB selbst hingegen haben es nicht immer einfach, den Präsidenten zu erreichen.6 Keineswegs übt also der FSB einen besonders hohen Einfluss auf das System Putin aus. Genauso wenig konnte sich Putins Herrschaft aber auch vom FSB loslösen. Dasselbe gilt auch für die Neigung, die Kreml-Politik durch ein Prisma von Verschwörungen und Freund-Feind-Unterteilungen zu erklären. Denn beides, so zahlreiche Beobachter, entspricht der Einstellung sowohl des Präsidenten als auch des FSB. Ob der Präsident dabei seine alte KGB- und FSB-Denkschule auslebt oder aber der FSB Putin nach dem Munde redet, ist letztlich kaum aufzulösen.7


    1. Spiegel Online: Russischer Präsident: Putins Stasi-Ausweis in Dresdner Archiv gefunden ↩︎
    2. Hilger, Andreas (2009): Sowjetunion (1945-1991), in: Kaminski, Lukasz /Persak, Krysztof /Gieske, Jens (Hrsg.): Handbuch der kommunistischen Geheimdienste in Osteuropa 1944-1991, Göttingen, S. 81 ↩︎
    3. BfV-Themenreihe (2008): Spionage gegen Deutschland: Aktuelle Entwicklungen, S. 5f ↩︎
    4. vgl. Soldatov, Andrei/Borogan, Irina (2010): The new nobility: The restoration of Russia’s security state and the enduring legacy of the KGB, New York; Walter, Ulf (2014): Russlands „neuer Adel“: Die Macht des Geheimdienstes von Gorbatschow bis Putin, Berlin ↩︎
    5. vgl. Kryschtanowskaja, Olga (2005): Anatomie der russischen Elite, Köln ↩︎
    6. Galeotti, Mark (2016): Putin’s Hydra: Inside Russia’s Intelligence Services, in: CFR Policy Brief Nr. 169, European Council on Foreign Relations ↩︎
    7. vgl. Rochlitz, Michael (2018): Die Macht der Silowiki: Kontrollieren Russlands Sicherheitsdienste Putin, oder kontrolliert er sie?, in: Russland-Analysen Nr. 363, S. 2-8 ↩︎

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  • GRU – russischer Militärgeheimdienst

    GRU – russischer Militärgeheimdienst

    Am 5. November 2018 feiert Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije GRU (dt. „Hauptverwaltung für Aufklärung“) 100-jähriges Jubiläum. Pünktlich zu seinem Ehrenjahr steht der Militärgeheimdienst Russlands so sehr im Fokus der Weltöffentlichkeit wie nie zuvor. Vier schwere Vergiftungen in England und Cyberangriffe auf internationale Einrichtungen sind nur die Spitze eines Eisberges an Operationen, mit denen die GRU 2018 öffentlich in Verbindung gebracht wird. Das klingt zunächst einmal nach einem außerordentlich potenten Geheimdienst mit wenig Skrupel, viel Know-how und einem breiten Spektrum an Tätigkeiten.

    Von den vier schweren Vergiftungen in England war nur einer der Giftanschläge auch tatsächlich so geplant: der auf den ehemaligen GRU-Offizier Sergej Skripal. Der Doppelagent überlebte, seine Tochter, das zweite und unerwartete Giftopfer, ebenfalls. Die beiden anderen Opfer, von denen eines der Vergiftung mit Nowitschok erlag, waren „Kollateralschäden“: Sie fanden zufällig das Behältnis, in dem das Gift transportiert worden war. Alles in allem war es eine ziemliche Blamage für die GRU, vor allem weil sich der Fall unter ständiger Beobachtung der Medien abspielte. 
    Und dann wurden auch noch die beiden Tatverdächtigen präsentiert und von britischen und russischen Investigativjournalisten eindeutig mit der GRU in Verbindung gebracht. Dabei kam sogar heraus, dass die GRU 305 Fahrzeuge mehr oder weniger offiziell auf ihre Mitarbeiter registriert und sie damit praktisch selbst enttarnt hatte.1Für alle ersichtlich.
    Mitnichten weniger peinlich war es, als im April 2018 niederländische und britische Ermittler der Spionageabwehr eine Gruppe von vier GRU-Computerspezialisten in ihrem Auto während eines Cyberangriffs verhafteten. Das komplette Equipment im Kofferraum, dazu gefälschte Pässe mit fortlaufender Nummerierung, wie schon bei Petrow und Boschirow. Das Ziel des Angriffs war die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), die zu dieser Zeit die Giftproben des Anschlags aus Salisbury untersuchte. Geparkt hatten die vier Hacker in einem blauen Citroën direkt gegenüber der OPCW in Den Haag. 
    Was an Dreistigkeit wohl kaum zu überbieten ist, gehört allerdings nicht in die Kategorie professionellen Arbeitens, wie es sich die geheimdienstliche Elitetruppe auf die eigenen Fahnen schreibt. Wo also steht die gefürchtete und nun verspottete russische Militäraufklärung 100 Jahre nach ihrer Gründung?

    Die GRU im System

    Wie der gesamte Sicherheitsapparat der Russischen Föderation hat die GRU ihre Wurzeln tief im kommunistischen Staat der Bolschewiki nach der Oktoberrevolution 1917. Eine Besonderheit war es, dass die GRU trotz aller Wirren der Zeit nicht mit anderen Geheimdiensten vereint wurde. Wo der mächtige KGB jahrzehntelang In- und Auslandsgeheimdienst, Personenschutz, Grenztruppen und technische Abteilungen mit mehreren hunderttausend Mann vereinte, war und ist die GRU der Armee und dem Verteidigungsministerium unterstellt. Im Vergleich zum KGB und seinen Nachfolgern FSB und SWR nahm und nimmt die GRU damit eine Sonderstellung ein, denn diese sind direkt dem Präsidenten unterstellt. Einerseits bedeutet das für die GRU eine größere Unabhängigkeit vom Gravitationszentrum staatlicher Macht in der russischen Präsidialadministration. Andererseits ist die Entfernung zum Präsidenten ein Nachteil im ständigen Ringen der Sicherheitsdienste um Präsidentengunst und knappe Ressourcen.

    Wie wechselhaft sich diese Stellung im politischen System auswirken kann, hat die GRU in den vergangenen 20 Jahren mehrfach erfahren. Im Zuge der Armeereformen der postsowjetischen Zeit wurde die stolze Truppe erst einmal herabgestuft: Spezialeinheiten wurden den regulären Truppen unterstellt, Mittel gekürzt, aus GRU wurde „GU“, also einfach nur Hauptverwaltung. Die stille, aber alles hörende Fledermaus im Wappen wurde durch eine Nelke ersetzt – Symbol für Standfestigkeit und Entschiedenheit. 
    Als 2012 Sergej Schoigu Verteidigungsminister wurde, machte er sich daran, die GRU nicht nur symbolisch wieder aufzuwerten. Personell soll die GRU mit rund 12.000 Mitarbeitern ungefähr dasselbe Niveau wie der Auslandsgeheimdienst SWR erreichen.2 Nach Angaben eines GRU-Überläufers aus dem Jahr 1997 führte der Militärgeheimdienst damals allerdings sechsmal so viele Auslandsagenten wie sein ziviles Pendant.3 Die Anzahl der Spezialkämpfer, die der GRU unterstellt waren, soll darüber hinaus deutlich über 20.000 Mann betragen haben.4

    Aufträge und Einsätze

    Auch in ihrem Arbeitsauftrag sticht die Sonderrolle der GRU durch. 1918 oder 1941 ging es vor allem um traditionelle militärstrategische Aufklärung auf allen Schlachtfeldern der Roten Armee, von Polen bis zum Pazifik. Im Kalten Krieg kam dann schon Rüstungs- und Wirtschaftsspionage hinzu. Eine weitere Besonderheit der GRU war und ist, dass sie nicht nur im Ausland aufklärt, sondern auch die Spionageabwehr der Armee in sich vereint. Was der FSB im zivilen Sektor ist oder in Deutschland der Militärische Abschirmdienst MAD für die Bundeswehr, ist die GRU für die russische Armee. 
    Ebenso waren die berühmt-berüchtigten Speznas-Elite-Kampftruppen der GRU ein Kind der Stellvertreterkriege während des weltweiten Systemkonflikts. Wo reguläre sowjetische Truppen zu auffällig gewesen wären oder wo inoffizielle Waffenlieferungen in Krisengebiete besonderer Tarnung bedurften, dort waren die Speznas zu finden. Das gilt auch für sogenannte Kommandoeinsätze wie Sabotage, Geiselbefreiungen, Entführungen und gezielte Tötungen im Ausland. 
    Dabei ist die GRU global orientiert: USA, NATO, Westeuropa, aber eben auch der Nahe und Mittlere Osten, Afrika, China und der Pazifikraum sind Aufklärungsziele und Einsatzgebiete. 

    Agenten und Operationen  

    Lange Jahre schwamm die GRU eher leise im Kielwasser der wesentlich bekannteren NKWD, KGB und schließlich SWR. Öffentliche Nennungen hielten sich in Grenzen, Experten und Forscher konzentrierten sich ebenfalls lieber auf die zivilen Brüder. Bis auf den heutigen Tag existiert keine Gesamtgeschichte der GRU, wo es selbst die offizielle Geschichtsschreibung der russisch-sowjetischen Auslandsaufklärung auf ganze sechs Bände bringt. Ganz so eben, wie man es von einem klassischen Geheimdienst erwartet: Im Großen und Ganzen ein Mysterium, presseabstinent, unter Kennern aber als absolute Profis ihres Metiers bekannt.
    Dass dem tatsächlich so ist, zeigt ein Parforceritt durch die Spionagegeschichte. Wie die gesamte Sowjet-Spionage, war die GRU in der Zeit zwischen den Weltkriegen außerordentlich erfolgreich: Gleich zwei der bekanntesten Spione aller Zeiten arbeiteten für die GRU – und waren Deutsche. Der als Journalist getarnte Richard Sorge meldete 1941 aus Japan den bevorstehenden Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion (und wurde von Stalin deswegen geopfert). Der Physiker Klaus Fuchs, einer der Väter der amerikanischen Atombombe, war ebenfalls ein GRU-Agent und sorgte dafür, dass auch die Sowjets zur Nuklearmacht werden konnten.5 

    Diese Taktik, sogenannte „illegale“ Agenten unter falscher Identität in westlichen Ländern zu führen, praktizierte die GRU über die gesamte Zeit des Kalten Krieges. 
    Schon zu Sowjetzeiten zählten militärische Kommandoaktionen zur Aufgabe der GRU und ihrer Speznas. Diese Aufgabe hat die GRU auch heute nicht eingebüßt. Während der Tschetschenienkriege übernahm die GRU „Spezialaufgaben“, in Dubai soll Speznas 2009 den Anführer tschetschenischer Rebellen Sulim Jamadajewin in einer Kommandoaktion getötet haben. 
    Auch die Bilder der Krim-Annexion sind immer noch einprägsam: „Grüne Männchen“ ohne Abzeichen, die später als GRU-Truppen identifiziert wurden, bereiteten damals den Weg für die Angliederung. Ein ähnliches Schicksal hatte die GRU offenbar dem kleinen Montenegro zugedacht: 2016 sollten pro-serbische Teile der Armee unter Anleitung von GRU-Offizieren just in der Wahlnacht einen Putsch in dem Land auf dem Westbalkan unternehmen.6 Als einzige der in jüngster Zeit bekannt gewordenen Kommandounternehmen der GRU scheiterte dieser Versuch allerdings kläglich.

    Cyberangriffe

    Eine gänzlich neue Aufgabe, die die GRU in den letzten Jahren ebenfalls ausführt, sind geheimdienstliche Cyberangriffe wie jener in Den Haag. Geheimdienste und Regierungen von den USA bis nach Australien rechnen Hackergruppen wie ATP 28, Fancy Bear oder Pawn Storm der GRU zu. Das besondere an ihren bekannten Attacken war dabei, dass sie keineswegs nur militärische Ziele verfolgten, sondern Aufgaben ausführten, die eigentlich den zivilen russischen Diensten obliegen. So haben die Wahlkampfunterlagen der US-Demokraten, die ATP 28 im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2016 mittels eines versteckten Trojaners erbeuteten, mit Militäraufklärung ebenso wenig zu tun wie Aktionen von Fancy Bear. Diese Gruppe drang offenbar besonders gerne in westliche oder internationale Sportverbände ein. Aus Sicht der US-Geheimdienste waren die Angriffe im Bereich von Doping und Sport eine gezielte Vergeltungsaktion gegen die Doping-Vorwürfe und Sanktionen gegen russische Mannschaften. Dass der Inlandsgeheimdienst FSB in das russische Staatsdoping involviert war, war schon länger bekannt.7 Dass die GRU die propagandistischen Gegenmaßnahmen offenbar maßgeblich organisierte, war hingegen neu. 
    Für die „neuen“ Aufgaben der GRU im Cyberbereich gibt es drei Interpretationen: Einmal steht das pure Potential, das heißt die GRU unternimmt Cyberangriffe im zivilen Bereich, weil sie es schlicht kann. Das enorme Reservoir an IT-Spezialisten in Russland und die Mittel, die den Spezialbereichen des Militärs zur Verfügung stehen, machen die GRU zu einer Weltspitze der Cyberspionage. 
    Zweitens geht es um die Konkurrenz der Weltmächte: US-Militär und die Defense Intelligence Agency DIA sind auf diesem Gebiet genauso aktiv wie zum Beispiel auch die Cybereinheit 61398 des chinesischen Militärs. Präsenz durch aufsehenerregende Hacking-Operationen zu zeigen, ist da nur logisch. 
    Drittens spielt auch der Druck eine Rolle, sich gegenüber FSB und SWR beweisen zu müssen. Dass beide ebenfalls Cyberangriffe durchführen, ist bekannt. Die Ausflüge der GRU in die zivile Cyberwelt können also auch als interne show of force und Fingerzeig im russischen Sicherheitsapparat gedeutet werden. Wie fluide hier Zuständigkeiten wechseln, ausgebaut oder gestrichen werden und wie wichtig die Gunst des innersten Machtzirkels ist, das hat die Vergangenheit immer wieder gezeigt.  

    Korruption und Schlamperei

    Doch auch in der geheimnisumwitterten GRU scheint so manches in Bewegung gekommen zu sein. Gerade die jüngsten Schlagzeilen passen nicht zum Image eines hochprofessionellen Geheimdienstes: Warum der Anschlag auf einen ausgetauschten Ex-Agenten? Warum die schlampige Ausführung? Wie kam die GRU auf die Idee, zwei Offiziere könnten erfolgreich einen Putsch in Montenegro betreuen? Und wie kommt ein Geheimdienst auf die Idee, über 300 PKW auf seine offizielle Adresse zu registrieren und damit möglicherweise eigene Agenten zu enttarnen?
    Neben der professionellen GRU existiert anscheinend auch eine normale russische Behörde, in der Schlamperei, Realitätsverweigerung und Korruption zum Alltag gehören. Die vielen bürokratischen Details erfolgreicher geheimdienstlicher Arbeit gingen offenbar immer wieder bei der Operationsplanung ab. Dafür haben die jahrelang erfolgreichen Hackingangriffe und die getarnten Kommandoaktionen wohl ein Gefühl der Unverwundbarkeit wachsen lassen. Wer aber so oft durchkommt, der wird nachlässig. 
    Gleichfalls hat der lasche Umgang westlicher Behörden mit den russischen Agenten offenbar zu immer dreisterem Vorgehen ermuntert: Obwohl westlichen Geheimdiensten offensichtlich schon bekannt war, dass die GRU-Agenten Serebrjakow und Morenez im Herbst 2016 den Computer eines Vertreters des kanadischen Antidopingzentrums CCES gehackt hatten8, sahen diese Agenten im April 2018 offenbar überhaupt kein Risiko und parkten fast schon demonstrativ direkt vor dem Zielobjekt in Den Haag.  
    Darüber hinaus gibt es auch Korruptionsgerüchte um die GRU. Wo schmale Gehälter des öffentlichen Dienstes auf Milliarden Rubel für Aufträge ans Militär aufeinandertreffen, lockt das große Geld. Auch die GRU-Leitung soll in der Vergangenheit auf diese Art zu Reichtum gekommen sein.9 Auf die Arbeitsmoral des Dienstes wirkte sich das offenbar nur dahingehend positiv aus, dass in immer waghalsigeren Aktionen ein schneller Aufstieg gesucht wurde, um ebenfalls an die „Fleischtöpfe“ zu kommen.

    Professioneller Geheimdienst?

    Wie jede Bürokratie sind auch die russischen Geheimdienste und der gesamte Sicherheitsapparat in einem ständigen Fluss. Innenpolitische Faktoren, außenpolitische Dynamiken und bürokratische Entwicklungen beeinflussen sowohl die Aufgabengebiete als auch die Ausführung von Aktionen und Operationen. Manches davon, was die GRU in der jüngsten Vergangenheit zeigte und das seinen Weg in die Weltöffentlichkeit fand, fällt sicher nicht unter die Kategorie eines professionellen Geheimdienstes. Das sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die GRU nicht nur eine große Bandbreite an Arbeitsaufgaben wahrnimmt, sondern dabei auch weiterhin große Möglichkeiten und Ressourcen hat. 
    Als Akteur muss sie nach wie vor, vielleicht sogar mehr noch als früher, ernst genommen werden. Innenpolitische Faktoren und Konkurrenz unter Geheimdiensten haben die GRU offenbar motiviert, ihr Aufgabenfeld immer weiter auszudehnen. Dabei stiegen die Erfolge augenscheinlich einigen zu Kopf, Dreistigkeit und Übermut waren die Folge. Nach innen steht die GRU damit nun unter größerem Druck, nach außen könnte das jedoch zu noch extremeren Aktionen anspornen, um sich wieder zu beweisen. Das macht die GRU auch nach 100 Jahren ihres Bestehens – trotz Schlamperei und Korruption – mitnichten weniger gefährlich.


    1. sh. ausführlich: bellingcat.com (2018): 305 Car Registrations May Point to Massive GRU Security Breach; vgl. theins.ru (2018): Na adres voijskovoj časti GRU, svyazannoj s chakerami, zaregistrirovanny mašiny 305 sotrudnikov ­­­­ ↩︎
    2. BfV-Themenreihe (2008): Spionage gegen Deutschland: Aktuelle Entwicklungen, S. 5f. ↩︎
    3. Lunew, Stanislaw (1998): Through the Eyes of the Enemy: The Autobiography of Stanislav Lunev, Washington ↩︎
    4. Galeotti, Mark (2016): Putin’s Hydra: Inside Russia’s intelligence Services, European Council on Foreign Relations ↩︎
    5. Lota, Vladimir (2002): GRU i atomnaja bomba, Moskau ↩︎
    6. Bajrovic, Reuf/Garcevic, Vesko/Kramer, Richard (2018): Russia’s Strategy of Destabilization in Montenegro, Foreign Policy Institute ↩︎
    7. McLaren Independent Investigation Report – Part II (2016): Wada ↩︎
    8. vgl. nzz.ch (2018): Die Jagd nach Putins Agenten: Wie ein Spionagefall in Lausanne zu einem Fiasko des russischen Geheimdiensts führte ↩︎
    9. Galeotti, Mark (2016): Putin’s Hydra: Inside Russia’s intelligence Services, European Council on Foreign Relations ↩︎

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