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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wladimir Majakowski

    Wladimir Majakowski

    Mindestens vierfach lebensgroß blickt Wladimir Majakowski als bronzenes Denkmal über das tägliche Treiben zu seinen Füßen. Sechs Jahrzehnte steht er nun schon im Zentrum Moskaus. Alles an ihm zeigt Elan, die Hände, die legeren Hosen, das offene Jackett, bei aller Mächtigkeit – ein lässiger Dichter-Titan, der hier auf ewig bereit scheint, den „Großen Oktober“ zu preisen. Mitte der 1930er Jahre, als Majakowskis posthume Kanonisierung und endgültige staatliche Vereinnahmung ihren Anfang nahm mit Stalins Statement „Majakowski war und bleibt der beste, der begabteste Dichter unserer Sowjetepoche“, hatte man den Platz nach dem Dichter benannt. 1958 dann bekam der zum Klassiker erklärte „Sänger des Kommunismus“, der selbst als radikaler Denkmalstürzer angetreten war, dort sein Standbild.

    Der reale Prototyp des Bronzegiganten allerdings war bei Platzbenennung und Denkmalerrichtung längst ohne Mitspracherecht. Schon Monate bevor er unter seine Lebensgeschichte den immer wieder angekündigten „Kugel-Punkt“ setzte,1 hatte der auch international äußerst populäre Kulturbotschafter der jungen Sowjetunion an der Richtung zu zweifeln begonnen, in die sich das von ihm so enthusiastisch begrüßte Gesellschaftsexperiment bewegte. Am 14. April 1930 nahm sich der erst 36-Jährige in Moskau das Leben.

    Der „unmarxistische“ Freitod

    Der „unmarxistische“ Freitod war nicht das einzige Problem, das der Dichter für die anlaufende stalinistische Propagandamaschinerie Ende der 1920er Jahre darstellte. Schon in den Monaten zuvor hatten die ideologischen Hardliner begonnen, Majakowski den Erfolg, seine Privilegien, seine Frauengeschichten offen zu neiden. Er war nicht länger die Nummer Eins, sondern auf einmal nur ein angeblich ideologisch zweifelhafter Mitläufer. Ins Ausland durfte er schon im Herbst 1929 nicht mehr reisen. Die „Bärtigen“ (Majakowski) hatten ihm ihre Gunst entzogen und seine Ausstellung zum 20-jährigen Werkjubiläum Anfang 1930 ignoriert, mit der er sich noch einmal als treuer Stoßarbeiter auf Parteilinie hatte beweisen wollen.2

    Erste Ahnungen möglicher Säuberungen streiften den Dichter. Keine der Geliebten konnte ihm aus der Einsamkeit helfen, und die innere Krise verschärfte sich. Nicht nur der Dichter, auch seine Dichtung war längst in die Kritik geraten. Das Idol der Revolutionsjahre sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, unverständlich für die Massen zu sein, selbst sein Publikum begann ihn anzugreifen. Böse Stimmen wurden laut, die ihm einen mythengeeigneten Freitod nahelegten. Mit den Errungenschaften des Futurismus, für die Majakowski stand, war unter der ab 1927 etablierten Alleinherrschaft Stalins kein neuer Staat mehr zu machen.

    Zukunftsstürmer

    Dabei hatte die Karriere des Dichters genau damit begonnen: Eine neue, revolutionäre Dichtkunst sollte in eine gerechte, eine sozialistische Zukunft führen! Geboren am 19. Juli 1893 im georgischen Dorf Bagdady, war der 13-jährige Gymnasiast nach dem plötzlichen Tod des Vaters mit Mutter und Schwestern nach Moskau gekommen. 1910 nimmt der junge Rebell erst einmal ein Studium der Malerei auf und trifft unter den Kommilitonen den Maler und Dichter David Burljuk. Über ihn findet er Anschluss an die Moskauer Futuristen-Kreise und wird Mitglied in der „linksten“ der literarischen Gruppierungen, der Gruppe Gileja (Hyläa-Gruppe), deren Kopf Welimir Chlebnikow ist und die David Burljuk organisiert. Sie nennen sich Budetljane (dt. etwa „Zukünftler“) und propagieren in der aktuellen Kampfarena diverser avantgardistischer Richtungen den Kubofuturismus. Ende 1912 gibt die Gruppe den Band Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack heraus, in dem Majakowski sein Debüt als Dichter hat. src=“https://www.dekoder.org/sites/default/files/kog_094289_00002_1h.jpg“ />

    Geschichte sollte der Band vor allem aber mit dem dort abgedruckten, gleichnamigen Manifest machen: Die Kubofuturisten forderten, sich radikal von der literarischen Tradition loszusagen und die Klassiker Puschkin, Dostojewski und Tolstoi vom Dampfer der Gegenwart zu stoßen. Auf deren Platz hatte es in der Folge vor allem einer der jungen Zukunftsstürmer, der Autor der Gedichtsammlung Ich, abgesehen. Dessen erstes Bühnenstück hatte in typischer futuristischer Selbstüberhöhung Wladimir Majakowski geheißen.

    Sprache der Straße

    In Majakowskis Dichtung kollidiert das Alte mit dem Neuen, das Etablierte mit dem Exkludierten, Worte „kullern“ aus dieser Welt „heraus wie nackte Nutten / aus flammenden Freudenhäusern“ (Wolke in Hosen, Übersetzung: Alexander Nitzberg). Der junge Dichter, der zu Beginn der 1910er Jahre lautstark Furore machte, arbeitete mit dem Sprachmaterial, das auf der Straße lag. Er hörte und sah, er „las“ die moderne Großstadt wie ein Buch (An die Ladenschilder, „Man lese in Büchern vom Stahle!“, Übersetzung: Alexander Nitzberg), allerdings eine vom tödlichen Ende der überkommenen Epoche affizierte Lektüre.

    Im Gedicht Einige Worte über mich selbst (1913), das mit dem provokativen Vers einsetzt „Ich liebe es, zu sehn wie Kinder sterben“, ist es ein „Sarg-Buch“ im „Lesesaal der Straßen“, in dem der Dichter das Schreckbild der Stadt des anbrechenden 20. Jahrhunderts entziffert. Reklame, elektrisches Licht, neue Fortbewegungsmittel und andere technische Neuerungen, Geschwindigkeit und Gewalt, der Aufstand der Dinge – das alles inszenieren sprachlich ungewöhnlich, in formal innovativer Vers- und Strophenform, aber vor allem in den unkonventionellen Bildern die frühen Gedichte Majakowskis.

    [bilingbox]Die Hölle der Stadt haben Fenster zerschlagen
    In klitzekleinen Höllchen, noch säugend vom Licht.
    Rothaarige Dämonen, bäumten sich die Wagen
    Und ballerten Hupen am Ohr ganz dicht.
    […]
    In den Brüchen der Hochhäuser mit glühendem Erz
    Und eisernen Säulen von Zügen rief
    Ein Flugzeug jäh und fiel abwärts,
    wo der verwundeten Sonne das Auge auslief.

    (Die Hölle der Stadt, 1913, Übersetzung: Alexander Nitzberg)~~~Адище города окна разбили
    на крохотные, сосущие светами адки.
    Рыжие дьяволы, вздымались автомобили,
    над самым ухом взрывая гудки.
    […]
    В дырах небоскребов, где горела руда
    и железо поездов громоздило лаз —
    крикнул аэроплан и упал туда,
    где у раненого солнца вытекал глаз.

    (Адище города, 1913)[/bilingbox]

    In dieser Hölle hilft auch die Liebe nur für eine gewisse Zeit, und so ist Majakowski im Leben wie in den Gedichten ein großer, aber immer zerrissener Liebender: „Die Liebe ist das Leben, ist das Wesentliche. Aus ihr entfalten sich die Verse, die Taten und alles Übrige. Die Liebe ist das Herz des Ganzen“, notiert er Anfang 1923. Da hatte er in großer Verzweiflung die berühmten Liebespoeme für Lilja Brik verfasst. In ihr wollte er die Liebe wie in einer Bank bewahren, den „Herzklumpen“ zu schwer, um ihn wieder zurückzunehmen, und doch wohnt selbst in der Liebe der Tod immer schon gleich um die Ecke.

    [bilingbox]Apostelgleich
    will meine Liebe ich predigen,
    komm ich auf tausend Straßen gezogen,
    und dich mit der zeitlosen Krone entschädigen
    drin mein Poem aufzuckt als Regenbogen.
    […]
    Weh mir!
    jetzt rasch zum nächsten Kanal,
    ihm meinen Kopf in den Rachen zu stecken.

    (Wirbelsäulenflöte, 1915, Übersetzung: Kurt Drawert)~~~Любовь мою,
    как апостол во время оно,
    по тысяче тысяч разнесу дорог.
    Тебе в веках уготована корона,
    а в короне слова мои —
    радугой судорог.
    […]
    Теперь
    такая тоска,
    что только б добежать до канала
    и голову сунуть воде в оскал.

    (Флейта позвоночник, 1915)[/bilingbox]

    Am Ende sind es andere aus den „randlosen Reihen meiner Geküssten“, die ihn in die Verzweiflung treiben. Keine aus dem „Dutzend Frauen“, wie er sein nicht realisiertes autobiographisches Romanprojekt nennen wollte, konnte ihm die Familie sein, die er so suchte.3

    In der Menge der heulenden Spießbürger

    Und immer wieder verspottet der Dichter die Spießbürger, die „Besitzer von Badezimmern und geheizten Klosetten“, die „Weiberhelden, Fresssäcke“, überhaupt die Alltagsroutine, die Norm, die Welt von gestern. Die gewaltige Publikumsbeschimpfung Vam! (dt. Euch!, 1915) klagt die hedonistischen Bohemiens und satten Bürger an, es sich auf Kosten der Soldaten des Ersten Weltkrieges bequem zu machen. Die Zuhörer reagierten erschüttert, die Damen fielen „sogar in Ohnmacht“, wie Anna Achmatowa einen legendären Rezitationsabend im Cabaret Streunender Hund im Februar 1915 erinnert. Nur Majakowski blieb ruhig, während es um ihn schrie und heulte: „[…] unbeweglich rauchte er eine riesige Zigarre … Ja. So habe ich ihn in Erinnerung behalten, sehr gut aussehend, sehr jung, einer mit großen Augen, in der Menge der heulenden Spießbürger“.4


    Und immer wieder verspottet der Dichter die Spießbürger, die Alltagsroutine, die Norm, die Welt von Gestern. Wladimir Majakowski als Schauspieler im Film Baryschnja i chuligan (dt. Die Dame und der Hooligan, 1918)

    Majakowski selbst lebte alles andere als ein spießbürgerliches Leben. Nachdem man ihn als unzuverlässiges Element nicht hatte in den Krieg ziehen lassen, siedelt der Dichter 1915 in die damalige Hauptstadt Petrograd über, wo er auf Lilja und Ossip Brik trifft, mit denen er eine ungewöhnliche Beziehung eingehen wird. In Ossip Brik findet Majakowski seinen frühen Impressario und Freund. Mit ihm gibt Majakowski Anfang der 1920er Jahre die Zeitschrift LEF heraus. Das Organ der Linken Front der Künste ist eines der wichtigsten der damaligen Zeit, hier erscheint zum ersten Mal Majakowskis großes Poem über die Liebe Pro eto (dt. Darüber, 1923), Alexander Rodtschenkos Fotomontagen werden hier gedruckt, Sergej Eisensteins Theorie der Attraktionsmontage, Isaak Babels Erzählungen über Budjonnys Reiterarmee.

    Mindestens so wichtig an der Begegnung mit den Briks aber ist Ossips Ehefrau Lilja. Sie wird für ein Dutzend Jahre die Frau, auf die hin Majakowski sein Leben ausrichtet und der er die meisten seiner Gedichte widmet, ob agitatorische Großdichtung oder intimes Liebesgedicht. Zu dritt leben die Briks und Majakowski zuerst in Leningrad, dann ab 1919 in Moskau und werden mit ihrem freizügigen Beziehungsmodell zum Sinnbild der neuen sozialistischen Moral der frühen 1920er Jahre. Die für eine kurze Zeit öffentlich diskutierte sexuelle Revolution wird allerdings bald von repressiven Modellen abgelöst,5 die aus der freien Liebe eine einzige Liebe für den großen Vater der Völker machten. Enthusiastisch verschrieb sich Majakowski 1917 den revolutionären Ereignissen. Seine Dichtung war von nun an ein Hohelied der Industrialisierung, Staudämme und Fabriken, der neuen Gesellschaftsordnung und ihres Anführers Lenin. Er hatte in seinen Versen seit dem „Roten Oktober“ die Matrosen und andere Revoluzzer weltweit „links, links, links“ marschieren lassen und seine Dichterperson, Lenin und die Sowjetinsignien in vielen tausend Verszeilen hymnisch gepriesen.

    [bilingbox]Entrollt euren Marsch, Burschen von Bord!
    Schluß mit dem Zank und Gezauder.
    Still da, ihr Redner!
    Du
    hast das Wort,
    rede, Genosse Mauser!
    Brecht das Gesetz aus Adams Zeiten.
    Gaul Geschichte, du hinkst …
    Woll’n den Schinder zu Schanden reiten.
    Links!
    Links!
    Links!

    (Linker Marsch, 1918, Übersetzung: Hugo Huppert)~~~Разворачивайтесь в марше!
    Словесной не место кляузе.
    Тише, ораторы!
    Ваше
    слово,
    товарищ маузер.
    Довольно жить законом,
    данным Адамом и Евой.
    Клячу историю загоним.
    Левой!
    Левой!
    Левой!

    (Левый марш, 1918)[/bilingbox]

    Um die Massen für das neue Regime zu gewinnen, reist der Dichter durch das Land, gefeiert von Fabrikarbeitern und der Jugend. Zigtausende strömen zu seinen Lesungen. Im revolutionären Agitationskampf macht sich der „Schreihals-Offizier“ (Aus vollem Hals, 1930) zum Sprachrohr dieser Masse, den 150 Millionen, wie im gleichnamigen Poem.

    [bilingbox]150 000 000
    heißt dieser Dichtung Meisterverfasser
    Geschoßrhythmus
               Reime wie Flammen. 

    (150 000 000, 1921, Übersetzung: Alfred E. Thoss)~~~150 000 000
    мастера этой поэмы имя.
    Пуля — ритм.
               Рифма — огонь из здания в здание.

    (150 000 000, 1921)[/bilingbox]

    Notiert ist 150 000 000, wie viele Gedichte dieser Periode, in der für Majakowski typischen „Treppen-Form“, die als instrumentierte Partitur den deklamatorischen Duktus samt Pausen und Betonung vorgibt.

    Sein graphisches und dichterisches Talent in Kombination stellte Majakowski noch auf andere Weise in den Dienst der Sache. In Moskau begann er 1919 für die Revolutionäre Nachrichtenagentur Sowjetrusslands ROSTA zu arbeiten. Anstelle der Leere in den Auslagen brachte man damals große Plakate in den Schaufenstern der staatlichen Geschäfte an, hergestellt von Hand und mit Hilfe von Schablonen lithographisch vervielfältigt. In Bildergeschichten wurden mit diesen sogenannten ROSTA-Fenstern tagesaktuelle Nachrichten, politische Losungen und die neue Moral unter das in weiten Teilen des Lesens noch unkundige Volk gebracht. Mehr als 3000 solcher comicartiger Panels hat Majakowski gezeichnet und getextet.6 Er definierte damit nicht nur den „revolutionären Stil“ der avantgardistischen Plakatkunst, er stand auch an den Wurzeln der sowjetischen Reklame. Hunderte von Werbesprüchen pro Jahr für staatlich produzierte Artikel wie Nudeln, Autoreifen oder Babyschnuller verfasste er: „Für Magen, Leib und Geist das Drumherum, Du kriegst es bestens alles im GUM“ oder „Gelöst die Weltprobleme, wie Sie’s gern hätten, mit den besten am Ort – Diplomatenzigaretten“.7

    Sowjetischer Dandy

    Auch sich selbst hat Majakowski von Anfang an zum Markenzeichen gemacht. Als junger Dichter noch war er „Futurist mit der gelben Bluse“, einem auffällig gelb-schwarz gestreiften Blouson, der Schrecken aller auf Etikette erpichten Türsteher im vorrevolutionären Russland gewesen. Lilja Brik hat dem „schönen, finster blickenden jungen Mann mit dem Bass eines Protodiakons und den Fäusten eines Boxers“ (Boris Pasternak) dann nicht nur Zähne verpasst, sondern auch aktiv an seinem Image eines sowjetischen Dandys mitgearbeitet. Und während seine avantgardistischen Mitstreiterinnen Warwara Stepanowa und Ljubow Popowa dabei waren, für den neuen sowjetischen Alltag aus den erhältlichen Materialien ein angemessenes konstruktivistisches Design zu entwerfen, kaufte der Dichter unter Anleitung der ihn umgebenden Frauen seine britischen Wollpullis, teuren Lederschuhe und pastellfarbenen Hemden auf den zahlreichen Auslandsreisen in den Pariser Boutiquen Grande Chaumière, Old England und in Übersee.8

    „Auch mir wächst die Agitpropkunst zum Halse heraus …“

    Der ästhetische Umstürzler, der Kämpfer gegen Spießbürgertum und Alltagskonventionen, der mit seinem Dichten den Plan des Alltags verwischen wollte, war dabei, sich im Dickicht von Anforderungen, Normen und Bequemlichkeiten eines neuen Establishments zu verlaufen. Schon 1922/23 im Poem Darüber, an dem er nach einem Zerwürfnis mit Lilja Brik über Wochen arbeitete, beschrieb Majakowski die Gefahr, der „Schindmähre Alltag“ zu erliegen:

    [bilingbox]Werde starr im Erkennen,
                            plattgedrückt, still.
    Schneide Phrasen nach dem Radauschnitt zu.

    (Darüber, 1923, Übersetzung: Alexander Nitzberg)~~~Застыл в узнаваньи,
                            расплющился, нем,
    фразы крою́ по выкриков выкройке.

    (Про это, 1923)[/bilingbox]

    Im letzten seiner Gedichte wird er noch deutlicher werden:

    [bilingbox]Mir hängt
        zum Halse
            der Agitprop. […]
    Ich aber
       zügelte
          mich,
              bin grob
    meinem Lied
              auf die Kehle getreten.

    (Aus vollem Hals, 1930, Übersetzung: Alexander Nitzberg)~~~И мне
            агитпроп
                    в зубах навяз, […]
    Но я
        себя
            смирял,
                становясь
    на горло
                собственной песне.

    (Во весь голос, 1930)[/bilingbox]

    Boris Pasternak erklärte sich Majakowskis Freitod aus einer unerträglichen Einsicht: „weil er in sich […] etwas verurteilte, mit dem sich seine Eigenliebe nicht abzufinden vermochte.“9Und so mag die Verszeile im Abschiedsbrief Majakowskis „das Boot meiner Liebe am Alltag zerschellt“ nicht nur das persönliche Drama meinen, sondern auch das der gescheiterten Utopie und ihres glühenden Verkünders.


    Wladimir Majakowskis Stimme:

    A wy mogli by (dt. Und könnten Sie?)

    Posluschajte (dt. Hören sie zu)

     


    1. Schon im Prolog seines Hits von 1915 Die Wirbelsäulenflöte hatte Majakowski sein emotionales Panorama in ganzer Bandbreite zwischen Zukunft und Vergangenheit aufgespannt. In direkter Nachbarschaft heißt es da: „Immer öfter denk ich – ob’s nicht besser wär’, einen Kugel-Punkt an sein Ende zu böllern. (…) Erinnerung! (…) Schmücke die Nacht mit gewesenen Hochzeitsfeiern. Von Körper zu Körper fließe Lust. Niemand soll diese Nacht versäumen. Ich spiele heute die Flöte just / auf meiner Wirbelsäule.“ (Übersetzung: Karl Dedecius) ↩︎
    2. Gillen, Eckhart (Hrsg., 1976): Majakowski – 20 Jahre Arbeit [Katalog], Berlin: „[…] daß nicht bloß der Achtstundentag, sondern der Sechzehn- und der Achtzehnstundentag für den Poeten gang und gäbe ist, wenn er die ungeheuren Aufgaben lösen will, die jetzt vor unserer Republik stehen. Ich habe zu zeigen, daß wir momentan keine Zeit zum Ausruhen haben, weil wir Tag für Tag mit unserer Feder werken und wirken müssen.“ ↩︎
    3. sh. Bykov, Dmitrij (2016): 13-j apostol: Majakovskij: Tragedija-buff v šesti dejstvijach, Moskva, S. 124 ↩︎
    4. Arzamas.academy: Achmatova i Majakovskij: vragi ili druzja? ↩︎
    5. Karasik, Michail/Kharmsizdat (Hrsg., 1997): Sovetskij ėros 20–30-ch godov: Sbornik materialov., Sankt-Peterburg ↩︎
    6. Bykov, S. 389 ↩︎
    7. zit. nach Plessix Gray, Francine du (2008): Majakowskis letzte Liebe, Berlin, S. 31 ↩︎
    8. Majakovskij „haute couture“: iskusstvo odevat’sja [Katalog] Moskva, 2015 ↩︎
    9. Pasternak, Boris (1959): Über mich selbst: Versuch einer Autobiographie, (Übersetzer: Reinhold von Walter). Frankfurt a. M., S. 68 ↩︎

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  • Anna Achmatowa

    Anna Achmatowa

    „Und geboren bin ich, wie zu erwarten, in der Johannisnacht, vom 23. auf den 24. Juni, aber es lohnt nicht, darauf besonders hinzuweisen“1, notiert 1957 die bald 70-jährige Anna Achmatowa. Geboren in der geheimnisvollen Midsummer Night, zur slawisch-heidnischen Sonnenwendfeier Iwan-Kupala, so heißt es, nicht weniger aufgeladen, in Varianten. Der Anfangssatz einer nie realisierten Autobiographie ist in seiner doppelbödigen Widersprüchlichkeit charakteristisch für die Poetik des nur auf den ersten Blick Klaren und Einfachen.

    Ein Dichten oftmals der kleinen Form, der direkten, dinglichen Sprache und doch im Modus der Andeutung, des Nicht-Zuendesprechens und Verschweigens, damit ist Achmatowa als große Lyrikerin in die Weltliteratur eingegangen. 

    Das rhetorische Ablenkungsmanöver rund um die biographische Information enthüllt mehr als es verdeckt. Hier ist von einem Ursprungsmythos die Rede, der im wortreichen Verschweigen die vielversprechende Geburt einer Dichter-Prophetin verkündet. Deren wortkünstlerische und in Achmatowas Deutung hellsichtige Gabe brachte frühen Ruhm. Doch bald darauf folgten Verleumdung, Einsamkeit und erzwungenes Verstummen für viele Jahre.

    Rätselhafte Königin der Bohème-Cabarets

    Geboren als Anna Andrejewna Gorenko 1889 in Odessa, am 11. Juni alten Stils, und aufgewachsen in Zarskoje Selo, dem Städtchen um die prächtige Sommerresidenz des Zaren, begann sie früh zu dichten. Ihren nom de plume Anna Achmatowa borgte sie sich von der Urgroßmutter, einer angeblich tatarischen Prinzessin aus dem Geschlecht des Khan Achmat.

    Zu Beginn der 1910er Jahre die lyrische Entdeckung der Petersburger Literatenkreise, war die rätselhafte Königin der Bohème-Cabarets Streunender Hund und später Rastplatz der Komödianten als 20-Jährige bereits eine Berühmtheit. Sie stand mit ihren Dichterfreunden Ossip Mandelstam, Nikolaj Gumiljow und anderen für die neue Bewegung des Akmeismus (von griech. akme: Gipfel, Höhepunkt, Blütezeit), die dem in die Jahre gekommenen Symbolismus und seinen Verweisen auf die Transzendenz eine Poesie der Dinge, der Diesseitigkeit und der „wunderschönen Klarheit“ (Michail Kuzmin) entgegensetzte.
     
    Die frühen Gedichte „nicht über die Liebe“ waren von extremer Kürze und riefen mit ihren punktuell angedeuteten Sujets den Eindruck von Tagebucheinträgen, intimen Beichten, autobiographischen Skizzen hervor.

    Wir müssen den Abschied üben.
    Schlendern zu zweit herum.
    Es dämmert.
    Wir gehn im Trüben.
    Du grübelst.
    Ich bleibe stumm. […]

    (Übersetzung: Alexander Nitzberg)2

    Aus welchen Unratecken / Unschuldig wachsen Vers und Reim

    Diese Art zu Dichten, das Erzählen in Versen auf knappstem Raum mit konkreten Settings, sinnlichen Details (ein auf die linke Hand gezogener rechter Handschuh, eine kalt bleibende Hand auf dem Knie, die wiederkehrende Irisfärbung des „grauäugigen Königs“), ebenso wie die Psychologie der lyrischen Stimmen und die lakonische Sprache fanden umgehend eine große Schar von Nachahmerinnen. In ihrem in den 1960er Jahren zusammengestellten Zyklus Geheimnisse des Handwerks beschreibt Achmatowa die Besonderheit ihrer Poetik selbst mit den Versen:

    Ach, wüßtet ihr, aus welchen Unratecken
    Unschuldig wachsen Vers und Reim,
    Wie gelber Löwenzahn vor wilden Hecken,
    Wie Melde wächst am Rain.3

    Und sie kommentiert mit einem Vierzeiler die mit dem eigenen Schaffen bereits beantwortete Frage nach einer möglichen Rollenverkehrung von Muse zu Dichterin – durchaus auf mehrdeutige Weise:

    Und Beatrice – schuf sie wie Dante Verse?
    Berühmte Laura je der Liebe Glut?
    Nun lehrte ich die Frauen sprechen …
    Wie bringt man sie zum Schweigen, großer Gott?

    (Epigramm, 1958; Übersetzung: Rainer Kirsch)4

    Allerdings wurde die Lehrmeisterin selbst schon bald zum Schweigen gebracht. 1922 erschien ihr auf viele Jahre letzter Gedichtband. Im Jahr zuvor hatte die neue Macht im Land Nikolaj Gumiljow, den Vater ihres Kindes, wegen angeblicher Beteiligung an der monarchistischen Tanganzew-Verschwörung hingerichtet. Ihre Dichtung war in der Presse als „bourgeois“ und „gestrig“ gebrandmarkt worden. Ein geheimer Parteierlass schloss die Dichterin für Jahrzehnte von allen Veröffentlichungsmöglichkeiten aus. Freunde und Weggenossen verließen das Land oder Schlimmeres. Achmatowa aber blieb und schwieg:

    Nein, nicht unter fremden Himmelsweiten,
    Nicht schützte mich ein fremdes Flügelpaar, –
    Ich war mit meinem Volk in jenen Zeiten,
    Dort war ich, wo mein Volk, zum Unglück, war.

    (1961, Übersetzung: Elke Erb)5

    Requiem

    Erst Anfang der 1940er Jahre konnten wieder Verse erscheinen. Die Dichterin trat sogar im Leningrader Radio auf, als die deutschen Truppen die Stadt eingeschlossen hatten. Die Blockade überlebte sie, schwer an Typhus erkrankt, in der Evakuation in Taschkent. Was ihrem Publikum jedoch verborgen blieb, war ihr Rekwijem (dt. Requiem), ein in den Jahren 1935 bis 1940 entstandener Gedichtzyklus über den Terror. Denn als die Not am größten war, man Sohn und Ehemann zum wiederholten Male verhaftete und die stalinistischen Säuberungen ihren Höhepunkt erreichten, hatte Achmatowa in Verse gefasst, was niemand auszusprechen wagte.

    Foto © Moisej Nappelbaum/Kommersant Archiv (1922)
    Foto © Moisej Nappelbaum/Kommersant Archiv (1922)

    In voller Länge verschriftlichte Achmatowa diese Gedichte allerdings erst Ende 1962. Die zum Schweigen gezwungene Dichterin vertraute ihre Verse nur dem Gedächtnis der engsten Freunde an und verbrannte das Papier, auf dem sie geschrieben standen, in einem immer wiederkehrenden Ritual. Und auch dann konnten sie als Ganzes nur im Ausland erscheinen. In der Sowjetunion erlaubte man erst 1987, während Glasnost und Perestroika, ihr Requiem unzensiert zu drucken. Denn 1946 hatte die Dichterin erneut der Bannstrahl der Partei getroffen,6 und erst nach Stalins Tod unter Chruschtschow durfte sie in den Literaturbetrieb zurückkehren.

    Poem ohne Held

    Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie mit der Rekonstruktion verlorener, verbrannter und vergessener Gedichte, der anhaltenden Neuordnung ihrer Zyklen. Sie schrieb an Prosaprojekten, die ihre Interpretation der Geschichte fassen sollten, und schloss ihr großes, um 1940 begonnenes Alterswerk ab, die rätselhafte Versnovelle Poem ohne Held. Erste Auszüge, die von schrecklichen Schatten aus dem letzten Vorkriegsjahr 1913 erzählen, die der Autorin zum Neujahrsfest erscheinen, hatte sie schon 1941 Marina Zwetajewa bei deren Begegnung in Moskau vorgelesen. 
     
    Die kommentierte, so Achmatowas Erinnerung, süffisant: „Man muss schon über große Kühnheit verfügen, um im Jahr 41 über Harlekins, Kolombinen und Pierrots zu schreiben.“7 Und doch liegen die Gemeinsamkeiten zwischen 1913 und 1941 auf der Hand, wie erst unlängst Dimitri Bykow hervorgehoben hat, der das Poem ohne Held eine „Prophezeiung“ nennt.8 Denn schon einmal hatte Achmatowa am Vorabend einer historischen Katastrophe, als sich die Menschen noch in trügerischer Sicherheit wiegten, den alltäglichen Torfbränden um die Stadt schrecklichere Weltbrände abgelesen und in ihrem Gedicht Juli 1914 einen Einbeinigen prophezeien lassen:


    Schreckenszeiten sind nahe,
    Frische Gräber dicht an dicht.
    Erwartet Hunger, erwartet Strafen
    Und der Sterne verfinstertes Licht.9

    (Übersetzung: Birgit Veit)

    Mythos „Anna Achmatowa“

    Anna Achmatowa war von Anfang ihres Schaffens an zur Legende geworden. In vielen Gedichten, den frühen, wie den späten, in den fragmentarisch überlieferten Prosatexten und dem unvollendet gebliebenen Theaterstück Enuma Elish fügte sie den über sie kursierenden Geschichten, den Erinnerungen der Zeitgenossen und den Konstruktionen ihrer Leserschaft ihre eigenen Lesarten vom Mythos „Anna Achmatowa“ bei. 
     
    Denn trotz wiederkehrender Diskreditierungen staatlicherseits, trotz jahrzehntelanger Publikationsverbote und Sippenhaft war und blieb die Dichterin eine lebende Legende: In den 1910er Jahren von den Zeitgenossen in Versen besungen und zuweilen auch parodiert, in Gemälden, Fotografien und Skulpturen verewigt, später in oft quasi-dokumentarischen Memoiren und Romanen gespiegelt und zum fiktionalen Leben wiedererweckt,10 wurde Achmatowa von den Lesern und insbesondere Leserinnen als Heldin der Nicht-Liebe vergöttert. Der Sowjetmacht war sie umso mehr verhasst.

    Sie gilt bis heute Vielen neben Marina Zwetajewa als die Verkörperung der russischen Lyrik im 20. Jahrhundert. Man stilisierte sie zur „klagenden Muse“ (Marina Zwetajewa) und „russischen Sappho“, zu Carmen und Maria (Alexander Blok), Kassandra, Mnemosyne. Man schmähte sie „halb Nonne, halb Hure“ (Andrej Shdanow), und setzte die letzte Hoffnung in sie, als es galt, eine Chronistin für das Unaussprechliche der „schrecklichen Jahre des Justizterrors“ zu finden. Man sah in ihr die Gedächtnissängerin, die alle ihre Dichterfreunde und die grausamen Umwälzungen der Epoche überlebte und die Erinnerung daran in ihren Versen bewahrte. 
     
    Mit festen Attributen hat sie ihren Platz im kollektiven Gedächtnis nicht nur der russischen Leserschaft: Die junge, hochgewachsene Dichterin mit dem unverwechselbaren Profil, den Stirnfransen à la Parisienne, der Perlenkette, dem Schultertuch und später dann dem schlichten, dunklen Kleid; aber auch die verfemte, dem Vergessen anheim gegebene, und zuletzt die reife Dichterin, die „als Zarin der russischen Literatur“11 an ihrem Lebensende noch einmal im In- und Ausland Anerkennung erfuhr.


    zum Weiterlesen:
     
    Kusmina, Jelena (1993): Anna Achmatowa: Ein Leben im Unbehausten, aus dem Russischen von Swetlana Geier, Berlin
    Naiman, Anatoli (1992): Erzählungen über Anna Achmatowa: Mit einer Einleitung von Joseph Brodsky, aus dem Russischen von Irina Reetz, Frankfurt am Main
    Mandelstam, Nadeschda (2011): Erinnerungen an Anna Achmatowa, aus dem Russischen von Christiane Körner und Pavel Polian, Berlin
     
    Achmatowa, Anna  (2013): Ich lebe aus dem Mond, du aus der Sonne: Liebesgedichte, aus dem Russischen von Alexander Nitzberg, Berlin
    Achmatowa, Anna (1994): Im Spiegelland: Ausgewählte Gedichte, herausgegeben von Efim Etkind, München/Zürich
    Achmatowa, Anna (1982): Poem ohne Held: Russisch-Deutsch, herausgegeben von Fritz Mierau, Nachdichtungen von Heinz Czechowski, Uwe Grüning, Rainer Kirsch und Sarah Kirsch, Leipzig

    1. Notizbücher, S. 448. Eintrag unter dem Titel „Vielleicht wird so meine Autobiografie beginnen“ ↩︎
    2. Achmatowa, Anna (2013): Ich lebe aus dem Mond: Liebesgedichte, aus dem Russischen von Alexander Nitzberg, Berlin, S. 58 ↩︎
    3. Mne ni k čemu odičeskie rati (21.1.1940). Übersetzung: Ahrndt, Erich (2013): Anna Achmatowa: Unsrer Nichtbegegnung denkend: Gedichte 1911 bis 1964, Leipzig, S. 191 ↩︎
    4. Achmatowa, Anna (1958): Poem ohne Held: Späte Gedichte russisch/deutsch, Leipzig, S. 99. „Mogla li Biče, slovno Dant, tvorit’, / Ili Laura žar ljubvi vosslavit‘? / Ja naučila ženščin govorit‘ … / No, Božе, как ich zamolčat‘ zastavit‘!“ Tajny remesla, 7. Epigramma (1958) ↩︎
    5. Achmatowa, Anna (1958): Poem ohne Held: Späte Gedichte russisch/deutsch, Leipzig, S. 25. „Net! i ne pod čuždym nebosvodom / I ne pod zaščitoj čuždych kryl – / Ja byla togda s moim narodom, / Tam, gde moj narod, k nesčast’ju, byl.“ ↩︎
    6. Der Leningrader Parteisekretär Andrej Shdanow eröffnete 1946 mit seiner Rede vor dem Schriftstellerverband über die Zeitschriften Swesda und Leningrad eine öffentlich ausgetragene Hetzkampagne gegen die Künste. In dieser wurde Achmatowa persönlich hervorgehoben und verunglimpft. Es erfolgten ihr Ausschluss aus dem Schriftstellerverband und daraufhin ein erneutes Publikationsverbot. ↩︎
    7. Achmatova, Anna (1989): Poėma bez geroja, herausgegeben von Timenčika, R. D., Moskau, S. 353 ↩︎
    8. Bykov, Dmitrij: Poėma bez geroja kak proročestvo: Lekcija ¾: Kurs „Mir Anny Achmatovoj“ ↩︎
    9. Deutsche Übersetzung zitiert nach: Buelens, Geert (2014): Europas Dichter und der Erste Weltkrieg, Berlin, S. 53, „[…] Sroki strašnye blizjatsja. Skoro / Stanet tesno ot svežich mogil. / Ždite glada, i trusa, i mora, / I zatmen’ja nebesnych svetil. […]“ ↩︎
    10. Dalos, György (1996): Der Gast aus der Zukunft: Anna Achmatowa und Sir Isaiah Berlin: Eine Liebesgeschichte, deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla, Hamburg; Kralin,Michail (1990): Artur i Anna, Leningrad; Zenkevič, Michail (1999): Elga: Belletrističeskie memuary, Berlin; Senkewitsch, M. (1999): Elga: Roman, aus dem Russischen von Alexander Nitzberg, Düsseldorf ↩︎
    11. Richter, Hans Werner (1965): „Euterpe von den Ufern der Neva oder die Ehrung Anna Achmatowas in Taormina“, Berlin-Friedenau ↩︎

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  • Kino #3: Brat

    Kino #3: Brat

    „Worin liegt die Kraft, Bruder?“ („W tschom sila, brat?“) – so lautete im krisengeschüttelten Russland der 1990er Jahre die Schlüsselfrage. Alexej Balabanows Kultfilm Brat (dt. Der Bruder) fragt nicht nur, er gibt auch die schon damals, in prä-postfaktischen Zeiten, gefährliche Antwort: „In der Wahrheit liegt die Kraft.“
    Auf den „Bruder“ Danila Bagrow (gespielt von Sergej Bodrow jun.), der diese Antwort auch jenseits des Films verkörpern sollte, trifft man noch zwei Jahrzehnte nach dem Filmstart 1997 allüberall. Auf dem Petersburger Alexander-Newski-Platz blickt er als Graffito von einem Trafohäuschen, und in Wahlkampagnen ertönen seine alles andere als politisch korrekten Sentenzen quer durch die politischen Lager.
    Dieser „Kumpel“, so die umgangssprachliche Verwendung von „brat“, ist die ideale Identifikationsfigur, ein Junge aus der Provinz, einer wie du und ich. Der Wahrheitskämpfer Danila und sein Programm spielen in Politik, Produktbranding und als geflügelte Worte bis heute eine wichtige Rolle im kulturellen Gedächtnis.

    Brat erzählt die Geschichte eines Jungen aus dem Volk, auf der Suche nach seiner Bestimmung in der neuen Gesellschaft / Fotos © CTB Film Company
    Brat erzählt die Geschichte eines Jungen aus dem Volk, auf der Suche nach seiner Bestimmung in der neuen Gesellschaft / Fotos © CTB Film Company

    Die Ausgangsbedingungen für den schillernden Kultfilm und seinen Helden waren denkbar schlecht. Die Filmindustrie steckte Mitte der 1990er Jahre in ihrer tiefsten Krise. Die Menschen gingen angesichts der prekären Umstände kaum noch ins Kino, und wenn, dann wollten sie US-amerikanische Action sehen. Nicht zuletzt galt der Regisseur Balabanow bis dahin als Autorenfilmer ausschließlich für „Eingeweihte“.1 Doch nun lieferte sein hybrides, sehr erfolgreiches Autoren-Genrekino, das mit Brat im Jahr 1997 seinen Anfang nahm,2 in geradezu idealtypischer Weise die Schablone für ein neues russisches Kino, das zur nationalen Identitätsbildung beitragen sollte.

    Die Geburt eines neuen Volkshelden

    Brat ist das Beispiel für ein „nationales Kino“ mit „neuen Volkshelden“, die den Vergleich mit dem amerikanischen Film nicht zu scheuen brauchen. Dieser „neue Filmheld“ geht nicht aus der Geschichte des Landes hervor. Vielmehr ist er scheinbar völlig „unschuldig“ und „rein“. Er ist nicht etwa das groß gewordene Kind der sowjetischen Leidensgeschichte, das zum Beispiel Andrej Tarkowski in Iwans Kindheit (1962) in aller tragischen Brutalität an den Folgen des Krieges zu Grunde gehen ließ. 

    Die ideale Identifikationsfigur, ein Junge aus der Provinz, einer wie du und ich: Protagonist Danila Bagrow
    Die ideale Identifikationsfigur, ein Junge aus der Provinz, einer wie du und ich: Protagonist Danila Bagrow

    Zwar kommt auch Danila Bagrow aus dem Krieg, er ist ein jugendlicher Heimkehrer aus dem heute „ersten“ genannten Tschetschenienkonflikt (1994 bis 1996). Doch ist er kein traumatisierter Kindersoldat, sondern ein so sympathischer wie reflexionsfreier Killer, der sich selbst ermächtigt. Aus dem Kaukasus bringt er nur die Camouflage-Jacke und das Handwerk des Tötens mit und entfaltet im unförmigen Strickpulli, seiner Version des Superheldenkostüms, eine enorme Anziehungskraft. 

    Als „Dummerjahn“, dem für die russische Kultur typischen Iwanuschka-Duratschok, ist Danila in seiner Unmittelbarkeit, „Unschuld“ und psychologischen Flachheit das ideale Sprachrohr der nationalen Befindlichkeit in den Jahren der Transformation. Sie findet ihren Ausdruck in Danilas xenophoben Statements und in der Wahl der Mittel, mit denen er seine Wahrheit skrupellos und gewalttätig etabliert.

    Danilas Zaubermärchen der Transformationszeit

    Brat erzählt die Geschichte eines Jungen aus dem Volk, der sich auf die Suche nach seiner Bestimmung in der neuen Gesellschaft macht und dabei zielstrebig und ohne Skrupel, dafür aber „instinktiv“ und mit durchschlagender Gewalt vorgeht. Von den Autoritäten seines provinziellen Herkunftsortes – örtliche Miliz und Mutter – in die Welt geschickt, soll er sich eine Arbeit suchen, um nicht wie der kriminelle Vater in einem Straflager zu verschwinden. 

    In St. Petersburg macht sich Danila die Hände nicht nur symbolisch schmutzig
    In St. Petersburg macht sich Danila die Hände nicht nur symbolisch schmutzig

    Danila macht sich also auf den Weg zum angeblich erfolgreichen Bruder Viktor nach Petersburg. Bald schon kann er zeigen, was seine eigentliche Mission ist: Er übt im Machtvakuum der 1990er Jahre stellvertretend für die „Erniedrigten“ Selbstjustiz, ahndet Regelverstöße und beschützt die „Seinen“. Entsprechend einfach ist seine Welt gestrickt. Die anderen, denen er eine Lektion erteilen will, sind die „Nicht-Brüder“ („Ich bin nicht dein Bruder, schwarzärschige Zecke“), die Nicht-Russen („Ich hab’s nicht so mit den Juden“) und „Amerika“ („… auch bald am Ende“). 

    Für den Bruder und Ersatzvater allerdings, der in Petersburg keineswegs einer ehrlichen Arbeit nachgeht, sondern der Handlanger einer „kriminellen Autorität“ ist, macht sich Danila ganz ohne Moral die Hände nicht nur symbolisch schmutzig. Der kindliche Protagonist mit dem gleichbleibend harmlosen Gesichtsausdruck verwandelt sich in einen kaltblütigen Killer, der unverwundbar, professionell und frei von Emotionen für Ordnung sorgt. 

    Musikclip-Ästhetik

    Bevor es zu Action, Showdown und einem unerwarteten Ende kommt, flaniert der junge Protagonist durch die Stadt. Ein liebevoller Blick auf die Abseiten eines Petersburg der 1990er Jahre – getaucht in für Balabanow typisches Sepia. Bewaffnet ist der „Held seiner Zeit“ hier noch lediglich mit einem CD-Player, der Quelle für den musikalischen Drive des Films. 

    Danilas Streifzüge durch die Stadt zeigen die Metropole zerfallen und dreckig, verwandelt in einen Basar mit eigenen, kriminellen Gesetzen und erbarmungslosen Vollstreckern. Nicht zuletzt dieses Stadtporträt macht den Film heute, zwei Jahrzehnte nach seinem Erscheinen, zum „größten russischen Film über das Leben in der ersten postsowjetischen Dekade“.3

    Die anderen, denen Bagrow eine Lektion erteilen will, sind die „Nicht-Brüder“
    Die anderen, denen Bagrow eine Lektion erteilen will, sind die „Nicht-Brüder“

    Die auffällige Rhythmisierung des Films durch Schwarzbilder, die wie sichtbar gemachte Pausen zwischen Songs einer Musik-Compilation die einzelnen Episoden voneinander abtrennen, verweist auf die Musikclip-Ästhetik, ebenso die Montagetechnik, für die der handlungsinterne musikalische Sound eine strukturelle Funktion hat. Szenen, die – wie ein Video-Clip auf die darin auftretenden Musiker – hier auf die musikbegleitete Bewegung des Protagonisten durch den Stadtraum fokussieren, wechseln in Brat mit Actionszenen, die ohne Musik auskommen. 

    Low-Budget als ästhetisches Programm

    Der Film ist auch eine Reflexion über das Filmemachen unter völlig neuen Bedingungen. Nicht zufällig spielt die erste Szene auf dem Set einer Musik-Clipproduktion für Nautilus Pompilius, einer berühmten Band der russischen Rockszene. Brat kommentiert in der Machart und auf seiner Handlungsebene die zeitgenössische Medien- und Populärkultur, in der er sich wegweisend positioniert. 

    Balabanow realisiert Brat als Low Budget-Produktion bei CTB, einer Filmgesellschaft, die Sergej Seljanow 1992 unter Beteiligung Balabanows gegründet hatte, und die sich bald als eine der einflussreichsten Produktionsfirmen auf dem russischen Filmmarkt etablieren sollte. 

    Im Machtvakuum der 1990er Jahre übt Bagrow stellvertretend für die „Erniedrigten“ Selbstjustiz
    Im Machtvakuum der 1990er Jahre übt Bagrow stellvertretend für die „Erniedrigten“ Selbstjustiz

    Mit minimalen Mitteln und der kostenlosen Unterstützung von Freunden realisiert, kann Brat als Paradebeispiel für den Low-Budget-Film der ausgehenden 1990er Jahre in Russland gelten, wie er damals als Lösung diskutiert wurde.4

    Die sich daraus ergebende Arbeitsweise, kurze Drehzeiten, unaufwändige Settings auf der Straße oder in den eigenen vier Wänden, minimaler Technikeinsatz, ein mobiles Team aus großteils Amateuren, die anstelle von Gage an den Einnahmen beteiligt werden sollten und ähnliches,5 erzeugt eine spezifische Ästhetik, die sich in der authentischen Ausstattung, dem Kolorit der Drehorte, der unverstellten Spielweise, der monochromen Farblichkeit und ganz besonders der Dynamik von Brat widerspiegelt. 

    Regisseur als Handlanger?

    Überhaupt lässt sich der gesamte Film als Kommentar verstehen, wie unabhängiges Filmemachen unter den Bedingungen fehlender Filmförderung zu bewerkstelligen ist. In langen Close-ups ist Danila wiederholt bei seinen Vorbereitungen zu sehen, wie er aus einfachen Alltagsgegenständen, aus Streichhölzern, Plastikflaschen und Nägeln, sein Waffenarsenal herstellt. Um im Russland der 1990er Jahre zu überleben und zu prosperieren, hatte jeder, ob Filmemacher, Gangster oder Geschäftsmann, DIY-skills zu entwickeln.6 

    Danilas Streifzüge zeigen St. Petersburg zerfallen und dreckig, verwandelt in einen Basar mit eigenen, kriminellen Gesetzen
    Danilas Streifzüge zeigen St. Petersburg zerfallen und dreckig, verwandelt in einen Basar mit eigenen, kriminellen Gesetzen

    Dass ein solches Konzept nicht allein kreative Freiräume eröffnet und Erfolg bringt, sondern den Regisseur auch zum Handlanger von Fragwürdigem machen kann, wurde Balabanow nicht nur von der heftig streitenden Filmkritik sondern auch noch lange von der Forschung vorgeworfen. 

    Brat kommentiert diese ungute Verflechtung in einer Filmszene allerdings selbst und auf ironische Weise: Während der junge Killer mit Gehilfen in einer Wohnung auf das Opfer seines nächsten Auftrags wartet, steht plötzlich sein Idol Wjatscheslaw Butusow, der Frontmann von Nautilus Pompilius, vor ihm. Der sich hier selbst spielende Butusow hat sich in der Tür geirrt und lockt nun Danila in eine friedliche Parallelwelt im Stockwerk darüber. Dort feiern Filmleute und Musiker ein friedliches Fest. 

    Die Rockband Nautilus Pompilius mit Sänger Wjatscheslaw Butusow (links) sorgt für den musikalischen Drive des Films
    Die Rockband Nautilus Pompilius mit Sänger Wjatscheslaw Butusow (links) sorgt für den musikalischen Drive des Films

    Die Episode endet damit, dass Danila in seiner Welt von Mord und Totschlag die zufällige Geisel, einen kleinmütigen Regisseur und womöglich ironisches alter ego Balabanows, freilässt. Danilas Kompagnons hingegen werden Opfer seines „Wahrheitskonzepts“. Für den Filmemacher gibt es die Freiheit allerdings nur zu dem Preis, gemeinsam mit dem Killer Danila Tatortreiniger zu sein.

    Text: Christine Gölz
    Veröffentlicht am 01.03.2017


    Original mit englischen Untertiteln:

    Original ohne Untertitel:


    1.Dondurej, Daniil (1998): Ne brat ja tebe, gnida…, in: Iskusstvo kino, 1998, Nr. 2
    2.Großen, auch internationalen Erfolg hatte Balabanow mit seinen kontrovers diskutierten Filmen War (2002), Cargo 200 (2007), Morphin (2008) und The Stroker (2010)
    3.Anemone, Anthony (2015): Aleksei Balabanov: Brother (Brat, 1997), in: KinoKultura 50 = Special Feature KiKu-50
    4.Gurauskajte, Ju. (1996): I ėto tože kino, in: Kommersant, 22.8.1996
    5.Kuvšinova, Marija (2015): Balabanov, Sankt-Peterburg, S. 15
    6.Anemone, Anthony (2015): Aleksei Balabanov: Brother (Brat, 1997), in: KinoKultura 50 = Special Feature KiKu-50

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