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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Die Unsichtbaren

    Die Unsichtbaren

    Demonstrationen sind nicht mehr möglich. Kritische Äußerungen werden mit jahrelanger Lagerhaft bestraft. Unabhängige Nachrichten sind immer schwerer zu bekommen. Selbst auf der Arbeit und im Freundeskreis müssen die Menschen Denunziationen fürchten. Von März 2022 bis Mai 2023 hat die Soziologin Anna Kuleschowa untersucht, wie sich das Leben von oppositionell eingestellten Russinnen und Russen im Laufe eines Kriegsjahres verändert hat. Dazu hat sie über hundert Personen verschiedenen Alters und aus unterschiedlichen Einkommensgruppen befragt. Allen gemeinsam ist die Angst: vor einem Sieg Russlands, vor immer härteren Repressionen, vor einer immer schlechteren Gesundheitsversorgung und davor, dass sie Verwandte und Freunde, die ins Ausland gegangen sind, lange Zeit nicht mehr wiedersehen. Das Portal Cherta hat mit Anna Kuleschowa über ihre Forschung gesprochen und veröffentlicht ein erstes Fazit – wobei die Soziologin Wert darauf legt, dass die Ergebnisse noch vorläufig sind und nicht einfach auf das ganze Land übertragen werden können.

    „Die Menschen leben auf dem gleichen Territorium und haben ungefähr die gleichen Ansichten. Haben jedoch alle vor etwas anderem Angst: Die einen fürchten einen Sieg Russlands; sie meinen, wenn der Krieg auf diese Weise endet, dann wird das derzeitige Regime im Land nur stärker werden. Für sie bedeutet es, dass Perspektiven fehlen, dass ihnen und ihren Kindern das Leben geraubt würde. Sie fühlen sich in diesem System nicht zuhause“. So beschreibt die Soziologin Anna Kuleschowa die Stimmung bei oppositionell eingestellten Russen.

    Es gibt bei denen, die den Krieg nicht unterstützen, aber auch die entgegengesetzte Angst, dass nämlich Russland den Krieg verliert. Diese Menschen sind überzeugt, dass das Regime trotzdem überleben, dann aber nach Schuldigen suchen wird. „Sie haben Angst, dass man sie zu Volksfeinden erklärt. Dass das Regime die Verantwortung für die Niederlage von denen, die die Entscheidungen getroffen haben, auf alle anderen abwälzt, und dass es dann Säuberungen geben wird und eine Neuauflage der Stalin-Zeit“ sagt die Soziologin.

    Optimistische Prognosen für die kommenden fünf bis zehn Jahre waren von den Befragten nicht zu hören.

    Für viele war wichtig, dass man ihnen zuhört. „Bei den Menschen, die sich zu einem Interview bereit erklärten, brachen die Emotionen hervor. Sie erzählten von all ihrem Schmerz; schließlich ist es gewöhnlich so, als existierten sie nicht: Sie sind für ihre Umgebung unsichtbar, weil sie ihre Ansichten verstecken müssen. In der ganzen Welt, so scheint es, gelten alle, die geblieben sind, als Unterstützer des Regimes“, sagt Kuleschowa. Eines der wichtigsten Themen, über die die Respondenten sprachen, war die Angst.

    Einige Respondenten haben Angst vor einem Atomkrieg. Menschen, bei denen Angehörige in den grenznahen Gebieten leben, fürchten, dass der Krieg ihre Verwandten direkt treffen wird. Kuleschowa unterstreicht, dass 2023 eine neue Angst dazugekommen sei: Viele der Befragten haben Angst vor zurückgekehrten Militärangehörigen.

    „Es gibt die Angst, dass kampferprobte Männer mit einem Schaden in die Stadt kommen und hier ihre eigene Ordnung errichten.“

    Die Respondenten berichteten von Ängsten vor den sich verändernden patriarchalen und maskulinen Normen. Solche Befürchtungen seien keine unmittelbare Folge des Krieges, sondern ein Nebeneffekt, meint Kuleschowa. Der Soziologin zufolge haben die Leute Angst, dass die Propaganda von „echtem“ maskulinen Verhalten und Brutalität, mit der neue Kämpfer mobilisiert werden sollen, früher oder später zu einem Anstieg von Gewalt im Alltag und einer schlechteren Lage der Frauen führt. 

    Die Befragten sprachen oft von Repressionen, davon, dass es keine faire Rechtsprechung gibt, von Gewalt durch Sicherheitskräfte, die sie erleben.
    Viele Gesprächspartner Kuleschowas sagen, dass sie durch die massenhafte Unterstützung für den Krieg alarmiert sind. Hinzu kommt angesichts der vorgeblich allgemeinen Unterstützung für radikale Entscheidungen eine generelle Angst um das Überleben des Landes.

    „In den ersten Tagen [des Krieges] war ich überzeugt, dass ich in meiner Umgebung niemanden treffen würde, der den Krieg unterstützt. Als sich herausstellte, dass es sie dennoch gab, empfand ich neben dem schrecklichen Schock zusätzlich Abscheu, eine Art Ekel.

    Ich denke nicht, dass Unterstützer [des Krieges] schlechter sind als ich. Es ist nicht so, dass ich sie nicht mehr für Menschen halte, oder dass sie nicht mehr meine Freunde sind. Aber mir wird übel. Nicht ihretwegen, sondern durch die Situation und durch ihre Haltung dazu.“

    Andere hätten Angst vor einem Zusammenbruch des Gesundheitswesens, vor einem Mangel an Einweginstrumenten im Krankenhaus und Lieferschwierigkeiten bei Medikamenten, sagt Kuleschowa. Das betreffe vor allem Menschen, die lebenslang Medikamente einnehmen müssen, meint sie. „Für Medikamente, die früher nicht besonders teuer waren, muss man jetzt viel mehr bezahlen. Die Menschen müssen überlegen: ‚[…] wie kann ich behandelt werden, und wie Medikamente bekommen, Falls, Gott bewahre …‘“, berichtet die Soziologin.

    Eine andere wichtige Angst betrifft die fehlenden Möglichkeiten, sich mit engen Angehörigen zu treffen, die Russland verlassen haben. Vor einem Jahr schien es, dass wir „uns in einem Jahr sicher wiedersehen“. Jetzt ist klar, dass das „vielleicht auch nicht“ eintreten könnte, meinen Respondenten.

    Es gibt eine weitere Angst, die sich nicht direkt auf den Krieg bezieht, sondern auf dessen Folgen, nämlich eine mangelnde Sicherheit des öffentlichen Nahverkehrs. „Sie haben Angst vor Verkehrskatastrophen in der Folge der Sanktionen, dass etwa die U-Bahnwagen nicht mehr intakt sind. Sie wissen nicht, ob es jetzt noch sicher ist, mit dem Flugzeug zu fliegen, und ob die billigen chinesischen Autos sicher sind, die jetzt auf den Straßen fahren“, sagt Kuleschowa.

    Oft wird eine große Sorge um die Zukunft der Kinder geäußert: Ob es sinnvoll ist, dass sie in Russland ihre Bildung erhalten, wie ihre Zukunft aussehen wird, welche Perspektiven sie haben, und ob sie ohne ernste psychische Folgen und Konflikte die Schule abschließen können.
    Auch der „Anstieg der Intoleranz gegenüber Leuten, die in die Ecke gedrängt wurden, was sich zu einem echten Bürgerkrieg entwickeln kann“, macht Angst.

    Sich wegducken, um schwierige Zeiten überstehen

    Die Befragten schätzen den Anteil der Kriegsbefürworter in ihrem Umfeld auf 20 bis 30 Prozent. Viele sagen aber, dass sie nicht einmal annäherungsweise eine Zahl nennen können, da sie versuchen, mit Bekannten keine Gespräche dieser Art anzufangen. Schließlich weiß man ja nicht, was dabei herauskommt oder wer einen dann denunziert. Die Soziologin meint, dass die Menschen jetzt Angst vor Provokationen haben: „Es wurde erzählt, dass im Umkleideraum eines Fitness-Studios blaue Spinde standen. Und am 23. Februar lagen in ihnen dann gelbe Schuhanzieher. Die Leute waren verwirrt: „Wie sollte man darauf reagieren? Ist das eine Art Test?“

    Eine Befragte erzählte, wie sie in einem Geschäft war und von einer Verkäuferin über ihre Haltung zum Krieg ausgefragt wurde. „Wenn du schweigst, werdet ihr [Kriegsgegner] noch weniger“, sagte die Frau. „Aber du weißt nicht, wo das hinführt, du kannst kein Vertrauen haben“. „Der Raum für Vertrauen war für Russen nie groß. Fremden zu vertrauen ist eher atypisch für die Menschen in Russland. Jetzt aber ist dieser Kreis des Vertrauens vollkommen kollabiert“, sagt Kuleschowa.

    Viele Respondenten haben Angst, denunziert zu werden, wobei in Russland heute völlig unklar ist, von welcher Seite die Gefahr droht, meint die Soziologin. „Es sind nicht die Zeiten Stalins, als die Denunziationen nicht selten von Bekannten geschrieben wurden, die ein Motiv hatten; etwa weil jemand einen Posten oder mehr Wohnraum in der Kommunalka ergattern wollte. Jetzt ist es eher so, dass irgendwelche Leute andere denunzieren, die sie persönlich gar nicht kennen.“

    Das Problem der ausgewanderten Angehörigen wird ebenfalls als potenzielle Bedrohung gesehen. Unter denen, die ihre Männer oder Söhne ins Ausland geschickt haben, um sie vor der Mobilmachung zu bewahren, sind viele, die das in Gesprächen mit Fremden verheimlichen. Wenn die Frage nach der Haltung zum Krieg aufkommt, hüten sich die Leute davor, als erste zu antworten. Es ist sicherer, zuerst die Position des anderen zu hören. „Die Menschen beginnen ein Gespräch behutsam und versuchen zu verstehen: ‚Sind wir noch auf der gleichen Seite?‘ Wenn nicht, sollte man innehalten und über dieses Thema nicht mehr sprechen“, erklärt Kuleschowa.

    Die Russen, die von der Soziologin befragt wurden, reden nicht mehr über Politik, wenn sie ihre Gesprächspartner nicht gut genug kennen. „Smalltalk am Arbeitsplatz über die neuesten Nachrichten gibt es praktisch nicht mehr. Beim Plausch mit Nachbarn wird das Thema lieber beschwiegen. Man ist auf der Hut, nicht in Hörweite des Hausmeisters darüber zu reden. An U-Bahn-Eingängen, wo Polizisten auftauchen können, unterbricht man lieber das Gespräch und geht weiter, damit man sich keine Probleme einhandelt“, ergänzt sie. 

    „Dieses Schweigen ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt“, sagt Kuleschowa. „Die Strategie sich wegzuducken, um schwierige Zeiten zu überstehen, war für viele annehmbar, solange es nur um ein Jahr ging. Solange die Leute den 281. Tag zählten, den 282. Tag … Wenn die Zählung aber nicht mehr in Tagen erfolgt, sondern in Jahren, wie lange kannst du dann schweigend dasitzen? Wie wirst du damit leben?“

    In den Städten mit Systemen zur Gesichtserkennung versuchen Andersdenkende – den Umfragen von Kuleschowa zufolge – sich neue „Sicherheitstechniken“ anzueignen, also Methoden, um die Beobachtungskameras zu überlisten, etwa mit Hilfe von Brillenrahmen, Masken, und Augen, die auf Mützen oder Hüte gemalt werden. Populär sind neue Vorsichtsmaßnahmen beim Umgang mit Technik: Menschen, die wissen, dass ihre Gespräche abgehört werden können, legen ihr Telefon und ihre Box mit der Sprachsteuerung ins Nachbarzimmer. Andere nehmen während des Gesprächs den Akku heraus oder legen das Handy ins Gefrierfach, um angstfrei sprechen zu können. „Eine Befragte, mit der wir sprachen, hatte meinen Telegram-Kanal abonniert. Sie fragte: ‚Haben Sie denn nicht bemerkt, dass Sie oft einen neuen Abonnenten bekommen, der dann wieder verschwindet? Das bin ich; jedes Mal, wenn ich auf dem Weg zur Arbeit in der Universität durch die Kontrolle gehe und Angst habe, dass sie mich filzen. Für alle Fälle lösche ich alle Kanäle, und melde mich dann wieder an.‘“, berichtet Kuleschowa.

    Seine Leute finden

    Für kriegskritische Ansichten, die man in persönlichen Gesprächen, öffentlich oder in sozialen Netzwerken äußert, kann man ins Gefängnis wandern. Daher suchen die Menschen nach anderen Wegen, um Gleichgesinnte zu finden. Zu Beginn des Krieges dienten als „Hinweis“, dass jemand gegen den Krieg ist, oft die Farben der ukrainischen Flagge an der Kleidung, als Bändchen am Handgelenk oder in den Haaren. Jetzt sei das viel zu gefährlich, sind die Befragten überzeugt.

    Auf der Straße ist niemand mehr mit einer Einkaufstasche zu sehen, auf der „Nein zum Krieg!“ oder andere offene Antikriegs-Parolen stehen. Es werden aber andere, bislang noch nicht verbotene Symbole verwendet: „Einige tragen Buttons mit Antikriegs-Parolen, die aber sehr unauffällig sind, damit sie nicht so leicht zu erkennen sind. Einige gehen zu einer doppeldeutigen Sprache über, damit Aussagen nicht direkt ‚gelesen‘ werden können. Andere verwenden Bilder von Friedenstauben oder Zitate von Orwell oder Remarque. Andere wiederum versuchen, anhand des Kleidungsstils oder am Gesicht auszumachen, welche Ansichten ihr Gegenüber hat. Das ist jedoch riskant, man kann da vollkommen falschliegen.“

    „Ich war einige Male bei Führungen von Memorial zum Projekt Die letzte Adresse. Es war keine Überraschung, dass da niemand für den Krieg war. Dort konnte man frei reden.“

    Ein weiterer, relativ sicherer Weg, seine Haltung zum Geschehen zu äußern, sind Veranstaltungen, auf denen man Gleichgesinnte treffen könnte. Manchmal kommen Leute zu Kulturveranstaltungen, weil ihnen die Haltung der Organisatoren oder der Künstler wichtig ist, sagt Kuleschowa: „Zu einem Konzert von Polina Osetinskaya kommen Menschen nicht nur, weil sie eine bemerkenswerte Pianistin ist, sondern auch, weil sie, so die Befragten, gegen den Krieg auftritt. Also könnte man da am ehesten ‚seine Leute‘ treffen. Nach dem gleichen Prinzip besuchen die verbliebenen Kriegskritiker Underground-Ausstellungen von moderner und Antikriegskunst.“

    Wie wird der Krieg mit Angehörigen diskutiert?

    Unter Kuleschowas Gesprächspartnern gab es auch welche, die die politischen Ansichten selbst ihrer nächsten Verwandten nicht kennen (besser gesagt: Sie haben   Angst, sie zu erfahren). „Die Menschen fürchten, ihre Angehörigen könnten ‚mutieren‘, auf ‚die Seite des Bösen‘ überlaufen, wie sie es nennen. Einige hören auf, sich mit ihrem Umfeld wirklich zu unterhalten, und zwar aus Selbstzensur, weil es in ihrer Wahrnehmung immer weniger Gleichgesinnte gibt“, erklärt die Soziologin.

    „Ich weiß das nicht bei allen Freunden und Bekannten. Manchmal erfahre ich es indirekt, über gemeinsame Bekannte. Da ruft beispielsweise eine Freundin meiner Mutter an, eine Ukrainerin, und erzählt mir empört über eine andere Freundin meiner Mutter, eine Moldauerin: ‚Stell dir vor, sie meint, Russland hat nicht recht‘, ‚Stell‘ dir vor‘, antworte ich, ‚das meine ich auch.‘ So erhalte ich politische Informationen.“

    Vor einem Jahr seien unterschiedliche Einstellungen zum Krieg eher ein Grund für eine Spaltung gewesen, meint Kuleschowa. Jetzt versuche man eher, sich damit einzurichten: „Die Menschen haben schon nicht mehr die Illusion, dass man alles abreißen, abbrechen könne, und dabei einen richtigen Schritt macht. ‚Und dann bricht das zweite Kapitel der Beziehung an, wenn der andere auf Knien angekrochen kommt, weil er erkannt hat, dass er nicht recht hatte‘. Die Leute verstehen jetzt, dass man mit denen, mit denen man in einem Boot sitzt, irgendwie bis zum Ende rudern muss und Konflikte und Streitereien sinnlos sind. Vor einem halben Jahr gab es noch Hoffnungen, dass man jemanden umstimmen könnte, jetzt ist klar: Das funktioniert nicht.“

    Der Soziologin zufolge gibt es nur sehr wenige, die früher den Krieg unterstützten und das jetzt nicht mehr tun. Eher passiere das Gegenteil: Jemand in der Familie beginnt der Propaganda zu glauben. „Heute rettet eine Frau ihren Mann vor der Mobilmachung und bleibt selbst mit den Kindern in Russland. Dann kommt er trotz der Gefahr für seine Sicherheit zurück, weil er die Kinder sehen will, aber seine Frau hat den Kindern schon weisgemacht, dass ihr Vater ein Feind ist, alle verlassen hat und abgehauen ist. Die Kinder sind umprogrammiert und denken genauso.“ Jugendliche wiederum, deren Eltern Z-Patrioten sind, können ihre Haltung gegen den Krieg nicht äußern, weil sie schlichtweg finanziell abhängig sind. Sie können nirgendwo hin, nicht woanders leben.

    „Mir scheint, dass man von hier fliehen muss, doch der Rest der Familie sieht keinen Grund für diese Panik.“

    „Es gab unter den Befragten eine Frau, deren Mann ausgewandert ist. Aber ihr Liebhaber, von dem ihr jüngstes Kind stammt, wollte bleiben“, erzählt Kuleschowa. Der Ehemann hat gesagt: ‚Zum Teufel, ich nehm‘ dich zusammen mit dem Liebhaber auf. Kommt zusammen her [ins Ausland], wenn es für dich anders nicht geht.‘ Sie entschied aber mit ihrem Liebhaber, dass sie ‚die eigenen Leute nicht im Stich lassen‘ dürfe, und blieb in Russland. Letztendlich musste das Paar die Kinder aufteilen. In jeder Familie kann sich alles Mögliche ergeben, und selbst nach zwanzig Ehejahren gibt es Überraschungen. Während der Interviews habe ich gemerkt, was für ein großes Glück es für eine Familie sein kann, wenn alle zugleich verrückt werden.“

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    Wie man mit Z-Patrioten spricht

    Die USA hätten Russland einen Verteidigungskrieg aufgezwungen, Putin gehe gegen eine globale Verschwörung der Eliten vor, die NATO betreibe in der Ukraine geheime Labore zur Herstellung von Biowaffen … Nicht nur in Russland, auch im Westen können solche Erzählungen in Teilen der Gesellschaft verfangen

    Will man sie mit Fakten vom Gegenteil überzeugen, wird man nicht selten selbst zum Teil der Verschwörung und Gehilfen der „Lügenmedien“ abgestempelt. Redet man nicht miteinander, riskiert man weitere Polarisierung.

    Die Redaktion von Cherta versucht, dieses Dilemma aufzulösen und greift auf eine alte britische Rechtspraxis zurück.

    Bei Begegnungen mit Menschen, die den Krieg unterstützen und die Thesen der russischen Propaganda reproduzieren, finden wir oft keine Basis für ein konstruktives Gespräch. Bei aller Überzeugung, es besser zu wissen, stehen wir diesen Thesen, die Fakten und Realität absichtlich verzerren, doch hilflos gegenüber. Aber was, wenn wir mal das Weltbild unseres Gegenübers annehmen und auf Grundlage seiner Realität mit ihm diskutieren?

    Realitäten

    1843 fügte der Glasgower Unternehmer Daniel M'Naghten in London Edward Drummond, dem Privatsekretär von Premierminister Robert Peel, eine tödliche Verletzung zu. 

    Vor Gericht stellte sich dann heraus, dass M'Naghten unter Verfolgungswahn litt. Er glaubte, die Regierung und der Premierminister persönlich wollten ihm auf jede erdenkliche Weise schaden und hätten es auf seine Geschäfte und sein Leben abgesehen. Um sich und sein Unternehmen zu schützen, hatte M'Naghten seinen Feind töten wollen und auf Edward Drummond geschossen, im Glauben, es handle sich um Robert Peel.   

    Das Gericht sprach M'Naghten frei, was in der britischen Gesellschaft für Empörung sorgte. Königin Victoria schrieb zornige Briefe, und das House of Lords machte sogar von dem Recht Gebrauch, eine Erklärung der Richter einzufordern (ein als formal geltendes Recht, das kaum je in Anspruch genommen wurde), ob ein unzurechnungsfähiger Mensch für seine Taten verantwortlich gemacht werden könne und nach welchen Kriterien das Gericht diese Verantwortung beurteilen wolle.

    So entstand ein Dokument, das im Weiteren „M'Naghten rules“ genannt wurde und nicht nur die Theorie und Praxis des Rechtswesens, sondern auch die Entwicklungen in Psychologie und Soziologie maßgeblich beeinflusste.      

    Die Schlüsselfrage der Adeligen an die Richter lautete: „Wenn ein Mensch, dessen Wahrnehmung durch einen krankhaften Wahn beeinträchtigt ist, ein Verbrechen mit schweren Folgen begeht, ist er dann von seiner juristischen Verantwortung befreit?“ Darauf antworteten die Richter: „Wir müssen die Schuld so beurteilen, als wären die der krankhaften Verwirrung geschuldeten Annahmen tatsächlich real.“ Über solche Menschen sei also nicht anhand der realen Fakten zu urteilen, sondern anhand der „Fakten“ ihrer krankhaften Vorstellung. 

    Wenn M'Naghten in seinem Verfolgungswahn glaubte, der Premierminister wolle ihn vernichten und er habe keine andere Möglichkeit sich zu wehren, als ihn zu ermorden – dann kann man das als Notwehr betrachten. Auch wenn Robert Peel nichts dergleichen gemacht und nicht mal von M'Naghtens Existenz gewusst hat. 

    Hätte M'Naghten jedoch Drummond in der Annahme ermordet, dieser schlafe mit seiner, M'Naghtens, Frau, dann hätte man ihn verurteilen müssen, weil es für einen solchen Mord nicht einmal in der imaginierten Realität des Wahns eine juristische Legitimität gebe.

    Raus aus der Komfortzone 

    Wenn wir jetzt mit Z-Patrioten oder einfach mit Menschen, die das Weltbild der russischen Propaganda übernommen haben, diskutieren und in eine Sackgasse geraten, dann liegt das an diesen Diskrepanzen in der grundsätzlichen Beziehung zur Realität. Sie sagen: „Die Ukraine wollte Russland angreifen“, wir antworten: „Wollte sie nicht.“ Damit ist das Gespräch zu Ende oder besteht nur mehr darin, sich gegenseitig sinnlose Versatzstücke um die Ohren zu schlagen. Sinnlos deswegen, weil wir nicht in derselben Realität leben: In der Realität unseres Gegenübers gibt es einfach keine Fakten, die widerlegen, dass die Ukraine Russland angreifen wollte oder dass die USA böse Absichten verfolgen.

    Genauso bestand M'Naghtens Weltbild ausschließlich aus Beweisen dafür, dass der Premierminister sein Leben und sein Unternehmen zerstören wollte.

    Was aber, wenn man nun in Gesprächen mit der gegnerischen Seite die M'Naghten rules befolgen würde? Wenn man also die Rechtmäßigkeit, Angemessenheit und Notwendigkeit des Kriegs auf Grundlage jenes Weltbildes beurteilt, das unser Opponent vertritt?

    Wozu man in Gesprächen mit Opponenten die M’Naghten rules beachten sollte

    Wozu sollte man das tun? Erstens sind wir überzeugt, dass es für die, die diesen umfassenden Angriffskrieg entfesselt haben, in keinem Weltbild eine Rechtfertigung gibt und nicht geben kann. Auch nicht in einem völlig verqueren. Das heißt, am Ende dieses Gesprächs wird unser Opponent entweder völlig aus der Bahn geworfen oder gezwungen sein, sich seine offen menschenfeindliche Logik einzugestehen. Beide Fälle drängen ihn aus seiner Komfortzone heraus. 

    Was uns zum zweiten Grund führt: Spätestens seit Grigori Judin und andere kluge Köpfe uns das klar und deutlich erklärt haben, wissen wir, warum eine große Mehrheit das Weltbild der Propaganda so bereitwillig annimmt. Weil ihnen das nämlich hilft, an ihrem inneren Komfort festzuhalten. Für die Menschen ist es bequem und wohltuend, das Gefühl zu haben, dass das Land, in dem sie leben und arbeiten, die Regierung, der sie sich fügen, immer richtig und gerecht handelt. Äußerst unbequem und unangenehm wäre hingegen die Einsicht, dass das eigene Land ein Aggressor ist, der einen blutigen Krieg ohne Aussicht auf ein Ende angezettelt hat.    

    Versucht man, jemandem mit diesen Grundeinstellungen direkt vor den Kopf zu stoßen, so ruft das nichts als Abwehr hervor. Geht man jedoch nach der Logik der M'Naghten rules vor, ist es durchaus möglich, jemanden aus der Komfortzone herauszuholen und dafür zu sorgen, dass die gewohnten Abwehrmechanismen nicht mehr das schöne Gefühl erzeugen, alles laufe perfekt und geschehe im Dienste des Guten.

    M'Naghten rules im Praxistest 

    Im Sinne der M'Naghten rules versetzen wir uns nun also in das Weltbild unseres Gesprächspartners hinein. Wir verzichten darauf, die Ausgangsposition zu bestreiten: Der Westen verfolgt unter Führung der USA das Ziel, Russland zu vernichten, und zwar mithilfe der Ukraine, die mit Sicherheit unser Land angegriffen hätte.

    „Der Krieg war unvermeidlich. Die Ukraine hätte Russland angegriffen. Wir lassen unsere Leute nicht im Stich.“

    Zu der Logik der Unvermeidlichkeit des Kriegs angesichts des ukrainischen Angriffs kann man Folgendes fragen:

    Wo hätte die Ukraine angegriffen? Es ist völlig klar, dass sie nicht unmittelbar in russisches Territorium einmarschiert wäre. Russland ist eine einflussreiche, gefürchtete Atommacht. Gefürchtet sowohl von der Ukraine als auch von ihren westlichen Herrschern. Sogar jetzt noch, nach eineinhalb Jahren Krieg, lassen sie lieber die Finger von russischem Territorium: ein paar wenige Diversionsgruppen und verirrte Geschosse – mehr nicht. Dabei hätten sie die Krim angreifen können! Da aber unsere Truppen, die von der Krim her anrückten, gleich in den ersten Tagen [des Krieges] ein riesiges Gebiet rund um die Halbinsel einnahmen, fasste die Ukraine nie einen Angriff auf die Krim ins Auge: Sie hatte dort kaum Truppen oder Verteidigungssysteme. 

    Die Ukraine hatte es also offenbar auf Luhansk und Donezk abgesehen, wir aber lassen unsere Leute nicht im Stich.

    Aber Russland hätte doch den Schlag gegen diese Republiken abwehren können, wenn es einfach seine Truppen auf deren Gebiet stationiert hätte. Dafür hätte es ja auch nicht diesen großen Angriffskrieg gebraucht, all diese Todesopfer und Zerstörungen. 

    „Die ukrainische Regierung ist doch so unversöhnlich und hasserfüllt, dass sie trotzdem angegriffen hätte, trotz russischer Truppen.“

    Russland würde dann viel besser dastehen als jetzt. Ist es denn nicht viel besser, einen Verteidigungskrieg zu führen als einen Angriffskrieg? Die Ukraine hat nicht einmal jetzt, nach mehreren Wellen der allgemeinen Mobilisierung, ausgebildet, kampferprobt und mit westlichem Kriegsgerät bewaffnet bis an die Zähne, eine Chance gegen die befestigten Abwehranlagen der Russen. Im Februar 2022 hätte sie einfach innerhalb weniger Wochen ihre ganze Armee dort verpulvert.

    Und ist es etwa nicht günstiger, vor aller Welt nicht als Aggressor dazustehen, der auf fremdes Territorium einmarschiert ist, um Tod und Zerstörung zu bringen, sondern als Beschützer?

    Wir lassen unsere Leute nicht im Stich! Aber eigentlich haben wir durch den Krieg doch die mobilisierten Bewohner der Volksrepubliken Luhansk und Donezk erst recht in den Kampf gegen die befestigten Stellungen der ukrainischen Armee geschickt. In den vergangenen eineinhalb Jahren Krieg sind in diesem Gebiet um ein Vielfaches mehr Menschen ums Leben gekommen als zuvor in acht Jahren Widerstand gegen die Ukraine. 

    „Wir mussten den USA und der NATO einen Riegel vorschieben, die bis an unsere Grenzen vorrückten und uns unmittelbar bedrohten.“

    Natürlich mussten wir das. Aber hat der Krieg dieses Problem etwa gelöst? Ganz im Gegenteil. Finnland und Schweden sahen sich durch den Krieg dazu veranlasst, der NATO beizutreten, und damit sind es von Sankt Petersburg bis zu möglichen Stützpunkten der Allianz nur mehr höchstens 200 Kilometer. Von „Anflugszeiten“ braucht man jetzt gar nicht mehr anzufangen. Noch wurde die Ukraine nicht in die NATO aufgenommen, aber sie wird bereits mit deren Waffen ausgerüstet, und dieser Prozess ist nicht mehr aufzuhalten. 

    Und was die USA betrifft, die sind mittlerweile eigentlich die größten Nutznießer der russischen Aggression gegen die Ukraine. Noch dazu vor allem der unsympathischste und unverschämteste Teil der Eliten dieses Landes: Die Rüstungsindustrie und die Erdölkonzerne. Die amerikanischen Waffenproduzenten hätten am 24. Februar ein rauschendes Bankett zu Putins Ehren geben müssen – er hat ihnen für viele Jahre im Voraus Milliardeneinkünfte gesichert. Und die Erdölkonzerne haben kurz vor dem Krieg alle Aktiva im Bereich der Schiefergasförderung aufgekauft und unfassbare Gewinne eingefahren, als wegen des Kriegs die Gaspreise durch die Decke gingen. Vielleicht haben sie ja auch wirklich die Ukraine gegen Russland scharfgemacht, aber nie hätten sie so profitiert, wenn Russland nicht selbst diesen vollumfänglichen Krieg begonnen hätte.

    Wie es aussieht, gab es für die militärische Spezialoperation keine Grundlage. Der Krieg war nicht nur nicht unvermeidlich, sondern sogar der schlechteste Ausweg aus der Situation. Weder hat dieser Krieg die USA geschwächt, noch hat er die Bewohner der Volksrepubliken Luhansk und Donezk geschützt, noch Russland vor der NATO bewahrt. Dafür hat er zehntausenden Menschen das Leben gekostet und viele Millionen in die Flucht geschlagen. Und je länger er dauert, desto schlimmer werden die Folgen für Russland.

    „Jetzt, wo der Krieg nun mal begonnen und am Laufen ist, müssen wir unserem Land einzig den Sieg wünschen.“

    Stimmt. Aber was genau verstehen wir unter Sieg? In diesen eineinhalb Jahren hat uns keiner gesagt, was das Ziel dieses Kriegs ist und worin der Sieg bestehen soll. Ständig ertönt das Wort Sieg, ohne dass wir uns Gedanken über die Bedeutung dieses Wortes machen. In Wirklichkeit haben wir keine Ahnung und können nicht beschreiben, was der Sieg ist. Keiner kann das. Weil dieser Krieg keinen Sinn hat und es nicht um Russlands Interessen geht. Nur um Tod und Zerstörung.

    Diese Übersetzung wurde gefördert durch: 

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