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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Anna Netrebko

    Anna Netrebko

    „Schande! Schande!“, klingt es die Berliner Prachtstraße Unter den Linden hinauf. Die Staatsoper spielt an jenem Abend im September 2023 Giuseppe Verdis Macbeth. In der Hauptrolle der Lady Macbeth: Anna Netrebko – und an dieser Besetzung entzündet sich Widerstand. Die Sängerin hatte sich in der Vergangenheit bereitwillig in die Dienste des Kreml gestellt und sich nur halbherzig vom Angriffskrieg auf die Ukraine distanziert. Einige Protestierende haben sich in ukrainische Flaggen gehüllt. Sie halten Schilder mit der Aufschrift „Nonetrebko“ in die Höhe. Auf einem Plakat ist eine Ballerina in Russlands Nationalfarben mit umgehängtem Maschinengewehr zu sehen. Auf einem anderen steht: „Wer Putin und die Terroristen unterstützt, ist auf Berliner Bühnen nicht willkommen.“ 

    Anna Netrebko während ihres Auftritts auf dem New Wave Song Contest 2019 anlässlich des 65. Geburtstags des Komponisten Igor Krutoi in Sotschi / Foto © Vyacheslav Prokofyev/Imago/Itar-Tass

    In der Welt der klassischen Musik sind Superstars selten geworden. Anna Jurjewna Netrebko ist eine Ausnahme und seit Anfang des Jahrtausends eine der erfolgreichsten Sopranistinnen. Ihr Gesicht ziert zahlreiche Alben in Nahaufnahme, ihr Name ist oft größer geschrieben als der des Komponisten oder des begleitenden Orchesters. Seit der Krim-Annexion im Jahr 2014 ist dieser Name jedoch – mit Hashtag als #Nonetrebko versehen – zur Chiffre geworden: für die Verantwortlichkeit von Kunstschaffenden in Diktaturen und für den Umgang mit der russischen Hochkultur im Westen. Aber auch für das Spannungsverhältnis zwischen Musik und Politik, das in den Jahren nach dem Ende des Kalten Kriegs aus dem Blick geraten war. Diese Entwicklung ist eng mit Anna Netrebko, ihrer Biografie und ihren Entscheidungen verbunden.  

    Netrebko wurde 1971 in Krasnodar als Tochter eines Geologen und einer Ingenieurin geboren. Ihre Ausbildung erhielt sie während der Perestroika-Zeit am Leningrader Konservatorium. Gerade rechtzeitig, um noch von der staatlichen Kultursubvention und der überragenden Qualität der Künstlerausbildung in der Sowjetunion zu profitieren, die nach 1991 in sich zusammenfiel.  

    Im 20. Jahrhundert war der Konzertsaal über Jahrzehnte ein Schlachtfeld des Kalten Kriegs gewesen.1 In der sowjetischen Zeit investierte der Staat Unsummen in die Förderung von Pianistinnen, Dirigenten, Sängerinnen und Musikern. Er schuf ein System der Musikausbildung, das heute noch seinesgleichen sucht. Wer es durchlaufen hatte, dem winkten Ruhm und Ehre – in der Heimat wie auch international. Dafür hatten die Absolventinnen und Absolventen eine wichtige Aufgabe: Sie sollten fortan von der Überlegenheit des sozialistischen Systems, der Kultiviertheit des Sowjetmenschen und seinem friedliebenden Charakter zeugen.  

    Als Anna Netrebko im Jahr 1993 in Moskau mit 22 Jahren den Internationalen Glinka-Gesangswettbewerb gewann, schien diese politische Indienststellung von Künstlerinnen bereits ein Relikt der Vergangenheit zu sein. Ihre Karriere führte sie schnell um die ganze Welt; als Ljudmila in Glinkas „Ruslan und Ljudmila“ an der San Francisco Opera gelang ihr 1995 der internationale Durchbruch. Anfang der 2000er Jahre war Netrebko ein Klassikstar, mit Wohnsitzen in Wien und New York. Dem russischen Publikum, insbesondere am Petersburger Mariinskii-Theater, blieb sie dennoch eng verbunden.  

    Neben ihrer dunklen, voluminösen Stimme sorgte auch ihr sorgsam inszeniertes Aussehen dafür, dass ihre Alben zu Kassenschlagern werden. Verträumt blickt sie mit großen Augen vom Cover herab ihre potenziellen Käufer an, ihre langen Haare kunstvoll verzwirbelt oder offen und wild um ihr Gesicht herum drapiert. Zusammen mit dem Dirigenten Waleri Gergiew steht sie für eine neue Generation russischer Kulturbotschafterinnen und Kulturbotschafter, die erstmals nach den Maßstäben westlicher Popkultur vermarktet werden. Wladimir Putin nutzt sie, um seit dem Ende des Zweiten Tschetschenienkriegs mit denkwürdigen Konzertauftritten seine Charmeoffensive im Westen zu befeuern. 

    Netrebko nahm die Rolle einer populären Unterstützerin des Präsidenten bereitwillig an, auch als sein politischer Kurs immer stärker ins Autoritäre drehte. 2011 unterzeichnete sie eine Petition, in der Prominente im Stil einer Eingabe des Volkes an den Zaren die Kandidatur Wladimir Putins für eine weitere Amtszeit unterstützten. Es sei Putins „Engagement für die Kunst“ gewesen, das sie zu diesem Schritt bewogen habe, erklärte die russische Vorzeige-Künstlerin. Zu diesem Zeitpunkt lebte sie bereits in Österreich. Von ihrer Nähe zum Regime profitierte sie zuvor bereits mehrfach: 2005 wurde sie mit dem auf mehrere Millionen Rubel dotierten Staatspreis der Russischen Föderation ausgezeichnet. 2008 verlieh ihr Putin persönlich den Ehrentitel einer „Volkskünstlerin Russlands”.2 Bei der Auftaktveranstaltung der Olympischen Winterspiele in Sotschi durfte sie die Olympische Hymne singen – offensichtlicher konnte ihre Indienststellung durch den Staat kaum inszeniert werden.3  

    Im Dezember 2014 spendete Netrebko eine Million Rubel (knapp 19.000 Euro) an die Oper im russisch besetzten Donezk. Bei einem Pressetermin tritt sie mit dem Sprecher des „Parlaments“ von „Neurussland“, Oleg Zarjow, auf. Gemeinsam halten sie eine Flagge des Separatisten-Staates / Foto © Imago/Russian Look

    Im Dezember 2014 ging ein Foto von Netrebko um die Welt, das sie im festlichen Abendkleid und mit roten Rosen neben dem vom Kreml unterstützten Separatistenführer Oleg Zarjow zeigte. Gemeinsam entrollten sie eine Flagge des Pseudostaates Neurussland, einer kurzlebigen Verbindung der beiden selbst ernannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk. Bereits vier Jahre zuvor hatte ein Auftritt von ihr in Wien Empörung ausgelöst: Zu einem anschließenden Pressetermin erschien sie in einem weißen Kleid mit der Aufschrift „Na Berlin“ (dt. Nach Berlin!) und einem angehefteten St. Georgs-Band. Die Losung und die Schleife sind beide unmissverständliche Chiffren russischer Militärpropaganda. In Interviews beteuerte Netrebko jedoch stets, von Politik wenig zu verstehen und sich eigentlich nur ihrer Kunst widmen zu wollen – eine oftmals von Kunstschaffenden ins Feld geführte rhetorische Strategie, um die eigene Indifferenz apologetisch zu verklären. 

    Russlands Überfall auf die gesamte Ukraine am 24. Februar 2022 beendete endgültig eine kulturpolitische Epoche der russländischen Geschichte, in der Kunst auch ohne politische Positionierung möglich gewesen war. Russische (und mit ihr auch das Erbe der sowjetischen) Kultur ist seitdem wieder untrennbar mit nationaler Ideologie verknüpft. Kulturschaffende sehen sich mit der unausweichlichen Frage konfrontiert, wie sie dem Regime gegenüberstehen. Negativ? Dann bleibt ihnen nur das Exil. Positiv? Dann müssen sie sich von einer internationalen Karriere im Westen verabschieden. Dazwischen ist kein Platz mehr. 

    Anna Netrebko aber wollte beides: Eine glitzernde Karriere auf den Bühnen der Welt und ein ungetrübtes Verhältnis zu ihrem Förderer Putin. Dieser Spagat war nicht zu halten: Am 1. März 2022 schrieb sie auf ihrem Instagram-Profil: „Ich rufe Russland auf, diesen Krieg jetzt zu beenden, um uns alle zu retten! Wir brauchen Frieden“. Noch am selben Tag wurde der Beitrag wieder gelöscht.4 Für die polarisierte Gesellschaft in ihrem Heimatland war das genug, vielen gilt sie seitdem als Verräterin. Von einem geplanten Auftritt in Nowosibirsk wurde sie prompt ausgeladen, die Kreml-treue Wochenzeitung Argumenty i Fakty bezeichnete sie als „schwache Frau“. 

    Bis heute hat Netrebko gleichwohl nicht klar Stellung gegen den russländischen Angriffskrieg gegen die Ukraine bezogen. Der faustische Pakt, den sie mit dem Regime einging, ließ sie nicht mehr los. Die New Yorker Metropolitan Opera und die Berliner Staatsoper verlangten von ihr, sich öffentlich vom Angriffskrieg zu distanzieren. Doch der Forderung wollte sie nicht nachkommen, verklagte die Met sogar auf Schadensersatz. In der Folge luden europäische und amerikanische Opernhäuser sie aus und besetzten ihre Rolle neu.  

    Proteste gegen Netrebkos Engagement an der Berliner Staatsoper im September 2023 / Foto © Imago/Frank Gaeth

    Diese Entscheidungen wurden von einer heftigen öffentlichen Debatte begleitet, die bis heute andauert und die nicht nur Netrebko betrifft: Wie soll der Konzertbetrieb mit Künstlerinnen und Künstlern aus Russland umgehen, die er vor 2014 gefeiert hat? Die Diskussion bewegt sich zwischen zwei Polen: Auf dem einen Ende des Spektrums stehen diejenigen, die einen Boykott aller russischen Kulturschaffenden fordern; die Gegenseite setzt die Kunstfreiheit absolut. 

    Im Zentrum dieser Debatte steht – auch in Deutschland – Anna Netrebko. Matthias Schulz, der Intendant der Staatsoper Unter den Linden begründete seinen Entschluss damit, dass Netrebko Russlands Krieg deutlich kritisiert habe. Man könne es als Zeichen sehen, dass Netrebko auf einer pro-ukrainischen Bühne wie der Staatsoper auftrete, weil sie dafür in Russland mit Konsequenzen rechnen müsse, sagte Schulz dem SWR2.5 Anlässlich eines Auftritts von Netrebko bei den Internationalen Maifestspielen in Wiesbaden verteidigte der damalige Intendant Uwe-Eric Laufenberg seine Entscheidung, die Sängerin nicht auszuladen: „Das gehört für mich aber auch zur Kunstfreiheit, dass man auch Kunst machen kann, indem man sich eben nicht politisch äußert. Das muss ja auch eine Art von Freiheit und von Möglichkeit sein“, sagte er zu Festivalbeginn.  

    Im Berliner Fall stellten sich 38 Organisationen und etwa 100 Wissenschaftlerinnen (darunter der Autor dieser Gnose) und Prominente dieser fragwürdigen Entpolitisierung des Kunstschaffens entgegen. Sie verwiesen auf die herausragende kulturpolitische Bedeutung Netrebkos für die russische Propaganda und forderten die Leitung der Staatsoper auf, Netrebko auszuladen.6 Auch Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner und sein Kultursenator Joe Chialo kritisierten den Auftritt. Das Publikum der Berliner Aufführung allerdings ließ sich weder von politischen Bedenken noch durch den lautstarken Protest vor dem Operngebäude beeindrucken und bejubelte die Sopranistin. Für die Saison 2024/2025 kehrt Netrebko nach Berlin zurück – als Abigaille in Verdis Nabucco.  


    1. Caute, David, The Dancer Defects. The Struggle for Cultural Supremacy During the Cold War, Oxford 2003. ↩︎
    2. https://www.classicalmusicnews.ru/news/anna-netrebko-stala-narodnoi-artistkoi-rossii/ ↩︎
    3. https://www.youtube.com/watch?v=pFqEKpjw-ns ↩︎
    4. https://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/anna-netrebko-2022-wie-sie-sich-zu-putin-und-ukraine-verhaelt-100.html ↩︎
    5. https://www.swr.de/swrkultur/musik-klassik/kontroverse-um-anna-netrebko-intendant-staatsoper-berlin-matthias-schulz-netrebko-hat-sich-glaubwuerdig-distanziert-100.html ↩︎
    6. https://vitsche.org/news/offener-brief-keine-buhne-fur-putin-unterstutzerin-anna-netrebko/ ↩︎

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  • Odessa

    Odessa

    Am 12. März 2022 fand sich eine große Menschenmenge vor Odessas1 Opernhaus ein. Chor und Symphonieorchester versammelten sich diesmal nicht im prunkvollen und kostspielig renovierten Kunsttempel, sondern unter freiem Himmel, der so blau strahlte wie die obere Hälfte der ukrainischen Flagge, die über ihnen schwebte. Angesichts des drohenden russischen Angriffs auf die Stadt machten die Musikerinnen und Musiker auf ihre Not aufmerksam und forderten die Einrichtung einer Flugverbotszone. Neben der ukrainischen Nationalhymne brachten sie die Ballade Es brüllt und stöhnt der breite Dnipro, die Vertonung eines Textes des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko, und den Gefangenenchor aus Verdis Oper Nabucco zu Gehör. Das entstandene Video wurde in sozialen Netzwerken tausende Male angeschaut. Es erzeugte eine große Resonanz, auch weil es auf drei Kontexte verwies, die die Geschichte Odessas bestimmten: Odessas Prägung durch die europäische Kultur, die Umbrüche, Eruptionen und vielfachen Neuerfindungen der Stadt seit ihrer Gründung und deren existentielle Bedrohung durch den russischen Angriffskrieg. 


    In Odessa trifft die pontische Steppe auf das Schwarze Meer: Unmittelbar bevor die Landschaft in die Küste des Golfs von Odessa übergeht, fallen die Terrassen schroff etwa 100 Metern ab. Wer Odessa mit dem Schiff ansteuert, dem treten die atemberaubenden Hügel entgegen – wie einst dem Katalanen José de Ribas im Jahr 1789. Damals eroberte de Ribas als Befehlshaber eines russischen Expeditionskorps die türkische Festung Hadschibey und das umliegende Dorf im Russisch-Türkischen Krieg (1787–1792). Katharina die Große ordnete im Jahr 1794 die Gründung der Stadt und des Hafens an, die nach einer antiken griechischen Kolonie – Odessos – benannt wurde. Innerhalb weniger Jahre wurde Odessa zu einer der wichtigsten Handelsstädte Europas, zum zentralen Getreidehafen des russländischen Imperiums und zum kulturellen Schmelztiegel. 

    Der Erfolg hatte aber auch seine Schattenseiten: Ökonomisch war Odessa konstant mit dem eigenen Fortschritt überfordert, sozioethnisch war die Stadt ein Pulverfass und militärisch-politisch war die exponierte Lage von Stadt und Hafen in globalen Handelsströmen und der Wirtschaftsgeografie des russländischen Imperiums eine Bedrohung. Mehrfach griffen Zarinnen und Zaren, „Revolutionsführer“ und Diktatoren nach Odessa. Gewalt von innen und außen, Verwüstungen und Wiederaufbauten prägen die Stadtgeschichte. 

    Tor zum globalen Handel

    Odessas Puls kann man fühlen: Der Hafen, die Straßen und Plätze vibrieren förmlich angesichts der vielen Spaziergänger:innen, zum Beispiel auf der nach José de Ribas benannten Flaniermeile Derybasiwska, und der zahlreichen Geschäfte, die etwa auf dem 1827 gegründeten „Privoz“-Markt getätigt werden. Im 19. Jahrhundert traf man hier Angehörige vieler Völker2: Alexander Puschkin, der im Jahr 1820 nach Süden verbannt wurde und zwei Jahre in Odessa verbrachte, schrieb in einem Gedicht, auf der „heiteren Straße“ spaziere „ein stolzer Slave, Franzose, Spanier, Armenier, Grieche und Moldauer“. 
    Das war nicht immer so: In den ersten Jahren stand die Sicherung der Stadt im militärischen Frontgebiet zum Osmanischen Reich im Vordergrund. Sie wurde zum Zentrum von Noworossija und zum Gouverneurssitz. Doch als sich der militärische Fokus Russlands auf den Kampf gegen Napoleons Frankreich richtete, der in den Vaterländischen Krieg (1812) mündete, begann Odessa Teil des global agierenden Getreidehandels zu werden. Die Rivalität zwischen dem von Napoleon dominierten Kontinentaleuropa und dem British Empire machten sich die Strategen Alexanders I. geschickt ökonomisch zu Nutze: Mit der Kontinentalsperre, die gegen Großbritannien gerichtet war und das Land wirtschaftlich ruinieren sollte, verloren die Häfen des Atlantiks an Bedeutung, Handelsströme verlagerten sich zunehmend an kleinere Häfen und in den Mittelmeer- und Schwarzmeerraum. Kaufleute hatten nun die Möglichkeit, über den Hafen von Odessa die reichen Ernten der ukrainischen Schwarzerdegebiete in neue Absatzmärkte einzubringen. Über Odessa gelangte Weizen nach Livorno, Marseille und Liverpool. Die ukrainischen Gebiete (und mit ihnen Odessa) wurden zur Kornkammer Europas.3 

    Die Aussicht auf schnellen Reichtum verwandelte Odessa von einer Frontierstadt zum Magneten für Kaufleute, Matrosen und Abenteurer, die ihr Glück an der Küste des Schwarzen Meeres versuchen wollten. Sie brachten nicht nur Geld, sondern auch Traditionen und Kultur. Die Universität (gegründet 1865) entwickelte sich ebenso wie ihre Vorgängerinstitution, das Lycée Richelieu, zu einem Leuchtturm der Wissenschaft. Und das Opernhaus, 1887 nach einem verheerenden Brand im Vorgängerbau komplett neu errichtet, war der in Stein gehauene Beweis für das reiche Kulturleben, das sich in der Stadt entfaltete: Hier sang Fjodor Schaljapin, hier dirigierten Pjotr Tschaikowski und Anton Rubinstein, hier tanzte Anna Pawlowa. Mit ihrer Aufführung von Verdis Gefangenenchor erinnerten die Musiker:innen 2022 an diese Tradition als kultureller Schatz Europas, wo „alles einen Hauch Europa versprüht“ – so Puschkin im gleichen Gedicht.


    Das Opernhaus war der in Stein gehauene Beweis für das reiche Kulturleben, das sich in der Stadt entfaltete / Foto © Wikimedia/Alexostrov unter CC BY-SA 3.0 

    Kriege, Revolutionen und Gewalt

    Am Kopf der weltberühmten Potemkinschen Treppe steht ein Denkmal für den Duc de Richelieu, einen der Gründungsväter der Stadt. An seinem Sockel befindet sich heute eine stilisierte Kanonenkugel, die an die Beschädigung des Denkmals angesichts des Bombardements im Krimkrieg (1853–1856) erinnert. Als eine britische und französische Expeditionsflotte am 22. April 1854 Odessa erreichte, wurde die Stadt schwer bombardiert, was zu Schäden an den Einrichtungen des Hafens und an dort angedockten Schiffen führte. Der zum Hafen hin gelegene Teil der Stadt wurde fast vollständig zerstört, 250 Menschen verloren ihr Leben.4 Der florierende Handel und die Lage am äußersten südwestlichen Rand des russländischen Imperiums machten Odessa immer wieder zum Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen. Kriege und Gewalt haben sich tief in die Stadtgeschichte eingeschrieben. 

    Nach dem Krimkrieg zogen sich einige griechische Familien aus der Stadt zurück. Ihre Plätze als Getreidehändler und Kaufleute nahmen nun Juden ein, die bis zum Ende des 19. Jahrhundert einen großen Teil der Stadtbevölkerung bildeten. 1897 gab fast ein Drittel der Bevölkerung Odessas an, Jiddisch sei ihre Muttersprache. Juden wurden in der unheilvollen Mischung von sich verschärfendem Nationalismus und Antisemitismus im Russländischen Reich für wirtschaftliche Missstände und soziale Not verantwortlich gemacht. Odessa erlebte zwei grausame Juden-Pogrome 1871 und 1881. Als Russland dann auch noch den russisch-japanischen Krieg 1904/05 verlor und sich infolge des Krieges die Getreideexporte aus Odessa halbierten, entfachten Teile der Stadtbevölkerung einen der schlimmsten Pogrome, den Russland bis dahin gesehen hatte. 

    Der Pogrom fand 1905 statt – im gleichen Jahr wie der später zum Mythos verklärte Aufstand der Matrosen auf dem Panzerkreuzer Potemkin und der Generalstreik in Odessa angesichts der ersten Russischen Revolution. Die den Kultstatus erlangte Verfilmung dieser Ereignisse von Sergej Eisenstein (1925) verbindet die Hafenansicht Odessas fest mit dem Thema Gewalt – die Schlüsselszene des Films zeigt die Potemkinsche Treppe, auf der Zivilisten von der zaristischen Armee brutal erschossen werden.


    Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges galt Odessa in den folgenden Jahren als Zentrum einer kritischen, teils liberalen, teils sozialistischen Öffentlichkeit. Nach Einbruch des Weltkriegs und dem darauffolgenden Bürgerkrieg erlebten die Stadtbewohner:innen Odessas viele Herrscherwechsel. Nach der Oktoberrevolution sollte Odessa Zentrum einer Sowjetrepublik werden. Im Frieden von Brest-Litowsk 1918 sicherte Sowjetrussland die Unabhängigkeit der Ukraine (und damit auch Odessas) zu, de facto geriet die Stadt aber unter die Kontrolle der Mittelmächte. Nach der Kapitulation Deutschlands und des Habsburgerreichs marschierte die Entente in Odessa ein, um General Denikin als Anführer der royalistischen Weißen im sowjetischen Bürgerkrieg zu unterstützen. Schließlich eroberten Bolschewiki 1920 die Stadt und sie wurde Teil der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik.5 

    Zehntausende verließen die Stadt Anfang der 1920er Jahre, die Versorgung der Stadt durch das Hinterland kam zum Erliegen. Neben dem Wiederaufbau forcierten die sowjetischen Behörden nun auch die „Ukrainisierung“ der Sowjetrepublik und setzten unter anderem den Schulunterricht in ukrainischer Sprache durch. Damit setzten sie sich deutlich von der imperialen Vergangenheit ab, in der die ukrainische Sprache aktiv und bewusst unterdrückt wurde. In Odessa gaben 1926 nur 17,6 Prozent der Bevölkerung an, ukrainische Muttersprachler:innen zu sein.6 Überraschenderweise fand der Umstieg auf ukrainischsprachigen Unterricht dennoch schmerzlos statt – es entzündete sich kaum Widerstand daran, dass nun in den Schulen das Ukrainische verbindlich gelehrt wurde. Odessa erholte sich rasch von den Verheerungen der Bürgerkriegsjahre (so verdoppelte sich unter anderem die Bevölkerungszahl binnen einer Dekade), doch diese Erholung fand durch die von Stalin forcierte Hungersnot in den 1930er Jahren und den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ein jähes Ende. 

    Rumänisch-deutsche Truppen zwangen die Einwohner:innen nach der Schlacht von Odessa (1941) unter ihre Herrschaft. Die Schlacht kostete über 100.000 Menschen das Leben und verwüstete Stadt und Hafen. Die Region wurde zum Schauplatz des Holocausts. Insbesondere das Massaker von Odessa (22.–24. Oktober 1941), das der rumänische Staatsführer Ion Antonescu als Vergeltung für einen Partisanenanschlag anordnete, steht für den Furor der rumänisch-deutschen Gewalttäter. Ihm fiel ein Großteil der verbliebenen jüdischen Bevölkerung Odessas zum Opfer. Die Darbietung des Liedes Es brüllt und stöhnt der breite Dnipro verweist auf diese Zeit, denn damals wurde die von Danilo Kryschaniwski erdachte Melodie zum Erkennungszeichen des Radiosenders Dnipro und zum akustischen Signal des Widerstands gegen die Besatzung.

    Zwischen nationalen Fronten und kultureller Eigenständigkeit 

    Nur etwa 100 Meter hinter dem Richelieu-Denkmal befindet sich eine weitere Statue: Sie zeigt Katharina die Große überlebensgroß, zu ihren Füßen befinden sich die Gründungsväter der Stadt. Die Statue wurde im bolschewistischen Bildersturm der 1920er Jahre zerstört und erst 2007 wieder errichtet. Daran entzündete sich eine heftige Auseinandersetzung um den Umgang mit der imperialen Vergangenheit. Der Streit um das Denkmal verwies auf die ungelösten Probleme der Vergangenheitsbewältigung, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges weitgehend überdeckt worden waren.

    Die Rote Armee eroberte Odessa 1944 zurück. Die Stadt, die den Status einer „Heldenstadt“ erlangte, hatte viele Einwohner:innen verloren. Doch Odessa verwandelte sich nun erneut. Ukrainer:innen aus den umliegenden Dörfern siedelten sich an. Damals begann die lange Reise Odessas von einer ehemals multiethnischen, globalen zu einer „normalen“ sowjetischen Großstadt, die in den 1970er Jahren abgeschlossen war. Zu dieser „Normalität“ gehörte auch, dass sich das Russische als lingua franca der Sowjetunion wieder stärker durchsetzte. Insbesondere in den 1970er Jahren verdrängte das Russische das Ukrainische auch in den Bereichen des Alltags, der Familie und des Privaten. Wie in anderen Teilen der Sowjetukraine bewegten sich Odessiten dennoch selbstverständlich zwischen beiden Welten. Das Pochen auf kulturelle Eigenständigkeit verdichtete sich in der oft gehörten Selbstzuschreibung der Bewohner:innen, Odessa sei weder ukrainisch (oder jüdisch), noch russisch, sondern einfach Odessa. 

    Dieses Selbstverständnis als kulturell eigenständige Stadt fußte auch auf dem Bild vom Odessa der Gauner und Banditen, das insbesondere durch die Werke Isaak Babels weit über die Stadtgrenzen hinaus wirkte. Der „Gaunerkönig“ Benja Krik in Babels Geschichte aus Odessa (erschienen 1931) galt als prototypischer Bewohner der Hafenstadt, in der Gewitztheit, Bauernschläue und knallhartes Durchsetzungsvermögen das eigene Fortkommen sicherten. Dieser Mythos wirkte auch in der Nachkriegszeit, und die Sehnsucht vieler Sowjetbürger:innen nach Zerstreuung in aufregend anderen Welten manifestierte sich besonders stark in der nostalgischen Verklärung der Hafenstadt am Schwarzen Meer. Sie galt im Zeitalter der Massenmedien und des modernen Tourismus als eine Art Mississippi-Delta des Russländischen Reiches. Der in Odessa geborene berühmte Jazzmusiker Leonid Utjossow (1895-1982) etablierte den Mythos, das „Alte Odessa“ mit seinen verruchten Kneipen, Gangsterbünden und Klezmerbands sei die Keimzelle des Jazz im Russländischen Reich und der Sowjetunion gewesen. Musik, Literatur und Filme aus Odessa waren in der ganzen Sowjetunion zu hören, zu lesen und zu sehen. Auf diese Weise war Odessa auch Teil des russischen Alltags und des russischen kulturellen Gedächtnisses geworden.7 

    Das ukrainische Odessa

    Der spezielle Status der Stadt zwischen Ukraine und Russland wurde mit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 zur Herausforderung.. Die Ukraine war in den 1990er Jahren Teil des postsowjetischen Raums, orientierte sich aber auch in Richtung Europa. Für die Bewohner:innen von Odessa bedeutete das Identitätskonflikte. Noch 2004 war während der Orangenen Revolution ein Großteil Odessas auf Seiten der russlandfreundlichen Kräfte in Kyjiw. 
    Konflikte entzündeten sich nun an der Sprachenfrage: Einerseits entzogen sich viele russischsprachige Odessiten der Politisierung der Sprachenfrage durch Wladimir Putin (weil sie sich als russischsprechende Ukrainer:innen und nicht als bedrohte ethnische Minderheit verstanden), wehrten sich aber andererseits gegen eine sprachliche Ukrainisierung Odessas „von oben“ durch behördliche Anweisungen aus Kyjiw. Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Jahr 2014 streckte Wladimir Putin seine Hand auch in Richtung Odessa aus. Sein Projekt „Noworossija“ scheiterte aber vor allem am mangelnden Rückhalt der als „sicher russisch“ geglaubten Bevölkerung Odessas. Sie widersetzte sich einer Vereinnahmung durch die russische Propaganda. Dies, obwohl gewalttätige Auseinandersetzungen in einen Brand im russischen Gewerkschaftshaus mündeten, dem dutzende prorussische Aktivist:innen zum Opfer fielen. Die Suche nach Schuldigen gestaltete sich schwierig, und die ukrainische Regierung hat es bis heute versäumt, das Ereignis lückenlos aufzuklären. Die russische Propaganda nutzte die Angelegenheit jedenfalls, um von einem „Massaker“ an der russischen Bevölkerung zu sprechen. Doch dem Ansinnen Moskaus, diese Tragödie als Funken für einen politischen Flächenbrand zu nutzen, folgten die Bewohner:innen Odessas nicht.8 

    Angesichts des russischen Angriffskriegs und der unverhohlenen Drohung Russlands, zum Schlag auf Odessa anzusetzen, rückte die Stadt solidarisch zusammen. Binnen weniger Tage waren Panzersperren in der Stadt aufgestellt und die Denkmäler mit Sandsäcken geschützt. Das Konzert vor dem (wie schon im Zweiten Weltkrieg) befestigten Opernhaus setzte den Ton: Dem zu erwartenden Angriff setzte Odessa eine Rückbesinnung auf die eigene Vergangenheit als europäische Kulturstadt und den Mut der Entschlossenheit als wichtige ukrainische Handels- und Frontstadt entgegen. 


    1. Wie schreibt man ukrainische Städtenamen auf Deutsch? Kyjiw oder Kiew? Luhansk oder Lugansk? Das kommt darauf an, ob man den ukrainischen oder den russischen Namen bei der Übertragung ins Deutsche zugrunde legt. In dieser Gnose verwendet der Autor die ukrainischen Bezeichnungen – das gilt auch für Odessa. Diese Stadt wird zwar im Ukrainischen mit einem “s” geschrieben, jedoch ins Deutsche mit Doppel-s übertragen. Dadurch wird sichergestellt, dass das „s“ stimmlos gesprochen wird wie in „Kasse“ und nicht stimmhaft wie in „Riese“. ↩︎
    2. Schlögel, Karl (2015): Ach Odessa: Eine Stadt in der Zeit großer Erwartungen, in: Schlögel, Karl: Entscheidung in Kiew: Ukrainische Lektionen, München, S. 128f. ↩︎
    3. Hausmann, Guido (2021): „Kosmopolitisches Odessa? Eine historische Spurensuche“, in: Huber, Angela/Martin, Erik (Hrsg.): Metropolen des Ostens, S. 105-123, Berlin; Herlihy, Patricia (1986), Odessa: A History, 1794–1914, Cambridge (Mass.), S. 41 ↩︎
    4. King, Charles (2011): Odessa: Genius and Death in a City of Dreams, New York, S. 119-122 ↩︎
    5. Kappeler, Andreas (2015): Geschichte der Ukraine, Bonn, S. 167-176; Jobst, Christine (2015): Geschichte der Ukraine, Stuttgart, S. 162-179; Penter, Tanja (2000): Odessa 1917: Revolution an der Peripherie, Köln/Weimar/Wien ↩︎
    6. Pauly, Matthew D. (2011): ‘Odesa-Lektionen’: Die Ukrainisierung der Schule, der Behörden und der nationalen Identität in einer nicht-ukrainischen Stadt in den 1920er Jahren, in: Kappeler, Andreas (Hrsg.): Die Ukraine: Prozesse der Nationsbildung, Köln, Wien, S. 309-318, hier: S. 310 ↩︎
    7. King, Charles (2011): Odessa: Genius and Death in a City of Dreams, New York, S. 186-188; Belge, Boris (2018): Sehnsuchtsort Hafenmetropole Odessa, in: Blume, Dorlis/Brennecke, Christiana/Breymayer, Ursula u. a. (Hrsg.): Europa und das Meer, München, S. 181f. ↩︎
    8. Coynash, Halya (2015): More Evidence against Incendiary Lies about Odesa 2 May; Bidder, Benjamin (2014): Dutzende Brandopfer in Odessa –Tödlicher Hass ↩︎

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    Noworossija – historische Region und politische Kampfvokabel

    Der Süden der Ukraine – ein halbmondförmiger Bogen zwischen den Hafenstädten Odessa und Mariupol sowie die nordöstlich davon gelegenen Gebiete Donezk und Luhansk – ist in Wladimir Putins verzerrtem Geschichtsbild russländische Erbmasse. Als er im April 2014 nach dem Ausbruch des Krieges im Osten der Ukraine plötzlich mit Bezug auf diese Gebiete von Noworossija (dt. Neurussland) zu reden begann, sagte der Begriff nur eingeweihten Spezialist:innen und Russlandhistoriker:innen etwas. Im Rückblick jedoch war diese Wortwahl ein erstes Indiz dafür, dass sich der Machthaber im Kreml auf einen historischen Feldzug begeben wollte. Worum handelt es sich dabei? Welche Geschichte hat diese Region? Wie kann diese Geschichte gelesen werden? Und welche Bedeutung kommt Noworossija als politischem Kampfbegriff zu? 

    Deutsche Karte von Noworossija von 1855 / Illustration © Wikipedia, gemeinfrei

    In seinem von der theoretischen Erörterung zum kriegstreibenden Pamphlet gewandelten Artikel Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer vom Juli 2021 bezeichnet der russische Präsident die Gebiete der heutigen Ukraine als „südwestliche Teile des russländischen Imperiums“ im 19. Jahrhundert. Sie hätten aus drei Teilen bestanden: Malorossija (dt. Kleinrussland), die Krim und Noworossija (dt. Neurussland).1 Malorossija ist eine historische, bis auf die byzantische Zeit zurückgehende Bezeichnung für die Gebiete links des Dnjepr sowie nach den Teilungen Polens auch der rechtsufrigen Ukraine. Noworossija dagegen ist ein Begriff mit vergleichsweise jüngerer Geschichte. Seit dem 18. Jahrhundert war das Gebiet von Noworossija ein sozial- und wirtschaftspolitisches Laboratorium für das russländische Imperium. Heute ist es eine Kampfvokabel, die von russischen Großmachtfantasien über das Territorium der souveränen Ukraine zeugt und dabei bewusst mit Verkürzungen und Halbwahrheiten operiert.

    Ausbau der imperialen Macht

    Die Gebiete der nördlichen Schwarzmeerküste wurden am Ende des 18. Jahrhunderts in gewaltsamen Eroberungszügen dem Osmanischen Reich entrissen. Mit dem Frieden von Küçuk-Kaynarca (1774) wurde das Schwarze Meer unter der Herrschaft von Katharina der Großen vom osmanischen Binnen- zum internationalen Gewässer und sein nördliches Ufer zum russländischen Einflussgebiet.2 Was die traditionelle russische Geschichtsschreibung oft euphemistisch als „Zum-Teil-Russlands-Werden“ oder „Aneignung“ beschreibt, war in Wirklichkeit der forcierte Aufbau einer militärischen Sicherungszone zur Festigung und zum Ausbau der eigenen imperialen Macht. Der Begriff Noworossija fügte sich in die imperiale Meistererzählung von der prometheischen Schaffenskraft der Zarin Katharina der Großen und ihres Statthalters, Grigori Potjomkin, ein: Demzufolge waren die Gebiete zwischen den Flüssen Terek im Nordkaukasus und Dnjestr – die westliche Grenze der heutigen Ukraine – weitgehend unbesiedelte Gebiete, die erst durch den Aufbau staatlicher Administration und durch die Gründung von Städten zu wirtschaftlichen und kulturellen Leuchttürmen werden konnten. 

    Diese Perspektive verstellt jedoch den Blick darauf, dass die Gebiete der Südukraine auch schon lange vor der russischen Eroberung besiedelt waren. Auf diesem Territorium lebten verschiedene nomadische und sesshafte Gesellschaften, die mitunter bereits staatliche oder proto-staatliche Formationen ausprägten. Dazu gehörten die turkstämmigen Chasaren, das Krim-Khanat und das Osmanische Reich. Der nördliche Teil am Unterlauf des Dnjepr war das Gebiet der Saporoger Kosaken. Sie bildeten im 17. Jahrhundert eine weitgehend autonome Staatsformation und suchten sich in wechselnden Allianzen zwischen Osmanischem und Russländischem Reich zu behaupten. 1775 entschied Katharina die Große, die Saporoger Sitsch – so hieß diese Staatsformation – gewaltsam zu zerschlagen und beauftragte Grigori Potjomkin mit dieser Aufgabe. Der Kosaken-Anführer, Petro Kalnyschewski, wurde auf die Solowezki-Inseln im Weißen Meer deportiert, wo sich in der Klosterfestung ein Gefängnis für politische Gegner befand, und das Eigentum der Sitsch konfisziert. Noworossija hatte bis zur gewaltsamen Einverleibung durch das Russische Reich also verschiedene Geschichten: eine ukrainische, osmanische, krimtatarische oder chasarische Geschichte. Eine nicht minder wichtige – die russische – kam hinzu und eröffnete ein weiteres Kapitel, das sich über ein Jahrhundert erstreckte. 

    Sozialpolitisches und ökonomisches Laboratorium Russlands

    Mit der Eingliederung der eroberten Gebiete wurde das Gouvernement Noworossija ab 1796 während sechs Jahren zu einer Verwaltungseinheit des Reichs. Nach 1802 blieb es ein Bestandteil im Namen des Gouvernements Neurussland und Bessarabien. In dieser Zeit wandelte sich die nördliche Schwarzmeerküste vom militärischen Frontgebiet zum sozialpolitischen und ökonomischen Laboratorium Russlands. Noworossija wurde nun zur Verheißung, zum Modell einer möglichen Entwicklung des gesamten Imperiums. 
    Noch Katharina die Große strebte gezielt die Ansiedlung von ausländischen Kolonisten an und gestand den lokalen Gouverneuren weitreichende Entscheidungsbefugnisse zu. Sie tolerierte, dass das Territorium zum Anziehungspunkt für entflohene Leibeigene wurde – auf dem Gebiet von Noworossija befanden sich wesentlich weniger Menschen in Leibeigenschaft als in den anderen Territorien des Reiches. Insbesondere die Hafenstädte, allen voran Odessa, erlebten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Boom mit sprunghaftem Anstieg der Bevölkerungszahlen. Der florierende Handel zog Menschen unterschiedlicher Herkunft an. Die Bevölkerung von Noworossija war multiethnisch und in den Dörfern und Städten lebten Russen, Ukrainer, Griechen, Deutsche, Armenier, Italiener, Roma und viele andere Tür an Tür. Auf diese Weise entstanden hier weltoffene Orte des Austauschs, von dem das Imperium ökonomisch profitierte. In Noworossija wurde aus dem Getreide der Schwarzerdegebiete ein weltweit begehrtes Handelsgut, das die Staatskassen füllte und den Wohlstand des Reiches mehrte. Der Hof in Sankt Petersburg stimulierte diese einträgliche Einnahmequelle durch die Einrichtung von Freihafen-Systemen, die einen zollfreien Umschlag von Waren ermöglichten.3

    Diesen ersten Boom unterbrach der Krimkrieg jedoch auf abrupte Art und Weise. Russland kämpfte dabei auch gegen England und Frankreich, die in den Krieg an der Seite des Osmanischen Reiches eingetreten waren. Nach der militärischen Katastrophe, die dieser Krieg für Russland war, initiierte Alexander II. nicht nur die Großen Reformen, sondern setzte auch eine stärkere Anbindung der Gebiete von Noworossija an das imperiale Zentrum durch – mit weniger Entscheidungsbefugnisssen vor Ort. Mit der Auflösung des Generalgouvernements 1874 verschwand auch der Begriff Noworossija aus der offiziellen politischen Sprache. Das Gebiet hatte viel von seiner ursprünglichen Eigenständigkeit verloren und die lokale Administration wurde noch stärker in die ministeriale Bürokratie des Reiches eingegliedert. 
    Nach der Oktoberrevolution und dem Bürgerkrieg stärkten die sowjetischen Machthaber durch ihre vom Paradigma der korenisazija (dt. Einwurzelung) geprägte Nationalitätenpolitik die „Ukrainisierung“ der neugegründeten Ukrainischen SSR. Um dieses Staatsgebilde – wenigstens an der Oberfläche – vom zaristisch-imperialen Konstrukt abzuheben, verboten die Bolschewiki den Gebrauch der Bezeichnungen Noworossija und Malorossija für die Gebiete der neu gegründeten Ukrainischen SSR.

    These einer „dreieinigen Nation“

    Die Rede von Noworossija und Malorossija, die Putin in seinem Artikel und in mehreren Fernsehansprachen bemühte, verweist nur in Teilen auf diesen historischen Kontext. Vielmehr handelt es sich um eine klare historisch-politische Position, die im 19. Jahrhundert entstand: Damals reagierten einflussreiche konservative Befürworter des von Petersburg regierten Vielvölkerreichs auf den entstehenden ukrainischen Nationalismus, indem sie die These einer „dreieinigen Nation“ bestehend aus Großrussen, Kleinrussen und Weißrussen propagierten.4 Staatlichkeit sei dieser These zufolge nur im Verbund denkbar, und die Abspaltung einer Bevölkerungsgruppe bedrohe Russland als Ganzes. Diese Vorstellung teilte auch der russische Philosoph Iwan Iljin, der Russland als „jungfräulichen Körper“ betrachtete. Wer zu diesem Körper gehöre, das sei nicht Sache von Individuen, sondern die russische Kultur bringe „brüderliche Verbundenheit“ überall dort, wo Russland herrsche. Die Idee einer eigenständigen Ukraine war Iljin zutiefst fremd, und so wundert es nicht, dass Putin den seit den 1990er Jahren wiederentdeckten Denker zum Hausphilosophen machte und sich in seinen Ansprachen auf ihn bezog.5 
    Putin zufolge ist die Region um die Städte Charkiw (das nie Teil von Noworossija war), Luhansk, Donezk, Cherson, Mykolajiw und Odessa im 19. Jahrhundert nicht Teil der Ukraine gewesen, sondern erst in den 1920er Jahren von der sowjetischen Regierung an die Ukraine „gegeben“ worden. Russland habe diese Territorien aus verschiedenen Gründen „verloren“, die von Putin ungenannt bleiben.6 Mit dieser Aufzählung und der vermeintlich geschichtswissenschaftlich informierten Dreiteilung der Ukraine in die Gebiete Malorossija, Krim und Noworossija unterschlägt Putin nicht nur, dass auch andere Bezeichnungen für das historische Gebiet der Ukraine gepflegt wurden – so unterschied man zu bestimmten Zeiten beispielsweise auch zwischen linksufriger Malorossija und rechtsufriger Ukrajina, die Region um Charkiw war eine eigenständige Region namens Sloboda-Ukraine – sondern macht auch ganz konkret seinen Anspruch auf diese Region geltend. Dieser Gebrauch des Begriffs Noworossija reduziert die historische Komplexität dramatisch, indem er selektiv Episoden aus der Geschichte auswählt, aber von anderen schweigt. Diese verkürzte, ja mitunter verzerrte Sichtweise konstruiert eine Linearität der Geschichte, die eine russische Aggression gegen die Ukraine als Korrektur eines historischen Irrtums erscheinen lässt. Sie geht mutwillig über die heutige ukrainische Gesellschaft in ihrer politischen, sozialen und kulturellen Lebenswirklichkeit hinweg und mutet ihr die Vergangenheit als gegebenes Schicksal zu. 

    Das Gespenst von der Wiederherstellung Noworossijas

    Um die Sprengkraft seiner auf ein „russländisches Erbe“ verkürzten revisionistischen Behauptungen muss Putin 2014 gewusst haben. Die pro-russischen Separatisten in den Gebieten Donezk und Luhansk griffen diesen neuen Sprachduktus auf und benannten die aus ihren Gebieten gebildete Konföderation als Föderativen Staat Noworossija. Sie hofften auf weitere Anschlüsse durch orchestrierte separatistische Bewegungen und die darauf folgenden Referenden zur Loslösung von der Ukraine. Allerdings blieben diese namentlich in Charkiw und Odessa aus. Im Minsker Abkommen einigten sich die Konfliktparteien darauf, Noworossija nicht mehr als Bezeichnung eines politischen Subjekts zu verwenden, um den Konfliktherd auf die durch eine Demarkationslinie fixierten Separatistengebiete zu begrenzen. Das Scheitern des Projekts Noworossija im Jahr 2014 zeigte der politischen Inanspruchnahme der Geschichte seine Grenzen auf: Entscheidend war damals, dass eine Mehrheit der Bevölkerung in den ehemaligen Gebieten von Noworossija an ihrer Zugehörigkeit zur Ukraine und an der Unabhängigkeit dieses Staates festhalten wollte und keine Lust hatte, sich von Putin belehren zu lassen. Und auch 2022 scheint sich die Bevölkerung von Odessa und Charkiw vehement gegen einen Anschluss an Russland zu wehren.

    Das Gespenst von der Wiederherstellung Noworossijas verschwand aber nicht aus dem offiziellen politischen Diskurs. Putins Rede und der von ihm entfachte Angriffskrieg gegen die Ukraine verdeutlichten erneut die toxische Kraft des Begriffs Noworossija, der die legitime Staatlichkeit der Ukraine in Frage stellt und es ermöglicht die Geschichte für die eigenen ideologischen Zwecke in Geiselhaft zu nehmen. 


    1. Putin, Wladimir (12.07.2021): On the Historical Unity of Russians and Ukrainians; Baumann, Fabian (2001): Einseitiger Einheitswunsch – Putins neueste Geschichtslektion, in: RGOW, 9/2001, S. 3-5 ↩︎
    2. Kappeler, Andreas (2014): Kleine Geschichte der Ukraine, München, S. 106-112 ↩︎
    3. King, Charles (2011): Odessa: Genius and Death in a City of Dreams, New York, S. 39f./70 ↩︎
    4. Miller, Alexei (2003): The Ukrainian Question: The Russian Empire and Nationalism in the Nineteenth Century, Budapest; Hillis, Faith (2013): Children of Rus’: Right-Bank Ukraine and the Invention of a Russian Nation, Ithaca ↩︎
    5. Snyder, Timothy (2018): The Road to Unfreedom: Russia, Europe, America, New York, S. 23 ↩︎
    6. Direct Line with Wladimir Putin vom 17.4.2014 ↩︎

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  • Der Samowar

    Der Samowar

    Eine wohlhabende Frau nimmt auf der Terrasse ihres Anwesens Tee zu sich. Im Hintergrund sieht man ein provinzielles russisches Stadtbild. Im Vordergrund stehen auf dem Tisch Wassermelonen, Obst und Kuchen. Doch ganz am linken Rand findet sich ein wichtiges Utensil, ohne das kein Tee in die Tasse der Dame käme: Der Samowar – der „Selbstkocher“. 

    Boris Kustodijew, Die Gattin des Kaufmanns (1912)
    Boris Kustodijew, Die Gattin des Kaufmanns (1912)

    Dieses Gemälde von Boris Kustodijew, das den Titel Die Gattin des Kaufmanns trägt, scheint eine „ur-russische“ Szene festzuhalten – tatsächlich zeichnet sich das Gemälde aber durch zwei Anachronismen aus: Als das Bild 1918 entstand, hatten die Bolschewiki bereits dafür gesorgt, dass die Welt der russischen Kaufmänner verschwunden war. Der Samowar, der auf dem Bild für althergebrachte Tradition steht, war dagegen erst seit wenigen Jahrzehnten ein nationalethnisch konnotierter Gegenstand der russischen Alltagskultur. Heute hat der „Selbstkocher“ seinen festen Platz in den Regalen russischer Küchen.

     

    Samoware sind große Wassergefäße, die aus Metallen, meistens Kupfer, gefertigt werden. Im Inneren befindet sich ein Kamin, der zum Anheizen durch ein Rohr verlängert wird. Hat das Wasser die gewünschte Temperatur erreicht, wird diese Verlängerung abgenommen. Nun ist Platz für den tschajnik, eine kleine Teekanne, in dem sich die sawarka (ein Teekonzentrat) befindet. Frischen Tee erhält der Durstige durch die kundige Mischung von Konzentrat und frisch abgelassenem Wasser aus dem Kessel. 

    Vom Industriegut zum Symbol für die Europäisierung Russlands

    Der Samowar in seiner heutigen Form wurde Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt. 1778 registrierten die Brüder Iwan und Nasar Lisizyn eine Fabrik zur Herstellung von Samowaren in der Stadt Tula, knapp 200 Kilometer südlich von Moskau. Tula verfügte bereits über eine lange Tradition der Metallverarbeitung und entwickelte sich zum Zentrum der Samowar-Herstellung. In Russland trägt man keine Eulen nach Athen, sondern reist mit dem eigenen Samowar nach Tula.1 

    Seit dem 17. Jahrhundert gab es einen konstanten Warenaustausch zwischen China und Russland und der Tee war als Luxusgut bereits in Moskau bekannt.2 Die Erfindung des Samowars führte zunächst nicht zu einer Popularisierung des Tees in allen Schichten der Bevölkerung. Die tschajepitije (das Teetrinken) blieb eine Alltagspraxis in den höheren Ständen, dem Adel und in der hohen Kaufmannschaft. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wandelte sich der Samowar „vom teuren Luxus“ zum „Haushaltsbedarf“, das Teetrinken wurde immer alltäglicher.3 Diesen Aufstieg befeuerte eine kulturelle Elite, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts damit begonnen hatte, den Samowar zum Inbegriff russischer Teekultur zu erklären. Dieses Objekt erschien großen Literaten wie Alexander Puschkin, Lew Tolstoi, Fjodor Dostojewski und Anton Tschechow als besonders geeignet, um das aus dem fernen China importierte Luxusgut Tee einer russischen Aneignung zu überführen. Für Puschkin war der Samowar darum ein Symbol für die seit Peter dem Großen angestoßene Europäisierung Russlands, die den Teekonsum an ein industriell gefertigtes Objekt band.4 

    Inszenierung von Häuslichkeit und Gastfreundschaft

    Die Praxis des Teetrinkens in adligen Familien galt in Literatur und Kunst als geradezu paradigmatische Inszenierung von Häuslichkeit, Gastfreundschaft und Gemeinschaft – jenen Werten, die gerade in der Amtszeit Nikolaus I. als besonders „russisch“ galten. Die üblicherweise prächtigen Verzierungen auf dem Samowar verwiesen auf seinen prominenten Platz am heimischen Tisch, an dem sich in der Idealvorstellung die ganze Familie versammeln sollte. 
    Der Samowar offenbarte den Besitzstand und Reichtum einer Familie. Darüber hinaus erforderte seine Bedienung Geschick und Erfahrung: Das Teekonzentrat wollte in der richtigen Stärke zubereitet sein, die Befeuerung des Kamins war ebenso wichtig um stetig warmes Wasser vorrätig zu haben. Nicht selten nahm daher die Dame des Hauses den Teekessel in die Hand, um auf diese Weise ihre herausragende Stellung im Haushalt unter Beweis zu stellen. Wem sie in welcher Reihenfolge dann den Tee ausschenkte, machte die soziale Rangordnung sichtbar. Im Zusammenspiel von Akteuren und Objekten entfaltete sich so eine häusliche Ordnung. 

    Russifizierung des Tees

    In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Tee immer mehr Teil der Alltagskultur in breiteren Kreisen der Bevölkerung. Hierfür war nicht nur der wirtschaftliche Aufstieg nach den sogenannten „Großen Reformen“ verantwortlich, sondern auch der rasante Preisverfall für Tee aus den indischen Kolonien. Nun entfalteten die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelegten Spuren einer herbeigeschriebenen „russischen Teekultur“ ihre volle Wirkung. Erst seit den 1870er Jahren war Tee ein allgegenwärtiges Gut geworden, das tatsächlich an praktisch jedem russischen Tisch gereicht wurde. Die quantitative Ausweitung des Teekonsums verband sich rasch mit der kulturellen Prägung einer zunehmend belesenen städtischen Bevölkerung, die eine „Invention of Traditions“ großer russischer Nationaldichter auf ihren Alltag übertrugen: Über das Objekt Samowar russifizierte sich der Tee. 
    Auf die gestiegene Nachfrage nach Tee reagierte die Samowar-Industrie rasch und diversifizierte ihr Angebot noch einmal erheblich: Die Fabriken in Tula boten nun vom einfachen „Blech-Wasserkocher“ bis hin zum verzierten Schmuckstück aus Silber Samoware für jeden Geldbeutel an. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren bis zu 5000 Personen als Heimarbeiter in der Samowarindustrie tätig.5 Im ausgehenden 19. Jahrhundert hatte der Samowar seinen Weg in nahezu alle Salons und Küchen des russländischen Imperiums gefunden. 

    Die politischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts änderten daran zunächst wenig: Der handbetriebene Samowar blieb in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein nicht wegzudenkendes Element russländischer Alltagskultur. Erst mit dem Aufstieg elektrischer Kleingeräte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haftete dem Samowar zunehmend etwas Antiquarisches an, so dass einzelne sowjetische Künstler ihn mit dem verachteten „alten Russland“ in Bezug setzen konnten. Auch wenn die Industrie elektrische Samoware anbot, konnten sich diese auf lange Sicht nicht gegen den elektrischen Wasserkocher und den Beuteltee durchsetzen. Der dampfbetriebene Samowar wanderte mit dem Kauf eines elektrischen Wasserkochers zunehmend in die Küchenregale, wo er als Relikt einer vergangenen Zeit nur zu ausgesuchten Anlässen entstaubt und reaktiviert wird. Die Erinnerungskultur um das Objekt Samowar entfaltete aber spätestens seit den 1990er Jahren einen markanten Boom: Heute gibt es einen ganzen Markt für Samoware als Erinnerungsstücke aus der Sowjetzeit. 


    Zum Weiterlesen
    Avery, Martha (2003): The Tea Road: China and Russia Meet Across the Steppe, Beijing
    Heller, Klaus (1980): Der russisch-chinesische Handel von seinen Anfängen bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, Erlangen
    Schütz, Joseph (1986): Russlands Samowar und russischer Tee: Kulturgeschichtlicher Aufriss, Regensburg
    Smith, Robert Ernest Frederick/Christian, David (1984): Bread and Salt: A Social and Economic History of Food and Drink in Russia, Cambridge [etc.]
    Yoder, Audra Jo (2009): Myth and Memory in Russian Tea Culture, in: Studies in Slavic Cultures (8), 08/2009, S. 65–89

    1. Schütz, Joseph (1986): Russlands Samowar und russischer Tee: Kulturgeschichtlicher Aufriss, Regensburg, S. 34 ↩︎
    2. Avery, Martha (2003): The Tea Road: China and Russia Meet Across the Steppe, Beijing, S. 9f. ↩︎
    3. Yoder, Audra Jo (2009): Myth and Memory in Russian Tea Culture, in: Studies in Slavic Cultures (8), S. 65–89, hier: S. 67 ↩︎
    4. ebd. ↩︎
    5. Schütz, 1986, S. 36 ↩︎

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  • Die Hymne der Russischen Föderation

    Die Hymne der Russischen Föderation

    Endlich: Die Fußball–WM in Russland wird am 14. Juni 2018 feierlich eröffnet, das Gastgeberland stellt sich in der Hauptstadt Moskau vor. Doch bevor das Eröffnungsspiel beginnen kann, wird die Flagge der Russischen Föderation auf dem Feld präsentiert. Langsam färbt sich auch die russische Fankurve in den Farben Weiß, Blau und Rot. Der mächtige Anfangsakkord der Hymne der Russischen Föderation ertönt. Und während die russischen Fans einstimmig die erste Zeile – „Russland, unser geheiligter Staat“ – anstimmen, werden die Zuhörer unbewusst Zeugen einer musikalischen Zeitreise: Das klangmächtige Laudato im Stadion verknüpft den gegenwärtigen Nationalstolz mit dem schwierigen Verhältnis zur eigenen sowjetischen Vergangenheit.


    Eröffnungsfeier der WM 2018 in Moskau

     

    Was heute die Stadien erfüllt, ertönte im Jahr 2000 zum ersten Mal im Kremlpalast – als neue Hymne der Russischen Föderation. Neu ist sie aber nur bedingt: Die majestätische Hymne in C-Dur mit dem markant punktierten Rhythmus komponierte Alexander Alexandrow bereits in den 1940er Jahren. Sie diente über 50 Jahre lang als Hymne der UdSSR. Untermalt mit den Worten des Schriftstellers Sergej Michalkow besang sie die „unzerbrechliche Union freier Republiken“ und die Partei Lenins, die das sowjetische Volk „zum Triumph des Kommunismus führt“. 
    Die pompöse Melodie kommt mit neuem Text daher. Dieser stammt jedoch vom gleichen Autor wie in der Originalversion. Anstelle der UdSSR wird nun Russland als „unser freies Vaterland“ gepriesen. Die Hymne leitet damit fast nahtlos vom Sowjetstaat zum heutigen Russland über.

    Zurück in die Vergangenheit

    Der Wiedereinzug der Hymne in das Reservoir russischer Staatssymbole war eine der ersten Amtshandlungen des frischgekürten Präsidenten Putin. Mit dieser akustischen Rolle rückwärts setzte Wladimir Putin eines der ersten Signale seiner Amtszeit. Die sowjetische Vergangenheit betrachtete er nicht länger als aufzuarbeitende, abgeschlossene Epoche, sondern als historisches Erbe und sinnstiftendes Element für die Herrschaftsinszenierung in der Russländischen Föderation der Gegenwart. Damit untermauerte Putin einen neuen Kurs: Nach den wilden 1990ern unter Boris Jelzin sollte eine neue, alte Ära der Stabilität und Größe angestrebt werden.

    Das patriotische Lied

    Die 1990er Jahre klangen noch ganz anders. Zu Beginn des Jahrzehnts – als die Auflösung der „sicheren Festung der Völkerfreundschaft“ (UdSSR) denkbar wurde – standen die Erbverwalter des Imperiums in Moskau und Leningrad vor einem handfesten Problem: Die Russische Sowjetrepublik (RSFSR) war die einzige Nation der Sowjetunion gewesen, der es im Vielvölkergebilde neben der übergeordneten Sowjethymne an einer eigenen mangelte. Als „Großer Bruder“ der Völkerfamilie und unbestrittener primus inter pares war es den Staatslenkern in Moskau bisher nicht nötig erschienen, eine eigene Staatssymbolik für Russland zu propagieren. 1990 trat dann das Patriotische Lied, eine lang vergessene Komposition Michail Glinkas (1804–1857), der als Ahnherr der russischen Musik gilt, in Erscheinung.

    Während einer Sitzung des Obersten Sowjets der RSFSR spielte ein Blasorchester die kurz zuvor entdeckte Komposition, die Glinka mutmaßlich als Hymne für das Zarenreich seiner Zeit angedacht, jedoch letztendlich nie vollendet und publiziert hatte. Weil das Musikstück dem beisitzenden Jelzin so gut gefiel, bat er das Orchester, das Stück erneut vorzutragen. Wie es normalerweise nur bei Nationalhymnen üblich ist, erhoben sich einige der Anwesenden zu den Klängen von Glinkas Patriotischem Lied, woraufhin dessen Status als Nationalhymne besiegelt schien.1

    Im Jahr 1993, als die Sowjetunion bereits aufgelöst worden und die RSFSR zur Russischen Föderation übergegangen war, griff Jelzin bei der Auswahl der Hymne auf eben jene Komposition zurück und entschied Glinkas Patriotisches Lied per Dekret zur Hymne der jungen Nation.

    Die stummen 1990er

    Dies sollte nun eine doppelte Leerstelle füllen: Auf der einen Seite führte es zur musikalischen (Re-)Nationalisierung Russlands im postsowjetischen Raum, auf der anderen Seite sollte das Werk angesichts der in Abwicklung begriffenen Sowjetunion neue Sinninhalte stiften. In den 1990er Jahren hatte das Patriotische Lied jedoch einen schweren Stand. Es wurde unfreiwillig zum Soundtrack von Turbokapitalismus und Hyperinflation, die vielen ehemaligen Sowjetbürgern den wirtschaftlichen und moralischen Boden unter den Füßen wegzogen. Außerdem fehlte es der Hymne an einem entscheidenden Detail: Glinka selbst hatte das Klavierstück instrumental komponiert und nicht mit Text unterlegt. Wer in die Melodie einstimmen wollte, dem blieb also nur das Mitsummen. Sehr spät, im Jahr 1999, suchte ein Wettbewerb nach Worten zur Melodie. Viktor Radugin gewann mit seinem Vorschlag Slawsja Rossija (dt. „Ruhm dir, Russland“), die Zeilen des Textes wurden jedoch letztendlich nicht zur Hymne hinzugefügt.

     


    In den 1990er Jahren lauschten russische Fußballspieler der Hymne schweigend

     

    Als Wladimir Putin im Mai 2000 das Präsidentenamt übernahm, vergingen nur ein paar Wochen, bis sich Athletinnen und Athleten angesichts der Olympischen Sommerspiele in Sydney an den neuen Machthaber wandten. Sie gaben zu Protokoll, wie sehr es sie gekränkt habe, im Gegensatz zu ihren Mitstreitern nicht ihre Hymne mitsingen zu können. Das Ersuchen nahm Putin als Steilvorlage, um mit der Einsetzung der neuen Hymne ein erstes Zeichen zu setzen.

    Politik mit Tönen

    Putin verzeichnete mit der Einführung der „neuen alten“ Hymne einen wichtigen Erfolg. Sie war ein kulturelles Vorzeichen für die in den folgenden Jahren dominante Erinnerungspolitik, die den Stolz auf das sowjetische Erbe über- und die Schattenseiten der eigenen Vergangenheit unterbetonte. Die Aneignung der Hymne in den folgenden Jahren machte jedoch auch die Widersprüchlichkeit dieser besonderen „akustischen Politik“ deutlich. Nicht wenigen dürfte das Erklingen der Hymne zur Beerdigung von Boris Jelzin im Jahr 2007 merkwürdig erschienen sein. Eine Umfrage aus dem Jahr 2009 behauptete, dass 56 Prozent der Befragten „stolz“ seien, wenn sie die Nationalhymne hörten. Gleichzeitig war es damals weniger als der Hälfte der Befragten möglich, die erste Zeile des Textes zu zitieren.2
    Zehn Jahre später wird vielen jungen Menschen in den Stadien des eigenen Landes der sowjetische Kontext der Hymne kaum mehr präsent erscheinen. Als musikalischer Zeitsprung verknüpft sie jedoch bis heute russische Gegenwart unmittelbar mit sowjetischer Vergangenheit.


    Weiterführende Literatur:
    Frolova-Walker, M. (2004): Music of the soul?, in Franklin, S. & Widdis, E. (Hrsg.): National Identity in Russian Culture: An Introduction, Cambridge, S. 116-131
    De Keghel, Isabelle (2008): Die Staatsymbolik des neuen Russland: Tradition – Integrationsstrategien – Identitätsdiskurse, Münster

    1. mehr darüber: de Keghel, Isabelle (2003): Die Staatssymbolik des neuen Russland im Wandel: Vom antisowjetischen Impetus zur russländisch-sowjetischen Mischidentität, in: Forschungsstelle Osteuropa Bremen: Arbeitspapiere und Materialien, S. 42 ↩︎
    2. Wciom.ru: Russian State Symbols: Knowledge & Feelings ↩︎

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  • Sergej Prokofjew

    Sergej Prokofjew

    Sergej Sergejewitsch Prokofjew starb am 5. März 1953, am gleichen Tag wie Josef Stalin. Angesichts der staatlich verordneten und von vielen sowjetischen Bürgern emotional durchlittenen Trauer um den verstorbenen „großen Führer“ erschien der Tod des Komponisten wie eine marginale Fußnote der Geschichte. Angeblich konnten nicht einmal mehr Blumen für sein Begräbnis aufgetrieben werden. Der gemeinsame Todestag mit seinem Peiniger erwies sich als letzte zynische Wendung von Prokofjews Lebensweg, der von Anziehung und Abstoßung, von Distanz und Nähe zum Sowjetstaat geprägt war. 

    Wie Dimitri Schostakowitsch war Sergej Prokofjew (1891–1953) ein Shootingstar der klassischen Musikwelt im ausgehenden Zarenreich gewesen. Nach seinem Abschluss am St. Petersburger Konservatorium 1914 hatte er sich als herausragender, rebellischer Komponist und Pianist in der Musikwelt einen Namen gemacht. Als er im Jahr 1914 mit seinem 1. Klavierkonzert einen Wettbewerb für die fünf besten Klavierabsolventen eines Jahrgangs gewann, schien sein kometenhafter Aufstieg auf einem vorläufigen Höhepunkt angekommen zu sein. 

    Der Erste Weltkrieg, die Oktoberrevolution und der folgende Zusammenbruch des vorrevolutionären kulturellen Lebens waren für ihn Beweggründe, die seit seinen ersten Auslandsgastspielen in London und Paris geknüpften Kontakte nach Westen zu nutzen, um fortan als Klaviervirtuose in den USA zu wirken. Sein Abschied aus Sowjetrussland im Jahr 1918 war also nicht politisch, sondern vor allem ökonomisch motiviert. Die neuen Machthaber gaben gern und rasch grünes Licht für seine Ausreise. Anatoli Lunatscharski, der damalige Volkskommissar für das Bildungswesen, hoffte gar, Prokofjew werde dem sowjetischen Projekt in der Neuen Welt zu Ruhm und Ehre verhelfen. 

    Musik oder Propaganda?

    Enthusiasmus und Enttäuschung kennzeichneten Prokofjews Werdegang im Exil: In San Francisco scheiterte zunächst sein Opernprojekt Die Liebe zu den drei Orangen. Prokofjew siedelte finanziell und künstlerisch schwer angeschlagen nach Paris über. Dort nahm er die früheren Kontakte zu Sergej Djagilews Ballets Russes auf, und es gelang ihm, in den 1920er Jahren einige Erfolge zu verzeichnen. Dazu gehörte auch das Ballet Le pas d’acier (dt. Stahlschritt), das Mitte der 1920er Jahre den konstruktivistischen Geist moderner Musik atmete.

    https://www.youtube.com/watch?v=Z_hOR50u7ek

    Der Stahlschritt vertonte die Industrialisierung der Sowjetunion in mechanistischen, repetitiven Gesten, die in ihrer Klangsprache neue Formen von Chromatik und Diatonik austesteten. Das Werk war eine willkommene Werbung für Stalins Aufbau der Sowjetunion – es wurde nicht nur vom Bolschoi-Theater aufgenommen, sondern auch in Paris über drei Spielzeiten gegeben und in Wien von Wilhelm Furtwängler dirigiert. Als das Werk 1931 in Philadelphia Premiere feierte, fragte sich die Zeitung The Public Ledger, ob es sich dabei um Musik oder Propaganda handele. Damit hatte die Zeitung auf ein Spannungsfeld verwiesen, das für Prokofjews Wirken in den 1930er Jahren entscheidend sein sollte.

    Rückkehr in die Sowjetunion

    Anfang der 1930er Jahre begann die „sowjetische Periode“ in Prokofjews Schaffen. Der Komponist legte damals die musikalische und ideelle Grundlage für seine Rückkehr in die Sowjetunion im Jahre 1936. Seine Musik war nun noch stärker auf das Ziel hin ausgerichtet, durch eine verständliche Klangsprache einen gesellschaftlichen Auftrag zu verrichten. Die unmittelbare Zugänglichkeit seiner berühmtesten Werke Peter und der Wolf (1936) und Romeo und Julia, die in der ersten Hälfte der 1930er Jahre entstanden, resultierte aus dieser Programmatik und garantierte letztlich ihren bis heute andauernden Erfolg auf allen Konzertpodien. Die Harmonik kehrte stärker zur Tonalität zurück, Dissonanzen waren häufig nur noch ein Stilmittel, um Chaos und Bedrohung darzustellen. Prokofjew stellte Musik nun verstärkt in den Dienst außermusikalischer Botschaften. Das galt auch und im Besonderen für seine ikonisch gewordene Filmmusik zu Sergej Eisensteins Film Alexander Newski. Eisenstein bestellte nicht einfach Hintergrundmusik für seine bewegten Bilder, sondern ließ sich durch Prokofjews Schaffen für das Ballett auch darauf ein, komponierte Musik mit neuen Filmszenen auszudeuten.1

    Die lebensweltlichen Gründe für Prokofjews Rückkehr in die Sowjetunion, kurz vor dem Beginn des Großen Terrors, sind bis heute Gegenstand wissenschaftlicher Debatten. Das sowjetische Projekt bot Prokofjew in jedem Fall Chancen und Möglichkeiten: Künstlerisch bedeutete das Ende der Formalismusdebatte im Jahr 1932 die Einrichtung einer stabilen Kulturlandschaft, in der der Komponistenverband über reichhaltige finanzielle Mittel verfügte. Politisch faszinierte der rasante Aufstieg der Sowjetunion zur industriellen Macht nicht nur Prokofjew, sondern viele Künstler, Literaten und Intellektuelle. Es sollte sich als besondere Tragik erweisen, dass bereits sein erstes Moskauer Projekt, eine gigantische Kantate zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution, ins Fadenkreuz ideologischer Kritik geriet. Auf dem Höhepunkt des Stalinschen Terrors sah sich Prokofjew mit Vorwürfen konfrontiert, „[Stalins] Worte, die dem Volk gehören, zu unverständlicher Musik zu setzen“.2

    Die Erwartung des Komponisten, in der Sowjetunion optimale Arbeitsbedingungen für ein freies Komponieren vorzufinden, sollten sich auch in den folgenden Jahren kaum erfüllen. Während des Zweiten Weltkrieges gelang ihm aber die Fertigstellung seiner fünften Symphonie, die 1944 als heroisch-patriotische Kriegssymphonie triumphal uraufgeführt wurde. Es folgten zwei Schläge, die sein letztes Lebensjahrzehnt entscheidend prägen sollten: Wenige Wochen nach der Uraufführung stürzte Prokofjew schwer auf den Kopf und war fortan auf permanente medizinische Betreuung angewiesen. 1948 erreichte ihn der Bannstrahl der Shdanowschtschina. Eine Resolution des Komponistenverbandes verbot einige seiner Werke, darunter viele erst kürzlich fertiggestellte Titel. Die Auswirkungen waren gravierend: Ähnlich wie Schostakowitsch sah Prokofjew sich einer generellen Skepsis gegenüber seinem Werk und seiner Person ausgesetzt, die die absolute Zahl von Aufführungen dramatisch sinken ließ. Prokofjew war nicht nur geächtet, sondern auch finanziell ruiniert. Der Versuch einer Rehabilitierung mit der Oper Die Geschichte vom wahren Menschen, die einen Kriegshelden ins Zentrum rückte, misslang. 

    Stalins Schatten

    Als Prokofjew an einem Schlaganfall verstarb endete ein Leben, das mit und durch die Ereignisse in der Sowjetunion unter Stalin geprägt war. Prokofjew konnte sich der utopischen Anziehungskraft des aufsteigenden Staates nicht entziehen, bekam aber auch seinen ideologischen Furor und seine unmenschliche Härte zu spüren. Die Sowjetskaja Musyka, eine der wichtigsten Musikzeitungen des Landes, widmete ihm erst auf den hinteren Seiten einen Nachruf. 

    In den Jahren des sogenannten Tauwetters wurde Prokofjew posthum rehabilitiert und gemeinsam mit Dimitri Schostakowitsch in den Olymp der sowjetischen Musik befördert. Seine Werke waren nun wieder auf den Konzertpodien zu hören. Mit dem Ende der Sowjetunion aktualisierte sich die Frage nach dem Verhältnis des Komponisten zum Regime Stalins ein weiteres Mal: Als der Dirigent Gennadi Roshdestwenski die 1936 komponierte Huldigungskantate aufführen ließ und dafür plädierte, ihren musikalischen Gehalt zu würdigen, debattierten Musiker, Musikwissenschaftler und Konzerthörer darüber, ob ein solches Vorgehen politisch vertretbar sei. Stalins Schatten war auch fünfzig Jahre nach dem gleichzeitigen Tod von Diktator und Komponist zu spüren.


    Zum Weiterlesen:
    Morrison, Simon (2009): The People’s Artist, Oxford
    Schipperges, Thomas (2005): Sergej Prokofjew, Reinbek bei Hamburg

    1. Bartig, Kevin (2017): Sergei Prokofiev’s Alexander Nevsky, New York ↩︎
    2. Redakcionnyje besedy. ‘Nedelja sovetskoj muzyki’, in: Sovetskaja muzyka 1 (1968), S. 21, zit. nach Morrison, Simon (2009): The People’s Artist: Prokofiev’s Soviet Years, New York, S. 65 ↩︎

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