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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Lenin in der russischen Revolution

    Lenin in der russischen Revolution

    Das wohl bekannteste Foto aus dem Revolutionsjahr 1917, vom berühmten Fotografen Viktor Bulla, zeigt den „Beschuss einer friedlichen Demonstration von Arbeitern und Soldaten“ am 04. Juli1. So lautete die Bildunterschrift lange Zeit in der sowjetischen Tradition. Dieses zentrale Ereignis im Revolutionsjahr 1917 zwischen Februarrevolution und Oktoberaufstand ging als Juliaufstand in die Geschichte ein.  Es war kein durch „spontane Massenbewegung“ verursachter „Betriebsunfall“ der Revolution. Die Revolution wurde durch die bolschewistische Partei auch nicht vor dem Schlimmsten gerettet, wie es die sowjetische Geschichtsschreibung darstellte. Es war auch kein „Präludium zum Oktober“ (A. Rabinovitch)2 oder Lenins missglückter Putschversuch (R. Pipes)3. Vielmehr war es mit seinen Wirren, Opfern, der Chaotisierung und dem politischen Desaster die konsequente Folge von Lenins Strategie, die er mit den Aprilthesen eingeschlagen hatte: Gewalt und Radikalisierung.

    © gemeinfrei
    © gemeinfrei

    Unmittelbar nach dem Februar-Umsturz hatte sich Lenin auf den „Bürgerkrieg“ und die Konstellation „bewaffnetes Proletariat“ gegen den „Bonapartismus an der Macht“ fixiert. Die Massenforderungen wie „Alle Macht den Sowjets“, „Frieden ohne Annexionen und Kontributionen“, „Alles Land den Bauern“ sowie „Selbstbestimmung der Nationen“ hatten keineswegs spezifisch bolschewistischen oder gar sozialistischen Charakter. So konnte Lenin die Sympathie der radikal gestimmten Strömungen in der Gesellschaft gewinnen. Die „Aprilstrategie“ die Gesellschaft zu polarisieren war vor allem auf die totale Konfrontation mit der Provisorischen Regierung und auf deren gewaltsamen Sturz angelegt. Dies konzentrierte sich in der Losung „Alle Macht den Sowjets“: Die russische Revolution sollte weitergetrieben werden bis zur Sprengung der sogenannten „Doppelherrschaft“ von Provisorischer Regierung und Arbeiter- und Soldatensowjet.

    Die bolschewistische Partei wurde zum Anziehungspunkt für alle unzufriedenen, radikalen und anarchistischen Elemente, die durch die revolutionären Ereignisse aufgewühlt worden waren. Der ungeregelte Zufluss dieser Menschen in die Partei sorgte einerseits für ein exponentielles Wachstum ihrer Mitgliedschaft. Sie schwoll von Anfang 1917 mit 24.000 bis Ende April auf über 100.000 sowie 200.000 Mitglieder im August desselben Jahres an.4 Andererseits sorgte dieser Zustrom aber auch für die Erschütterung der inneren Parteistrukturen. Lenin – zunächst fast gänzlich isoliert – setzte sich vom ersten Augenblick seiner Rückkehr nach Petrograd an über alle Beschlüsse der Führungsorgane seiner Partei hinweg, als wäre er an sie nicht gebunden. Stattdessen appellierte er an die Basis des Bolschewismus, um sie für seine radikale April-Strategie zu gewinnen. 

    Der Führer des Bolschewismus

    Lenins Auftreten begleiteten viele feindselige Kommentare – nicht nur der bürgerlichen Öffentlichkeit, sondern auch aus den Reihen seiner sozialistischen Rivalen. Sie schmähten seine Darlegungen als „vom Fieberwahn gezeichnet“ und ihn selbst als „Bürgerschreck“ und leibhaftigen „Antichrist in der Einbildung der Spießbürger“ (Viktor Tschernow). 
    Durch diese Dämonisierung trugen sie dazu bei, dass er eine Aura bekam, in der seine Maßlosigkeit und Manie umso attraktiver wurden. Die geheimnisumwitterte Durchquerung des Deutschen Kaiserreichs tat ein Übriges, um die öffentliche Meinung zu polarisieren: Auf einer Seite waren jene Patrioten, die dahinter Verrat witterten und gegen ihn demonstrierten, auf der anderen jene Kriegsmüden, die Lenins Fahrt nach Russland als eine endlich gelungene, tollkühne und vielversprechende Tat empfanden.

    Lenins Massenappell ohne Rücksicht auf seine Partei unterminierte sowohl die Disziplin der Mitglieder als auch die Struktur der Parteihierarchie. Wenn sie darin auch den anderen sozialistischen Parteien des russischen Revolutionsjahres glich, machte sie sich zugleich zu einem „Generator für die Ungeduld der Massen“.5 Sie bemühte sich, der „Spontaneität“ der Bewegung durch ihre radikalen Parolen ein „bolschewistisches“ Gesicht zu geben. In diesem Prozess entstand eine Seelenverwandtschaft zwischen Lenin und den radikalen Teilen der Massen.

    Klasseninhalt der Demokratie

    „Demokratie“, zunächst im Sinne von „gleiche Rechte für alle“ verstanden, verwandelte sich im Sprachgebrauch vieler Arbeiter und Soldaten in einen exklusiven sozialen Begriff, der das „werktätige Volk“ der „Bourgeoisie“ gegenüber stellte. In der politischen Sprache des Jahres 19176 wirkte die bolschewistische Agitation polarisierend: Der Klassen-Diskurs wurde von den Arbeitern strikt im Sinne von „wir und sie“ verstanden. Lenin war der schärfste Protagonist, der es zur Aufklärungsaufgabe der bolschewistischen Partei machte, diesen „Klasseninhalt der Demokratie“ zu vermitteln.7 Die Parole „Alle Macht den Sowjets“ enthielt für die radikalisierten Massen eben diese Bedeutung: Sie versprach, die Vormacht der „Arbeiter und Soldaten“ zu sichern und die Burshui (dt. abwertend für Vertreter der Bourgeoisie) auszuschließen.

    Lenins Losung erwies ihre Durchschlagskraft bei den großen Protestdemonstrationen. Der „Führer“ mit seiner Strategie erhielt nun in der wachsenden Anhängerschaft das Image des „Genialen“. Seine Autorität schien fortan ins Unermessliche zu wachsen. 

    Umwandlung des Krieges in den Bürgerkrieg

    Obwohl Lenin das Wort „Bürgerkrieg“ in der Öffentlichkeit vermied, ja von den Partei-Agitatoren als „infame Lüge“ dementieren ließ, sorgte er im parteiinternen Sprachgebrauch dafür, dass die Februarrevolution als endlich gelungene „Umwandlung des Krieges in den Bürgerkrieg“ behandelt wurde. Wo immer marodierende Matrosen Gewalttaten begingen, ergriff er für sie Partei. 

    Beim Petrograder Partei-Komitee begannen sich die Radikalen zunehmend durchzusetzen. Man berief sich auf die Parole „Alle Macht den Sowjets“ und drängte auf „bewaffnete Demonstrationen“. Damit führte die April-Strategie Lenins die Bolschewiki geradewegs in das Juli-Desaster.

    Juliaufstand: Bewegung ohne Kopf

    Am 3. Juli machte das Zentralkomitee noch den Versuch, die von meuternden Soldaten ausgehenden „bewaffneten Demonstrationen“ zu stoppen. Kurz darauf jedoch revidierte das Petrograder Komitee diese Position und unterstützte die Demonstration. Diese Entscheidung wurde dann letztendlich auch vom Zentralkomitee geteilt. 

    An der „bewaffneten Massendemonstration“ nahmen angeblich bis zu 500.000 Petrograder Arbeiter und Soldaten teil. Die Militärorganisation machte nun alle Anstalten, um strategische Punkte der Hauptstadt im Sinne eines Umsturzes zu besetzen.8 Das zwischen linken und „rechten“ Gruppierungen schwankende bolschewistische Zentralkomitee verfügte offensichtlich über keinen klaren Plan. Einer der obersten Führer des Bolschewismus, Grigori Sinowjew, „der den ganzen 4. Juli an seiner (Lenins) Seite verbrachte, erinnerte sich an einen Lenin, der vor Unentschlossenheit wie gelähmt war“.9 Schließlich rief das Zentralkomitee zur Beendigung der bewaffneten Demonstrationen auf – offensichtlich unter dem Eindruck von Nachrichten über nahende Fronttruppen. Sie waren zur Wiederherstellung der Ordnung in die Hauptstadt gerufen worden. Letztendlich wurden die Demonstrationen von der Regierung mit Gewalt und vielen Opfern niedergeworfen.

    Die bolschewistische Partei geriet durch die Ereignisse in den Ruch der Verschwörung zum Putsch. Lenin wurde als angeblicher „Agent der Deutschen“ zur Verhaftung ausgeschrieben, der er sich durch die Flucht aus Petrograd entzog. Der Arbeiter- und Soldatensowjet, zum Schutz vor den Massen auf die Generalität angewiesen, war bloßgestellt. Die „Revolutionäre Demokratie“ der Februarrevolution war in Chaos verwandelt worden. 

    Agonie der Staatsmacht

    Lenin reagierte von seinem Fluchtort Rasliw, 35 Kilometer außerhalb Petrograds, aus mit Thesen, nach denen die Losung „Alle Macht den Sowjets“ fallengelassen und durch die direkte Vorbereitung auf den bewaffneten Aufstand ersetzt werden sollte. Er konnte sich damit weder beim Zentralkomitee noch bei großen Teilen der im Lande wirkenden Partei-Komitees durchsetzen. Die verfolgten in Reaktion auf die Juli-Ereignisse vorwiegend eine Defensivstrategie, nämlich die Verteidigung der Sowjets. 

    Der Führer des Bolschewismus blieb über Monate hin von der praktischen Politik der Partei ausgeschlossen, fast entmachtet. Er hatte durch das Desaster des Juliaufstandes stark an Führer-Autorität verloren. Jedoch wagte niemand in der Partei den „Führer“ zur Rechenschaft zu ziehen. Ohnmächtig war Lenin in diesem Ringen aber keineswegs. Er setzte sich über alle Regeln der Parteidisziplin hinweg, ließ durch Vertraute seine Anträge und Briefe an das Zentralkomitee unter seinen Anhängern – vor allem im Petrograder Parteikomitee – verbreiten oder wandte sich direkt an die bolschewistischen Unterorganisationen.

    Der herrschende Block in der Provisorischen Regierung, der aus gemäßigten Sozialisten und Liberalen bestand, konnte jedoch das Scheitern des Leninschen Bolschewismus für die Errichtung einer freiheitlichen Ordnung und Kurs auf eine Beendigung des Krieges nicht zunutze machen. Die Polarisierung zwischen den maßgeblichen Akteuren im Innern sowie die Niederlagen an der Kriegsfront verhinderten dies. Da nun weiterhin die Wahl und Einberufung der Konstituante verschoben wurde, blieb die Legitimationsfrage auf fatale Weise in der Schwebe. Das Chaos der Politik bewirkte, dass der „Putschversuch“ des Generals Kornilow Ende August 1917 im Nebel von Missverständnis und Gerücht verschwamm. Den Bolschewiki aber diente er dazu, sich durch ihre militante Gegenmobilisierung als „Retter der Revolution“ zu gerieren.

    Als Lenin Anfang Oktober nach Petrograd zurückkehren konnte, war Russland endgültig unregierbar geworden. Das Machtvakuum schuf Raum für Lenins Strategie des bewaffneten Aufstandes. Sie bedeutete, dass Lenin und die bolschewistische Partei nicht mehr vorwiegend an die Massen appellierten, um sie zu Straßendemonstrationen aufzurufen. Diese Strategie zielte allein auf die militärische Organisierung der Machtergreifung durch die Bolschewiki und ihre Roten Garden. Wenn dies im Oktober erneut unter der Parole „Alle Macht den Sowjets“ geschah, dann vor dem Hintergrund einer Arbeiterschaft in Petrograd und Moskau, die angesichts des allgemeinen Chaos entpolitisiert und resigniert war. Die Parole war als Banner von Lenins Machtpolitik gar zu durchsichtig geworden. 


    1. 16. Juli nach gregorianischem Kalender, in dieser Gnose wird jedoch die Datierung des julianischen Kalenders benutzt, die in Russland bis 26. Januar 1918 galt und die in der Geschichtswissenschaft geläufiger ist. ↩︎
    2. Rabinovitch, Alexandr (1968): Prelude to Revolution: The Petrograd Bolsheviks and the July 1917 Uprising, Bloomington ↩︎
    3. Pipes, Richard (1992): Die Russische Revolution. Band 2: Die Macht der Bolschewiki, Berlin, S. 148-165 ↩︎
    4. Lorenz, Richard (1981): Einleitung: Die Massen in der Russischen Revolution, in: Ders., zusammen mit von Boetticher, Manfred und Pietrow, Bianka (Hrsg.): Die Russische Revolution 1917: Der Aufstand der Arbeiter, Bauern und Soldaten: Eine Dokumentation. München, S. 19 ↩︎
    5. Buldakov, Vladimir (1997): Krasnaja smuta: Priroda i posledstvija revoljucionnogo nasilija, Moskau, S. 426 ↩︎
    6. Figes, Orlando/Kolonitskii, Boris (1999): Interpreting the Russian Revolution: The Language and Symbols of 1917, New Haven, London, S. 122-126 ↩︎
    7. Lenin, Wladimir (1959): Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution: (Entwurf einer Plattform der proletarischen Partei), April 1917, in: Lenin, Wladimir: Werke, Berlin, Bd. 24, S. 39–77. Hier ausdrücklich der erste Abschnitt: „Der Klassencharakter der jüngsten Revolution“, ebda., S. 39 f. ↩︎
    8. Rabinovitch, S.164-166 ↩︎
    9. Figes, Orlando (1998): Die Tragödie eines Volkes: Die Epoche der russischen Revolution 1891–1924, Berlin, S. 491f. ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Der Sowjetmensch

    Der Sowjetmensch

    „… die hohen Berge versetzt er, / der einfache sowjetische Mensch“ – so ehrt ein berühmtes Lied aus dem Jahr 1937 den Sowjetmenschen. Dieser war in der utopischen Vorstellungswelt der sowjetischen Ideologie ein Idealtyp und fast ein Übermensch. In diesem Sinne wurde der Ausdruck lange verwendet und war fest in der offiziellen Kultur der UdSSR verankert. Doch im Zuge der Perestroika hat die Wissenschaft eine andere Begriffsbedeutung konstatiert, die der ersten genau entgegenläuft: Der einst heldenhafte Sowjetmensch wurde zur Karikatur seiner selbst, dem opportunistischem und untertänigen homo sovieticus.

    Das soziologische Phänomen des Sowjetmenschen jedoch machen Wissenschaftler auch im Russland von heute noch aus.

    Das bolschewistische Konstrukt des Sowjetmenschen geht auf die vielfältigen Ideen-Strömungen in der christlichen Tradition wie auch in der Moderne zurück, die sich mit dem Thema des Neuen Menschen befassten.1 In der frühen Sowjetunion war dieses Konzept in den Reihen der künstlerischen Avantgarde allgegenwärtig und genoss zeitweise den Status einer offiziösen Doktrin der herrschenden Kulturpolitik: Der Sowjetmensch als Prototyp war ganz vom Verstand geleitet, der Sache des Kommunismus ergeben. Er lebte und arbeitete mit höchster Disziplin und Kultur, war fest mit dem Kollektiv verbunden und besaß einen heroischen Willen, fähig, gänzlich die Natur zu beherrschen und alle dem Kommunismus entgegenstehenden Schwierigkeiten und Klassenfeinde zu überwinden.

    Die weitere Entwicklung der Idee fiel in die Zeit der Industrialisierung und der gewaltsamen Kollektivierung der Landwirtschaft seit Ende der 1920er Jahre: Das Stalinsche Programm enthielt sowohl den Aufbau einer neuen Gesellschaft des Sozialismus als auch die Transformation des Menschen zum Sowjetmenschen. Die gesamte Kultur hatte diesem Ziel zu dienen. Eine zentrale Rolle erhielten dabei die Schriftsteller als „Ingenieure der menschlichen Seele“, unter der ideellen Führung von Maxim Gorki. Alle Medien der sowjetischen Massenkultur wurden in den Dienst der psychologischen Umgestaltung des Einzelnen genommen.2

    Dieser hehre Mythos rund um den Sowjetmenschen faszinierte nicht wenige der – vor allem jungen – Leute, die oft aus einfachsten bäuerlichen Verhältnissen in diese „neue Gesellschaft“ geworfen wurden und dort soziale Aufstiegschancen fanden.

    In der Realität stießen die idealen Züge des Sowjetmenschen mit den Widersprüchen des sowjetischen Alltagslebens der 1920er und 1930er Jahre zusammen. Dies waren beispielsweise die anhaltende materielle Not der sozialen Versorgung und der Wohnverhältnisse, der Zwang zu autoritärer Anpassung an Partei-Instanzen, sowie der Forderung, im „Dienst an der Sache“ allenthalben „Feinde des Sozialismus“ zu suchen und zu denunzieren.3 Faktisch lebte der Sowjetmensch also in zwei Welten, die er durch Double Thinking zusammenhielt: der Fähigkeit, in seiner Lebenswelt zwei entgegengesetzte Erfahrungen und Überzeugungen – Mythos und Realität – miteinander zu vereinbaren.4

    Sowjetmensch vs. homo sovieticus (Alexander Sinowjew)

    1981 veröffentlichte der Satiriker und Soziologe Alexander Sinowjew in München den Roman Homo Sovieticus, in dem er Aspekte des politischen und alltäglichen Lebens in der Sowjetunion satirisch beleuchtete: Der Sowjetmensch bei Sinowjew ist im Wesentlichen ein willenloser Opportunist. Mit seinem Sarkasmus legte Sinowjew einen Grundstein für den oft anzutreffenden Spott über die Idee des Sowjetmenschen. 

    Der Sowjetmensch als Prototyp war ganz der Sache des Kommunismus ergeben – Foto © Kommersant
    Der Sowjetmensch als Prototyp war ganz der Sache des Kommunismus ergeben – Foto © Kommersant

    Diese Deutung drang im Zuge der Perestroika auch in die Sowjetunion. Nahezu gleichzeitig begann die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen. Vor allem Juri Lewada (1930–2006), damaliger Leiter des Umfrageinstituts WZIOM, trieb die Forschungen über den „anthropologischen Idealtypus“ zwischen 1989 und 1991 maßgeblich voran.5

    Soziologische Einordnung

    Lewada zählte zu den Persönlichkeitsmerkmalen des Sowjetmenschen unter anderem die Vorstellung von eigener Überlegenheit und Einzigartigkeit,6 gesellschaftlicher Gleichheit, Völkerfreundschaft und vom Staat als fürsorglichen Vater. Angesichts des gemeinsamen hehren Ziels – Aufbau des Kommunismus – garantierte der starke Staat die Richtigkeit der Auserwähltheit, er sorgte sich um seine Bürger und vereinte sie zu einer imperialen Ganzheit, die die Grenzen des Ethnischen wegzuwischen suchte.

    In diesem idealen Modell waren alle Menschen gleich, alle Ethnien waren Bruder-Völker. Das Propaganda-Bild des kapitalistischen Feindes und die schroffe Ablehnung dieses Feindes hielten das Sowjetvolk nach innen zusammen – und halfen so auch, interethnische Spannungen zu unterbinden.

    Um dieses Bild aufrecht zu erhalten, musste der Staat allerdings alle Impulse von außen unterbinden, das Sowjetvolk musste sich selbst isolieren und konnte erst in dieser „erzwungenen Selbstisolation“7 als einzigartig und überlegen aufgehen.

    Abgesehen von dieser abstrakten, feindlichen Außenwelt gab es nur den Staat, außerhalb dessen sich der Sowjetmensch nichts vorstellen konnte.

    Werteverfall und Identitätskrise

    Da die kollektive Identität also aufs Engste mit dem Staat verbunden war, sollte der Zerfall der Sowjetunion auch das Ende des Sowjetmenschen bedeuten. Die Öffnung nach außen mündete in den Verlust des gemeinsamen Feindes, das Innen bröckelte so, dass Wissenschaft und Politik alsbald nahezu einstimmig ein „ideologisches Vakuum“, eine „Identitätskrise“ oder einen „Werteverfall“ konstatierten.

    All das, was zuvor Alles bedeutet hatte, wurde ins Gegenteil verkehrt: Aus dem Glauben an den Vater Staat wurde ein Gefühl der sozialen Schutzlosigkeit, aus der Überlegenheit – ein Gefühl des Abgehängtseins, aus der Fiktion der Gleichheit – eine tiefgreifende Fragmentierung der Gesellschaft. Das Brudervolk zerfiel in Ethnien, und mit dem überall erwachenden Nationalismus bezeichneten sich Ende 1989 nur noch knapp ein Viertel der in einer WZIOM-Studie Befragten mit Stolz als Sowjetmensch.8

    Der Sowjetmensch der post-sowjetischen Zeit

    Folgestudien, die von 1994 bis 2012 durchgeführt wurden, zeigten allerdings, dass das gesellschaftliche Phänomen Sowjetmensch lebendiger ist, als der Staat, der es ins Leben gerufen hatte:9 Sie führten zu dem Ergebnis, dass im neuen Jahrhundert eine neue Generation diesen anthropologischen Idealtypus reproduziert habe. Vor allem solche staatlichen Institutionen wie Armee, Polizei und Geheimdienste, die keiner öffentlichen Kontrolle unterliegen, können sich demnach in großen Teilen der Bevölkerung auf Stereotype und Überzeugungen stützen, die auch schon dem Sowjetmenschen inne waren: autoritärer Staats-Paternalismus, Militarismus und Identifizierung mit dem Großmacht-Status.

    So sei der Sowjetmensch auch heute noch höchst lebendig und präge nach wie vor die politische Kultur Russlands,10 meint Lew Gudkow, der als Direktor des 2003 gegründeten Lewada-Zentrums Juri Lewada nachgefolgt ist.


     

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