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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Presseschau № 27

    Presseschau № 27

    „Es ist Zeit, dem Informationskrieg einen Riegel vorzuschieben“: Mit der Veröffentlichung eines derart markig betitelten Artikels sorgt Alexander Bastrykin, Chef des mächtigen, direkt Präsident Wladimir Putin unterstellten Ermittlungskomitees, dieser Tage für Aufregung in den russischen Medien.

    Bastrykin schreibt im Wochenmagazin Kommersant Vlast, gegen Russland sei ein hybrider Krieg im Gange, geführt von den USA und ihren Verbündeten. Dies hätte unter anderem zur Folge, dass der Islamische Staat gestärkt würde. Diesem hybriden Krieg müsse Moskau eine eigene Staatsideologie entgegensetzen und über eine strengere Internetzensur nach dem Vorbild Chinas und eine Verschärfung von Gesetzen, etwa im Hinblick auf Migranten, nachdenken.

    dekoder hat den Text ins Deutsche übersetzt. In der heutigen Presseschau bringt dekoder eine beispielhafte Auswahl der Reaktionen aus der russischen Medienlandschaft.

    SLON: Die „Kräfte-Perestroika

    Die Politologin Ekaterina Schulmann schreibt im unabhängigen Internetmagazin Slon, dass Ort und Zeitpunkt der Veröffentlichung fast interessanter seien als der Inhalt des „Manifests”. Zwar klinge der politische Teil von Bastrykins Text geradezu unheimlich und die Idee eines reaktionären Isolationismus, wie sie der Chefermittler hier entwerfe, könne getrost mit Nordkorea verglichen werden, so Schulmann. Der Zeitpunkt und die Veröffentlichung in der Presse deuteten jedoch darauf hin, dass es Bastrykin weniger um eine Programmschrift geht. Vielmehr wolle er sich vor allem im Ringen um Kompetenzen und Ressourcen innerhalb der Sicherheitsstrukturen, der sogenannten Silowiki, positionieren:

    „Ein mächtiger neuer Spieler hat jetzt das Kampffeld betreten – die Nationalgarde. Dadurch ändern sich Befugnisse und Zusammensetzung des Innenministeriums. Diese Ereignisse kann man als Kräfte-Perestroika bezeichnen. Man muss daran teilnehmen und dabei mit denjenigem ideologischen Fähnchen wedeln, das – nach Meinung des Autors – derzeit am besten vor Personal- und Budgetkürzungen sowie vor dem Verlust des eigenen Postens schützt. Ein Chef, der sich nicht um sich und sein Amt sorgen muss, würde sich kaum mit derart weitreichenden Aussagen an die Presse wenden. Die Silowiki sind unruhig.“

    MOSKOVSKIJ KOMSOMOLETS: WAS BASTRYKIN VERGESSEN HAT

    Das Massenblatt Moskovskij Komsomolets erinnert den studierten Juristen Bastrykin daran, dass er mit einigen Aspekten seines „Manifests“ gegen die russische Verfassung verstoße. Der Autor des Kommentars befürchtet allerdings, dass Bastrykin ihm bei einem persönlichen Treffen wohl unmissverständlich darlegen würde, dass er als Jurist im Recht sei, während der Autor als Amateur Unrecht habe. Zum Schluss hält er allerdings fest, dass dies Bastrykins persönliche Meinung sei. Garant der Verfassung in Russland sei schlussendlich immer noch Präsident Wladimir Putin.

    „Alexander Iwanowitsch [dek – Bastrykin] könnte folgende Verfassungsklausel interessieren: ‚In der Russischen Föderation wird die ideologische Vielfalt anerkannt. Es darf keine Staats- oder anderweitig verpflichtende Ideologie geben.‘
    Ich würde dem Vorsitzenden des Ermittlungskomitees außerdem empfehlen, sich erneut mit Artikel 29 Absatz 5 unseres Grundgesetzes vertraut zu machen: ‚Die Pressefreiheit wird gewährleistet. Zensur ist verboten.‘ Offensichtlich hat Alexander Iwanowitsch diesen Punkt  auch vergessen.“

    RBK DAILY: WIDER DIE VERFASSUNG

    Die Wirtschaftszeitung RBK Daily hat unterschiedliche Medienvertreter um Reaktionen zu Bastrykins Vorschlägen gebeten, da dessen Zensur-Pläne nach chinesischem Vorbild die Arbeit der Branche empfindlich einschränken würden.
    So wolle Bastrykin in Russland etwa Online-Medien verbieten, welche ganz oder teilweise in ausländischem Besitz seien. Im vergangenen Jahr habe Moskau die Medien zudem bereits härter an die Kandare genommen, wie die Zeitung festhält. Am 1. Februar 2016 ist ein Gesetz in Kraft getreten, welches ausländischen Unternehmen verbietet, mehr als 20 Prozent Anteile an russischen Medienunternehmen zu besitzen. Dies hatte bereits im Vorfeld zu großen Umwälzungen in der Branche geführt. Zudem gebe es technische und gesetzliche Hindernisse für Bastrykins Pläne:

    „Aus Bastrykins Text gehe nicht hervor, ob ein ‚Verbot‘ zum Beispiel bedeuten würde, dass man technisch gesehen keine .com-Domains mehr besuchen kann, sagt der Chefredakteur von Echo Moskvy, Alexej Wenediktow (die amerikanische EM-Holding hält eine Minderheitsbeteiligung an diesem Radiosender). Die Aussage des Vorsitzenden des Ermittlungskomitees zum ‚Maß an Zensur‘ wirke alles andere als verfassungsmäßig, sagt Wenediktow: Zensur sei in Russland durch das Grundgesetz verboten.“

    FORBES: SCHLAGSEITE GEN CHINA

    Andrej Soldatow, Publizist und Internetexperte, weist in der russischen Ausgabe des Wirtschaftsmagazins Forbes darauf hin, dass Bastrykin in Sachen Internetzensur in Russland nicht wirklich auf dem neuesten Stand sei. Schließlich erwähne er in seinen Vorschlägen auch solche, die schon längst umgesetzt seien. Internetfilter in Schulen und Bibliotheken existierten etwa schon lange, auch könnten Internetseiten in Russland bereits ohne Gerichtsentscheid blockiert werden. Bastrykin wolle nun gesetzliche Bestimmungen nach dem Vorbild Chinas kopieren. Die entsprechenden Behörden der beiden Länder tauschten sich aber bereits aus, wie Soldatow schreibt.

    „Der Grund für diese Schlagseite gen China könnte auch darin liegen, dass der russische Ansatz von Internetzensur immer wenig überzeugend wirkt. Man hatte versucht, die Online-Unternehmen einzuschüchtern, und nicht die Nutzer. Das war von 2012 bis 2014 durchaus erfolgreich, doch im Herbst 2015 hatte sich dieser Ansatz erschöpft. (…)

    Laut dem russischen Gesetz hätten internationale Unternehmen zum September 2015 ihre Server auf russisches Territorium verlegen sollen. Die Internet-Dienste, die der Anlass für all das waren – Google, Twitter und Facebook – ließen sich jedoch durchaus Zeit. (…)

    Seit vergangenem Herbst ist in Russland die Nutzerzahl von TOR [dek – Netzwerk zur Anonymisierung der Internetverbindung, über das auch Blockierungen umgangen werden können] explosiv angestiegen, bedingt durch die Blockierung von Rutracker [dek – bekannte Filesharing-Site]. Russland ist mit etwa 220.000 Nutzern pro Tag sofort auf den weltweit zweiten Platz der Zahl von TOR-Nutzern vorgerückt.“

    IZVESTIJA: PUTIN KANNTE TEXT NICHT

    Präsident Wladimir Putin habe Bastrykins Text vor der Veröffentlichung nicht gelesen, zitiert die kremlnahe Izvestija Putins Sprecher Dimitri Peskow. Eine stärkere Regulierung des Internets sei jedoch im Sinne des Kremls.

    „Peskow lehnte es ab, den Inhalt des Materials zu kommentieren und ließ verlauten, er sei nicht Bastrykins Pressesekretär. Die Frage, ob die Position des Leiters des Ermittlungskomitees ein Posten innerhalb der russischen Regierung sei, beantwortete er nicht.

    Der Pressesekretär des Präsidenten merkte noch an, dass der russische Staatschef ‚mehrmals über das Internet als Gebiet des freien Informationsaustauschs gesprochen hat, wobei dieser freie Informationsaustausch in einer bestimmten Weise reglementiert werden muss‘.“

    Beatrice Bösiger aus Moskau

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  • Presseschau № 25

    Presseschau № 25

    Staatliche Medien haben die Panama Papers zunächst kaum thematisiert, einzelne Journalisten der unabhängigen Presse waren dagegen an den Recherchen beteiligt: Sie schreiben nicht nur über Putin-Freund Roldugin, sondern vor allem auch über Oligarchen und hohe Staatsbeamte, die in die undurchsichtigen Finanzgeschäfte verwickelt sind. Passend dazu berichten russische Medien über den gerade erst verabschiedeten Anti-Korruptionsplan und die neu gegründete Nationalgarde.

    Putin und Panama. Was man mit zwei Miliarden Dollar alles machen könnte: Das sind ein Drittel des russischen Gesundheitsbudgets für 2016, oder 1,5 mal soviel Geld wie in Russland für den Straßenbau bis 2020 vorgesehen ist. Man könnte aber auch einen ganzen Monat lang die Rente von zehn Millionen Pensionären bezahlen, wie Current Time zeigt, ein TV-Programm, das von Radio Free Europe und Voice of America co-produziert wird. Zwei Milliarden Dollar beträgt aber auch der Umsatz des Offshore-Netzwerks des russischen Cellisten und guten Freunds des russischen Präsidenten, Sergej Roldugin, wie die Panama Papers, Recherchen des Internationalen Konsortiums für Investigativen Journalismus (ICIJ) zutage förderten. In Russland war die kremlkritische Novaya Gazeta an der Aufarbeitung des nach eigenen Angaben größten Datenlecks der Geschichte beteiligt. Hier geben die Journalisten Einblick in ihre Arbeit.

    Interessant sind die laut Experten suspekten Transaktionen der Firmen von Cellist Roldugin, vor allem wegen dessen enger Freundschaft mit dem russischen Präsidenten. Der Musiker und der zukünftige Präsident lernten sich bereits in den  70er Jahren im damaligen Leningrad kennen. Trotz ihrer unterschiedlichen Karrieren hat ihre Freundschaft offensichtlich gehalten, wie ein Interview zeigt, das Roldugin 2014 der Zeitung Vechernaja Kazan gab. Ein Faktor, welcher die Journalisten des Konsortiums vermuten lässt, dass Roldugin die Gelder für jemand anderen, möglicherweise sogar für Putin selbst verwaltete, auch wenn der Name des Präsidenten selbst nirgendwo in den Panama Papers auftaucht.

    Roldugin ist allerdings nicht der einzige prominente Russe in den Panama Papers. Tatjana Nawka, die Frau von Putins Sprecher Dimitri Peskow, der Sohn von Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew sowie Maxim Lixutow, Vizebürgermeister von Moskau figurieren laut der Novaya Gazeta ebenso in den Dokumenten, wie mehrere Oligarchen, Gouverneure und Parlamentarier. Illegal sind Offshore-Konstruktionen in Russland nicht. Brisanz erhalten die Papiere aber dadurch, dass Beamte weder Auslandstransaktionen durchführen noch Bankkonten im Ausland besitzen dürfen, wie die Wirtschaftszeitung RBC Daily schreibt. 2015 ist zudem ein Gesetz über die „Deoffshorisierung“ in Kraft getreten, laut dem Unternehmen und Privatpersonen die zuständigen Behörden über allfällige Offshore-Vermögen informieren müssen. Dumaabgeordneten ist Geschäftstätigkeit generell verboten, so RBC Daily weiter.

    Die langsame Reaktion der russischen Staatsmedien auf die Panama Papers hat das unabhängige Internetmagazin Slon hier gesammelt. Falls überhaupt, wurde eher über den Offshore-Trust des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko berichtet und im Bezug auf die Firmen gegen russische Staatsbürger meist die offizielle Kreml-Position wiedergegeben: Es handle sich dabei um eine Auftragsarbeit, dahinter stecke die CIA. Die Recherche sei ausschließlich darauf abgezielt gewesen, Russland und vor allem Wladimir Putin zu schaden. In den Papieren stehe nichts neues, so Putins Sprecher, er hätte sich von dem Journalistenkonsortium qualifiziertere Arbeit erwartet. Bereits vergangene Woche hatte Peskow vor einem Informationskrieg gegen Russland gewarnt, mit dem das Land destabilisiert werden soll.

    Nun interessiert sich aber trotzdem die russische Staatsanwaltschaft für die Offshore-Firmen, wie der Kommersant berichtet. Der parteilose Dumaabgeordnete Dimitri Gudkow hat von den staatlichen Nachrichtenagenturen Tass und Rossija Segodnja Auskunft darüber verlangt, warum die Panama Papers derart kurz abgehandelt wurden, so die Zeitung weiter. Er diskutiere die Redaktionspolitik nicht mit Parlamentsabgeordneten, entgegnete darauf Dimitri Kisseljow, umstrittener Chef der staatlichen Medienholding Rossija Segodnja. Von der Zeitung befragte Soziologen bezweifeln, dass die Enthüllungen das Verhältnis der Russen zu ihren Politikern ändern werde. Dass in Russland Korruption existiere, sei hinlänglich bekannt.

    Die Gleichgültigkeit der russischen Öffentlichkeit sei heute die zuverlässigste Verbündete des Kremls, kommentiert der Publizist Oleg Kaschin die Panama Papers. Das gelte auch im Falle des Mordes an Boris Nemzow oder den Krieg in der Ukraine. In naher Zukunft sei das Vermeiden von ähnlichen Enthüllungen eine der dringendsten Aufgaben der russischen Regierung. Möglicherweise kann die russische Medienöffentlichkeit schon bald asymmetrische Entlarvungen über Barack Obama erwarten, so Kaschin weiter. Auch wenn die Enthüllungen laut der Politologin Ekaterina Schulmann nicht auf ein russisches Publikum abziele, da hier kaum ernsthafte Reaktionen folgen würden, gelte es die umfassende Recherche des Konsortiums anzuerkennen. Man müsse schon ein sehr beschränkter Mensch sein, wenn man die Veröffentlichung als Versuch begreift, „etwas Schlechtes über Putin zu sagen“, so die Politologin weiter.

    Korruption lässt Kosten steigen. Zufall oder nicht, wenige Tage vor den Offshore-Enthüllungen, hat Russland den neuen Anti-Korruptionsplan 2016/17 verabschiedet. Wichtigster Punkt: Staatsbedienstete, Leiter gesellschaftlicher Organisationen, aber auch Journalisten sollen ihre Jahreseinkommen offenlegen, damit Interessenskonflikte vermieden werden können. Der renommierte TV-Journalist Wladimir Posner spricht sich dagegen aus, damit würden die Rechte der Journalisten verletzt. Die neugegründete unabhängige Journalistengewerkschaft bedankt sich auf ihrer Facebookseite beim Kreml für die Empfehlungen, habe aber nicht vor, diesen zu folgen.

    Durch Korruption steigen allerdings auch die Lebenshaltungskosten in Russland. Eine Wohnung koste deswegen zehn bis 15 Prozent mehr als ihr tatsächlicher Wert, schreibt die Associated Press. Damit schließt sich auch wieder der Kreis zu den Panama Papers: Laut Alexej Nawalnys Anti-Korruptionsfonds hat etwa die Stadt Moskau einen Vertrag mit dem Unternehmen Transmashholding über die Lieferung neuer Metro-Waggons für die kommenden 30 Jahre abgeschlossen. Ehemaliger Teilhaber von Transmashholding ist der Moskauer Vizebürgermeister Maxim Lixutow. Dessen Name taucht ebenfalls in den Dokumenten auf.

    Neue Sicherheitsstruktur. Russland hat seit dieser Woche eine Nationalgarde, einen entsprechenden Erlass unterzeichnete Putin am Dienstagabend. Geführt wird diese von Viktor Solotow, während langer Jahre Leiter der persönlichen Leibwache des Präsidenten, zuletzt Chef der Truppen des Innenministeriums. Die mit zahlreichen Kompetenzen ausgestattete Behörde soll eine Vielzahl von Aufgaben erfüllen, die vorher von anderen Strukturen des Innenministeriums, etwa der OMON, übernommen wurden: etwa die Sicherung der öffentlichen Ordnung, die Bewachung strategisch wichtiger Objekte und Terrorbekämpfung. Vieles ist laut dem in Lettland beheimateten Oppositionsmedium Meduza im Bezug auf die Behörde aber noch unklar, etwa wie die Kompetenzen unter den Sicherheitsstrukturen aufgeteilt werden. Offizielle Angaben über die Stärke der Nationalgarde sind laut Vedomosti bislang nicht bekannt. Laut dem Kreml hänge diese Neugründung jedoch nicht mit möglichen Unruhen zusammen, welche vor den Parlamentswahlen im September ausbrechen könnten. Spekuliert wird in den russischen Medien trotzdem: Putin fürchte sich vor den Leuten in seiner Umgebung, er brauche jemanden wie Solotow zum Schutz, der ihm bedingungslos ergeben sei, meint etwa Jewgenija Albaz, Chefredakteurin des unabhängigen Wochenmagazins The New Times auf dem Radiosender Echo Moskau.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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    Presseschau № 24

    Neue Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission ist seit Anfang der Woche die Menschenrechtlerin Ella Pamfilowa – eine Besetzung, die mit Blick auf die Parlamentswahlen im September für Gesprächsstoff sorgte. Thematisiert wurde in den Medien außerdem die Rückeroberung der Stadt Palmyra sowie die westliche Berichterstattung über Russland und den russischen Präsidenten.

    Transparentere Wahlen. Ein halbes Jahr ist es noch bis zu den nächsten Dumawahlen im September und die Politiker beginnen, sich dafür in Stellung zu bringen. Parteien werden gegründet, parteiinterne Listen vorbereitet, Kandidaten präsentiert. Anfang der Woche wurde nun der Vorsitz der Zentralen Wahlkommission (ZIK) neu gewählt. Das Gremium, das Referenden, Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vorbereitet und durchführt, wird neu von Ella Pamfilowa präsidiert. Die Menschen müssten Vertrauen in die Wahlen zurückgewinnen und glauben, mit ihrer Stimme einen Unterschied bewirken zu können; an der Arbeit der Komission müsste Grundlegendes geändert werden, sagte die ehemalige Menschenrechtsbeauftragte des russischen Präsidenten nach ihrer ersten Sitzung als Kommissionsvorsitzende. Die 62-Jährige ist eine der bekanntesten Frauen in der russischen Politik, die auch in Oppositionskreisen Respekt genießt. In den 90er Jahren war sie kurzzeitig Sozialministerin und kandidierte 2000 als erste Frau für das Präsidentenamt.  

    Wladimir Tschurow, der Vorgänger von Pamfilowa an der Spitze der ZIK, war eine äußerst kontroverse Figur. Die Entlassung des „Zauberers“ gehörte zu den wichtigsten Forderungen der Protestbewegung nach den letzten Parlamentswahlen 2011, die von massiven Fälschungsvorwürfen begleitet wurden. Immer wieder war Тschurows Gesicht auf Plakaten der Demonstranten zu sehen.

    Trotzdem wird Pamfilowas Wahl nicht als Zugeständnis an die Opposition interpretiert. Globale Veränderungen bei der Führung der ZIK seien unter ihr nicht zu erwarten, schreibt die kremlkritische Novaya Gazeta. Zwar organisiere das Gremium die Wahlen, doch durchgeführt würden sie eigentlich vor Ort in den Regionen und hier würden die lokalen Machthaber alles daran setzen, dass die Kandidaten der Regierungspartei Einiges Russland gewinnen würden. Fair oder nicht – das sei egal, einzig das Resultat zählt, heißt es in der Zeitung weiter.

    Der Kreml habe es gar nicht mehr nötig, Wahlresultate an der Urne zu frisieren, schreibt Andrej Pertsew, Journalist beim Kommersant in einem Kommentar für Carnegie. Einschüchterungstaktiken und strenge Registrierungsregeln für Kandidaten würden dazu führen, dass das „passende“ Resultat bereits lange vor dem tatsächlichen Urnengang feststeht. Einen möglichen Vorgeschmack lieferten bereits die Regionalwahlen vom vergangenen Herbst. Einzig in Kostroma wurde der Opposition die Registrierung gestattet, trotzdem sahen sich die Kandidaten dort einer heftigen Diffamierungskampagne ausgesetzt.

    Rettung von Kulturgütern. Begleitet von Peinigem Pomp hat Moskau vor zwei Wochen den Teilabzug seiner Streitkräfte aus Syrien verkündet. Russische Kampfjets fliegen allerdings nach wie vor Einsätze im Kriegsgebiet und unterstützten die Truppen von Präsident Bashar al-Assad bei der Rückeroberung der Stadt Palmyra. Kriegsberichterstatter des Staatsfernsehens versicherten, der militärische Erfolg des syrischen Regimes wäre ohne die russische Luftwaffe nicht möglich gewesen. Terroristen des Islamischen Staates hätten sich in den antiken Theatern und Tempeln verschanzt, da sie genau gewusst hätten, dass weder die russische noch die syrische Armee die wertvollen Kulturgüter zerstören würden, berichtete der Reporter weiter.

    Nur wenige Stunden nach der „strategisch wichtigen Befreiung Palmyras“ zeigten die Medien Bilder der antiken Denkmäler, welche auch auf der Weltkulturerbe-Liste der UNESCO stehen, und versuchten den Grad der Zerstörung durch den IS abzuschätzen. Russische Experten beeilten sich, Hilfe beim Wiederaufbau und der Entminierung der Stadt zuzusichern. Für den Westen dagegen sei Palmyra uninteressant, so Maria Sacharowa, Sprecherin des Außenministeriums. Ein entsprechender russischer Vorstoß im UNO-Sicherheitsrat sei blockiert worden. Ausschließlich geopolitische Interessen stünden hinter dem Handeln westlicher Länder. Weder an der Befreiung Syriens von Terroristen noch an einer Zusammenarbeit beim Friedensprozess und dem Schutz kultureller Werte seien diese interessiert, sagte Sacharowa weiter.

    Vom Militäreinsatz in Syrien profitiert jedoch nicht zuletzt auch die russische Waffenindustrie. Vor allem die Nachfrage nach dem Boden-Luft-Raketen-System S-400 sei stark gestiegen. Wie die Internetzeitung gazeta.ru berichtet, seien deswegen beim Hersteller Almaz-Antey die freien Tage gestrichen worden. Aufträge im Wert von 56 Milliarden Dollar stehen in den Büchern der russischen Waffenschmieden, das ist Rekord seit 1992, sagte Präsident Wladimir Putin unlängst. Laut Kommersant war Indien 2015 der größte Kunde und gilt neben China als größter Zukunftsmarkt für Rüstungsexporte aus Russland.

    Freund und Feind. Immer wieder kursierten in den letzten Tagen Gerüchte, westliche Medien planten ein Kompromat, eine Kampagne gegen Präsident Putin, um ihm zu schaden. Allzu unverblümt hätten ausländische Journalisten bei Pressekonferenzen nach der Familie des Präsidenten und Freunden aus Putins Jugend gefragt, was Putins Sprecher Dmitri Peskow als Indiz hierfür wertete. Wer allerdings intime Details erwartet hat, wurde bis jetzt enttäuscht. Für russische Experten hat dies jedoch System. Mehrere anti-russischen Kampagnen seien in den vergangenen Monaten in ausländischen Medien lanciert worden, heisst es im Vorwort zum „Antirussischen-Vektor“ des Instituts für Strategische Forschung (RISS) in Moskau. Mit persönlichen Attacken werde beispielloser Druck auf den russischen Präsidenten ausgeübt. All dies deute darauf hin, dass der Informationskrieg gegen Russland eine neue Qualität erreicht habe, heißt es in dem Text weiter.

    Die Studie des Thinktanks, welcher unter anderem für die Präsidialabteilung arbeitet, reiht Länder, Publikationen und Journalisten nach der Intensität ihrer negativen Berichterstattung über Russland. Auffallend: In den deutschen Medien wurde 2015 die Berichterstattung milder. Im Jahr zuvor belegte Deutschland noch den ersten Platz, 2015 hinter Tschechien und Polen den dritten. Positive Tendenzen dominieren dagegen in Syrien und Kuba. Nach welchen Kriterien der „Agressivitätsindex“ erstellt wurde, bleibt allerdings unklar.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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    Presseschau № 23

    Am Dienstag ging nach mehrmonatiger Verhandlung der Prozess gegen die ukrainische Militärpilotin Nadeshda Sawtschenko mit einem Schuldspruch zuende. Und die Ursachen und Hintergründe der tragischen Ereignisse in Brüssel werden auch in Russland diskutiert.

    Hartes Urteil. Nach zwei Tagen, an denen Richter Leonid Stepanenko mit monotoner Stimme das Urteil verlas, verurteilte er am Dienstag die ukrainische Militärpilotin Nadeshda Sawtschenko zu 22 Jahren Haft in einer Strafkolonie. Das Gericht sah es nach einem umstrittenen und international kritisierten Verfahren als erwiesen an, dass Sawtschenko verantwortlich für die Ermordung zweier russischer Journalisten im Juni 2014 in der Ostukraine sei. Sie habe deren Aufenthaltsort an das ukrainische Militär weitergegeben und im Anschluss daran illegal die Grenze nach Russland überquert. Dafür muss sie noch zusätzlich eine Geldstrafe in Höhe von 30.000 Rubel (etwa 400 Euro) zahlen. Der Kommersant fasst die wichtigsten Fakten des Verfahrens noch einmal zusammen.

    Die 34-jährige Offizierin, Berufssoldatin der ukrainischen Armee und Parlamentsabgeordnete, die als erste Frau die Ausbildung zur Kampfpilotin absolvierte und während des Krieges in der Ostukraine in den Reihen des berüchtigten Freiwilligenbataillons Aidar kämpfte, bezeichnete sich selbst bis zum Schluss als unschuldig. Sie erkenne die Hoheit des Gerichts nicht an, werde deshalb das Urteil auch nicht anfechten, so die Pilotin. Wiederholt nutzte Sawtschenko den Gerichtssaal für ihre politischen Botschaften, zeigte dem Gericht ihren Mittelfinger, sagte Moskau einen Maidan voraus und bezeichnete Putin als Diktator und Russland als totalitäres Regime. Unmittelbar vor der eigentlichen Verkündung des Strafmaßes stimmte sie ein ukrainisches Revolutionslied an, ihre Unterstützer entrollten im Gerichtssaal eine ukrainische Flagge, der Ausruf „Ruhm der Ukraine!“ war zu hören.

    Die lange Haftstrafe überrascht nicht. Seit dem Zeitpunkt ihrer Festnahme wird Sawtschenko in den staatsnahen Medien als kaltblütige Tötungsmaschine und „Mörderin“ bezeichnet. Der Korrespondent des kremlnahen Boulevardblattes Komsomolskaja Prawda berichtet über die Geschmacklosigkeit, mit welcher sich anwesende ukrainische Journalisten über ihre ermordeten Kollegen geäußert hätten. Die Verteidigung Sawtschenkos kritisierte jedoch fehlende Beweise und Ungereimtheiten während des Verfahrens. Die Auswertung ihres Mobiltelefons etwa habe klar ergeben, dass sie zum Zeitpunkt des Angriffs, bei dem die beiden Journalisten ums Leben kamen, bereits von prorussischen Separatisten festgehalten wurde. Ein Kämpfer aus Luhansk mit dem Pseudonym Ilim, berichtete vor Kurzem dem in Lettland beheimateten Exilmedium Medusa, er habe Sawtschenko gefangengenommen und sie persönlich Igor Plotnizky, Chef der selbsternannten Volksrepublik Luhansk, übergeben. Vor Gericht wurde er jedoch nicht als Zeuge geladen.

    Die Anwälte Sawtschenkos gehen nun davon aus, dass die Verurteilte nach dem Ende des Prozesses im Rahmen eines Gefangenenaustausches an die Ukraine übergeben werden könnte. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko sagte, Wladimir Putin habe ihm einen solchen Austausch bereits in Aussicht gestellt. Kreml-Sprecher Dimitri Peskow stellte ein solches Versprechen allerdings in Abrede. Er wisse nichts von einer Absprache zwischen den beiden Präsidenten, so Peskow. Spekuliert wird nun, wie hoch Moskau den Preis für eine Rückkehr Sawtschenkos ansetzt. Kiew fordert einen bedingungslosen Gefangenenaustausch „alle gegen alle“: neben Sawtschenko gehöre dazu unter anderem auch der zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilte Regisseur Oleg Senzow. Die Ukraine ist dazu bereit, Moskau Alexander Alexandrow und Jewgeni Jerofejew zu übergeben, die 2015 im Donbass verhaftet wurden. Laut der Ukraine gehören die beiden dem Militärgeheimdienst GRU an, Moskau hat das allerdings nie bestätigt. Eine zweite Theorie wäre laut der kremlkritischen Zeitung Novaya Gazeta, die ein Interview mit einem Sprecher des ukrainischen Geheimdienstes veröffentlichte, dass die Pilotin nur ausgetauscht wird, wenn Russland dafür einen Landweg von Rostow auf die Krim erhält.

    Anschlag in Brüssel. Die tragischen Ereignisse in Brüssel vom Dienstag sorgten auch in Russland für Schlagzeilen. Viele Medien richteten während des ganzen Tages einen Liveticker ein, in den Abendnachrichten im Staatsfernsehen war das „barbarische Verbrechen“ die Hauptnachricht. Die Rede war allerdings nicht von Prävention, Integration oder religiöser Toleranz, sondern vielmehr von Aufrüstung, Grenzschließungen und Polizisten in Hightech-Uniformen. Erneut wurde auch Merkels Willkommenskultur kritisiert. Die Bundeskanzlerin verliere die Unterstützung für ihre Flüchtlingspolitik, rechte Kräfte wie Pegida seien auf dem Vormarsch. Mit dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei hätte nun der türkische Präsident Erdogan die Entscheidungsgewalt darüber, wer nach Europa gelangt und wer nicht, berichtet der Korrespondent des staatlichen Fernsehens weiter.

    Es gab nicht nur  Trauer und Beileidsbekundungen, etwa von Kreml-Chef Putin, sondern russische Politiker versuchten auch, die Tragödie für eigene Zwecke zu nutzen. Die EU müsse nun einsehen, dass ihre Migrationspolitik ein Fehler war, lautete vielfach der Tenor. Die russischen Geheimdienste hätten Belgien vor einem Anschlag gewarnt, hieß es gar auf dem kremlnahen Sender LifeNews. Präsident Putin habe auf der UNO-Vollversammlung für eine internationale Anti-Terrorallianz geworben, der Westen hätte sich dieser aber nicht anschließen wollen, heißt es aus den Reihen russischer Parlamentarier. Das unabhängige kremlkritische Internetfernsehen TV Dozhd hat hier einige Aussagen gesammelt. Maria Sacharowa, Sprecherin des russischen Außenministeriums, warf dem Westen doppelte Standards vor. Mit Verweis auf Syrien meinte sie, man könne nicht zwischen guten und bösen Terroristen unterscheiden. In der Staatsduma sprach sich Wladimir Shirinowski, Parteichef der LDPR, gegen eine Schweigeminute für die Opfer aus. Darauf wies Parlamentssprecher Sergej Naryschkin ihn mit den Worten zurecht, der Westen würde liebend gerne über Humanismus und moralische Werte reden. Für Russland seien das aber nicht nur Worte, deshalb die Gedenkaktion im Parlament, sagte Naryschkin weiter.

    Terrorexport. Die Gefahr von Anschlägen bleibt aber auch in Russland bestehen, kämpfen doch laut dem FSB 2900 Russen in den Reihen des Islamischen Staates. Eine aktuelle Studie der International Crisis Group (ICG) kommt zu dem Schluss, dass von Seiten der russischen Politik gezielt versucht worden ist, die eigenen Terroristen zu „exportieren“. Vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014 wurde der Druck auf den islamistischen Untergrund in Russland verstärkt, viele Extremisten seien darauf nach Syrien oder in den Irak gereist, kommentiert Vedomosti. Russisch sei zur drittwichtigsten Fremdsprache im IS geworden, erzählt Jekaterina Sokirijanskaja von der ICG im Interview mit der kremlkritischen Novaya Gazeta. Kämpfer aus Russland würden innerhalb der Terrormiliz hohe Positionen bekleiden. Von ihnen könnte nach ihrer Rückkehr Gefahr ausgehen, oder sie aktivieren ihre Anhänger, so die Expertin weiter.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org





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    Der Teilabzug russischer Truppen aus Syrien ist in dieser Woche das beherrschende Thema. Das staatliche Fernsehen feiert die zurückkehrenden Soldaten wie Helden und liberale Medien stellen die Frage nach dem Nutzen der Militäroperation. Außerdem: Der Jahrestag des Referendums ist Anlass für Rückblick und Ausblick auf die Krim-Politik und im Nordkaukasus gibt es einen erneuten Anschlag auf die Menschenrechtsorganisation Komitee zur Verhütung von Folter.

    Die Rückkehr. „Sie wurden empfangen wie Helden“, berichtet der Reporter des russischen Staatsfernsehens in den Dienstagsnachrichten enthusiastisch von der Rückkehr der ersten russischen Kampfpiloten aus Syrien. Medial perfekt inszeniert wurden den Piloten zur Begrüßung einer alten Tradition entsprechend Brot und Salz gereicht, jubelnde Menschen schwenkten russische Fähnchen, warfen einen der Piloten in die Luft. Eine „wichtige und nötige Aufgabe“ hätten die Jungs in Syrien erfüllt, zu Recht könnten sie nun sagen „Wir sind daheim“, ging der emotionale Bericht weiter. Am Montagabend hatte Wladimir Putin, beginnend mit dem 15. März 2016, einen Teilabzug der russischen Truppen in Syrien angeordnet. Laut des russischen Präsidenten wurden die wichtigsten Ziele der Militäroperation weitgehend erreicht.

    Syrien dominiert die Schlagzeilen: Der Westen sei durch den Teilabzug überrascht worden, Putin habe Obama erneut überlistet, Russland verlasse Syrien gestärkt und als Sieger, hieß es. Die TV-Nachrichten zeigten Bilder sprachloser Kommentatoren und Pressesprecher der US-Regierung, welche nach Worten suchten. Überraschend kam das Vorgehen Russlands allerdings nicht. Der russische Teilabzug sei nicht ohne vorherige Absprache zwischen Putin und Obama erfolgt, schreibt der Kommersant. Bei seiner Pressekonferenz im Dezember habe Putin bereits darauf hingewiesen, dass eine ständige Truppenpräsenz in Syrien nicht notwendig sei, heißt es weiter.

    Die meisten Medien ziehen eine positive erste Bilanz der fünfeinhalb Monate dauernden Operation, deren Kosten die Wirtschaftszeitung RBK auf rund 38 Milliarden Rubel (circa 487 Millionen Euro) schätzt. Laut Kommersant wurde das Regime von Bashar al-Assad stabilisiert und die Möglichkeit für politische Gespräche geschaffen. Mehr als 2000 russische Syrien-Kämpfer wurden laut offiziellen Angaben getötet und große Teile der Erdölinfrastruktur, über dessen Verkauf sich die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) finanziert, zerstört, hebt das kremlnahe Boulevardblatt Komsomolskaja Prawda hervor. Zudem habe Russland sein oberstes Ziel, die internationale Isolation aufzubrechen, in der sich das Land seit der Annexion der Krim und dem Krieg im Donbass befindet, zum großen Teil erreicht, findet der Militärexperte Alexander Golts: Putin und Obama telefonierten zu Syrien miteinander, die Streitkräfte kooperierten vor Ort. Golts warnt aber auch, dass Putin mit seinen unangekündigten Truppenentsendungen und -abzügen Russland stark schaden könnte. Eine diplomatische Gewinnmitnahme aus Syrien in die Ostukraine gelang Putin bislang nicht. So merkt etwa Vedomosti an, dass die Sanktionen des Westens noch immer in Kraft sind und die Erfüllung der Minsker Vereinbarung noch aussteht.

    Kritischer fällt die Bilanz der Militärintervention naturgemäß bei den unabhängigen, kremlkritischen Medien aus. Das in Lettland beheimatete russische Exilmedium Medusa betont, dass Präsident Assad immer noch im Amt ist und durch Russland gar an den Verhandlungstisch zurückgebombt wurde.

    Die russischen Bomben seien wohl auch weniger präzise gewesen als vom Verteidigungs-ministerium behauptet. Immer wieder gab es Berichte über zivile Opfer. Zudem wird ein Teil Syriens immer noch vom IS kontrolliert. Dazu kommen die diplomatischen Spannungen mit der Türkei, welche seit dem Abschuss des russischen Kampfjets SU-24 am 24. November 2015 für Unruhe sorgen. Zu Ende ist Russlands Syrieneinsatz nicht. Ein Militärkontingent verbleibt in der Levante. Der Marine-Stützpunkt in Tartus und der Militärflughafen bei Latakia sind nach wie vor in Betrieb, das S-400 Raketenabwehrsystem bleibt in Syrien stationiert. Die russische Luftwaffe fliegt zudem nach wie vor Einsätze gegen extremistische Gruppierungen wie den IS. Für das unabhängige, kremlkritische Internetmagazin Slon sind zudem im Bezug auf die 2000 russischen Terroristen, welche angeblich getötet worden seien, noch Fragen offen. Angaben zu deren Herkunft und Identität konnten bislang nicht unabhängig überprüft werden.

    The Show must go on. Mit großer Sorge stellt sich die kremlkritische Novaya Gazeta die Frage, wie es politisch nun weitergeht. Russland sei jetzt einfach nur noch ein Land, nicht mehr Welthauptstadt des Sportes, Verteidiger der Russischen Welt oder wichtigster Kämpfer gegen den internationalen Terrorismus. Gilt nun „The Show must go on“, oder sind die Menschen dazu bereit, den Ausnahmezustand aufzugeben? Ein halbes Jahr vor den Parlamentswahlen warte letzten Endes ein neuer Wettbewerb zur Suche nach äußeren oder inneren Feinden auf die Gesellschaft, schreibt die Novaya Gazeta weiter.

    Jahrestag des Krim-Referendums. Zuvor zelebriert Moskau jedoch die Ereignisse der vergangenen Jahre noch einmal ausführlich. Am 16. März jährte sich zum zweiten Mal die international nicht anerkannte Annexion der Krim. Beim handstreichartig aus Moskau orchestrierten Referendum sprachen sich 97 Prozent für einen Beitritt zur Russischen Föderation aus. Die „Rückkehr der Krim in den Heimathafen“ wird mit Konzerten, Demonstrationen und aufwendig produzierten TV-Dokumentationen begangen.

    Es gibt jedoch auch kritischere Töne, etwa auf dem unabhängigen TV-Sender Doschd, wo mit einem Beitrag an die Nacht vor dem Referendum vor zwei Jahren erinnert wird. Zu sehen sind maskierte Uniformierte, die „höflichen Menschen“, welche ein Hotel in Simferopol durchsuchen, Journalisten an der Arbeit hindern, Kameras und Speichermedien konfiszieren. Bewohner der Krim berichten bei Medusa von plötzlichen Anfeindungen als „Faschist“ ihrer pro-ukrainischen Gesinnung wegen und außerdem vom Alltag auf der isolierten Halbinsel und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die trotz zahlreicher Versprechungen aus Moskau nicht gelöst wurden.

    Bis 2020 will Moskau 708 Milliarden Rubel (circa neun Milliarden Euro) auf der Krim investieren, trotzdem bleibt die Inflation hoch, und wegen der Sanktionen fließen kaum ausländische Investitionen auf die Halbinsel. Eine radikale Maßnahme zur wirtschaftlichen Belebung der Krim hat nun Jewgeni Tunik, Direktor des Instituts zur Analyse der politischen Infrastruktur Premierminister Dimitri Medwedew vorgeschlagen. Tunik will die russische Hauptstadt aus Moskau nach Sewastopol verlegen. Nicht des besseren Klimas oder des Strandzugangs wegen, sondern weil dadurch die internationale Anerkennung der Krim als Teil Russlands beschleunigt und durch den Aufbau einer neuen Infrastruktur sämtliche wirtschaftlichen Probleme auf einen Schlag beseitigt würden.

    Erneut Überfall im Nordkaukasus. In der tschetschenischen Hauptstadt Grosny wurde Igor Kaljapin, Chef der NGO Komitee zur Verhütung von Folter am Mittwochabend in einem Hotel mit Eiern beworfen und grüner Farbe übergossen. Medienberichten zufolge hat sich Kaljapin nun dazu entschlossen, die russische Teilrepublik zu verlassen. Wie berichtet, wurde in der vergangenen Woche in der Nachbarrepublik Inguschetien eine Gruppe von Journalisten und Menschenrechtlern überfallen, zu denen ebenfalls Mitglieder des Komitees zur Verhütung von Folter gehörten. Die tschetschenischen Behörden wiesen Vorwürfe zurück, die antioppositionellen Hetztiraden von Republikchef Ramsan Kadyrow könnten Gewaltausbrüche begünstigen.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org











     

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    Presseschau № 20

    Aufruhr in den sozialen Netzwerken: Am Montag machen Bilder einer Frau die Runde, die mit dem abgeschnittenen Kopf eines Kindes in der Hand in Moskau festgenommen wird. Staatliche TV-Sender schweigen zu diesem Vorfall und müssen sich den Vorwurf der Zensur gefallen lassen. Bei einem Grubenunglück in Workuta sterben 36 Arbeiter. Sind mangelhafte Sicherheitsvorkehrungen die Ursache? Außerdem: Michail Gorbatschow feiert seinen 85. Geburtstag, doch seine Arbeit für das Land bleibt weiterhin umstritten.

    Senden oder nicht? Syrien, eine Pegida-Demonstration in Dresden und die Flüchtlingskrise in Europa. Soweit die erste Viertelstunde in den russischen 20-Uhr-Nachrichten am Dienstag. Kein Wort dagegen über eines der meistdiskutierten Themen der vergangenen Woche: Der Mord der Blutigen Nanny, wie russische Boulevardmedien die Frau tauften, die vor einer Moskauer Metrostation mit dem Kopf eines ermordeten Kindes in der Hand verhaftet wurde. Am Dienstagabend wurden in einer spontanen Gedenkveranstaltung Blumen, Spielzeuge und Ballons vor der Metrostation für das Mädchen niedergelegt.

    Das Schweigen der staatlichen TV-Kanäle führte zu heftigen Diskussionen in den sozialen Netzwerken. Zensurvorwürfe wurden laut, über den angeblichen Fall Lisa in Deutschland hätten die Medien ausführlichst berichtet. Oleg Kaschin sprach auf Slon gar vom „demonstrativsten Akt von Zensur der vergangenen Jahre“. Die Vorwürfe wies Präsidentensprecher Dimitri Peskow umgehend zurück. Die Sender selbst hätten entschieden, nicht über die Bluttat zu berichten, auch wenn der Kreml die Initiative unterstütze. Der bekannte TV-Journalist Wladimir Posner verteidigte die Entscheidung der Staatsmedien mit dem Argument, auch die amerikanischen TV-Stationen hätten nach 9/11 nicht alle Bilder gezeigt. Alexej Nawalny sprach auf seinem Blog ebenfalls von Zensur. Es gehe aber nicht darum, möglichst schockierende Bilder zu zeigen, sondern das Staatsfernsehen solle seiner Pflicht nachkommen und darüber berichten, was passiert.

    Durch das Verschweigen der Bluttat sollten Fremdenhass und rechtsextreme Übergriffe verhindert werden, da die mutmaßliche Täterin aus Usbekistan stammt. Die Strategie zeigte jedoch keinen Erfolg. Online und in den Boulevardmedien wurden Name und Herkunft der Nanny prompt publiziert, ihr Gesicht nicht unkenntlich gemacht, Videos von der Metrostation veröffentlicht. Auf eine Verlinkung möchten wir an dieser Stelle allerdings verzichten. Unzählige Kameras waren bei der Tatortbegehung sowie bei der ersten Anhörung vor Gericht anwesend. Der kremlnahe Sender LifeNews sendete die Bilder genauso wie TV Dozhd. Ob das Staatsfernsehen über das Verbrechen berichtet oder nicht, ist für die Komsomolskaja Prawda deshalb Nebensache. Wer etwas wissen will, informiert sich längst im Internet, das Fernsehen habe seine Vorherrschaft verloren.

    Grubenunglück in Workuta. Die Bluttat im Zentrum der Hauptstadt war jedoch nicht die einzige Tragödie, die sich in der vergangenen Woche in Russland ereignete. Bei mehreren Methanexplosionen in einer Kohlemine in der Republik Komi kamen 36 Arbeiter ums Leben, am 29. Februar wurden die Rettungsarbeiten eingestellt. Auch Tage später hat sich die Situation immer noch nicht gebessert, immer noch brennt es im Schacht und laut dem Katastrophenschutzministerium drohen neue Explosionen. Die Aufsichtsbehörde Rostechnadsor geht von einer natürlichen Unglücksursache aus. Ermittelt wird jedoch auch weiter. Schon in den Tagen vor der Explosion hätten die Arbeiter über eine zu hohe Methankonzentration im Schacht geklagt, schreibt die Novaja Gazeta. Um während einer Schicht mehr Kohle fördern zu können und damit mehr zu verdienen, hätten die Arbeiter möglicherweise selbst die Sensoren der Methandetektoren manipuliert. Immer wieder kommt es bei der Kohleförderung in Russland zu tödlichen Unfällen, die Sicherheitsvorkehrungen in der Branche gelten als mangelhaft. Alleine in den Schächten des Unternehmens Vorkutaugol, das auch den Unglücksschacht in Komi betreibt und zum Stahlriesen Severstal gehört, starben seit 1994 nach Angaben des Katastrophenschutzministeriums 116 Menschen. Jede Million Tonnen Kohle, die während der vergangenen 15 Jahre gefördert wurde, kostete zwei Arbeitern das Leben, schreibt der Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew.

    Jubiläum. Diese Woche gab es aber auch Grund zum Feiern. Michail Gorbatschow feierte am 2. März seinen 85. Geburtstag. Die Novaya Gazeta erinnerte aus diesem Anlass mit Zitaten und Auschnitten aus Reden und Interviews an Gorbatschows Regierungszeit (hier die wichtigsten Ereignisse). Andere Medien veröffentlichten Bildergalerien, TV Dozhd zeigte ein Interview. Auch in der New Times kam der Jubilar selbst zu Wort. Zudem wurden Politiker, Kulturschaffende und Studenten nach ihrer Meinung zu Gorbatschow gefragt. Das Verhältnis der Russen zum ersten und letzten Präsidenten der Sowjetunion bleibt gespalten: „Ich habe keine Meinung über ihn, weil ich kaum etwas weiß. Alles, was nach Stalin kam, ist für mich eine unverständliche Periode bis zur Wahl Putins“, antwortet eine Moskauer Studentin. Auch in Umfragen bleibt die Regierungszeit Gorbatschows eher in schlechter Erinnerung. 67 Prozent bewerten sie negativ, nur für zwölf Prozent überwiegen die positiven Errungenschaften der Perestroika, so eine aktuelle Lewada-Umfrage. In guter Erinnerung bleibt vor allem die Freiheit: 2015 gaben 35 Prozent an, die wichtigste Errungenschaft der Gorbatschow-Zeit sei die Reisefreiheit, 32 Prozent nannten die Redefreiheit.

    Nemzow-Mord. Mehr als 20.000 Menschen gedachten in Moskau am Wochenende des vor einem Jahr in Sichtweite des Kreml ermordeten Oppositionspolitikers. Laut der Behörde sind die Ermittlungen abgeschlossen, eine genaue Rekonstruktion zeigt aber, dass viele Fragen offen bleiben. Nun behauptete Wladimir Markin, Sprecher des Ermittlungskomitees, hinter dem Mord an Boris Nemzow könnten ausländische Anstifter stehen – wird diese Vermutung, die sich auf eine eigenwillige Interpretation eines Communiqués des State Departements stützte, noch weiter eine Rolle spielen? Was aber nächste Woche sicher wichtig wird: Der Prozess gegen die angeklagte ukrainische Pilotin Nadja Sawtschenko neigt sich dem Ende zu, die Staatsanwaltschaft fordert 23 Jahre Haft. Der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow wird trotz aller Rücktrittsankündigungen wohl erneut für das Amt des Präsidenten in der russischen Teilrepublik kandidieren – in Grosny fanden bereits Demonstrationen für seinen Verbleib im Amt statt. Und vor den Dumawahlen 2016 wird das Amt des Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission neu besetzt. Wladimir Tschurow, seit den letzten Dumawahlen 2011 wegen Fälschungsvorwürfen von der Protestbewegung kritisiert, ist zurückgetreten.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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    Nach der Vereinbarung einer Waffenruhe in Syrien beschäftigen sich die russischen Medien mit den Chancen und Risiken dieser Einigung. Innenpolitisch sorgte Oppositionspolitiker Ilja Jaschin mit seinem Bericht über Korruption in Tschetschenien und die Privatarmee des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow für Aufruhr. Außerdem: Die Russen feiern den Tag des Vaterlandsverteidigers mit der Präsentation allerlei neuen Kriegsgeräts.

    Russland und USA verkünden Einigung. Rechtzeitig zum Tag des Vaterlandsverteidigers am 23. Februar konnte Präsident Wladimir Putin eine gemeinsam mit den USA erzielte Einigung über eine Feuerpause in Syrien verkünden. Beide Ereignisse, der Feiertag wie die Einigung zu Syrien, fanden in den Medien ausführlich Platz. Der Kommersant sieht in Syrien einen großen diplomatischen Sieg für Moskau. Die USA seien nach den bereits fünf Monate andauernden Luftschlägen gezwungen, Russland als gleichberechtigten Partner anzuerkennen. Der am 27. Februar in Kraft tretende Waffenstillstand ist allerdings nicht verbindlich. Die bewaffneten Gruppierungen müssen ihre Beteiligung entweder Moskau oder Washington melden. Der sogenannte Islamische Staat und andere Terrorgruppen, welche von der UNO als solche eingestuft wurden, sind explizit davon ausgenommen, schreibt die Zeitung weiter. Gegen diese werde die Militäraktion weitergeführt.

    Nach einem Telefonat mit Putin sicherte auch Syriens Präsident Bashar al-Assad die Bereitschaft seiner Regierung zur Unterstützung der Waffenruhe zu. Kremlnahe Medien sprechen von einer ehrlichen Chance, das Blutvergießen zu beenden. Auch die syrische Bevölkerung wolle Frieden, berichtet die Komsomolskaja Prawda in einer Reportage aus Latakia, wo sich eine russische Militärbasis befindet. Von Versöhnung oder Friedensverhandlungen ist allerdings nicht die Rede. Vielmehr sollen die bewaffneten Kämpfer nun an der Seite der offiziellen syrischen Armee weiter gegen den Islamischen Staat kämpfen, fordert einer der Gesprächspartner der Komsomolskaja Prawda.

    Die Absicht hinter dieser Deeskalationsstrategie scheint klar: Das Ziel der russischen Militäroperation in Syrien wurde erreicht, das Assad-Regime stabilisiert und das von ihm kontrollierte Gebiet vergrößert, analysiert das unabhängige Magazin Slon. Um die umkämpfte Stadt Aleppo einzunehmen, reichen die Kräfte des Regimes jedoch nicht. Lässt sich Russland stärker in den Konflikt hineinziehen, riskiert Moskau damit weitere Sanktionen, schreibt das Magazin weiter. An der Einhaltung der Waffenruhe, wird sich laut Vedomosti zeigen, wie groß der Einfluss Moskaus und Washingtons auf ihre jeweiligen Verbündeten in Syrien ist. Die Positionierung Moskaus neben Washington als zweiter Garant für die Waffenruhe bringt auch Risiken mit sich, so die Zeitung. Kremlkritische Medien wie Meduza bewerten die Chancen für eine stabile Waffenruhe negativ.

    Gefahr für die nationale Sicherheit. Ramsan Kadyrow, tschetschenischer Republikchef, ist aus den russischen Medien kaum mehr wegzudenken: Zum einen wegen der Ermordung des Oppositionspolitikers Boris Nemzows, die sich am 27. Februar zum ersten Mal jährt und deren Spuren nach Tschetschenien führen – die Novaya Gazeta und TV Dozhd berichteten ausführlich über den Stand der Ermittlungen. Zum anderen veröffentlichte Ilja Jaschin, Vizepräsident der Oppositionspartei PARNAS, am Dienstag einen Bericht über die Korruption in der russischen Teilrepublik und über Kadyrows Privatarmee. Slon und The New Times haben die wichtigsten Punkte daraus zusammengefasst. Der Bericht schließt mit 20 Fragen, die Jaschin gerne vom tschetschenischen Machthaber beantwortet haben möchte. Hier die englische Übersetzung. Kadyrow reagierte auf Instagram: Es sei ein „Theater“, das Geschriebene „Geschwätz“, so der Republikchef, der sich damit brüstete, den Bericht noch vor der offiziellen Präsentation in Moskau veröffentlicht zu haben. In einem Radiointerview unterstellte Kadyrow Jaschin, bei seinem Besuch in Grosny mit niemandem gesprochen und bloß Klatsch aus dem Internet gesammelt zu haben. Erneut bedrohte er Jaschin als Volksfeind, die seien überhaupt die größte Gefahr für die nationale Sicherheit. Konsequenzen drohen Kadyrow dafür wohl kaum. Im Gegenteil: 31 Prozent der Russen respektieren den tschetschenischen Machthaber laut einer neuen Umfrage des staatlichen WZIOMInstituts. 2007 waren es gerade einmal elf Prozent. Kadyrow sei für alle Seiten nützlich, deshalb führe er sich so auf, sagt Alexej Malaschenko vom Moskauer Carnegie Center im Moskovski Komsomolets. Um das Problem Tschetschenien zu lösen, müsste Russland ein anderer Staat werden, konstatiert Malaschenko.

    Tag des Vaterlandsverteidigers. Am Dienstag, den 23. Februar feierte Russland seine Armee. Anlässlich des inoffiziellen Männertags (offiziell arbeitsfrei) übte sich das Verteidigungsministerium im zeitgemäßen Rebranding, während das Staatsfernsehen neues Kriegsgerät zeigte und die friedensstiftenden Aspekte der russischen Armee hervorhob: „Wie haben sich unsere Armee und unsere Fähigkeit, die Welt zum Positiven zu verändern, verbessert“, leitete die Moderatorin den Beitrag in den Abendnachrichten ein. Kritischere Stimmen, wie die des Journalisten Oleg Kaschin beklagen dagegen den Militarismus der russischen Gesellschaft, der anlässlich dieses Feiertags durchaus auch seltsame Blüten treibt. Was der Wehrdienst für eine Familie bedeuten kann, schildert auf Radio Svoboda eine Journalistin anhand der Erfahrungen ihres jüngeren Bruders in der sowjetischen Armee. Es wäre zynisch, würde sie ihm, wie in Russland üblich, zum Tag des Vaterlandsverteidigers gratulieren, vor allem seit der Annexion der Krim. Positiv sei einzig, dass ihn seine Zeit in der Armee zum überzeugten Pazifisten gemacht habe.

    Was in der nächsten Woche wichtig wird. Wir beobachten, ob der Waffenstillstand in Syrien eingehalten wird. Am Samstag findet in Moskau ein Gedenkmarsch für Boris Nemzow statt. Zudem muss die russische Regierung bei der Budgetplanung nachbessern. Laut Finanzminister Anton Siluanow fehlen sogar die Mittel für den Anti-Krisenplan.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org









     

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    Presseschau № 17

    Wer ist schuld an der syrischen Flüchtlingskrise? Außenminister Sergej Lawrow sieht Angela Merkel in der Pflicht und bestreitet einen Zusammenhang mit russischen Bombardements. Völlig andere Themen beschäftigen die Moskauer in dieser Woche: In einer Nacht- und Nebelaktion wurden fast 100 Verkaufsbuden abgerissen, die bisher das Stadtbild prägten. Und auch Ramsan Kadyrow macht weiter Schlagzeilen.

    Wer ist Schuld an der Flüchtlingskrise? Die Lage im syrischen Aleppo verschlimmert sich täglich, bereits Zehntausende sind laut internationalen Hilfswerken auf der Flucht. Für den Anstieg der Flüchtlingsströme hat Kanzlerin Angela Merkel bei ihrem Besuch in Ankara die russischen Luftangriffe verantwortlich gemacht. Moskau weist allerdings jegliche Mitschuld an der Katastrophe zurück. Im Gegenteil: Er sei erstaunt über die bedingungslose Unterstützung, welche Merkel der Türkei in der Syrienfrage zukommen lasse, meinte der russische Außenminister Sergej Lawrow in einem Interview mit dem Moskovski Komsomolets. Laut Lawrow seien die Menschen schon lange vor dem Beginn der russischen Luftschläge Anfang September 2015 aus Syrien geflohen. Auch der Kreml sieht keinen Zusammenhang. Für tote Zivilisten durch russische Bombardements gäbe es bislang „keine Beweise, die Vertrauen verdienen würden“, sagte Dimitri Peskow, Sprecher von Präsident Wladimir Putin. Merkel möge in Zukunft vorsichtiger in ihrer Wortwahl sein, so Peskow weiter.

    Regierungsnahe Medien nahmen Merkels Aussage zum Anlass, die deutsche Flüchtlingspolitik zu kritisieren. Die blinde Unterstützung der amerikanischen Nahostpolitik habe Chaos, Terror und einen unaufhaltsamen Flüchtlingsstrom nach Europa gebracht, behauptet die Komsomolskaja Prawda. Merkel sei zynisch, kommentiert das Massenblatt. Das Wüten des Islamischen Staates in Syrien mache das russische Eingreifen notwendig. Für westliche Politiker seien Trauer und Mitgefühl eine Ware, auf die man zurückgreifen könne, wenn es gerade opportun sei, kommt die Zeitung zum Schluss.

    Es gibt aber auch kritische Stimmen: Der Kampf um Aleppo könnte zu einer weiteren Eskalation zwischen Moskau, dem Westen, der Türkei und den arabischen Ländern führen, schreibt etwa Vedomosti. Russland bringe mit seinen Bombardements zusehends seinen Platz am Verhandlungstisch in Gefahr. Laut Slon profitiert Russland immer weniger von dem Militäreinsatz, je länger dieser andauert, denn die Sanktionen sind immer noch in Kraft, und angesichts der Wirtschaftskrise im eigenen Land verpufft auch der Propagandaeffekt aus dem Kampf gegen den Terrorismus. Neueste Zahlen zeichnen kein positives Bild: Die finanziellen Reserven der Russen schrumpfen zusehends. Laut Rosstat überstiegen die Ausgaben der Bürger 2015 zum ersten Mal seit 1998 ihre Einnahmen.

    Die Nacht der langen Schaufeln. Mit Unverständnis wurde so auch in vielen Berichten auf die „Nacht der langen Schaufeln“ reagiert, wie einige Medien die Nacht- und Nebelaktion tauften, in der die Moskauer Stadtregierung 97 Verkaufspavillons abreißen ließ. Es handle sich um eine Vernichtung von Arbeitsplätzen während der Wirtschaftskrise, schreibt Slon. Die Bagger fuhren Montagnacht vor mehreren zentralen Metrostationen auf und rissen Kioske ab, deren Genehmigungsstatus zumindest unklar war. Vorher-Nachher-Bilder gibt es hier zu sehen.

    Aus dem Stadtbild Moskaus sind die kleinen Häuschen nicht wegzudenken. Kaum etwas, was es dort nicht zu kaufen gibt. Das Sortiment reicht von Fastfood über Blumen bis zu neuen Handys. Der Abbruch sei eine Frage der Ästhetik, die Hauptstadt werde damit in Ordnung gebracht, finden Befürworter. Laut Bürgermeister Sergej Sobjanin wurden die Pavillons illegal erbaut, stünden zum Teil auf Gas- und Elektrizitätsleitungen und entsprächen nicht den Sicherheitsvorschriften. Der offizielle Entscheid zum Abriss datiert von Anfang Dezember, alle geltenden Vorschriften seien eingehalten worden, betont die Rossijskaja Gazeta. Als Entschädigung hat die Stadtregierung den Bau neuer Pavillons auf eigene Kosten versprochen, welche dann in einer Auktion neu vergeben werden sollen.

    Keine Frage der Ästhetik sondern eine Frage des Rechts ist die kontrovers diskutierte Aktion dagegen für Vedomosti. Die Kioskbetreiber hätten über rechtsgültige Dokumente verfügt. Gegen den Abbruch gab es noch offene Klagen, berichtet TV Dozhd. Ohne Gerichtsentscheid widerspricht der Abriss gar der russischen Verfassung, schreibt der Kommersant. Für Slon hat Sobjanin mit der Aktion gezeigt, dass das Recht auf Eigentum in Russland nicht existiere. Auf den Punkt brachte der Zeichner Sergej Jolkin die Kritik vieler Moskauer: Auf die wiederholten Beteuerungen Putins und Medwedews zur Unterstützung der Kleinunternehmer folgt – der Bagger. 

    Die Stadtregierung beruft sich jedoch auf ein neues Gesetz, das ihr gestattet, illegal errichtete Gebäude auch ohne Gerichtsentscheid abreißen zu lassen. Die Betreiber sollten sich nicht hinter Papieren verstecken, welche sie auf illegalem Weg erhalten hätten, so Sobjanin auf seiner offiziellen VKontakteSeite.

    Bereits seit mehr als 20 Jahren versucht die Stadt, die Zahl der kleinen Pavillons rigoros zu begrenzen. Die Verkaufspavillons, die in den 1990er Jahren zur Förderung des Kleinunternehmertums von der Stadt zugelassen wurden, haben sich seit damals zu einem lukrativen Geschäft entwickelt.

    Tortenwurf mit Folgen. Michail Kassjanow, Vorsitzender der Oppositionspartei PARNAS wurde in einem Moskauer Restaurant mit einer Torte beworfen. Der Parteichef bringt die Tätlichkeit mit seiner politischen Arbeit und den Drohungen des tschetschenischen Republikchefs Ramsan Kadyrow gegen die Opposition in Verbindung. Als vom Ausland gekaufte Volksfeinde bezeichnete Kadyrow die Oppositionellen. Zuletzt hatte er auf seinem Instagram-Account gar ein Video von Kassjanow veröffentlicht, über welchem ein Fadenkreuz montiert war. Instagram hat das Video später entfernt. Vor dem Restaurant in der Moskauer Innenstadt wurden nach dem Anschlag drei Mitarbeiter des tschetschenischen Innenministeriums verhaftet. Der Kreml sieht keinen Zusammenhang zwischen dem Tortenwurf und den Aussagen Kadyrows und seiner Entourage. Kadyrow selbst hat sich von dem Angriff nicht distanziert. Tags darauf veröffentlichte er ein Foto des russischen Tenors Nikolaj Baskow, ebenfalls mit einer Torte im Gesicht. Nach dem Tortenwurf renne der Sänger von einer internationalen Instanz zur anderen und verlange eine Wiederholung des Banketts, lautet die Bildunterschrift.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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    Presseschau № 15

    Gleich mehrere Themen erregten die Gemüter in dieser Woche: Die angebliche Vergewaltigung des 13-jährigen Mädchens in Berlin schlägt hohe Wellen. Außenminister Lawrow meldet sich zu Wort und wirft den deutschen Behörden eine Vertuschung des Falls vor. Aus dem Londoner Bericht zur Ermordung Alexander Litwinenkos geht hervor, Putin habe dessen Vergiftung wahrscheinlich genehmigt. Auch Ramsan Kadyrow und seine Drohungen sind noch immer Thema. Derweil bilden sich lange Warteschlangen vor der Tretjakow-Galerie.

    Europa und seine Migranten.  Auch diese Woche ist die angebliche Vergewaltigung eines minderjährigen Mädchens in Berlin durch Flüchtlinge in den russischen Medien immer noch Thema. Einer der staatlichen Nachrichtensender, Rossija 24, führt nun die „Affäre Lisa in Berlin“ gar als Themenrubrik auf seiner Homepage. Auslöser war eine Reportage des Ersten Kanals, in welcher angebliche russischstämmige Auswanderer in ziemlich rabiatem Tonfall Selbstjustiz gegenüber Flüchtlingen andeuteten. Auch die russische Regierung hat den Fall kommentiert: Außenminister Lawrow forderte in einer Pressekonferenz Deutschland, dazu auf, den Fall nicht unter den Teppich zu kehren. Und dies, obwohl kein Journalist eine Frage zu dem Thema gestellt hatte.

    In ihren Berichten beriefen sich einige staatliche Medien auf den bisher kaum in Erscheinung getretenen Internationalen Konvent der Russlanddeutschen, zu finden unter der Internetseite www.genosse.su, welcher am Wochenende zu einer Demonstration vor dem Kanzleramt in Berlin gegen Gewalt von Migranten aufrief. Auch Meduza berichtet von den Kundgebungen. Andere wiederum kritisieren abermals die Arbeit der deutschen Medien. Im Massenblatt Komsomolskaja Prawda darf dies der deutsche „politische Experte und Analyst“ Hans Weber, einer der führenden Köpfe der neuen Frankfurter PEGIDA-Gruppe, welcher deutsche Medien allesamt aus Washington gesteuert sieht. Die Korrespondentin und ihr Gesprächspartner sind sich einig: Europa begeht durch den Zuzug der Migranten kollektiven Selbstmord, Rettung könne einzig aus Russland kommen, das versuche, der amerikanischen Dominanz eine multipolare Weltordnung entgegenzusetzen. 

    Andere russische Medien betonen allerdings die Fragwürdigkeit des Berichts. The Insider berichtet über die Anklage wegen möglicher Volksverhetzung gegen einen Korrespondenten im Ersten Kanal durch einen deutschen Anwalt. TV Dozhd besucht Russlanddeutsche in Berlin, welche stolz ihr Stück Heimat in der Fremde präsentieren. Inklusive russischer Lebensmittel, die deutschen seien ja voller Chemie, wie einer der Protagonisten erzählt.

    Radioaktive Spur erreicht Moskau.  Skandal, Lüge und eine Provokation: Mit harten Worten reagierte Moskau  auf den britischen Untersuchungsbericht zum Tode Alexander Litwinenkos. Als größter Aufreger erwies sich die vom Vorsitzenden der Kommission, Richter Robert Owen, erhobene Behauptung, Präsident Wladimir Putin sowie der damalige FSB-Chef Nikolaj Patruschew hätten die 2006 in einer Londoner Hotelbar erfolgte Vergiftung des ehemaligen Geheimagenten „wahrscheinlich genehmigt“ (auf Seite 246 des Reports). Mögliche Hintergründe, warum der nach seiner Flucht aus London 2000 zum Putin-Kritiker gewordene Litwinenko durch radioaktives Polonium vergiftet wurde, liefert The Insider. Wer die damaligen Ereignisse nicht mehr präsent hat, findet hier einen detaillierten Bericht über Litwinenkos letzte Tage in London und sein Zusammentreffen mit den Mordverdächtigen Dimitri Kowtun und Andrej Lugowoi.

    Kremlkritische Medien berichteten ausführlich über den Report. The New Times veröffentlichte ein langes Interview mit der Witwe, Maria Litwinenko. Die Reaktion der staatlichen Medien ließ dagegen auf sich warten. Wie ein Blick in die regierungseigene Rossiskaja Gazeta einen Tag nach Veröffentlichung des Berichts zeigt, waren andere Themen, etwa der Rubelkurs, wichtiger als der Fall Litwinenko. Trotzdem ließ die Rossisjaka Gazeta kein gutes Haar den dem Report; London würde die Brücken zu Moskau abbrechen, heißt es. TV-Sender sehen London und Moskau nun gar am Rande eines neuen Kalten Krieges. Auch Dimitri Kisseljow, Chef der staatlichen Medienholding Rossija Segodnja (dt. Russland Heute), berichtete in seiner sonntäglichen Nachrichtensendung erst nach Terroranschlägen, Syrien, Wirtschaftskrise und Flüchtlingen über die Ergebnisse von Richter Owen. Fazit des Beitrags (ab Minute 41): Litwinenko habe sich bei einer Geheimoperation durch unsachgemäße Handhabung des Poloniums wahrscheinlich selbst vergiftet. Rascher als die Medien reagierte allerdings die Politik. Bereits kurz nach der Veröffentlichung nannte das Außenministerium die Untersuchung eine politisch motivierte Farce. Für die in dem Bericht erhobenen schweren Anschuldigungen gegenüber der russischen Staatsspitze gäbe es keine Beweise, es grenze an Verleumdung und das „Spektakel“ werde die Beziehungen zwischen Russland und Großbritannien weiter belasten, sagte Außenminister Sergej Lawrow während einer Pressekonferenz. Mit seiner Strategie versuche Moskau das Narrativ an sich zu ziehen, schreibt The New Times. Es gehe allerdings nicht nur um die mediale Deutungshoheit, schreibt das Magazin weiter. Konkrete Folgen seien nötig. Es dürfe nicht vergessen werden, dass sich die russische Regierung in der Litwinenko-Affäre eines politischen Gegners entledigt habe und das auch noch außerhalb der russischen Staatsgrenzen.

    Schakale und Volksfeinde. Innenpolitisch richtet sich der Blick immer noch nach Tschetschenien. Am Freitag riefen die Behörden zu einer straff durchorganisierten Kundgebung gegen die liberale Opposition und für den Patrioten Ramsan Kadyrow auf. Bei dem Aufmarsch wiederholte die Entourage des Republikchefs dessen hetzerische Drohungen: „Wir kennen unsere Feinde und die Verräter dieses Landes. Ihre Namen stehen auf einer Liste“, sagte der russische Parlamentsabgeordnete Adam Delimchanow. Hier noch zusätzliche Informationen über den Cousin und engen Vertrauten des Republikoberhaupts. Der Kreml nimmt dies kritiklos hin und erteilt gar noch Rückendeckung. Putin hob dieser Tage die Effizienz Kadyrows als Republikchef hervor, dessen Drohungen hat er nicht kommentiert. Bereits seit Ende 2014 hat die tschetschenische Regierung ihre Hetzkampagne gegen Menschenrechtsaktivisten und politische Gegner verstärkt. Laut The New Times will Kadyrow Putin damit Stärke und auch eine gewisse Unabhängigkeit vom Kreml demonstrieren. 60 Prozent der Russen halten die Aussagen des Republikchefs allerdings für unzulässig, lauten die Ergebnisse einer neuen Lewada-Umfrage. Letztes Jahr stand Kadyrow höher in der Gunst der Russen, was laut Lewada auf seine Position im Ukraine-Konflikt zurückzuführen war. Tschetschenen kämpften auch auf Seite der Separatisten im Donbass. Das sei nun vergessen.

    Eisige Warteschlange. Viel zu reden gab dieser Tage auch eine eingetretene Türe in Moskau. Dahinter stand jedoch kein politischer Vandalismus, vielmehr wurde die Tür von Leuten aufgebrochen, welche sich bei eisigen Temperaturen für den Besuch einer Ausstellung des Malers Walentin Serow anstellten. Das Personal der Tretjakow-Galerie wurde förmlich überrannt, die Schlange reichte mehrere hundert Meter bis zum Eingang des Parks. Das RuNet reagierte spöttisch und verglich die Schlange mit der aktuellen Tagespolitik: „Roskomnadsor hat den Zugang zur Schlange blockiert“, twitterte ein Nutzer in Anspielung auf die staatliche Zensurpolitik im Internet, ein anderer: „Peskow hat die Existenz einer Warteschlange bestritten“. Ein Verweis auf Putins Sprecher Dimitri Peskow und dessen Gabe, auch Offensichtliches erst einmal zu negieren.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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    Presseschau № 14

    Der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow ist mit seinen Äußerungen zur russischen Opposition derzeit in aller Munde. Oppositionelle wehren sich nicht nur in den sozialen Netzwerken, während in Tschetschenien „Pro-Kadyrow“-Flashmobs organisiert werden. Außerdem wird in den Medien kontrovers über die Ereignisse in Köln diskutiert und Deutschland eine düstere Zukunft prognostiziert, während Kulturminister Wladimir Medinski sich gegen Zensurvorwürfe wehrt.

    Kadyrow.  Russland im Januar 2016: Der Krieg in Syrien und die Terrorgefahr durch den Islamischen Staat haben in den Medien der Sorge um den Verfall des Rubels  und einem neuen Skandal um Ramsan Kadyrow Platz gemacht. Der tschetschenische Republikchef attestierte der russischen Opposition in der kremlnahen Zeitung Izvestia unlängst eine „massive Psychose“. Er könnte ihnen bei der Bewältigung ihrer medizinischen Probleme helfen. Im tschetschenischen Dorf Braguny existiere eine exzellente psychiatrische Klinik, heißt es weiter in dem Text, welcher unter Kadyrows Namen veröffentlicht wurde (hier die englische Übersetzung). Oppositionelle seien „Schakale“. Man müsse sich ihnen gegenüber verhalten, wie gegenüber Volksfeinden und Verrätern, so Kadyrow zuvor während einer Pressekonferenz in Grozny.

    Die Provokation aus Grozny wäre wohl ungehört verhallt, wenn nicht Konstantin Sentschenko, Abgeordneter im Stadtparlament der sibirischen Stadt Krasnojarsk, am 14. Januar auf seiner Facebook-Seite Kadyrow seinerseits als Schande für Russland bezeichnet hätte, nur um sich knappe 24 Stunden später für seine Aussage zu entschuldigen. Die Geschichte ist verworren, wirft allerdings ein Schlaglicht auf das Regime von Angst und Unterdrückung, welches der seit 2007 amtierende Kadyrow und seine Getreuen in der russischen Teilrepublik Tschetschenien in den vergangenen Jahren errichtet haben. Und so schrieb dann auch der Abgeordnete Sentschenko, dass ihn ein längeres Gespräch mit einer in ganz Russland bekannten Person von Kadyrows Autorität überzeugt habe. Auf der Instagram-Seite des tschetschenischen Machthabers tauchte daraufhin ein Video auf, in welchem sich Sentschenko für sein Unrecht entschuldigte. Kadyrow kommentierte mit: „Ich nehme an)))))“.

    Ihre Fortsetzung fand die Affäre im Internet, wo sich Oppositionelle den Drohungen aus Grozny entgegenstemmten. Während die Journalisten Xenija Sobtschak und Pawel Lobkow in ihrer Sendung auf dem kremlkritischen Sender TV Dozhd ironische Entschuldigungen an Kadyrow richteten, drohte Magomed Daudow, tschetschenischer Parlamentschef und loyaler Wegbegleiter Kadyrows, auf seiner Instagramseite der Opposition mit Tarzan, dem Hund des Republikchefs und dessen „juckenden Zähnen“. Als Antwort darauf veröffentlichten Vertreter der Opposition wiederum Bilder ihrer Haustiere: der Dumaabgeordnete Dimitri Gudkow etwa ein Bild seines riesigen tibetanischen Mastiffs. In Grozny wurden derweil Demonstrationen zur Unterstützung von Kadyrow organisiert und tschetschenische Medien berichteten von Pro-Kadyrow-Flashmobs. Hier noch eine ausführliche Chronologie der Ereignisse.

    Mit politischen Konsequenzen werden Kadyrow und seine Entourage wohl auch nach dieser Provokation nicht zu rechnen haben. Nach längerem Schweigen aus dem Kreml erteilte Putins Sprecher Dimitri Peskow Kadyrow gar noch Rückendeckung. Dessen Äußerungen würden sich auf die „nicht-systemische Opposition“ beziehen, welche außerhalb der legitimen politischen Arena agiert. Vertreter der außerparlamentarischen Opposition dürften Peskows Worte nicht sonderlich beruhigen. Die Moscow Times weist darauf hin, dass mit dem Begriff „systemische Opposition“  üblicherweise diejenigen Parteien bezeichnet werden, welche im Parlament sitzen und als loyal zum Kreml gelten. Kadyrow selbst will nach Ansicht der russischen Medien rechtzeitig zum Jahrestag der Ermordung von Boris Nemzow, deren Spuren nach Grozny führen, Stärke zeigen, so unter anderem die Novaya Gazeta. Die Moskauer sind in ihrer Meinung über den tschetschenischen Machthaber gespalten, wie Straßeninterviews von TV Dozhd und Radio Svoboda zeigen. Während die einen in ihm jemanden sehen, welcher Demokratie und Verfassung missachtet und eine dunkle Persönlichkeit hat, halten ihn andere für einen prima Politiker, welcher nach den blutigen Kriegen Frieden und Stabilität nach Tschetschenien gebracht habe. Die Russen dürften jedoch nicht den Fehler machen und Kadyrow mit allen Tschetschenen gleichsetzen, schreibt Oleg Kaschin.

    Flüchtlingskrise in der EU. Die Ereignisse in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof sind auch diese Woche nach wie vor Thema in Russland. Zur besten Sendezeit am Wochenende zeigte der Erste Kanal diese Woche nun eine Reportage über Lisa. Das minderjährige Mädchen sei in Berlin von Migranten aus dem Nahen Osten verschleppt und vergewaltigt worden. Die Polizei mache nichts und stelle sich schützend vor die Täter, so die angeblichen Verwandten des Mädchens vor den Kameras des Staatsfernsehens. Die Geschichte schlug in sozialen Netzwerken derart hohe Wellen, dass sich sogar die Berliner Polizei dazu äußerte: Das Mädchen sei zwar kurzzeitig als vermisst gemeldet worden, eine Entführung oder eine Vergewaltigung habe aber nicht stattgefunden. Ein Verfahren wurde kurz darauf eingestellt. Vor diesem Hintergrund wirkt der TV-Beitrag äußerst zweifelhaft, wie auch TV Dozhd berichtete. Für seine Propagandazwecke nimmt es das russische Staatsfernsehen mit der Wahrheit jedoch nicht immer allzu genau. Das zeigt auch das Beispiel, welches der russische Journalist  Alexej Kowaljow auf seinem Blog schildert.

    Diese Kritik hindert den russischen Boulevard jedoch nicht daran, Deutschland eine düstere Zukunft zu prognostizieren. In ihrem Bericht aus Nürnberg schildert die Korrespondentin der Komsomolskaja Prawda die ihrer Meinung nach absurde Willkommenskultur, wenn in Geschäften Flüchtlinge dazu aufgefordert werden, gleich noch ihre Familie mitzubringen. Man wisse ja, wie groß Flüchtlingsfamilien normalerweise seien. Ändere sich nichts, bleibe Deutschland nur die Wahl zwischen Faschismus und Islamismus, lautet das Fazit des Artikels. Rossija 24, einer der staatlichen Nachrichtensender, hat auf seiner Homepage gar eine eigene Themenrubrik eingerichtet. Unter dem Titel Angriffe in Deutschland berichtet der Sender über angeblich durch Flüchtlinge verübte Verbrechen. Laut dem Sender befinde sich Europa am Rande eines Bürgerkrieges.

    Zensur. Zum Abschluss der heutigen Presseschau noch ein Nachtrag zu vergangener Woche. Die Bücherverbrennungen in der Republik Komi, der Bücher zum Opfer fielen, welche mit Unterstützung des Fonds George Soros herausgegeben worden waren, sorgten für heftige Kritik. Grund für die Aktion war, dass der Fonds 2015 auf die Liste der in Russland unerwünschten Оrganisationen gelandet war. Das Kulturministerium nannte die Verbrennung zwar unzulässig, sieht aber keinen Grund zum Kurswechsel. In einem Interview mit der Nesavisimaja Gazeta stellte Kulturminister Wladimir Medinski dieser Tage klar, es gäbe keine Zensur in Russland. Niemand beschäftige sich in seinem Ministerium damit.

    PS. Aktuell widmen sich fast alle Medien den Ergebnissen des britischen Untersuchungsberichts über die Ermordung des ehemaligen russischen Spions Alexander Litwinenko 2006, hier der Bericht der BBC. In dem Bericht wird die These bekräftigt, dass der ehemalige KGB-Agent Andrej Lugowoi und der Geschäftsmann Dimitri Kowtun den Mord ausgeführt haben, außerdem geht der Bericht von einer Billigung durch den damaligen Leiter des Inlandsgeheimdienstes FSB Nikolaj Patruschew und Präsident Wladimir Putin aus. In einer ersten Reaktion nannte das Außenministerium in Moskau die Untersuchungen politisch motiviert. Doch da die Artikel erst im Erscheinen begriffen sind, davon mehr in der nächsten Presseschau.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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