Alexandra Kollontai (1872–1952), Generalstochter aus wohlhabendem Haus, Berufsrevolutionärin und Vorkämpferin der Frauenemanzipation, Revolutionsteilnehmerin, Volkskommissarin für Sozialfürsorge in der ersten sowjetrussischen Regierung, scharfe Kritikerin des Friedens von Brest-Litowsk, Leiterin der Frauenabteilung im Zentralkomitee (ZK) der RKP(b), Mitglied der „Arbeiteropposition“, welterste Diplomatin und außerdem Literatin – nach eigener Einschätzung hat sie „nicht nur ein, sondern viele Leben gelebt“.1 Früh zeigte sich ihr starkes Verlangen nach Selbstbestimmung, im Privaten wie auf der politischen Bühne. Legendär bereits zu Lebzeiten, faszinierte sie viele Menschen mit bemerkenswerter Schönheit, eleganter Kleidung und temperamentvollem Auftreten, hat Köpfe verdreht, Herzen entflammt, aber auch für Klatsch und Empörung gesorgt. Viele ihrer politischen Positionen wurden kontrovers diskutiert, ja bewusst verzerrt, lächerlich gemacht und schließlich geächtet. Bis in die Gegenwart sind ihre Schriften nicht gefeit vor Vereinnahmung und einseitiger Rezeption.
Kein Leben im Käfig
Ein großer Drang, der elterlichen Überbehütung zu entkommen, trieb die erst 21-jährige Alexandra Domontowitsch in eine nicht standesgemäße Ehe mit einem Vetter, dem mittellosen Ingenieur Wladimir Kollontai. Trotz aller Liebe empfand sie nach kurzer Zeit das konventionelle Dasein einer Hausfrau und Mutter als bedrückenden Käfig und verließ Mann und Sohn, um fortan eigene, autonome Wege zu gehen. Diese führten sie wie so viele junge Frauen aus dem Russischen Reich zunächst zum Studium nach Zürich. Doch nicht die Wissenschaft wurde ihr Lebenselixier, sondern die europäische sozialistische Bewegung, deren führende Vertreter sie in der Schweiz kennengelernt hatte. Diese Verbindung erwies sich als dauerhaft – einen ebenbürtigen Partner für eine langjährig erfüllende Liebesbeziehung hingegen hat sie nie gefunden – als ökonomisch und geistig unabhängige „neue Frau“ traf sie meist Männer vom alten Schlage.2
Berufsrevolutionärin in eigener Sache
Eines ihrer vielen Leben führte Kollontai bereits vor der Jahrhundertwende in die russische Sozialdemokratie (RSDRP), während ihres Exils in Westeuropa (1908–1917) außerdem in die SPD und zu den französischen Sozialisten. Ausgestattet mit einem ausgeprägten Selbstbewusstsein, großem Kommunikationstalent und ausgezeichneter Kenntnis von fünf Fremdsprachen, wirkte sie ebenso leidenschaftlich wie unermüdlich als Autorin, Publizistin, Rednerin und Organisatorin. Dabei ließ sie sich von den Ideen des „Vaters des russischen Marxismus“, Georgi Plechanow, inspirieren, aber auch von Persönlichkeiten wie dem Schriftsteller Maxim Gorki. Viele Denkanstöße lieferten ihr auch die Lafargues in Frankreich, die Webbs in England sowie die führenden deutschen Sozialisten.
1903 entstand ihre erste eigene grundlegende Untersuchung über die finnische Arbeiterschaft, bis sie – stark beeinflusst durch Bebels Grundlagenwerk Die Frau und der Sozialismus (1879) und die Organisationserfolge von Clara Zetkin unter deutschen proletarischen Frauen – die „Frauenfrage“ als ihr eigenes Haupt- und Lebensthema entdeckte.
Theoretikerin und Praktikerin der Frauenbefreiung
Kollontai selbst bewertete rückblickend den Kampf für die Befreiung der Frauen als „wertvollsten Beitrag“ ihrer sechs Jahrzehnte umfassenden politischen Tätigkeit3 – dabei hatte das, was die Sowjetunion unter Stalin als „vollendete Emanzipation“ ausgab, mit ihren visionären Vorstellungen von Frauenbefreiung kaum etwas gemein. Da es nie eine Gesamtausgabe ihrer wichtigsten politischen Schriften gab, sind manche Werke heute nur noch mit Mühe aufzutreiben. Einige Titel, darunter auch das belletristische Werk, wurden in den 1970er Jahren durch die Neue Frauenbewegung der BRD wiederentdeckt und in deutscher Sprache publiziert.4
Für Kollontai war die Befreiung der Frauen keine unvermeidliche Folge der Revolution und erschöpfte sich mitnichten in ökonomischer Teilhabe und rechtlich-sozialer Gleichstellung. Vielmehr sollte die sozialistische Gesellschaft einen neuen Typ von Frau hervorbringen, der auf Grund der eigenen inneren und äußeren Unabhängigkeit qualitativ neuartige Beziehungen zum anderen Geschlecht anstrebte. In der Mutterschaft sah Kollontai zwar eine wichtige soziale Funktion, aber ebenfalls nicht den Kern weiblichen Daseins. Dieser war vielmehr: „die soziale Idee, die Wissenschaft, der Beruf, das Schaffen“.5 Ein solches Selbstverständnis verlangte den Frauen eine gewaltige psychische Leistung ab, nämlich das Loslassen alles „Weibchenhaften“.6 Aber auch die Männer sollten unter diametral veränderten Bedingungen nicht dieselben („alten Iwans“) bleiben.
Die russischen Bäuerinnen konnten mit solch utopischen Zukunftsentwürfen wenig anfangen und lehnten sie ab. Das männliche Parteiestablishment war der Propaganda für die Revolutionierung der menschlichen Beziehungen auch bald überdrüssig – es lebte sich als Mann ja ganz gut mit überkommenen Beziehungsformen. Frühsowjetische Ideen von der Vergesellschaftung der Hausarbeit und Kindererziehung fanden ebenso wenig Widerhall in der Bevölkerung, die Debatten über die Revolutionierung des Alltagslebens (byt) verstummten noch in den 1920er Jahren. Kollontai setzte sich auch für freie Liebe und Sexualität ein, doch bald wurden solche Ideale durch eine konservative Sexualmoral und die Stärkung der Familie als Institution abgelöst.
Vertriebene oder erfolgreiche Diplomatin
Die Jahre 1922 bis 1945 verbrachte Alexandra Kollontai als sowjetische Diplomatin in Norwegen (1922–1926, 1927–1930), Mexiko (1926/27) und vor allem in Schweden (1930–1945). Die feministisch orientierte Historiographie bewertete ihre Diplomatentätigkeit als unfreiwilliges Exil oder Strafversetzung. Dabei ging der Wunsch, fortan im Ausland zu wirken, von Kollontai selbst aus. Ihre (zweite) Ehe mit Pawel Dybenko war gescheitert, ebenso der Versuch, im Rahmen der Arbeiteropposition eine echte proletarische Demokratie gegen den Führungsanspruch der Partei zu verteidigen und sich für innerparteiliche Kritik stark zu machen. Nach all diesen quälenden Niederlagen wollte sie Abstand gewinnen, sich neu orientieren und bat deshalb Stalin, damals Generalsekretär der Kommunistischen Partei, um eine Aufgabe im Ausland, etwa als Korrespondentin. Stattdessen wurde sie Legationsrätin an der sowjetischen Handelsvertretung in Norwegen, später Leiterin der Bevollmächtigten Vertretung. Die längste Zeit ihrer diplomatischen Laufbahn verbrachte sie als sowjetische Gesandte in Schweden – seit 1943 im Rang einer Botschafterin und Doyenne des diplomatischen Corps. In ihren letzten Lebensjahren als Beraterin des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten blieben ihr der Botschaftertitel und eine sehr auskömmliche Versorgung erhalten. Bis kurz vor ihrem Tod bearbeitete, das heißt bereinigte sie ihre Memoiren, auf deren Erscheinen sie (vergeblich) hoffte. Auch zu ihrem 100. Geburtstag 1972 gab es noch keine Veröffentlichung.7 Das Jubiläumsjahr war der politischen Führung lediglich eine Briefmarke wert. Doch 1969 kam ein Spielfilm über ihre diplomatische Tätigkeit ins Kino, der später wegen seiner Popularität auch im TV lief.8
Alexandra Kollontai, deren Leben schon lange von schwerer Krankheit und zunehmender Vereinsamung getrübt war, verstarb am 9. März 1952 in Moskau. Obwohl international geachtet und hochdekoriert, versagte ihr diePrawdaeinen Nachruf. Das Ausland dagegen reagierte mit Etikette und Anstand auf ihren Tod. Schließlich konnte sie einige maßgebliche Erfolge vorweisen. Die Vermittlertätigkeit bei den sowjetisch-finnischen Friedensschlüssen 1940 und 1944 hatte ihr sogar die zweimalige Nominierung für den Friedensnobelpreis eingetragen. Kollontais größte Leistung aber war die vorbildlose Selbstbehauptung in einer klassischen Männerdomäne sowie ihr geschicktes Mitwirken an der Ausgestaltung der frühen sowjetischen Diplomatie – ohne jede Kenntnis diplomatischer Gepflogenheiten, dafür aber mit einem gewissen Eigensinn. Ihre adlige Erziehung, umfassende Bildung, Fremdsprachenkenntnisse, Gewandtheit, Diskretion und zugleich Kontaktfreudigkeit im Umgang mit Menschen glichen die fehlende diplomatische Ausbildung spielend aus. Als Diplomatin ging sie häufig bis an die Grenzen ihrer Gestaltungsspielräume und gelegentlich sogar darüber hinaus. Natürlich machte ihr die immer weitere Beschneidung zu schaffen, sie litt unter der ständigen Bespitzelung durch den NKWD. Mit Beginn des Großen Terrors musste sie gar um ihr Leben fürchten. Die meisten alten Kampfgefährten, insbesondere Diplomaten, fielen ihm zum Opfer.
Loyale Überlebende
Ob sie nur deshalb lebend davonkam, weil Stalin, dem sie in persönlichen Briefen sowie in ihren Aufzeichnungen eindrucksvoll zu schmeicheln wusste, seine Hand über sie hielt oder vielmehr weil sie, wie der spätere Außenminister Molotow meinte, ihnen nicht geschadet habe9, muss offen bleiben. Jedenfalls ertrug Kollontai die Ermordung zweier ihrer früheren Partner (Alexander Schljapnikow, Pawel Dybenko) in stoischer Trauer, wohl auch geplagt von nagenden Zweifeln. Doch wie so viele Davongekommene ihrer Generation fand sie nicht die Kraft, sich von dem Regime Stalins loszusagen, sondern hielt ihm bis zu ihrem Lebensende allem Anschein nach die Treue.
Quellen:
Kollontai, Alexandra (1972): Die Arbeiteropposition (1921), in: Kool, F./Oberländer, E. (Hrsg.) Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, Bd. 1, München (Lizenzausgabe), S. 182–240
Kollontai, Alexandra (1975): Die Situation der Frau in der gesellschaftlichen Entwicklung: Vierzehn Vorlesungen vor Arbeiterinnen und Bäuerinnen an der Sverdlov-Universität 1921, Frankfurt am Main
Kollontai, Alexandra (1979): Der weite Weg: Erzählungen, Aufsätze, Kommentare, Frankfurt am Main
Zum Weiterlesen:
Bonwetsch, Bernd (1990): „Madame Kollontai“: Die erste Diplomatin der Welt, in: von Soden, Kristine (Hrsg.): Lust und Last: Sowjetische Frauen von Alexandra Kollontai bis heute, Berlin, S. 52–55
Clements, Barbara Evans (1979): Bolshevik Feminist: The Life of Aleksandra Kollontai, London
Farnsworth, Beatrice (1980): Aleksandra Kollontai: Socialism, Feminism, and the Bolshevik Revolution, Stanford
Fuchs, Marina (2001): Die „geheime Verbindung“: Briefe von Aleksandra Kollontaj an Vjačeslav Molotov 1926–1952: Zur Illustration der Rolle des „Patron-Klient“-Verhältnisses im politischen Mechanismus der Sowjetunion, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 5 (1), S. 295–356
Porter, Cathy (1980): Alexandra Kollontai: A Biography, London
Raether, Gabriele (1986): Alexandra Kollontai zur Einführung, Hamburg
Schejnis, Sinowi (1984): Alexandra Kollontai: Das Leben einer ungewöhnlichen Frau, Frankfurt am Main
Steiner, Helmut (2002): Rosa Luxemburg und Alexandra Kollontai: Gemeinsamkeiten und Unterschiede zweier sozialistischer Politikerinnen, Berlin
Stites, Richard (1991): The Women’s Liberation Movement in Russia: Feminism, Nihilism, and Bolshevism, 1860–1930, Princeton (New Edition)
Kollontai, Alexandra (1973): Wassilissa Malygina: Erzählungen über «Wege der Liebe» im frühen Sowjet-Russland/Frauen zwischen Ehe und Revolution, Frankfurt am Main; dies. (1980): Wege der Liebe: Drei Erzählungen (Lizenzausgabe), Frankfurt am Main ↩︎
Kollontai, Alexandra (1977): Die neue Moral und die Arbeiterklasse, Münster, S. 36 ↩︎
Sie erschienen erst 2001/2003 in russischer/deutscher Sprache: Kollontai, Alexandra (2003): Mein Leben in der Diplomatie: Aufzeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1945, Berlin ↩︎
Posol Sovetskogo Sojuza (Botschafter der Sowjetunion), 1969. Vgl. Steiner, Helmut (2004): Alexandra M. Kollontai (1872–1952) über Theorie und Praxis des Sozialismus, in: Leibniz-Sozietät/Sitzungsberichte 63, S. 123 ↩︎
Schattenberg, Susanne (2013): Ein Diplomat im Kleid: Aleksandra Kollontaj und die sowjetische Diplomatie, in: Bastian, Corina et al. (Hrsg.): Das Geschlecht der Diplomatie, Köln, S. 233 ↩︎
Das bis heute populärste sowjetische Kriegsplakat zeigt die entschlossen blickende Mutter Heimat im roten Gewand, die nach dem deutschen Überfall die Söhne des Landes an die Front ruft. In der rechten Hand hält sie den Text des Kriegseides, die linke Hand ist auffordernd erhoben. Hinter ihrem Rücken sieht man einen Wald aus Gewehren mit Bajonetten. Die Verteidigung der Heimat ist damit als Männersache definiert. Entsprechend häufig stellt die Bildpropaganda der Kriegsjahre Frauen (und Kinder) als verletzliche Opfer der deutschen Aggression dar und fordert Frauen auf, die eingezogenen Männer als Arbeitskräfte in Industrie und Landwirtschaft zu ersetzen. Gelegentlich würdigt die politische Ikonographie auch Frauen der Roten Armee bzw. Partisaninnen.1 In der am heroischen Großen orientierten Erinnerungskultur des Krieges finden Frauen aber nur geringen Raum.
„Mutter Heimat ruft!“ Bild – gemeinfrei/Wikipedia
In allen beteiligten Staaten führte der Krieg zu dramatischen Veränderungen im Leben der Bevölkerung. Allerdings reichten seine Auswirkungen in der Sowjetunion, die das Kriegsgeschehen jahrelang auf eigenem Territorium erdulden musste, weiter und tiefer als irgendwo sonst. Hier bekam auch die weibliche Bevölkerungsmehrheit die Anforderungen und Folgen des Krieges stark und unmittelbar zu spüren. Zum einen als Kriegsopfer, die mit dem Verlust von Angehörigen zurechtkommen mussten. Zum anderen als Kriegsmobilisierte für Industrie und Landwirtschaft oder als Angehörige der Roten Armee. Die populäre Propagandaformel „Männer an die Front – Frauen an die Heimatfront“ bildete die Realität nicht ganz zutreffend ab. Traditionelle Geschlechterrollen verschwammen während des Krieges durchaus.
Schwerstarbeit ohne Rücksicht
Der Frauenanteil an der Erwerbsbevölkerung war im Zuge der Stalinschen Industrialisierungspolitik rasant angestiegen und machte 1940 bereits knapp 40 Prozent aus.2 Der Krieg führte dann zu einer weiteren deutlichen Steigerung: Im Jahr 1945 waren über die Hälfte aller Beschäftigten Frauen.3Darin spiegelte sich nicht nur die Wirksamkeit staatlicher Propaganda. Vielmehr wurden mit den staatlichen Erlassen zur allgemeinen Arbeitspflicht von Februar/September 1942 alle Frauen im Alter von 16 bis 45 (Februar 1942) und schließlich von 14 bis 50 Jahren (September 1942) zur Arbeit in der Kriegswirtschaft mobilisiert.4
In der Tat „ersetzten“ Frauen die einberufenen Männer sowohl in der Industrie als auch, und vor allem, in der Landwirtschaft. Hier (etwa im Bergbau) wie dort bedeutete das: Schwerstarbeit ohne Rücksicht auf eigentlich geltende Arbeitsschutzgesetze. Landmaschinen und Zugtiere waren sofort zu Kriegsbeginn für den Armeebedarf konfisziert worden,5 so dass sich Frauen auf vielen Dörfern selbst vor den Pflug spannen mussten, um die Frühjahrsaussaat vorzubereiten. In der Industrie wurde der Arbeitstag spürbar verlängert, eine Urlaubssperre verhängt und die Arbeitsgesetzgebung mehrfach verschärft: Bereits geringfügige Regelverletzungen (Verspätungen, unerlaubte Abwesenheit vom Arbeitsplatz) konnten harsche Strafen (mehrere Jahre Straflager) nach sich ziehen.
Frauen in der Roten Armee
Eine Wehrpflicht für Frauen bestand nicht, aber laut Wehrgesetz vom 1. September 1939 konnten Frauen mit medizinischer oder technischer Ausbildung im Kriegsfall sofort einberufen werden. Und das geschah auch. Aber erst nach den dramatischen Anfangsniederlagen und Millionenverlusten griff der Staat ab 1942 zum Instrument der Massenmobilisierung von Frauen in die Rote Armee, überwiegend für nichtkombattante Aufgaben. Im Gegenzug sollten möglichst viele Männer in den unmittelbaren Kampfeinsatz vorrücken. Zwar wurde die Zielvorgabe von 700.000 „Freiwilligen“ deutlich unterschritten, aber über mehrere große (damals geheim gehaltene) Mobilisierungskampagnen in den Jahren 1942–43 gelangten Hunderttausende junge Mädchen und Frauen in die sowjetischen Streitkräfte. Die meisten Soldatinnen arbeiteten im Sanitätswesen oder im technischen Bereich, viele gehörten als Köchinnen und Wäscherinnen zu den rückwärtigen Diensten. Aber einige Zehntausend übten auch kombattante Funktionen aus.6
Neuere Schätzungen sprechen von rund 1 Million Frauen, die in Uniform am Krieg teilgenommen haben sollen, was einem durchschnittlichen Armeeanteil von ca. 3 Prozent entspricht.7 Es war ein sowjetisches Spezifikum, dass sich eine Minderheit aller Soldatinnen sogar bewaffnet am Kriegsgeschehen beteiligte: als Kampfpilotinnen, Scharfschützinnen („Flintenweiber“), Panzerfahrerinnen sowie bei der Infanterie. Sie kämpften in gemischten Einheiten und auch in reinen Frauenstaffeln, vor allem bei der Luftwaffe.
Verschwimmen der Geschlechtsrollen
Überhaupt war die Grenze zwischen dem angeblich traditionell weiblich-unterstützenden Sanitätsdienst, manch anderen Hilfsdiensten und kämpfender Truppe im sowjetischen Kriegsalltag nicht starr, sondern fließend. Selbst Krankenschwestern verrichteten ihre Arbeit nicht in einem geschützten Bereich und in adrett-weiblicher Kleidung, sondern mussten, selbst bewaffnet, die Verwundeten (samt Waffe) direkt vom Schlachtfeld bergen und im Kampfgetümmel notdürftig versorgen. Sie arbeiteten also unmittelbar an der Front und bezahlten diesen gefährlichen Einsatz oft selbst mit dem Leben.8 Schwerstarbeit und Lebensgefahr kennzeichneten also selbst „zivil“ anmutende Bereiche wie das Sanitätswesen oder die Fliegerei – die Kriegspropaganda hat diesen bitteren Alltag jedoch verharmlost und die Tätigkeit von Frauen an der Front entsprechend traditioneller Vorstellungen von Geschlechterrollen in Szene gesetzt.9 Eine Frauenfigur erscheint Jahre später auch in den 85 bzw. 62 Meter hohen Kolossalstatuen der Mutter Heimat mit erhobenem Schwert, die im Zuge der offiziellen Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg 1967 auf dem Mamajew-Kurgan im ehemaligen Stalingrad und 1981 im Zentrum des Kiewer Gedenkkomplexes errichtet wurden. Bei diesen Frauenfiguren handelt es sich um symbolisch-allegorische Darstellungen der wehrhaften und schließlich siegreichen Heimat, die die Befreiung bewirkt hat. Über die tatsächlichen Rollen von Frauen im Krieg sagen sie nichts.
Sowjetische Jeanne d’Arc
Das Medium Film ist schon früh weiter gegangen als die Historiographie oder die offizielle Erinnerungskultur. So rückten die Partisanenfilme aus den Jahren 1943 und 1944 (Raduga; Ona zaschtschischtschajet rodinu) kämpfende Frauen in den Mittelpunkt. Die Filmheldinnen wurden im Kampf gegen die Nationalsozialisten von diesen gefoltert und getötet und damit zu Märtyrerinnen der gerechten Sache, der sie dienten. Im Film Soja (1944) handelte es sich um die Partisanin Soja Kosmodemjanskaja. Um sie entstand in den Kriegs- und Nachkriegsjahren ein regelrechter Kult, der sie quasi als sowjetische Jeanne d’Arc verherrlichte.10 Sie zog vor allem deshalb so viel Mitgefühl auf sich, weil sie als junges Mädchen für die von ihr verübten Sabotageakte gefoltert und gehängt wurde und die Deutschen ihren Körper noch tagelang zur Abschreckung am Galgen hängen ließen. So lang und aufwändig wie das Gedenken an die Komsomolzin-Partisanin Soja in der Sowjetunion inszeniert und gepflegt wurde, so schnell und heftig kam es nach deren Ende zu Bestrebungen, den Soja-Mythos zu dekonstruieren und als Legende zu entlarven.11 Die 1972 gedrehte Verfilmung der Erzählung von Boris Wassiljew A sori sdes tichije (Im Morgengrauen ist es noch still, Regie: Stanislaw Rostozki) behandelt ernsthaft und mit großer Empathie das Thema des Einsatzes der Frauen im Krieg. Das Grauen des Krieges trifft die Frauenstaffel sehr schnell und unvorbereitet. Fünf Mitglieder des Spähtrupps kommen beim Einsatz ums Leben. Schon zu Zeiten seiner Entstehung erfreute sich der Film großer Beliebtheit beim Publikum. Bis heute hat sich daran nichts geändert und er wird jedes Jahr wieder anlässlich des Siegestages am 9. Mai im russischen Fernsehen gezeigt, 2015 entstand sogar ein Remake.
Vielstimmige Gegengeschichten
In der am heroischen Großen orientierte Erinnerungskultur hat jedoch das unbekannte weibliche Opfer nur sehr wenig Platz. Die ausführlichen Interviews, die die belarussische Schriftstellerin und spätere Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch in den 1980er Jahren mit Hunderten von Kriegsteilnehmerinnen führte, machten deren oft haarsträubende Erfahrungen erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich.12Diese hatten mit den Erwartungen und Hoffnungen, die die jungen Frauen einst an die Front getrieben hatten, nur wenig gemein. Abenteuerlust, Emanzipationsbegehren, Heldentum, die Lust, mit den Männern gleichzuziehen, hatten am Anfang gestanden. Übrig blieben unendliche Müdigkeit und vielleicht noch Erleichterung darüber, wenigstens am Leben geblieben zu sein. Es gab den Stolz auf die eigene Leistung, aber auch das Wissen um die Strapazen, den Hunger, den Ekel, die Angst, das Sterben und die Unerträglichkeit des Tötens. Während das Kriegserleben männlicher Frontkämpfer im Kontext des pompösen öffentlichen Kriegskultes umgedeutet und geglättet wurde, folgten die ehemaligen Soldatinnen nicht den üblichen heroischen Floskeln und patriotischen Stereotypen der in Massenauflage verbreiteten Kriegsbücher und -romane. So entstanden erschütternde Berichte – „vielstimmige Gegengeschichten“ – über Einsätze bis zur völligen Erschöpfung, das Gefühlschaos nach dem ersten tödlichen Schuss, schwerste Verwundungen, Verstümmelungen und psychische Störungen als Kriegsfolge.
Betrug um den gerechten Anteil am Sieg
Nach Kriegsende wurden die Frauen nicht nur schnell aus der Armee entlassen und mussten jede Aussicht auf eine militärische Laufbahn aufgeben, sondern der Staat betrog sie geradezu um ihren gerechten Anteil am Sieg, ja nahm sie nicht einmal vor pauschalen Verleumdungen in Schutz. Jedenfalls fanden weibliche Armeeangehörige keinen angemessenen Platz im sowjetischen Gedächtnis an den Großen Vaterländischen Krieg, der fortan als männliche Leistung konstruiert wurde.13 Sie nahmen nicht einmal an der großen Siegesparade vom 24. Juni 1945 auf dem Roten Platz teil. Dies unterstreicht, dass die Rekrutierung von Frauen für den Kriegsdienst nicht Ausdruck einer konsequenten Fortführung des Emanzipationsgedankens war, sondern in erster Linie der Abwehr einer existenziellen Niederlage dienen sollte. Daher brachte die Mitwirkung am Sieg den Soldatinnen auch keinen greifbaren gesellschaftlichen Gewinn. Im Gegenteil: Zur gesellschaftlichen Ablehnung der Frontkämpferinnen trug wesentlich das spießig-konservative Frauenbild bei, das die staatliche Propaganda beherrschte. Jetzt stellte der Staat wieder ganz traditionelle Anforderungen an die Frauen: liebevolle Unterstützung der (versehrten) Kriegsheimkehrer bei deren Rückkehr ins zivile Leben und den Ausgleich der immensen Kriegsverluste durch vielfache Mutterschaft. Selbst unverheiratete Frauen sollten Kinder gebären, deren Väter anonym bleiben durften, während der Staat sich eher knauserig an den Kosten beteiligte.14 Für viele Frauen bedeutete das Kriegsende deshalb keineswegs den Beginn der langersehnten „Normalität“ mit Ruhepausen und einem verbesserten Angebot an Konsumgütern, sondern einen erneuten Kampf ums Überleben unter armseligen Wohn- und Lebensverhältnissen. Zwar glorifizierte die Propaganda den Ruhm der Mutterschaft,15 doch in der Realität ließen Väterchen Stalin und „Vater Staat“, aber auch viele leibliche Väter, die Frauen und Mütter oft im Stich.
Rodina-Mat’ sovet! Plakaty Velikoj Otečestvennoj vojny, Moskau 2014, S. 46, S. 131, S. 162 ↩︎
Conze, Susanne: Weder Emanzipation noch Tradition. Stalinistische Frauenpolitik in den vierziger Jahren. In: Stefan Plaggenborg (Hg.): Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte, Berlin 1998, S. 293 ↩︎
Rešenija partii i pravitel’stva po chozjajstvennym voprosam, Bd. 3, Moskau 1962, S. 64 ↩︎
Deutsch-Russisches Museum Berlin Karlshorst (Hg.): Katalog zur Dauerausstellung, Berlin 2014, S. 109 ↩︎
Fieseler, Beate: Patriotinnen, Heldinnen, Huren? Frauen in der Roten Armee 1941 – 1945. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 65 (2014), S. 37 – 54; dies.: Rotarmistinnen im Zweiten Weltkrieg. Motivationen, Einsatzbereich und Erfahrungen von Frauen an der Front. In: Klaus Latzel/Franka Maubach/Silke Satjukow (Hg.): Soldatinnen. Gewalt und Geschlecht im Krieg vom Mittelalter bis heute, Paderborn 2011, S. 301 – 329; Markwick, Roger D./Cardona, Euridice Charon: Soviet Women on the Frontline in the Second World War, New York 2012; siehe auch die Beiträge von Carmen Scheide und Roger D. Markwick in: Melanie Ilic (Ed.): The Palgrave Handbook of Women and Gender in Twentieth-Century Russia and the Soviet Union, London 2018. ↩︎
Markwick/Cardona, Soviet Women on the Frontline, S. 66 ↩︎
Siehe etwa die Plakate „Slava boevym podrugam“ (1941) und „Vstavaj v rjady frontovych podrug“ (1941). In: Rodina-Mat’ sovet!, S. 46. ↩︎
Rathe, Daniela: Soja – eine „sowjetische Jeanne d’Arc“? Zur Typologie einer Kriegsheldin. In: Silke Satjukow/Rainer Gries (Hg.): Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR, Berlin 2002, S. 45 – 59 ↩︎
Sartorti, Rosalinde: On the Making of Heroes, Heroines, and Saints. In: Richard Stites (Ed.): Culture and Entertainment in Wartime Russia, Bloomington-Indianapolis 1995, 176 – 193 ↩︎
Die erste, noch zensierte, Ausgabe erschien 1987: Alexijewitsch, Swetlana: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, Berlin. Eine erweiterte und aktualisierte Neuausgabe erschien 2004 (ebenfalls Berlin); eine nochmals erweiterte Ausgabe ebd. 2013. Zum Werk von Aleksievič siehe: Nackte Seelen. Svetlana Aleksievič und der „Rote Mensch“. Themenheft der Zeitschrift Osteuropa 68 (1-2), 2018 (dort besonders die Beiträge von Karla Hielscher und Nina Weller). ↩︎
Siehe zum Beispiel das Plakat von Viktor Klimašin: ‚Ruhm dem Kämpfer-Sieger‘. In: Naša Pobeda, S. 245 ↩︎
Nakachi, Mie: Population, Politics and Reproduction. Late Stalinism and its Legacy. In: Juliane Fürst (Hg.): Late Stalinist Russia. Society between Reconstruction and Reinvention, New York 2006, S. 23 – 45 ↩︎
Siehe etwa die Plakate von Nina Vatolina „Ruhm der Heldenmutter“ und „Ruhm der heldenhaften Sowjetfrau“, beide aus dem Jahr 1946. Ersteres in: Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst (Hg.): Triumph und Trauma, Berlin 2005, S. 72 ↩︎
„Plötzlich durchbohrt eine Nadel mit aller Wucht deinen Nagel und dringt in den Finger ein. Fünf Sekunden lang begreift das Bewusstsein nicht, was geschehen ist. […] Erst nach fünf Sekunden überrollt dich eine Welle aus Schmerz: Wow, schau nur, dein Finger ist auf die Nadel gefädelt. Deswegen kannst du die Hand nicht rausziehen. Ganz einfach. Vielleicht kannst du einfach fünf Minuten mit dem Finger so dasitzen, aber mehr nicht. Du musst weiternähen. Bist du etwa die erste, die sich den Finger durchsteppt? Ein Pflaster willst du? Woher denn? Du bist hier im Lager, Kleines.“1
So erinnerte sich die Kunstaktivistin Nadeshda Tolokonnikowa aus der Punk-Band Pussy Riot an die Arbeit im Straflager. Die Verurteilung von drei Mitgliedern der Band zu zwei Jahren Haft, weil sie in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale ein Punk-Gebet aufgeführt hatten, löste weltweit Empörung und Mitgefühl aus. Das hatte nicht nur mit dem politischen Hintergrund zu tun, vor dem das Urteil fiel, sondern auch mit den Bedingungen der Lagerhaft an sich. Die Berichte der „prominenten Häftlinge“ machten vielen Menschen schlagartig bewusst, dass der Strafvollzug für Frauen im heutigen Russland nicht mit einem Gefängnisaufenthalt im üblichen Sinne zu vergleichen ist, sondern die Verbringung in entlegene Lagerkomplexe, fernab von Familie und Freunden, bedeutet. Harte Arbeit, Entbehrungen und Widrigkeiten prägen den Lageralltag.
Leben in erzwungener Gemeinschaft, vor aller Augen / Foto aus der Reihe „Otdelenije“ von Elena Anosova
Die spezifische (vormoderne) Einheit von Exil und Haftstrafe hat in Russland eine lange Tradition. Sie reicht bis ins frühe 17. Jahrhundert zurück, hat mehrere Systemwechsel überdauert und kulturell tiefe Wurzeln geschlagen.
Trotz gewisser Reformen und Erleichterungen des Strafvollzugs, die nach dem Ende der Sowjetunion in Angriff genommen wurden, blieben manche Merkmale des Gulags erhalten, eines umfassenden Straflagersystems, das in der Stalinzeit entstand. Dieses Erbe prägt den Strafvollzug bis heute. Dazu gehört vor allem die spezielle Lagergeographie, vorzugsweise an der Peripherie, und die damit verbundene Loslösung der Straftäter aus der ihnen vertrauten Umgebung, ihre vollständige Abschottung von der Gesellschaft.
Exil plus Haft
Frauen sind von der doppelten Belastung durch Exil plus Haft viel häufiger betroffen als männliche Straftäter. Denn nur ein geringer Teil der rund 750 russischen Straflager sind Frauenlager, und gerade diese befinden sich durchweg an der Peripherie (zum Beispiel in Mordwinien, der Komi-Republik oder in Sibirien). Daher müssen deutlich mehr Frauen als Männer die Haft weit entfernt von ihren Heimatorten verbringen.
Nach langen strapaziösen Fahrten in speziellen Eisenbahnwaggons am entlegenen Bestimmungsort angelangt, dürfen sie pro Jahr sechs kurze (vier Stunden) und vier lange (drei Tage) Verwandtenbesuche im Jahr erhalten. Viele Angehörige können sich die zeitaufwändigen und kostenträchtigen Reisen jedoch nicht leisten. Weibliche Häftlinge kommen seltener in den Genuss, weil insbesondere Ehemänner weniger geneigt sind, die Haftzeit durch Besuche zu mildern und gemeinsam auf die Freilassung zu warten. Viele lassen sich schnell scheiden, ohne die bestehenden Kontaktmöglichkeiten (Anrufe, Briefe, Pakete) ausgeschöpft zu haben.2 In der Folge müssen Frauen viel häufiger als Männer nicht nur mit dem Verlust der Freiheit zurechtkommen, sondern auch mit dem Schmerz darüber, im Stich gelassen worden zu sein.
Verrat an der Weiblichkeit
Frauen bilden nur eine kleine Minderheit aller Straftäter. Insgesamt beträgt der Anteil weiblicher Häftlinge heute weniger als ein Zehntel der gesamten Häftlingsgesellschaft. Gleichwohl steigt die Zahl der von Frauen verübten Straftaten seit Ende der Sowjetunion kontinuierlich an. Auch das Spektrum hat sich erweitert: zu klassischen Delikten wie Diebstahl kommen inzwischen illegale Bankgeschäfte, Betrugs- und Kreditvergehen, Hooliganismus sowie Drogenkriminalität hinzu.3
Erkennbar ist ebenfalls ein zunehmendes Vordringen von Frauen in den Bereich der Gewaltverbrechen, von Einbrüchen und Raubüberfällen bis hin zu Tötungsdelikten. Damit gleicht sich das Profil straffällig gewordener Frauen in Russland dem der westlichen Industriegesellschaften an, ist also mitnichten außergewöhnlich. Doch unterliegen straffällig gewordene Frauen innerhalb der russischen Gesellschaft einer wohl noch stärkeren Stigmatisierung als männliche Straftäter, werden ihnen doch außer der Gesetzesverletzung zusätzlich der Verrat an ihrer Weiblichkeit und der bewusste Bruch mit der kulturell determinierten Geschlechterolle vorgeworfen.
Das Leben vor aller Augen
Neben den Transporten in weit entfernte Lagerkomplexe werden viele Frauen durch den dort praktizierten Kollektivismus traumatisiert: Es beginnt mit der einheitlichen Anstaltskleidung (dunkle Röcke und weite Jacken, weiße Kopftücher), die die individuellen Frauen zu einer ununterscheidbaren Masse vereinheitlichen. Das Leben in erzwungener Gemeinschaft, vor aller Augen, bedeutet, die Nachtruhe in überfüllten Schlafbaracken, in eng nebeneinander stehenden Doppelstockbetten zu verbringen. Die dort angebrachten Namensschilder enthalten Angaben über den Strafrechtsparagraphen, das Ankunfts- und Entlassungsdatum. Die Gemeinschaftswaschräume und Toiletten haben keine Türen, gewähren also keine Intimität.
Es gibt in den Frauenstraflagern nur öffentliche Räume und somit keinerlei Privatsphäre. Man könnte von einer Art sozialer Gefangenschaft sprechen, die durch Schikanen des Aufsichtspersonals und durch das Spitzelwesen unter den Häftlingen noch verschärft wird.4 Begründet wird diese Art des Strafvollzugs mit dem Ziel der Resozialisierung, also der Einübung von gesellschaftlich akzeptiertem Sozialverhalten.
Während in Deutschland beim Resozialisierungsgedanken auch die psychologische Betreuung der Häftlinge, Fortbildungs- und Freizeitangebote sowie Bewährungshilfen nach der Entlassung eine Rolle spielen, geht es im russischen Fall vor allem darum, gesellschaftlich konformes Verhalten mit konkreten Erwartungshaltungen an eine Frau, an deren Weiblichkeit und Häuslichkeit, zu fördern. So werden regelmäßig Schönheits- beziehungsweise Hausfrauenwettbewerbe veranstaltet. Auch das Raumdekor im Straflager – Rüschengardinen und Topfblumen – soll die Bewohnerinnen tagtäglich an ihre zukünftigen Aufgaben in einer patriarchalen Gesellschaft erinnern. Der Aufenthalt im Lager soll also vor allem die Refeminisierung der weiblichen Häftlinge bewirken.
Straf-Einzelzelle als Luxus
Für manche Frauen ist der Mangel an Privatsphäre neben der räumlichen Isolation die schlimmste Hafterfahrung. Dagegen helfen Strategien des inneren Rückzugs (Lesen, Fernsehen, mentale Abschottung während der Arbeitszeit) oder die bewusste Suche nach Orten und Zeiten des Alleinseins. Um wenigstens einige Tage für sich sein zu können, trauen sich manche Frauen, gezielt Regeln zu überschreiten. So kommen sie für eine gewisse Zeit in eine Straf-Einzelzelle. Für diesen Luxus werden sogar verschärfte Haftbedingungen in Kauf genommen.
Beziehungen zu anderen Mithäftlingen können unter Umständen mehr Wohlbefinden, eventuell sogar Nähe herstellen. Obwohl Straflager nicht gerade als vertrauensfördernde Institutionen gelten, entstehen auch dort nicht nur zweckmäßige, sondern auch emotionale Beziehungen unter Frauen. Das Spektrum reicht von Freundschaften und Netzwerken über sogenannte „Spiel- beziehungsweise Ersatzfamilien“ bis hin zu verdeckt geführten gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehungen (die verboten sind und geahndet werden).5
Gearbeitet (das umfasst zumeist Näharbeiten für Armee- oder Polizeizwecke, die Herstellung von Arbeitskleidung sowie das Bemalen von Matrjoschkas und gegessen wird ebenfalls im Kollektiv, abteilungsweise. Laut gesetzlicher Vorschrift soll der Arbeitstag nicht länger als acht Stunden dauern. Doch Tolokonnikowa berichtete 2013 aus ihrem Lager in Mordwinien, dass dort täglich 16 bis 17 Stunden gearbeitet werden müsse, um die Produktionsnorm zu erfüllen. Praktisch handele es sich um Zwangsarbeit, für den sie einen Monatslohn von 29 Rubeln (damals weniger als ein Euro) erhalten habe. Täglich produzierte ihre Brigade 150 Polizeiuniformen, die Norm war von einem Tag auf den anderen um 50 Stück erhöht worden (wiederum nicht den Vorschriften entsprechend). Wurden die Vorgaben nicht erfüllt, drohten der gesamten Brigade empfindliche Strafen.6
Ungewissheit und Zumutungen der Freiheit
Wenn die Haftzeit überstanden ist, folgt für viele Frauen die wohl schwierigste Phase: der Übergang vom Lageralltag mit seinen festen Regeln und seiner Subkultur in die Freiheit, die mit Ungewissheit und Zumutungen verbunden ist. Es droht der tiefe Fall in das sogenannte Entlassungsloch. Staatliche Hilfen gibt es nicht. Wenn, dann bleibt nur die Unterstützung von Familie und Freunden. Die wenigen bestehenden bürgerrechtlichen Organisationen etwa die Bewegung Rus sidjaschtschaja (EinsitzendeRus) oder die von Nadeshda Tolokonnikowa und Maria Aljochina gegründete Organisation Sona prawa (dt. Die Zone des Rechts) kümmern sich unter anderem um Hilfe für entlassene Frauen. Da aber die gesellschaftliche Ablehnung spürbar ist,7 fallen die eben Entlassenen schnell wieder in alte Gewohnheiten zurück und landen bald erneut im Lager.
Zum Weiterlesen:
Pallot, Judith/Piacentini,Laura (2012): Gender, Geography, and Punishment: The Experience of Women in Carceral Russia, Oxford
Pallot, Judith (2015): The Gulag as the Crucible of Russia’s 21st-Century System of Punishment, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 16 (3), S. 681-710
Pallot, Judith/Katz, Elena (2017): Waiting at the Prison Gate: Women, Identity, and the Russian Penal System, London, New York
Tolokonnikowa, Nadja (2016): Anleitung für eine Revolution, München ↩︎
Pallot, Judith (2008): Continuities in Penal Russia: Space and Gender in Post-Soviet Geography of Punishment, in: Lahusen, Thomas/Solomon, Peter H. Jr. (Hrsg.): What is Soviet Now? Identities, Legacies, Memories, Berlin, S. 253; dies. (2015): The Topography of the Spatial Continuity of Penality and the Legacy of the Gulag in Twentieth and Twenty-First Century Russia, in: Laboratorium 7 (1), S. 100 ↩︎
Katz, Elena/Pallot, Judith (2010): From Femme Normale to Femme Criminelle in Russia: Against the Past or Towards the Future, in: New Zealand Slavonic Journal 44, S. 123-125 ↩︎
Moran, Dominique/Pallot, Judith/Piacentini, Laura (2009): Lipstick, lace, and longing: constructions of femininity inside a Russian prison, in: Environment and Planning D: Society and Space 27, S. 714; dies. (2013): Privacy in penal space: Women’s imprisonment in Russia. In: Geoforum 47, S. 141-142; Al’pern, Ljudmila (2004): Son i jav’ ženskoj tjur’my, St. Petersburg, S. 25; Zekovnet.ru: Ženščina v tjur’me↩︎
Omelchenko, Elena (2016): Gender, Sexuality, and Intimacy in a Women’s Penal Colony in Russia, in: Russian Sociological Review 15 (4), S. 86-89 ↩︎
Siehe auch den Beitrag über straffällig gewordene Mütter, denen nach der Entlassung soziale Ablehnung und Hilfeverweigerung entgegenschlägt, was ihre gesellschaftliche Wiedereingliederung sehr schwierig, wenn nicht unmöglich macht: „Und für die Gesellschaft sind sie keine Menschen mehr. Nein, nicht Menschen zweiter Klasse, sondern schlicht keine Menschen“: dekoder.org: „Viele der Mütter und Kinder sehen sich nie wieder“ ↩︎