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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Die Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine seit 1991

    Die Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine seit 1991

    Belarus wurde am 24. Februar 2022 zum Ausgangspunkt für die russische Invasion der Ukraine. Sowohl in seinen Reden als auch mit technisch-logistischer Unterstützung stand der belarussische Staatschef Lukaschenka an der Seite des Kreml. Das ermöglichte russischen Truppen, die ukrainische Hauptstadt Kyjiw direkt anzugreifen. Für Lukaschenka bedeutete dies einen Bruch mit seiner langjährigen Ukraine-Politik. Denn bis dahin unterhielt er gute Beziehungen zu allen sechs Präsi­denten, die seit 1991 an der Spitze der Ukraine standen. Dem lag eine pragmatische Partnerschaft zugrunde, die vor allem auf wirtschaftlichen Interessen fußte. 

    Dabei gab es genug Grund für mögliche Spannungen: Die Revolutionen, die es in der Ukraine gab, lehnte Lukaschenka ab. Russlands Annexion der Krim – hat er lange nicht anerkannt, aber auch nicht verurteilt. Doch gerade dieses Lavieren zwischen Kyjiw und Moskau befähigte Belarus schließlich, während des Kriegs im Donbas eine Vermittlerrolle zu übernehmen. 

    Was Lukaschenka auch antrieb, sich mit Kyjiw nicht auseinanderzudividieren, war der Wunsch, sich im Angesicht der zunehmenden Abhängigkeit von Russland Türen offenzuhalten. Nach der gefälschten belarussischen Präsidentschaftswahl im August 2020 erhielten die Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine freilich erste Risse. Der russische Angriffskrieg hat das Verhältnis beider Länder nun in seinen Grundfesten erschüttert.

    Kurz nach Ende des Kalten Krieges hatten alle drei Länder – Russland, die Ukraine und Belarus – am 6. Dezember 1991 noch einhellig die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) gegründet und damit die Sowjetunion begraben. Mit diesem historischen Schritt verbanden die Führungen von Belarus und der Ukraine allerdings ganz unterschiedliche Erwartungen. 

    So stellte die GUS für den ersten ukrainischen Präsidenten Leonid Krawtschuk lediglich eine zivile Form der Scheidung von der Sowjetunion dar. Dementsprechend wurde die Ukraine nie vollwertiges Mitglied der GUS und beteiligte sich nur an wirtschaftlichen Kooperationsformaten. Bereits Krawtschuks Nachfolger Leonid Kutschma erhob die europäische Integration zur außenpolitischen Leitlinie. Belarus sah hingegen in der GUS zunächst einen Ersatz für die Sowjetunion. Nach dem Scheitern dieser Hoffnung verfolgte der belarussische Staatschef Lukaschenka den Weg einer engen Integration mit Russland. Dieser Weg mündete 1999 in den Plan zur Bildung eines gemeinsamen Unionsstaats.1 

    Pragmatische Kooperation

    Die unterschiedlichen außenpolitischen Strategien belasteten die bilateralen Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine jedoch nicht. Vielmehr gestalteten sich diese zunächst weitgehend konfliktfrei. Den einzigen Streitpunkt bildete das 1997 geschlossene zwischenstaatliche Grenzabkommen. Denn Belarus weigerte sich, es zu ratifizieren, solange die reklamierten Schulden ukrainischer Unternehmen aus den letzten Jahren der Sowjetunion nicht beglichen seien.2 

    Mitte der Nullerjahre nahm die zwischenstaatliche Zusammenarbeit zwischen Belarus und der Ukraine deutlich zu. Das hing von belarussischer Seite wesentlich damit zusammen, dass der russische Präsident Wladimir Putin von Lukaschenka verlangte, als Gegenleistung für gewährte Energiesubventionen auf einige Souveränitätsrechte für Belarus, wie eine eigene Währung, zu verzichten. Lukaschenka suchte daher die ukrainische Unterstützung, um sich aus seiner Isolation als autokratischer Herrscher in Europa zu befreien. Gleichzeitig gewann der bilaterale Handel für beide Seiten an Bedeutung. 

    Revolution in der Ukraine, Repression in Belarus

    Die Annäherung beider Länder wurde weder dadurch wesentlich beeinträchtigt, dass Lukaschenka die Orangene Revolution von 2004 ablehnte, noch durch die Parteinahme des neuen ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko für die belarussische Opposition, nach den gescheiterten Protesten gegen die gefälschte belarussische Präsidentschaftswahl von 2006. Bereits in Juschtschenkos erstem Amtsjahr gab es Regierungskontakte auf höchster Ebene, bilaterale Treffen der Präsidenten folgten 2008 und 2009. Das offizielle Kyjiw bot sich dabei als Ausrichtungsort für einen Runden Tisch zwischen den belarussischen Regierungs- und Oppositionslagern an. Gleichzeitig beteiligte sich die Ukraine nicht an den seit 2004 verhängten EU-Sanktionen gegen Lukaschenka. Stattdessen positionierte sich Juschtschenko gegenüber der EU als Türöffner für Belarus.3

    Obwohl der vierte ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch einen russlandfreundlicheren Kurs verfolgte, ergab sich nach der belarussischen Präsidentschaftswahl vom Dezember 2010 ein ähnlich ambivalentes Bild: Die Ukraine schloss sich den negativen Wahleinschätzungen von EU und OSZE an, jedoch nicht den neu verhängten EU-Sanktionen. Kyjiw plädierte vielmehr für die weitere Beteiligung von Belarus an der EU-Initiative „Östliche Partnerschaft“. Allerdings verzichtete die ukrainische Führung darauf, Lukaschenka im Jahr darauf zur gemeinsam mit der EU organisierten Internationalen Konferenz anlässlich des 25. Jahrestags der Tschernobyl-Katastrophe nach Kyjiw einzuladen. Zudem belasteten diplomatische Skandale und die Verhaftung ukrainischer Aktivist*innen in Minsk4 die bilateralen Beziehungen.

    Das zentrale Interesse, das beide Seiten aber weiterhin aneinanderband und an dem sich beide Seiten auch orientierten, war die wirtschaftliche Kooperation: 2012 belief sich das Handelsvolumen zwischen beiden Staaten bereits auf 6,2 Milliarden US-Dollar. Dies bedeutete eine Vervierfachung gegenüber 2008, wobei sich der belarussische Handelsüberschuss auf 2,12 Milliarden US-Dollar belief. Nach Russland war die Ukraine damit der zweitwichtigste Handelspartner von Belarus, wobei die belarussische Handelsbilanz gegenüber Russland ein Minus von etwa 6 Milliarden US-Dollar aufwies. Die Kooperation mit der Ukraine war für Lukaschenka somit von zentraler Bedeutung, um die Abhängigkeit des Landes von Russland zu verringern. 

    Lukaschenkas Unterstützung der pro-europäischen Ukraine

    Im Juni 2013 beseitigten Belarus und die Ukraine mit dem Austausch der Ratifizierungsurkunden während eines Lukaschenka-Besuchs in Kyjiw schließlich die letzte Hürde für das Inkrafttreten des bilateralen Grenzabkommens aus dem Jahre 1997.5 Für die Ukraine war dies ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur geplanten Unterzeichnung des Assoziationsabkommens mit der EU. Belarus konnte im Gegenzug seine wirtschaftliche Handelsposition weiter verbessern.

    Als Janukowitsch im November 2013 das Ziel der EU-Integration zugunsten eines Abkommens mit Russland aufgab, verurteilte Lukaschenka zwar die Proteste des Euromaidan, die sich daran entzündeten. Für die Revolution machte er jedoch vor allem die Schwäche und die Flucht Janukowitschs verantwortlich. Im Unterschied zum Kreml akzeptierte Lukaschenka den politischen Richtungswechsel in Kyjiw und nahm im Juni 2014 an der Inauguration des neu gewählten ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko teil. 

    Gleichzeitig erklärte Lukaschenka, dass die Krim de facto zu Russland gehöre, auch wenn dies nicht de jure gelte.6 Bei anderen Gelegenheiten betonte er, Belarus werde Russland stets gegen den Westen unterstützen. Dieses Lavieren ermöglichte es Lukaschenka, für beide Seiten eine unterstützende Positionierung einzunehmen und Minsk zum Ausrichtungsort für die internationalen Vermittlungsversuche und Verhandlungen zur Regulierung des Donbas-Krieges zu machen. Fortan war Lukaschenka daher Gastgeber für die Gespräche des Normandie-Formats. Auf diese Weise konnte er seine Position gegenüber dem Kreml stärken, der den in Belarus längst schon ungeliebten Unionsstaat vorantreiben wollte. Gleichzeitig gelang ihm damit das Kunststück, die Beziehungen zur EU zu normalisieren.7 

    Die politische Krise in Belarus von August 2020 als Wendepunkt

    Auch zum sechsten ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky unterhielt Lukaschenka zunächst gute Beziehungen. Daher war es für ihn ein Schock, als die ukrainische Führung die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl vom 9. August 2020 nicht anerkannte und sich im Herbst 2020 erstmals sogar den neuen EU-Sanktionen anschloss. Allerdings beschränkte sich dieses erste Sanktionspaket auf Einreiseverbote und Vermögenssperren. So weit, auch den umfassenden Wirtschaftssanktionen zu folgen, die von der EU nach der erzwungenen Landung eines Ryanair-Flugzeugs im Mai 2021 in Minsk verhängt wurden, wollte die Ukraine hingegen nicht gehen. Ebenso vermied Selensky im Unterschied zu den meisten westlichen Staatschefs ein Treffen mit Swjatlana Zichanouskaja, der belarussischen Oppositionsführerin im Exil. Damit signalisierte Selensky, dass er den offiziellen Kommunikationskanal weiter offen zu halten gedachte. 
    Gleichzeitig war die Ukraine bis zur russischen Invasion des ganzen Landes jedoch ein bedeutender Zufluchtsort für zehntausende Belaruss*innen, die vor den staatlichen Repressionen in ihrer Heimat flohen. Hinzu kommt, dass die für beide Länder zentrale wirtschaftliche Zusammenarbeit bereits infolge der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie rückläufig war.

    Die gestiegene Abhängigkeit des international isolierten Lukaschenkas gegenüber Russland und seine zunehmend aggressive antiwestliche Rhetorik wurden in Kyjiw mit wachsender Sorge gesehen. Dennoch sah man es dort nicht als eindeutiges Kriegszeichen, als Ende 2021 ein gemeinsames Militärmanöver mit Russland für Februar 2022 an der belarussischen Grenze zur Ukraine angekündigt wurde. Denn angesichts der bisherigen Länderbeziehungen, die bereits einiges auszuhalten hatten, und mit Blick auf frühere Äußerungen Lukaschenkas, dass die Belarussen nie mit einem Panzer, sondern höchstens mit einem Traktor in die Ukraine fahren würden, fiel es den Ukrainern bis zum 24. Februar schwer sich vorzustellen, dass ihr Land von Belarus aus angegriffen werden könnte.8 

    Minimale Kontakte im Krieg 

    Der Krieg hat die Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine nicht nur auf staatlicher, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene tiefgreifend verändert. Eine erneute belarussische Vermittlungsrolle lehnte die ukrainische Führung sehr schnell ab, da sie Belarus als faktische Kriegspartei betrachtete. Kurz nach Beginn der Invasion kam es zwar zu zwei (erfolglosen) Verhandlungsrunden zwischen Delegationen aus Russland und der Ukraine, die im belarussischen Grenzgebiet abgehalten wurden. In der Folgezeit kamen jedoch andere Staaten in die Vermittlerrolle, insbesondere die Türkei. 
    Dass die russische Armee damit gescheitert ist, die Hauptstadt Kyjiw zu erobern, hat etwas Druck aus den angespannten bilateralen Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine genommen. So beließ Selensky seinen Botschafter in Minsk. Ebenso verzichtete die ukrainische Führung zunächst auf weitere Sanktionen. Dies änderte sich, als Belarus und Russland im Oktober 2022 die Bildung einer gemeinsamen Militäreinheit ankündigten – und damit die Gefahr der direkten Beteiligung belarussischer Soldaten am Krieg stieg. Der ukrainische Sicherheitsrat reagierte hierauf mit neuen Sanktionen und beschloss erstmals auch Wirtschaftssanktionen gegen belarussische Unternehmen. Lukaschenka befindet sich allerdings nach wie vor nicht auf der ukrainischen Sanktionsliste.

    Gleichzeitig blieb das offizielle Kyjiw weiterhin auf Distanz zu den von Swjatlana Zichanouskaja koordinierten belarussischen Oppositionskräften im Exil. Die Eröffnung eines eigenen Büros in Kyjiw durch Zichanouskaja im Mai 2022 wurde in der Ukraine skeptisch als PR-Maßnahme betrachtet9 – zumal in der Ukraine unvergessen ist, wie sehr Zichanouskaja sich 2020 um die Unterstützung des Kremls für die belarussische Opposition bemüht hatte. Auch insgesamt stieg das Misstrauen: Seit Kriegsbeginn waren etliche Belaruss*innen in der Ukraine mit Einreiseverboten, Kontensperrungen, verweigerten Aufenthaltsgenehmigungen und anderen Restriktionen konfrontiert.
    Allerdings würdigte die ukrainische Führung Formen des aktiven Widerstands, darunter Sabotageakte gegen Eisenbahnlinien, mit denen auf belarussischer Seite versucht wird, den Nachschub für die russische Armee zu erschweren. Ebenso begrüßte man in der Ukraine die Bereitschaft von Freiwilligen, gegen Russland an die Front zu gehen, darunter beim Kalinouski-Regiment. Gleichwohl fällt der belarussische Widerstand aus ukrainischer Sicht insgesamt zu schwach aus – auch wenn wahrgenommen wird, dass es in der belarussischen Gesellschaft im Unterschied zu russischen nur wenige Kriegsbefürworter gibt.

    Die Wiederannäherung beider Länder wird nach diesem Krieg viel Zeit in Anspruch nehmen – und zwar ganz unabhängig von der Frage, ob Lukaschenka die rote Linie womöglich doch noch überschreitet, und eigene belarussische Truppen in den Krieg schickt. 


    Anmerkung der Redaktion:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


    1. Sahm, Astrid (2001): Integration, Kooperation oder Isolation? Die Ukraine und Belarus‘ im Vorfeld der EU-Osterweiterung, in: Osteuropa, 2001, S. 1391-1404 ↩︎
    2. Melyantsou, Dzianis/Kazakevich, Andrej (2008): Belarus‘ relations with Ukraine and Lithuania before and after the 2006 presidential elections, in: Lithuanian foreign policy review, 2008, 20, S. 47-78 ↩︎
    3. Siehe die Ukraine-Kapitel im Belarusian Yearbook 2011 und Belarusian Yearbook 2012 ↩︎
    4. So wurden mehrere Femen-Aktivistinnen verhaftet, die am ersten Jahrestag der Präsidentschaftswahl von 2010 in Minsk demonstrierten, vgl. Radio Liberty: Ukrainian Activists Allegedly Kidnapped, Terrorized In Belarus Found und vgl. Der Spiegel: Geheimdienst hat offenbar Demonstrantinnen entführt ↩︎
    5. Die Ratifizierung des Abkommens durch Belarus war bereits 2009 während der Präsidentschaft Juschtschenkos erfolgt, nachdem dieser die von Belarus reklamierten Schulden ukrainischer Unternehmen in Höhe von 134 Mrd. US-Dollar anerkannt und getilgt hatte, vgl. Boguzkij, Oleg (2013): Belarus-Ukraine, Belarusian Yearbook 2013, S. 96-106 ↩︎
    6. vgl. Shraibman, Artyom: The Lukashenko Formula: Belarus’s Crimea Flip-Flops ↩︎
    7. Sahm, Astrid (2014): Verhaltene Reaktionen in Belarus auf die Ukraine-Krise, in: SWP-Aktuell 46, Juni 2014 ↩︎
    8. vgl. Reform.by: Belarus‘ – Ukraina: Ot „priechat‘ na traktore“ do „jasno, na č’ej storone“ ↩︎
    9. So wurde beispielsweise Valeri Kavaleuski, dem Repräsentanten von Zichanouskaja in der Ukraine, im August 2022 zwischenzeitlich die Einreise verweigert, vgl. Globsec: Policy Brief: Ukraine-Belarus Relations: Going Beyond the War; vgl. Nasha Niva: Valerija Kovalevskogo ne pustili v Ukrainu ↩︎

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  • Tschernobyl in Belarus

    Tschernobyl in Belarus

    „Lieber Michail Sergejewitsch, es ist hier nicht bloß eine Anlage explodiert, sondern der gesamte Komplex an Verantwortungslosigkeit, Disziplin­losigkeit und Bürokratismus.“1 Mit diesen deutlichen Worten wandte sich der belarusische Schrift­steller Ales Adamowitsch am 1. Juni 1986 an den sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow. Adamowitsch zählte zu einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern und Intellektuellen, die schon früh auf die dramatischen Ausmaße der Katastrophe, ihre politische Bedeutung und auf das mangelhafte Krisenmanagement hingewiesen hatten. Mit Ausnahme der in unmittelbarer Reaktornähe gelegenen Stadt Prypjat, deren 86.000 Bewohner am Tag nach der Explosion evakuiert worden waren, hatten etwa überall die geplanten 1. Mai-Feierlichkeiten stattgefunden. Erst danach war eine Sperrzone von 30 Kilometern um den Reaktor errichtet und waren von Mai bis Juni weitere 30.000 Menschen zum zeitweiligen Verlassen ihres Wohnorts aufgefordert worden. Insgesamt versprach die sowjetische Führung eine rasche Rückkehr zur Normalität und gab vor, alles unter Kontrolle zu haben. Forderungen nach weiteren Umsiedlungen und gründlichen Lebens­mittel­kontrollen, um langfristige gesundheitliche Folgen für einen großen Teil der Bevölkerung zu ver­meiden, wurden ignoriert. Stattdessen berichteten die staatlichen Medien optimistisch über den Verlauf der Dekontaminierungsarbeiten und verkündeten, der sowjetische Mensch sei stärker als das Atom. Kritische Meinungen über die Risiken der radioaktiven Strahlung wurden nicht veröffentlicht, Informationen über die reale Kontaminierung unterlagen der Geheim­haltung. Damit war die staatliche Reaktion auf die Reaktorexplosion im AKW Tschernobyl das Gegenteil der neu proklamierten Glasnost-Politik. Auf den technischen Supergau folgte ein politischer Totalausfall.

    Kinderstation einer Krebsklinik, Minsk 1991 / Foto © Sergej Bruschko. Weitere Bilder des Fotografen

    Von der regionalen „Havarie“ zur gesamtnationalen Katastrophe

    Tatsächlich waren 70 Prozent des radioaktiven Fallouts auf dem Territorium der heutigen Republik Belarus niedergegangen. Doch erst ab Beginn des Jahres 1988 erhielt das offizielle Bild von Tschernobyl als einer regional begrenzten „Havarie“ immer mehr Risse und das soziale Gleichgewicht geriet ins Wanken. Hierzu trugen vor allem die steigenden Erkrankungsraten sowie eine als „Tschernobyl-AIDS“ bezeichnete Immunschwäche bei, vorrangig bei Kindern in den südöstlichen Regionen der Oblast Gomel. Die bis dahin abstrakten Strahlenrisiken für die Menschen wurden plötzlich sichtbar und Kinder wurden in Anbetracht fehlender Strahlenmessgeräte quasi zu biologischen Strahlenmessern für die Erwachsenen. Das Vertrauen in die staatliche Informationspolitik schwand.

    Zudem löste Gorbatschows Perestroika eine Destabilisierung der Wirtschaft aus, in deren Folge es dem Staat nicht mehr möglich war, den Betroffenen zusätzliche soziale Leistungen, wie neue Wohnungen oder besser medizinische Leistungen, zu bieten. Damit zerbrach der für das sowjetische System zentrale Gesellschaftsvertrag.

    Die politische Vertrauenskrise verstärkte sich in den folgenden Jahren noch, nachdem im Vorfeld der ersten weitgehend freien Wahlen zum Volksdeputiertenkongress im März 1989 die Geheimhaltung der Tschernobyl-Akten aufgehoben wurde. Dabei wurden im Februar 1989 auch erstmals Karten zur radioaktiven Belastungssituation veröffentlicht.

    Cäsium-137-Belastung in der Republik Belarus, Stand Dezember 1989 / © Aliaksandr Dalhouski
    Cäsium-137-Belastung in der Republik Belarus, Stand Dezember 1989 / © Aliaksandr Dalhouski


    Weitere Messungen belegten, dass de facto ein Viertel der Belarusischen SSR durch Tschernobyl kontaminiert war. Dadurch nahm Tschernobyl allmählich den Charakter einer gesamtnationalen Tragödie an und wurde zu einem zentralen Wahlkampfthema bei den Wahlen zum Obersten Sowjet der Belarusischen SSR im März 1990, in den erstmals auch unabhängige politische Kräfte einzogen. Ihre Forderungen brachten die Menschen nun nicht mehr nur durch Eingaben an die staatlichen Behörden zum Ausdruck, sondern auch durch Wähleraufträge und zivilgesellschaftlichen Protest. In den Bezirkszentren der am stärksten kontaminierten Regionen kam es zu zahlreichen Kundgebungen und Streiks.

     

    Verbotene Tschernobyl-Kundgebung im September 1989 in Narowlja, Oblast Gomel / Foto © Sergej Plytkewitsch (Privatsammlung). Weitere Bilder des Fotografen

    In Minsk, der Hauptstadt der Belarusischen SSR, wurde die Tschernobyl-Problematik vor allem von der neuen Nationalbewegung aufgegriffen. Im September 1989 rief die Belarusische Volksfront (BNF) erstmals zum Tschernobyl-Marsch auf, der seit 1990 jeweils am Jahrestag der Reaktorexplosion zu den zentralen Protestaktionen der belarusischen Opposition gehört. Die Volksfront vertrat die These, dass die staatliche Tschernobyl-Politik ein Verbrechen oder gar ein Genozid an der belarusischen Nation sei, und forderte eine strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen in Form eines „zweiten Nürnbergs“. Die Lösung der Tschernobyl-Problematik sahen die BNF-Aktivisten im Rahmen eines neuen, von Moskau unabhängigen, demokratischen Belarus.

    Um den Ängsten und den Protesten der Bevölkerung in den kontaminierten Regionen zu begegnen, unterstützte allmählich auch die belarusische Parteiführung die Verabschiedung einer umfassenden Tschernobyl-Gesetzgebung. Mit dem vom Obersten Sowjet genehmigten Republikanischen Tschernobyl-Programm erhielten insgesamt etwa 400.000 Menschen das Recht auf eine staatlich finanzierte Umsiedlung. Und in der vom Obersten Sowjet im Sommer 1990 verabschiedeten Souveränitätserklärung hieß es: „Ihre Freiheit und Souveränität verwendet die Belarusische SSR vorrangig zur Rettung des Volkes der Belarusischen SSR vor den Folgen der Katastrophe von Tschernobyl.“2

    Demonstration zum 10. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl, Minsk 1996 / Foto © Sergej Bruschko

    Zuspitzung der wirtschaftlichen Situation nach der Unabhängigkeit

    Tschernobyl war auch eine wirtschaftliche Katastrophe. Einerseits verstärkte sie vor allem in den kontaminierten Regionen die mit der Auflösung der Sowjetunion verbundenen sozio-ökonomischen Krisensymptome. Andererseits stellten die Maßnahmen zur Eindämmung der Katastrophenfolgen eine immense Belastung für den Haushalt der neu entstandenen Republik Belarus dar, was sich auf den gesamten belarusischen Transformationsprozess auswirkte. 
    So war etwa die hohe Zahl der Umsiedlungsberechtigten noch in der Annahme festgelegt worden, dass die Umsiedlungen überwiegend durch den Unionshaushalt finanziert würden. Diese und weitere geplanten Maßnahmen mussten nun aus eigenen Mitteln umgesetzt werden, die jedoch jährlich weniger wurden. Der Wegfall der Ressourcen aus Moskau konnte auch nicht durch die enorme internationale Solidarität aufgefangen werde, welche Belarus durch unzählige Tschernobyl-Initiativen aus vielen europäischen Ländern, Japan und den USA erfuhr.3 Berechnungen der belarusischen Akademie der Wissenschaften aus den 1990er Jahren ergaben, dass sich der für Belarus entstandene Gesamtschaden für die Jahre 1986 bis 2015 auf 235 Milliarden US-Dollar beläuft.4 Dieser Betrag umfasst sowohl die unmittelbaren Schäden durch die erzwungene Aufgabe von Industrieanlagen und landwirtschaftlicher Nutzfläche als auch die Kosten für die gesetzlich festgelegten Sozialleistungen.

    Waren für das Jahr 1992 noch 19,9 Prozent des Gesamthaushalts für Maßnahmen zur Bewältigung der Katastrophenfolgen vorgesehen, so wurden die entsprechenden Ausgaben in den folgenden Jahren auf etwa fünf Prozent zurückgefahren. Ab 2005 sanken sie sogar auf 1,5 bis 2 Prozent. Parallel war seit 1993 auch ein deutlicher Rückgang der Umsiedlerzahlen zu beobachten: So wurden beispielsweise 1995 lediglich 1342 Personen umgesiedelt, drei Jahre zuvor waren es noch 20.000 gewesen. Insgesamt verließen im Rahmen der staatlichen Umsiedlungsmaßnahmen bis 1998 knapp 135.000 Menschen ihre Heimat, 479 Orte wurden vollständig aufgegeben.5 In der Folgezeit wurde die staatliche Umsiedlungspolitik faktisch eingestellt.6

    LKW bringen das Hab und Gut der Umsiedler aus der Gefahrenzone. Rajon Narowlja, Sommer 1986 / Foto © Sergej Plytkewitsch (Privatsammlung)
    LKW bringen das Hab und Gut der Umsiedler aus der Gefahrenzone. Rajon Narowlja, Sommer 1986 / Foto © Sergej Plytkewitsch (Privatsammlung)


    Neben der Kosten kamen noch weitere Probleme hinzu: So bereitete die Integration der Umsiedler an den neuen Wohnorten häufig Schwierigkeiten, es fehlte an Arbeitsplätzen und sozialer Infrastruktur. Ab Mitte der 1990er Jahre setzte daher eine Rückwanderung von Umsiedlern in die belasteten Gebiete ein. Insbesondere galt dies für ältere Dorfbewohner, welche in städtische Siedlungen umgesiedelt worden waren. Darüber hinaus bildeten die leer stehenden Häuser in den belasteten Gebieten auch einen Zufluchtsort für Bürgerkriegs­flüchtlinge aus den kaukasischen oder zentralasiatischen Staaten. In den kontaminierten Regionen entstand dadurch eine schwierige demographische Situation, die sich durch einen erhöhten Anteil an alten Menschen und sozialen Risikogruppen, eine hohe Arbeitslosigkeit und einen Mangel an Fachkräften auszeichnete. Zahlreiche sozialpsychologische Probleme, etwa der Anstieg von Alkoholismus und der Scheidungsraten, waren die Folge.

    Lukaschenkos „Sieg“ über Tschernobyl

    Die Rückwanderung gerade älterer Menschen in die depressiven Tschernobyl-Regionen hatte direkte politische Konsequenzen. Im Unterschied zu großen Teilen der jüngeren und urbaneren Bevölkerung verstanden sich viele von ihnen weiterhin als Sowjetmenschen. Dieses autoritäre Potential bot dem 1994 gewählten Präsidenten Alexander Lukaschenko ein ideales Forum, um seinen volksnahen, an sowjetischen Praktiken orientierten Politikstil zu inszenieren. Ab 1996 machte er die Tschernobyl-Problematik zunehmend zu seiner persönlichen Angelegenheit und leitete eine Politik der „Wiedergeburt der verstrahlten Erde“ ein. Seine regelmäßigen Besuche in den kontaminierten Regionen und sein Versprechen, die Umsiedlungspolitik zu beenden, den Investitionsstopp aufzuheben und eine Wiederbelebung der brachliegenden Tschernobyl-Regionen zu ermöglichen, gaben Lukaschenko dabei Gelegenheit, sich von seinen politischen Vorgängern abzugrenzen und diese zu Schuldigen zu erklären.

    Lukaschenko stellte die Überwindung der Tschernobyl-Folgen in die Tradition des Kampfs der Belarusinnen und Belarusen im Zweiten Weltkrieg – ein Vergleich, der bereits 1986 häufig benutzt wurde, als vor allem Soldaten für die Dekontaminierungsarbeiten am zerstörten Reaktor und in der Sperrzone eingesetzt wurden. 2016 konstatierte er bei seinem Besuch anlässlich des 30. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe: „Angesichts der gesamtnationalen Katastrophe hat das belarusische Volk, wie bereits mehrmals in seiner Geschichte, wahrhaftes Heldentum bewiesen. Es hat nicht die Arme hängen lassen, sondern die innere Kraft zur Vereinigung gefunden und daher standgehalten.“7

    Tatsächlich wurden während seiner Amtszeit vielfältige Anstrengungen zur Wiederbelebung der Wirtschaft sowie zur Entwicklung der medizinischen und sozialen Infrastruktur in den verstrahlten Regionen unternommen. Dabei wurden mit Verweis auf den natürlichen Verfallsprozess der zentralen radioaktiven Isotope viele bisher mit der Strahlung begründete Einschränkungen, etwa das Verbot für landwirtschaftliche Aktivitäten, aufgehoben. Auch wenn Lukaschenko bestrebt war, die Anfang der 1990er Jahre beschlossenen umfangreichen Sozialleistungen für die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten zu reduzieren, blieben zentrale Leistungen wie die kostenlose Schulverpflegung oder jährliche Erholungsmaßnahmen für Kinder weiterhin bestehen. Dies trug dazu bei, dass bei sämtlichen Präsidentschaftswahlen seit 2001 die Zustimmungsrate für Lukaschenko in den am stärksten von Tschernobyl betroffenen Bezirken am höchsten lag. In den aktuell als kontaminiert geltenden Gebieten leben immerhin etwa zwölf Prozent der belarusischen Gesamtbevölkerung.8

    Das Menetekel im Hintergrund

    Parallel zu dem von Lukaschenko vertretenen Paradigmenwechsel in der belarusischen Tschernobyl-Politik wandelte sich auch die offizielle Haltung zur Atomenergiefrage: Im November 2020 wurde das erste belarusische AKW eröffnet, um angesichts der Erhöhung der Gaspreise die Abhängigkeit von russländischen Gas- und Öllieferungen zu mindern. Den Erlass für den AKW-Bau hatte Lukaschenko bereits im November 2007 unterzeichnet. Die Botschaft, alle Tschernobyl-Probleme seien dank der umfassenden Aktivitäten der belarusischen Führung erfolgreich bewältigt, stellte eine entscheidende Voraussetzung für die Umsetzung dieses Projekts dar. Ein wichtiger Bestandteil dieser Botschaft ist die Aussage, der Gesundheitszustand der Menschen in den Tschernobyl-Regionen unterscheide sich nicht vom landesweiten Durchschnitt. Medizinische Daten, welche eine Überprüfung dieser Aussage erlauben würden, liegen jedoch nicht vor.9

    Hinter der Oberfläche offizieller Verlautbarungen bleiben die Erfahrungen von Tschernobyl jedoch weiterhin präsent. Besonders deutlich zeigte sich dies 2020 mit Beginn der Covid-19-Pandemie, welche die politische Führung zunächst verharmloste. Wie 1986 wurde 2020 erneut versucht, durch eine selektive Informationspolitik den Eindruck von Normalität zu erwecken, um wirtschaftliche Interessen zu wahren und panische Reaktionen in der Bevölkerung zu verhindern. Dies hatte jedoch in einer Gesellschaft, die durch die Erfahrung einer mehrjährigen Verschleierungspolitik der sowjetischen Behörden nach der Reaktorexplosion im AKW Tschernobyl bis heute traumatisiert ist, den gegenteiligen Effekt. Eine enorme Politisierung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen im Vorfeld der Präsidentschaftswahl vom August 2020 war die Reaktion darauf. Tschernobyl und seine Folgen sind in Belarus daher nach wie vor aktuell. 


    Anmerkung der Redaktion: 

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

     

    Zum Weiterlesen: 
    Arndt, Melanie (2016, Hrsg.): Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl: (Ost-)Europäische Perspektiven, Berlin
    Dalhouski, Aliaksandr (2015): Tschernobyl in Belarus: Ökologische Krise und sozialer Kompromiss (1986-1996), Wiesbaden
    Sahm, Astrid (1999): Transformation im Schatten von Tschernobyl: Umwelt- und Energiepolitik im gesellschaftlichen Wandel von Belarus und der Ukraine, Münster
    Sahm, Astrid (2010): Die Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl für Belarus: Dimensionen, politische Reaktionen und offene Fragen, in: Mez, Lutz/Gerhold, Lars/de Haan, Gerhard (Hrsg.): Atomkraft als Risiko: Analysen und Konsequenzen nach Tschernobyl, Frankfurt a.M. u. a., S. 153-165

    1. Adamovič, Ales’ (1992): Čarnobyl’ i ŭlada, in: ders.: Apakalipsis pa hrafiku, Minsk, S. 3. Eine deutsche Übersetzung des Briefes findet sich unter dem Titel „Nicht nur ein AKW: Ein Brief an Michail S. Gorbačev“ in Osteuropa 4/2006, S. 19-24 ↩︎
    2. zit. nach Sahm, Astrid (1999):Transformation im Schatten von Tschernobyl: Umwelt- und Energiepolitik im gesellschaftlichen Wandel von Belarus und Ukraine, Münster, S. 156 ↩︎
    3. Enttäuscht wurden vor allem die Hoffnungen auf Finanzierung durch internationale Organisationen, wie die Vereinten Nationen oder die EU. Zentrale Stützen waren daher zivilgesellschaftliche Initiativen. So gab die belarusische Regierung 1993 an, bisher 82% der gesamten ausländischen Hilfeleistungen von NGOs erhalten zu haben. Dabei kam der größte Anteil dieser Hilfe in den 1990er Jahren aus Deutschland: Bis Mitte der 1990er Jahre hatten sich hier über 1.000 Initiativen gebildet, die Kinder zur Erholung einluden, Hilfstransporte organisierten oder andere Maßnahmen in den betroffenen Ländern gemeinsam mit ihren Partnern vor Ort durchführten. Vgl. dazu auch Melanie Arndt (2020): Tschernobylkinder: Die Transnationale Geschichte einer nuklearen Katastrophe, Göttingen ↩︎
    4. Die Zahlen wurden 1996 zum 10. Jahrestag von Tschernobyl erstmals veröffentlicht und werden bis heute von offizieller Seite genannt. Der entsprechende Nationale Bericht ist noch online verfügbar. Vgl. ebenfalls Sahm, Transformation im Schatten von Tschernobyl, S. 235 ↩︎
    5. Belarus‘ i Černobyl‘: 33 goda spustja. Informacionno-analitičeskij sbornik, S. 4 ↩︎
    6. Angaben nach Sahm, Astrid (2010): Die Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl für Belarus: Dimensionen, politische Reaktionen und offene Fragen, in: Mez, Lutz/Gerhold, Lars/de Haan, Gerhard (Hrsg.): Atomkraft als Risiko: Analysen und Konsequenzen nach Tschernobyl, Frankfurt a.M. u. a., S. 153-165 ↩︎
    7. Nachrichtenagentur BelTA: Lukašenko: belorusskij narod projavil istinnyj geroizm preodolevaja posledstvija černobyl’skoj katastrofy ↩︎
    8. Angaben nach MČS RB (2019): Belarus‘ i Černobyl‘: 33 goda spustja, Minsk, S. 6 ↩︎
    9. Insgesamt sind die medizinischen Folgen der Tschernobyl-bedingten Strahlung in den betroffenen Regionen nur schwer einschätzbar, da zahlreiche weitere Faktoren die Gesundheit der Menschen beeinflussen und die Strahlung über die Nahrungsmittelkette auch Menschen in anderen Regionen erreicht. Auch in der internationalen Forschungsgemeinschaft gibt es hierzu unterschiedliche Positionen. Direkt der Strahlenbelastung zuordbar sind lediglich die akute Strahlenkrankheit, die bei in der Nacht der Reaktorexplosion vor Ort eingesetzten Personen auftrat, sowie Schilddrüsenkrebs, der durch die Jod-131-Strahlung in den ersten Tagen nach der Katastrophe ausgelöst wurde. Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Jugendlichen war in Belarus vor Tschernobyl praktisch unbekannt. In den ersten 15 Jahren nach der Katastrophe wurden jedoch über 1000 Fälle diagnostiziert. Siehe zur Problematik: The Other Report on Chernobyl ↩︎

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  • Bystro #15: Warum ist Belarus wichtig für den Kreml?

    Bystro #15: Warum ist Belarus wichtig für den Kreml?

    Wird der Kreml das schwächer werdende Lukaschenko-Regime stabilisieren, oder eher auf einen neuen Kandidaten seines Vertrauens setzen? Ist es denkbar, dass Moskau in Belarus genauso interveniert, wie 2014 in der Ukraine? Was sind überhaupt Russlands Interessen in Belarus, und was denken die Menschen übereinander? Ein Bystro von Astrid Sahm in sechs Fragen und Antworten – einfach durchklicken.

    1. Wie bewertet der Kreml das Geschehen in Belarus? Politische Unruhen oder gar ein Machtwechsel können Putin doch nicht gleichgültig sein?

    2. Alles, was in Belarus derzeit passiert (und passieren kann), sei für Putin eine Win-Win-Situation. Auf diese Formel bringen es zahlreiche unabhängige Beobachter. Was steckt hinter dieser Einschätzung?

    3. 1999 schlossen Belarus und Russland einen Vertrag über die Schaffung eines Unionsstaats ab. Was steht da drin – und ist das mehr als ein Papiertiger?

    4. Wie schaut die russische Gesellschaft auf Belarus? Ist das Land in seiner Bedeutung für die russische Geschichte ähnlich aufgeladen wie etwa die Krim – die Russland 2014 angegliedert hat?

    5. Und umgekehrt: Wie steht man in Belarus zu Russland? Sind die Beziehungen zwischen den Ländern überhaupt Thema der Opposition oder bei den Protesten?

    6. Einige russische Beobachter halten es für denkbar, dass Russland in Belarus genauso interveniert, wie 2014 in der Ukraine. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit für dieses Szenario?


     

    1. Wie bewertet der Kreml das Geschehen in Belarus? Politische Unruhen oder gar ein Machtwechsel können Putin doch nicht gleichgültig sein?

    Der Kreml ist wie viele andere Akteure von den aktuellen Entwicklungen in Belarus überrascht worden. Ein Sieg Alexander Lukaschenkos bei der Präsidentschaftswahl am 9. August galt in Moskau stets als sicher. Dementsprechend gratulierte Wladimir Putin Lukaschenko bereits einen Tag später zu seiner Wiederwahl. Auf die wachsende gesellschaftliche Protestbewegung und das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten reagierte der Kreml zunächst zurückhaltend. Dies änderte sich erst am vergangenen Wochenende. Hierfür gibt es zwei Gründe: 1. Lukaschenko zeigte sich nicht in der Lage, die Situation unter Kontrolle zu bringen; 2. Moskau sieht seine geopolitischen Ansprüche seit der Verlautbarung von Vermittlungsangeboten aus Lettland, Litauen und Polen bedroht. Der Kreml verwahrt sich daher gegen jegliche Einmischung durch die EU oder die USA in Belarus. Nur wenn seine geopolitischen Interessen gewahrt blieben und kein innenpolitischer Fallout droht, könnte der Kreml einem Machtwechsel in Belarus zustimmen. Ein vorsichtiger Hinweis auf eine Kompromisssuche ist, dass Russlands Außenminister Lawrow am 19. August die belarussischen Wahlen als „nicht ideal“ bezeichnete und die Bereitschaft der Staatsführung zum Dialog mit ihren Bürgern hervorhob.


    2. Alles, was in Belarus derzeit passiert (und passieren kann), sei für Putin eine Win-Win-Situation. Auf diese Formel bringen es zahlreiche unabhängige Beobachter. Was steckt hinter dieser Einschätzung?

    Dies sehe ich anders. In Moskau ist man schon lange unzufrieden mit der Politik des belarussischen Präsidenten. Alexander Lukaschenko wollte sich bei den diesjährigen Wahlen als Garant der belarussischen Souveränität präsentieren. Bereits während der Covid-19-Pandemie, auf welche die Staatsführungen beider Länder ganz unterschiedlich reagierten, äußerte sich Lukaschenko kritisch über russische Einmischungsversuche. Auch im Wahlkampf gab es etliche russlandkritische Äußerungen. Der Höhepunkt war die offensichtlich inszenierte Verhaftung von 33 Söldnern der russischen Sicherheitsfirma Wagner in einem Sanatorium bei Minsk. Allerdings schloss Lukaschenko den Kreml explizit aus dem Vorwurf aus, russische Akteure würden versuchen, die Lage in Belarus zu destabilisieren. Der Kreml hielt sich daher mit Kommentaren zurück. 
    Die Annahme war, dass Lukaschenko aus der Präsidentschaftswahl so geschwächt hervorgehen würde, dass er gezwungen wäre, die russischen Integrationspläne zu akzeptieren. Stattdessen sieht sich der Kreml nun mit dem Risiko konfrontiert, die Kontrolle über Belarus zu verlieren. Hält sich Lukaschenkо an der Macht, kann er Moskau zwar nicht länger mit einer Westwende drohen. Allerdings dürfte dies antirussische Stimmungen in der belarussischen Gesellschaft stärken. 
    Im Falle eines Machttransfers ist unsicher, ob der Kreml einen Kandidaten seines Vertrauens lancieren kann. Zudem würde nach innen das Scheitern seiner bisherigen Belarus-Politik offensichtlich, da erneut eine „Revolution“ in der Nachbarschaft nicht verhindert werden konnte. Moskau steht daher vor einem Dilemma.


    3.1999 schlossen Belarus und Russland einen Vertrag über die Schaffung eines Unionsstaats ab. Was steht da drin – und ist das mehr als ein Papiertiger?

    Der Vertrag sieht unter anderem eine gemeinsame Verfassung, Währung, Zollbehörde, ein gemeinsames Gericht und einen Rechnungshof vor. Vor dem Hintergrund der Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion hatte die bilaterale Integration jedoch in den letzten Jahren an Bedeutung verloren. Erst Ende 2018 wurden die Pläne zum Aufbau des Unionsstaats überraschenderweise vom Kreml wieder aus der Schublade geholt. Im Laufe des Jahres 2019 verhandelten beide Seiten über 30 Integrationsfahrpläne. Besonders umstritten war die Roadmap Nr. 31, die die Gründung von supranationalen Organen vorsah. Aus diesem Grund wurde die für Dezember 2019 geplante Unterzeichnung des Integrationspakets verschoben. Allgemein wird angenommen, dass dem Kreml an der Bildung supranationaler Organe vor allem deshalb gelegen war, um eine Option für eine Führungsrolle Putins über 2024 hinaus zu haben. Diese Notwendigkeit ist nun entfallen mit der russischen Verfassungsänderung, die unter anderem eine Aufhebung der Amtszeitbegrenzung für Wladimir Putin vorsieht. Ein Integrationserfolg mit Belarus hätte zudem keinen derartigen Effekt für Putins Popularität wie die Krim-Annexion, die ein nationalpatriotisches Stimmungshoch auslöste. 


    4. Wie schaut die russische Gesellschaft auf Belarus? Ist das Land in seiner Bedeutung für die russische Geschichte ähnlich aufgeladen wie etwa die Krim – die Russland 2014 angegliedert hat?

    Die meisten Russen haben ein positives Bild von Belarus und hegen keine Zweifel an den engen freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern. Dies gilt auch für den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, den einer Umfrage vom Juli 2020 zufolge immerhin noch 52 Prozent der Befragten positiv bewerteten. Es gibt keine relevanten belastenden Ereignisse in der Vergangenheit, die konfliktfördernd wirken könnten, und in Belarus befinden sich keine Orte, die von besonderer mythischer Bedeutung für das nationale Selbstverständnis Russlands sind. Und so wird ein Zusammenschluss beider Staaten mit einer gemeinsamen Staatsführung nur von einer Minderheit gewünscht. Allerdings würden eine eventuelle Westwende von Belarus und ein Austritt des Landes aus den bestehenden Integrationsformaten mit Russland äußerst negativ wahrgenommen werden. Insgesamt sind die politischen Entwicklungen in beiden Ländern eng miteinander verwoben. Dies gilt auch für die politische Opposition. So berichteten der YouTube-Kanal von Alexej Nawalny und der unabhängige Fernsehkanal Doshd stundenlang über die Ereignisse in Belarus. Auch die Demonstranten in Chabarowsk brachten ihre Solidarität mit der belarussischen Protestbewegung zum Ausdruck. Insgesamt fragen sich in Russland viele Menschen, ob sie in Belarus derzeit die mögliche Entwicklung des eigenen Lands bei den Präsidentschaftswahlen 2024 beobachten können.    


    5. Und umgekehrt: Wie steht man in Belarus zu Russland? Sind die Beziehungen zwischen den Ländern überhaupt Thema der Opposition oder bei den Protesten?

    Die engen Beziehungen beider Länder stehen auch in Belarus nicht zur Disposition. Allerdings ist die Unterstützung der Belarussen für eine enge politische Integration beider Staaten in den vergangenen Jahren deutlich rückläufig. Dem belarussischen Soziologen Andrej Wardomatzki zufolge ist die Unterstützung für die Union von Belarus und Russland im Laufe des Jahres 2019 von 60,4 auf 40,4 Prozent gesunken. Anfang 2020 befürworteten nur 12,8 Prozent einen gemeinsamen Staat, während sich eine deutliche Mehrheit (74,6 Prozent) für freundschaftliche Beziehungen von zwei unabhängigen Staaten mit offenen Grenzen, das heißt ohne Visa- und Zollschranken, aussprach. 
    Die aktuelle Protestbewegung konzentriert sich ausschließlich auf innenpolitische Fragen. Sie ist in erster Linie gegen Präsident Lukaschenko gerichtet, der infolge seiner Verharmlosung der Covid-19-Pandemie einen massiven Vertrauensverlust erlitten hat. Ihre zentrale Forderung ist die Umsetzung des Rechts auf freie und faire Wahlen. Der vereinigte Wahlkampfstab der Alternativkandidatin Swetlana Tichanowskaja betont in seinen öffentlichen Statements zudem stets, dass sie keine grundsätzliche Änderung des außenpolitischen Kurses von Belarus und gleichermaßen gute Beziehungen zu allen Nachbarländern anstreben. Hierzu steht auch die Verwendung der Weiß-Rot-Weißen Flagge durch die Opposition nicht im Widerspruch.    


    6. Einige russische Beobachter halten es für denkbar, dass Russland in Belarus genauso interveniert, wie 2014 in der Ukraine. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit für dieses Szenario?

    Eine offene Intervention wäre für Russland mit hohen Kosten verbunden. So müsste der Kreml dann auch die Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung von Belarus übernehmen, was angesichts der wirtschaftlichen Stagnation in Russland eine hohe Belastung wäre. Zudem müsste der Kreml in diesem Falle mit Widerstand aus der belarussischen Gesellschaft sowie mit neuen westlichen Sanktionen rechnen. Damit würde er sich international weiter isolieren. Wahrscheinlicher sind daher verdeckte Versuche der Einflussnahme. Damit könnten unterschiedliche Zielsetzungen verfolgt werden. So hat die belarussische Liberal-Demokratische Partei am 18. August zur Bildung eines Koordinationskomitees der „Volkspatriotischen Bewegung“ aufgerufen. Diese ist offensichtlich als Gegenbewegung zu den aktuellen Protesten gedacht und soll diese neutralisieren helfen. Hinter den Kulissen dürfte der Kreml nach geeigneten Personen und Wegen suchen, um einen geordneten Machttransfer im eigenen Sinne zu gewährleisten. Mit seinen jüngsten öffentlichen Äußerungen über die akute Gefahr einer westlichen Einmischung in Belarus und dem Vorwurf an den Koordinationsrat der Opposition, antirussische Ziele zu verfolgen, setzt Alexander Lukaschenko den Kreml allerdings unter Handlungsdruck. Eine weitere Eskalation, die zu einer direkten Intervention Russlands führt, kann daher nicht ausgeschlossen werden.

     

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Autorin: Astrid Sahm
    Veröffentlicht am 21.08.2020

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