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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wer treibt hier wen vor sich her?

    Wer treibt hier wen vor sich her?

    Lukaschenko muss zurücktreten, die Gewalt muss enden und die politischen Gefangenen müssen freigelassen werden: Diese drei Forderungen hatte Swetlana Tichanowskaja Mitte des Monats aufgestellt und dem Regime in Belarus eine Frist bis zum 25. Oktober gesetzt, andernfalls werde es einen landesweiten Generalstreik geben. 

    Verschiedene Kommentatoren bewerteten diesen Schritt als gewagt. Denn sollten die Streiks, die heute begonnen haben, nicht so umfangreich und dauerhaft wie erwartet ausfallen, könnte das dem Ruf von Tichanowskaja und ihrem Team erheblich schaden.

    Artyom Shraibman, unabhängiger Analyst und regelmäßiger Autor bei tut.by und Carnegie.ru, hatte sich zuvor ähnlich skeptisch geäußert. Nach den Massenprotesten vom Wochenende jedoch schreibt er auf seinem Telegram-Kanal, dass das Ultimatum schon jetzt erste Erfolge gezeigt habe. 

    Im politischen Kampf ist kaum etwas so bedeutend wie die Frage, wer gerade den Ton angibt. Der September war ein Monat, in dem die Staatsmacht scheinbar dauerhaft den Ton angab. 

    Nun passiert das Gegenteil, die Staatsmacht handelt inkonsistent: Mal wurde eine Demo [zur Unterstützung Lukaschenkos – dek] angesetzt, dann wieder abgesagt, mal gibt es politische Festnahmen, dann werden die Gefangenen wieder freigelassen, mal wird brutal auf der Straße eingegriffen, dann wieder nicht. 

    Man kann es kaum anders beschreiben denn als nervöses Schwanken. Die Gründe für dieses Schwanken sind klar – es ist ist teuflisch schwer zu beurteilen, was nun mit dem Kredit von Russland ist, angesichts der Drohungen im [russischen staatsnahen Sender – dek] NTW und dem Druck wegen der Verfassungsreform. Flaut der Protest nun ab oder nicht? Und die Opposition lässt sich nicht spalten, wie sehr man auch draufhaut.

    Vor diesem Hintergrund ist der erste Akt von Tichanowskajas Ultimatum gelungen. Der Protest ist zurück – zumindest in der Größenordnung des frühen September (über 100.000, vielleicht sogar 150.000 Teilnehmer). Morgen [Montag] ist natürlich der Tag X, aber selbst ohne landesweiten Generalstreik wäre das schon nicht mehr das völlige Versagen, das Skeptiker dem Ultimatum vorhergesagt haben.

    Alles geschieht nach dem Muster, mit dem ich euch wohl schon auf die Nerven gehe: Wer den Ton angibt und ungewöhnliche Züge macht, der bringt seinen Gegner aus dem Gleichgewicht und bringt ihn dazu, Fehler zu machen.

    Aus Angst vor wieder größeren Straßenprotesten ist die Staatsmacht gezwungen, ihre Taktik zu ändern. Das heißt: Entweder folgt eine neue Stufe an Repressionen oder ein noch deutlicheres Zurückweichen (die Freilassung von noch mehr politischen Gefangenen, ein schnellers Voranbringen der Verfassungsreform).

    In beiden Fällen begibt man sich auf dünnes Eis, denn es könnte dem Protest ein Gefühl des Sieges vermitteln: das heißt, neuen Enthusiasmus, oder neuen Antrieb aus Wut über die Brutalität. Es wird eine wichtige Woche. 
     

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  • Das toxische Wertpapier des Kreml

    Das toxische Wertpapier des Kreml

    Das Treffen zwischen Putin und Lukaschenko in Sotschi am vergangenen Montag, 14. September, verlief leise. Nach rund vier Stunden Gespräch gab es keine offizielle Abschlusserklärung, fest stand nur, was man schon vorher wusste: Der Kreml gibt eine Geldspritze von 1,5 Milliarden Dollar.
    In Sozialen Medien machten dagegen Fotos vom Treffen die Runde, auf denen Putin sich die Augen reibt und Lukaschenko in seinem Stuhl immer weiter Richtung Putin rutscht. In den Kommentaren lachten User über die Bildsprache.

    Tatsächlich steht Lukaschenko mit dem Rücken zur Wand, sein einziger Verbündeter ist Russland. Doch auch der Kreml steht vor einem Dilemma, denn er hat viel zu verlieren: Kippt die prorussische Stimmung in Belarus, droht weitere Destabilisierung. Artyom Shraibman kommentiert auf Carnegie.ru.

    Ein Bild sagt mehr als tausend Worte? – Putin und Lukaschenko bei ihrem Treffen in Sotschi / Foto ©  Screenshot RT
    Ein Bild sagt mehr als tausend Worte? – Putin und Lukaschenko bei ihrem Treffen in Sotschi / Foto © Screenshot RT

    Von der Wahl in Belarus hatte man erwartet, dass nur einer als unanfechtbarer Sieger daraus hervorgehen würde: Russland. Alexander Lukaschenko hatte – als Reaktion auf die rasante Politisierung der Gesellschaft – im Laufe des Sommers die Repressionen gegen die belarussische Bevölkerung verschärft. Der Höhepunkt war das gewaltsame Vorgehen gegen Demonstranten unmittelbar nach der Wahl, was die Beziehungen zum Westen um viele Jahre zurückgeworfen hat.

    Eine solche Entwicklung hätte Minsk allen Prognosen zufolge in die Arme des Kreml treiben müssen, der auf diese Weise einen Freibrief für Belarus erhält. Auf den ersten Blick ist auch genau das geschehen.

    Doch tatsächlich erweist sich die politische Krise in Belarus als noch viel tiefer, als die kühnsten Prognosen vermuten ließen. Die internationale wie die innere Legitimität Lukaschenkos hat stärker gelitten, als es irgendeinem seiner verbliebenen Partner im Ausland lieb sein kann.

    Lukaschenkos Legitimität hat stärker gelitten, als es Moskau lieb sein kann

    Lukaschenko hat sich wochenlang auf das Treffen mit Putin [am Montag, 14. September 2020 – dek] vorbereitet. Der Westen ist wieder zum Hauptfeind avanciert; um das deutlich zu machen, wurden sogar belarussische Fallschirmjäger an die polnische Grenze verlegt. Lukaschenko beschuldigte die Opposition wieder, russophob zu sein und im Auftrag der USA zu handeln – obwohl noch Anfang August laut Lukaschenko russische Strippenzieher am Werk gewesen waren.

    Die Regierung versucht die Proteste zu ersticken, indem sie den Grad der Repressionen Woche um Woche erhöht. Wieder hunderte Festnahmen, Wasserwerfer und Leuchtraketen. Die Gewalt macht auch nicht vor demonstrierenden Frauen halt. Lukaschenko wollte in Sotschi als Leader auftreten, der den Aufstand bei sich zu Hause bereits besiegt hat.

    Doch das hat nicht funktioniert. Das Ausmaß der regionalen Proteste ist zwar nicht mehr dasselbe wie noch vor einem Monat – in etwa zehn Städten demonstrieren die Leute, nicht mehr in hundert. Aber zu den sonntäglichen Kundgebungen in Minsk, dem Hauptbarometer der Protestbewegung, kommen immer noch 100.000 bis 150.000 Menschen. Hochgerechnet auf die Bevölkerung Moskaus, wären das bis zu einer Million Menschen, die dort Woche für Woche auf die Straße gehen.

    Lukaschenko wollte als Leader auftreten

    Das Treffen in Sotschi fand ohne Delegationen statt, die Präsidenten sprachen mehr als vier Stunden unter vier Augen. Eine gemeinsame Abschlusserklärung gab es nicht. Das einzige konkrete Ergebnis blieb der Kredit von 1,5 Milliarden Dollar, den Putin Lukaschenko schon vor dem Gespräch zugesichert hatte.

    Das ist eine erhebliche, wenn auch nicht überwältigende Unterstützung. Ungefähr die gleiche Summe hat die belarussische Nationalbank im August ausgegeben, um der Panik auf dem Währungsmarkt entgegenzuwirken.

    Gleich zu Beginn sagte Putin, dass er die von Lukaschenko geplante Verfassungsreform unterstützt. Allen ist klar, dass sie den Auftakt zu einem Machttransfer bildet.

    Wie schon bei früheren Treffen in Sotschi sprach Lukaschenko viel davon, dass man wahre Freunde in der Not erkennt und man in Wirtschaftsfragen „mit dem großen Bruder enger zusammenrücken“ müsse. Jetzt sind das allerdings mehr als höfliche Floskeln – die freundschaftlichen Brücken zum Westen hat die Regierung in Minsk niedergebrannt und damit den einstigen Balanceakt beendet.
    Aus ersichtlichen Gründen sind sich der belarussische und der russische Präsident nie als gleichberechtigte politische Figuren begegnet. Jetzt wird die Ungleichheit noch dadurch verstärkt, dass beide wissen, wer die lahme Ente im Raum ist und wer das Futter in der Hand hält.
    Doch sollte man nicht voreilig den Schluss ziehen, Putin hätte einen einfachen Partner bekommen, der alles tun wird, was Moskau von ihm verlangt. 

    Beide wissen, wer die lahme Ente im Raum ist und wer das Futter in der Hand hält

    Noch dazu macht es jetzt bei vielen Dingen gar keinen Sinn mehr, von Lukaschenko bestimmte Zugeständnisse einzufordern: Es wäre ein genauso riskantes Unterfangen, einen schwachen Lukaschenko zu einer engeren Integration zu zwingen wie einen starken Lukaschenko dazu zu überreden. So ist nach dem Vertrauen nun auch die Planungssicherheit in den Beziehungen zwischen Minsk und Moskau verschwunden. Beide Parteien können nicht mehr auf die Ewigkeit zählen, an die sie sich als lebenslange Autokraten gewöhnt hatten. Wenn Putin Lukaschenko zum Beispiel jetzt dazu nötigt, einen gemeinsamen Fahrplan zu unterzeichnen, würde er sich damit mehr Probleme als garantierte Vorteile verschaffen.

    Wenn die Protestierenden sehen, dass Lukaschenko das Land verrät, bekommt die bislang prodemokratische Massenbewegung den Beigeschmack eines nationalen Befreiungskampfes. Die stabile prorussische Mehrheit unter den Belarussen wird man in dem Fall vergessen können. Denn wenn der durchschnittliche Belarusse zwischen Sympathien für Russland und der Abneigung gegen Lukaschenko wählen muss, wird er sich für die zweite, stärkere Emotion entscheiden. Und wenn sich Moskau hinter einen Herrscher stellt, den der überwiegende Teil der Bevölkerung offenbar satt hat, poliert er in Augen der Belarussen damit nicht dessen Image auf, sondern er ruiniert das eigene.

    Vermutlich ist das der Grund, warum Dimitri Peskow den Effekt der Unterstützung für Lukaschenko abzumildern versuchte. Nach dem Treffen in Sotschi sagte er, Moskau liebe und schätze alle Belarussen – sowohl die, die mit dem Wahlergebnis einverstanden sind als auch alle anderen.

    Wenn der Belarusse zwischen Sympathien für Russland und der Abneigung gegen Lukaschenko wählen muss, wird er sich für die zweite, stärkere Emotion entscheiden

    Noch entscheidender ist die Tatsache, dass Lukaschenkos Unterschrift im Wert gesunken ist. Denn sollte Lukaschenko seine Position im Land festigen können, wird er von einer Vertiefung der Integration wieder Abstand nehmen, und zwar genauso schnell, wie er bei diesen Wahlen den äußeren Feind gewechselt hat: vom Westen zu Russland und wieder zurück. Sollte Lukaschenkos Position im Land dagegen weiter geschwächt werden, wird er schlicht keine Zeit haben, solch ambitionierte Pläne umzusetzen.

    Auch mit der internationalen Legitimität würde es Probleme geben. Vermutlich wird kein Deal, der die belarussische Souveränität spürbar einschränkt, im Westen akzeptiert werden. Deswegen besteht das Risiko, dass das belarussische Protektorat zu einer großen Krim wird: von Investitionen und vom Weltmarkt durch Sanktionen abgeschnitten, wäre es ein noch viel größeres Gewicht am Hals des russischen Budgets als in den Jahren der Spitzensubventionen

    Will Moskau also eine ordentliche Gegenleistung für die Unterstützung Lukaschenkos, dann müssen das handfeste Zugeständnisse sein, die nicht zerredet werden und die der belarussische Präsident auch tatsächlich schafft umzusetzen. Das können zum Beispiel Privatisierungen attraktiver belarussischer Vermögen sein, wie erdölverarbeitende und Rüstungsbetriebe oder das riesige Kali-Kombinat Belaruskali. 

    Es besteht das Risiko, dass das belarussische Protektorat zu einer großen Krim wird

    Bedenkt man, dass es in all diesen Firmen Streikversuche gab und Lukaschenko in einer davon – der Minsker Fabrik für Radschlepper – von den Arbeitern ein lautes „Hau ab!“ hörte, fühlt er sich diesen Aktiva möglicherweise sowieso nicht mehr so verbunden. 
    Man kann wieder von Lukaschenko fordern, dass er einem russischen Militärstützpunkt im Land zustimmt, nachdem Minsk das Bild des neutralen Stabilitätsgaranten in der Region ja ohnehin begraben hat. Aber dieses Thema kann in solch emotionalen Momenten ähnliche innenpolitische Auswirkungen haben wie die Forcierung einer Integration: Der Verdacht, Lukaschenko könnte Grüne Männchen ins Land lassen, mobilisiert die Demonstranten.

    Dass deren Befinden dem Kreml ein großes Anliegen wäre, kann man zwar nicht behaupten: Die russische Staatsmacht neigt genauso wie die belarussische dazu, demonstrierenden Menschenmengen jede Selbstbestimmtheit abzusprechen und stattdessen die wahren und fast immer ausländischen Drahtzieher und Ideengeber ausfindig machen zu wollen. 

    Aber selbst in diesem Weltbild widerspricht eine noch stärkere Destabilisierung als bisher sowohl den Interessen Lukaschenkos als auch Putins. Sie wäre aber unausweichlich, wenn Moskau der Verführung erliegt, den Gesprächspartner bei den Hörnern zu packen.
    Das hat man im Kreml verstanden, auch wenn man ihm sonst mitunter Realitätsverlust zuschreiben kann.

    Der Verdacht, Lukaschenko könnte Grüne Männchen ins Land lassen, mobilisiert die Demonstranten

    Das ideale Szenario für Moskau, an dem man dort sicher arbeitet, wäre eine unblutige Stabilisierung der Situation durch Lukaschenko selbst und anschließend ein fließender, mit dem Kreml abgestimmter Machttransfer hin zu einem horizontaleren Modell
    So könnte Moskau, ohne sich auf Lukaschenko oder seinen potentiellen Nachfolge-Kandidaten einzuschießen, auf bekannte Art Einfluss auf die belarussische Politik nehmen: über loyale Parteien, einzelne Silowiki, Beamte und Politiker, indem es Bereiche der belarussischen Wirtschaft und Geldströme kontrolliert – ohne Vetorecht eines allmächtigen Präsidenten. 
       
    Aber der Teufel steckt im Detail. Niemand weiß, was Lukaschenko von diesem Plan hält. Will er sich im Grunde schnell aus dem Staub machen? Oder sind die Gespräche über eine neue Verfassung und Neuwahlen ein Versuch, Zeit zu gewinnen und die Gegnerschaft zu spalten? Inwiefern werden sich seine Pläne ändern, wenn die Proteste aufhören? Ist er wirklich bereit, mit dem Kreml, dem er immer noch nicht vertraut, über die heikle Frage eines Machttransfers zu sprechen?

    Moskaus ideales Szenario: ein unblutiger Machttransfer

    Diese Dinge werden die beiden Parteien allem Anschein nach wie immer wirtschaftlich klären. Die westlichen Sanktionen und das Misstrauen der Belarussen in staatliche Institutionen verschlechtern das Investitionsklima der belarussischen Ökonomie empfindlich. Ohne flächendeckende und regelmäßige Finanzspritzen aus dem Ausland kann man Wirtschaftswachstum unter Lukaschenko vergessen. So wie früher ist das Land auf ein jährliches Zubrot in Höhe von drei bis fünf Milliarden Dollar angewiesen. Doch für Lukaschenko ist der Zugang zu den globalen Anleihemärkten gesperrt. Die einzige Hoffnung ist Russland.   

    Aber Lukaschenko wird verhandeln, auch wenn er im Moment mit dem Rücken zur Wand steht. Anstatt dem Kreml Zugeständnisse zu versprechen, wird er beteuern, dass er das Land vor einem antirussischen Aufstand und den NATO-Panzern vor Smolensk rettet. Und allein diese Dienste seien eines Entgelts würdig. Als Antwort wird er weitere kränkende Anspielungen hören, dass er mal langsam abtreten soll.
      
    Moskau muss diesen Dialog mit Bedacht führen. Wenn die belarussische Nomenklatura oder die Gesellschaft spüren, dass Lukaschenko den Rückhalt Russlands verliert, dann kann das sein Regime ganz schnell zu Fall bringen. Das kann der Kreml nicht zulassen, solange er keine anderen verlässlichen Partner in der belarussischen Regierungselite oder Opposition hat.  

    Vom überreifen Apfel zum toxischen Wertpapier

    Lukaschenko versteht, wie wichtig dieses Kontaktmonopol ist und blockiert weiterhin separate Gespräche der Nomenklatura mit Moskau, zerschlägt Strukturen und verhaftet Oppositionsführer, damit Russland nur ja keinen anderen Gesprächspartner findet.   

    Von einem überreifen Apfel, der Moskau ganz von selbst hätte in die Hände fallen müssen, wird das belarussische Regime mehr und mehr zu einem toxischen Wertpapier: Man kann mit ihm weder Geschäfte machen, noch kann man es loswerden.    
    Wenn es Lukaschenko gelingt, die Akutphase der Proteste in seinem Sessel zu überstehen, dann muss Moskau Zuckerbrot und Peitsche sorgfältig dosieren, um den belarussischen Präsidenten dorthin zu bekommen, wo es ihn haben will, ohne ihn aus Versehen zu schwach oder zu stark werden zu lassen. Von der Regierung in Moskau erfordert das permanente Aufmerksamkeit und ein tiefes Verständnis der Situation in Belarus.     

    Nun ist die Kreml-Politik im postsowjetischen Raum allerdings nicht gerade reich an Beispielen für ein solches Fingerspitzengefühl. Konflikte anzetteln und einfrieren ist eine Sache. Eine ganz andere ist es, einen geordneten Transfer mitzugestalten – in einem Land, in dem Moskau trotz gemeinsamer Sprache über keine verlässlichen Stützpfeiler verfügt.

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  • Wie der Dialog in Belarus aussehen sollte

    Wie der Dialog in Belarus aussehen sollte

    Zwei Mitglieder des oppositionellen Koordinationsrats sind am Montagvormittag, 24. August, von OMON-Kräften festgenommen worden. So spitzt sich die Situation in Belarus weiter zu, nachdem Alexander Lukaschenko am Wochenende mit dem Maschinengewehr in der Hand vor die Silowiki trat – und in Minsk eine historische Zahl von mehr als 100.000 Menschen gegen Wahlfälschung und Gewalt protestierte.

    Die EU und der Kreml fordern Lukaschenko zum Dialog auf, die OSZE bot Vermittlung an – und abgesehen davon, dass Lukaschenko jedes Gespräch bislang verweigert: Wie kann ein Dialog überhaupt aussehen zwischen zwei Parteien, die einander kaum vertrauen? Das fragt der belarussische Journalist Artyom Shraibman. Und macht ein paar – vielleicht utopische, aber durchaus bedenkenswerte – Vorschläge im unabhängigen Online-Portal tut.by.

    Wie auch immer Alexander Lukaschenko die Realität wahrnimmt: Fakt bleibt, dass das System in seiner bisherigen Form immer schwerer zu steuern ist. Und um es auf lange Zeit wie eine Besatzungsmacht zu verwalten, dazu fehlt Lukaschenko schlicht das Geld.

    So oder so wird also der Moment kommen, in dem Lukaschenko oder genügend Leute in seinem engsten Kreis erkennen, dass der Dialog mit den Opponenten weniger riskant ist als der Versuch, den Senf wieder zurück in die Tube zu drücken. Oder ihr Patriotismus wird stärker als der Wunsch, ewig an der Macht zu bleiben.

    Verfassungsreform und Neuwahlen

    Was kann Gegenstand dieses Dialogs sein? Hier bin ich zu meinem eigenen Erstaunen einverstanden mit Lukaschenkos Worten: Der nachhaltigste Weg ist eine schnelle Verfassungsreform und anschließende Neuwahlen für einen Neustart der Regierung.

    Der Präsident von Belarus hat auch Recht, dass man die heutige Verfassung mit ihrer Schlagseite [zugunsten des Präsidenten – dek] niemandem so überlassen kann – weder Tichanowskaja noch Tichanowski, Lukaschenko junior, dem Premierminister Golowtschenko, Babariko, Zepkalo, Mutter Theresa oder dem Papst. Diese Verfassung ist ein Pfad in den Abgrund, weil sie das Schicksal einer Nation von den Launen eines einzelnen Menschen abhängig macht. Das kann das Land nicht länger riskieren.

    Damit die Gesellschaft diesen Prozess als legitim ansieht, kann er nicht stattfinden als Dialog von Lukaschenko und Leuten, die er selbst auswählt, wie etwa den offiziellen Gewerkschaften, der staatlichen Jugendorganisation BRSM oder Belaja Rus. Sondern es muss ein Dialog der gegenwärtigen Opponenten sein: Lukaschenko und sein engster Kreis auf der einen Seite und das Präsidium des Koordinationsrates auf der anderen Seite.

    Beide Seiten vertrauen einander nicht und werden es wohl nie tun. Das Präsidium des Koordinationsrats und seine Anhänger sehen Lukaschenko als illegitimen Usurpator, der die Wahl verloren hat und keines seiner Versprechen einhält. Lukaschenko und seine Anhänger halten das Präsidium des Koordinationsrats für ein selbsternanntes Gremium ohne Unterstützung aus der Gesellschaft, das von äußeren Mächten gesteuert wird.

    Auf eine Vermittlung von außen sollte verzichtet werden, weil die Krise in Belarus vom Wesen eine zutiefst innere ist

    Das heißt, sobald die Regierung bereit zu einem Dialog ist, brauchen beide Seiten Mediatoren. Falls man Moskau oder Brüssel, Washington oder Peking ins Boot holt, werden die beiden Seiten noch stärker den Verdacht schöpfen, dass die jeweils anderen versuchen würden, das Land aus der Hand zu geben. 

    Auf eine Vermittlung von außen sollte verzichtet werden, weil die Krise in Belarus vom Wesen eine zutiefst innere ist. Es wirkt komisch, wenn gerade die von äußerer Einmischungen sprechen, deren neue [russische – dek] Mitarbeiter im belarussischen Staatsfernsehen Belorussija schreiben. Man denke daran, wie eine Vermittlung von außen in der Hochphase des ukrainischen Maidans scheiterte und zum Prolog für einen langwierigen Krieg wurde. Der Mediator muss im Land selbst gefunden werden.

    Wer gilt als unvoreingenommene Autorität für beide Seiten?

    Das ist schwer, denn es gibt praktisch niemanden, der ohne Zweifel als unvoreingenommene Autorität für beide Seiten gilt. Es muss jemand gefunden werden, der definitiv keine Machtansprüche hegt und allein am gesellschaftlichen Frieden und Konsens interessiert ist. 

    Das beste, was wir haben, scheinen mir die Kirchen zu sein. Mir liegen solche Mutmaßungen fern, aber einige Leute werden womöglich verlockt sein, die Belarussisch-Orthodoxe Kirche als Wegbereiterin für russische oder die katholische Kirche als Wegbereiterin für polnische Interessen zu sehen. Ein Kompromiss könnte ein gemeinsame Vermittlung sein von den Oberhäuptern der fünf Konfessionen in Belarus: Orthodoxe, Katholiken, Protestanten, Juden und Muslime.

    Dialog unter zwei Bedingungen

    Je weniger Bedingungen es für einen Dialog gibt desto besser. Doch ein paar grundlegende Bedingungen müssen erfüllt sein, damit ein Dialog möglich ist. Ich sehe zwei: 

    Erstens müssen Gewalt und Repressionen von Seiten der Machthaber beendet werden. Zweitens muss Alexander Lukaschenko und seiner Familie eine unbefristete Garantie für physische Sicherheit und vollständige Immunität  garantiert werden. Wenn diese Gesten des Goodwill nicht von beiden Seiten angenommen werden, wird es nicht möglich sein, sich an einen Tisch zu setzen. 

    Das beste Produkt eines solchen Dialogs wäre ein Verfassungsentwurf, den keine der beiden Seiten als Niederlage empfinden würde. Es wäre die Verfassung einer parlamentarischen Republik, die entweder überhaupt keinen Präsidenten hat oder dessen Rolle eine rein repräsentative wäre. Lukaschenko bliebe in einer solchen Situation der erste und letzte Präsident des Landes mit umfassenden Machtbefugnissen.

    Wenn die Regierung überzeugt ist, dass sie die Mehrheit vertritt, so kann sie ihre Positionen auch in einer parlamentarischen Republik bewahren. Dafür ist es einzig vonnöten, eine Partei zu gründen und die Wahlen zu gewinnen.

    Ein solches Referendum muss schnell erfolgen – spätestens in einem Monat

    Die heutige Verfassung einfach durch eine willkürliche Entscheidung abzuschaffen, ist juristisch ein zu fundamentaler Bruch. Was immer dann folgt, könnte nicht mehr legitim sein. Besser ist, sich im Rahmen der heute gültigen Verfassung zu bewegen. Laut dieser können derart gravierende Änderungen nur mittels eines Referendums angenommen werden. Dieses Referendum, und auch die Abfolge der nächsten Schritte, müssen genau niedergelegt werden in einer Übereinkunft beider Seiten und qua Unterschrift der Vermittler, in diesem Fall der Kirchenvertreter, bekräftigt werden.

    Ein solches Referendum muss schnell erfolgen – spätestens in einem Monat, und selbstverständlich nach Modalitäten, denen alle vertrauen. Das heißt, das Zentrale Wahlkomitee ZIK und das gesamte Wahlkommissions-System müssen Vertreter der anderen Seite und außerdem eine mehrere Tausend Menschen starke internationale Kommission von Wahlbeobachtern zulassen. Da jedoch diese Verfassungsreform der Idee nach sowohl bei der Regierung als auch bei ihren Gegnern Unterstützung findet, müsste es beim Referendum in jedem Fall eine Entscheidung dafür geben.

    Im Anschluss sollten – nun schon entsprechend der neuen Verfassung – so schnell wie möglich Parlamentswahlen stattfinden, wiederum in einer Wahl, die höchste Transparenz bietet. Ob das Parlament mit Parteilisten nach dem heutigen Mehrheitsprinzip oder nach einem Mischprinzip gewählt wird, das ist ein Verhandlungsgegenstand, der aktuell nicht im Vordergrund steht. 

    Ich wiederhole: Der ganze Prozess sollte haargenau in allen Stadien und mit Daten durchgeplant werden, um Abweichungen von diesen Vereinbarungen so schwer wie möglich zu machen.

    Der Verzicht auf außenpolitische Vermittlung bedeutet nicht, dass internationale Akteure außen vor bleiben. Ohne sich direkt einzumischen können äußere Kräfte die beiden Seiten durchaus zum Dialog motivieren und beobachten, wie die Verhandlungen geführt werden. 

    Ein internationaler Hilfsfond für Belarus

    Da das Land derzeit immer tiefer in eine wirtschaftliche Krise rutscht, könnte ein Hebel zur Stimulation von außen darin bestehen, einen internationalen Hilfsfonds für Belarus zu gründen. Zum Beispiel 3 bis 5 Milliarden Dollar, die dem Land zugute kommen, nachdem die grundlegenden Etappen der Transformation vonstatten gegangen sind, und unter der Bedingung, dass alle Abmachungen von beiden Seiten eingehalten wurden. Russland und die Europäische Union (mit Unterstützung der USA) könnten einen solchen Fonds solidarisch einrichten und sich auf die Regeln, Bedingungen und Stadien für die Zahlung der Mittel einigen. 

    Damit sie sich nicht gegenseitig des Versuchs verdächtigen, sich Belarus unter den Nagel reißen zu wollen, sollte ein Punkt der internen Vereinbarung zwischen den Machthabern und ihren Gegnern ein Konsens über die Außenpolitik sein. Das bedeutet eine feste Vereinbarung darüber, dass Belarus, egal, wie der Prozess ausgeht, nicht von seinen internationalen Verpflichtungen Abstand nimmt, keine Kehrtwende in die eine oder andere Richtung vornimmt, und dass die Souveränität unantastbar ist.

    Ich weiß, wie illusorisch heute jeder Punkt aus meinem Text erscheinen mag.  Doch zu dem Zeitpunkt, wo als Alternative zum Dialog nur noch Bürgerkrieg, völliger Ruin oder äußere Besatzung bleiben, ist es besser, wenn wir zumindest einen ungefähren Algorithmus für eine Rettung haben. Ich wünsche uns allen gutes Gelingen.
     

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  • 10 Gründe, warum es in Belarus keine russische Invasion geben wird

    10 Gründe, warum es in Belarus keine russische Invasion geben wird

    Wird Russland in Belarus eingreifen? Und wenn ja: wie? Diese Fragen wurden in den vergangenen Tagen immer wieder diskutiert. Während Lukaschenko im Wahlkampf selbst vor einem ukrainischen Szenario in Belarus gewarnt hatte und sogar russische Söldner verhaften ließ, hat er inzwischen zwei Mal mit Putin telefoniert und um Beistand gebeten. Vermehrt versucht die Staatspropaganda, die Demonstranten, die gegen Wahlbetrug und für die Freilassung der Festgenommenen auf die Straße gehen, in die Nähe der vermeintlich vom Ausland gesteuerten Farbrevolutionen im postsowjetischen Raum zu rücken. Margarita Simonjan, Chefredakteurin des russischen Auslandssenders RT, twitterte, es sei an der Zeit, dass „höfliche Menschen“ für Ordnung sorgten in Belarus.

    In sozialen Netzwerken tauchten unterdessen Videos von schweren Lastwagen ohne Nummernschilder auf, die mutmaßlich zur russischen Rosgwardija gehören und in der Oblast Smolensk auf der Strecke von Moskau in Richtung belarussische Grenze unterwegs waren. Solche Nachrichten sorgten sogleich für Unruhe – doch Beobachter wiegeln ab: Das unabhängige belarussische Portal tut.by etwa wies darauf hin, dass es unlogisch sei, eine russische Invasion in Belarus mittels Lastwagen statt mit Hubschraubern durchzuführen. Zudem seien Truppen der Rosgwardija vor allem für den Einsatz im Inneren bestimmt. Der Journalist und Politologe Kirill Rogow geht davon aus, dass solche Bilder weniger die Demonstranten abschrecken, als den Machtapparat um Lukaschenko stärken sollten – indem sie ihn in dem Glauben wiegten, dass es zu früh sei, den Diktator abzuschreiben. Gleichzeitig weisen einzelne Experten – wie Jens Siegert, der ehemalige Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau – darauf hin, dass Belarus in Russland nicht die gleiche mythisch aufgeladene Bedeutung habe wie Kiew, Odessa oder Charkiw. 

    Dennoch zeigt die Debatte, wie groß die Unsicherheiten und Ängste sind vor einem analogen Szenario wie auf der Krim 2014. Der bekannte belarussische Journalist und Carnegie-Autor Artyom Shraibman nennt auf Telegram zehn Gründe, warum es in Belarus keine russische Invasion geben wird.

    Eine Anfrage an Moskau genüge, so Lukaschenko, und er bekomme „vollumfängliche Hilfe, um die Sicherheit der Republik Belarus zu garantieren“. Er nannte in diesem Zusammenhang den Vertrag über die kollektive Sicherheit (OKVS). Im Folgenden genauer dazu, warum ich nicht an dieses Schreckgespenst glaube:

    1. Russland rettet kein zusammenbrechendes Regime mit Hilfe von Soldaten. Den Staatschef außer Landes bringen – ja, ein Regime retten, das keine Unterstützung im Volk hat – nein.
    Die einzige Ausnahme ist Syrien. Dort herrschte allerdings schon ein Bürgerkrieg, und die russischen Truppen haben keine Gebiete besetzt, sondern vorwiegend Luftangriffe geflogen. Wen sollte man bei uns bombardieren? Die Werkhallen des Minsker Traktorenwerks MTZ oder des belarussischen Automobilwerks BelAZ? Oder die streikenden Mitarbeiter der staatlichen Rundfunkanstalt Belteleradiokampanija

    2. Die Belarussen wollen keine Einmischung von außen und wollen auch nicht Teil Russlands werden. Hier die jüngste Umfrage der Akademie der Wissenschaften: Für einen Beitritt zur  Russischen Föderation sind weniger als sieben Prozent. Für eine engere Union unter 25 Prozent. Alle anderen sprechen sich für freundschaftliche Beziehungen unabhängiger Staaten aus. Belarus ist nicht die Krim, die angeblich irgendwie um Befreiung von den Faschisten gebeten habe. Hier wird keiner Rosen verteilen.

    3. Ein Volk, das nicht um Befreiung bittet, muss man mit massivem Truppeneinsatz im Zaum halten. Mit zehntausenden Besatzungssoldaten. Und wenn sich dann noch Partisanengruppen bilden – was in dem Fall und bei derartigem gesellschaftlichem Aufbegehren wohl unausweichlich wäre – mit hunderttausenden. Und tausenden Opfern. Eine sanftere Lösung gäbe es einfach nicht.

    4. Mit einer solchen Intervention würde Russland das belarussische Volk auf noch längere Zeit verlieren als das ukrainische. Ein Volk, das aktuell Russland gegenüber freundschaftlich eingestellt ist. Nach Umfragen des Wardomazki-Labors sind über 70 Prozent für den Erhalt der Beziehungen in ihrer jetzigen Form, ohne Grenz- und Zollkontrollen. Nur fünf bis sieben Prozent sind für einen Abbruch der Beziehungen.

    5. Dazu kommen noch Massen von Särgen Richtung Heimat und die Vorbehalte des eigenen Volkes, dem man zuvor nicht erklärt hat, dass in Minsk Bandera-Faschisten an die Macht drängen würden, plus Sanktionen des Westens in beispielloser Härte. 

    6. Und all das wozu? Um einen belarussischen EU-Beitritt zu verhindern? Die heutige Opposition wirbt gar nicht für einen solchen. Und es wäre auch absurd angesichts der derzeitigen belarussischen Abhängigkeit von Moskau. Ein Austritt aus der Eurasischen Wirtschaftsunion mit Verlust des Zugangs zum russischen Markt würde einen wirtschaftlichen Stillstand binnen eines Monats bedeuten. Mehr als 70 Prozent unserer Auslandsschulden haben wir gegenüber Russland.

    7. Eine Invasion löst auch nicht das Problem der inneren Stabilität. Die Arbeiter kehren deswegen nicht zurück in die Fabriken, ein Absturz des Bankensystems wäre die Folge, zig Milliarden müssten für humanitäre Bedürfnisse fließen. Und Belarus hat fünf Mal so viele Einwohner wie die Krim. Außerdem hat sich die russische Wirtschaft nach dem Coronavirus selbst noch nicht berappelt.  

    8. Die Demonstranten rufen keine anti-russischen oder pro-westlichen Losungen. Das steht überhaupt nicht zur Debatte. Der Kreml ist nicht blind und sieht das. Russland hat die Folgen der Revolutionen in Kirgisistan und Armenien akzeptiert, wo es auch keine außenpolitischen Ziele gab.
    Moskau orientiert sich immer an der gerade gewinnenden Seite. Und versteht vor allem, dass diese Seite nicht feindlicher ist als jene Regierung, die russische Staatsbürger zu Geiseln ihres Wahlkampfes gemacht hat.  

    9. Lest die Pressemitteilung des Kreml nach dem morgendlichen Gespräch mit Lukaschenko [am Samstag, 15. August – dek]. Da steht viel über Völkerfreundschaft und Feinde, aber kein einziges Wort der Unterstützung für den amtierenden belarussischen Präsidenten. Der Kreml hat eine abwartende Position eingenommen.

    10. Für Juristen. Die Satzung der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) sieht keine militärische Hilfe vor ohne eine äußere Aggression auf ein Mitgliedsland (ein bewaffneter Angriff, der die Sicherheit, Stabilität, territoriale Integrität und Souveränität bedroht). Lukaschenko hat während seines ganzen Wahlkampfs die Russen einer solchen Aggression bezichtigt und jetzt versucht er, eine Bedrohung durch den Westen zu inszenieren.
    Aber eine solche ist in der gegenwärtigen Situation gar nicht so leicht auszudenken. Den Gerüchten zufolge machen sich hochrangige Beamte aus Russland und Europa bereits untereinander lustig über solche Äußerungen. Ein hybrider Angriff, ausgehend vom Telegram-Kanal Nexta, ist nicht in der OVKS-Satzung erwähnt.

    PS: Um ein solches Szenario auch in Zukunft auszuschließen, sollte eine belarussische Übergangsregierung im Falle eines Sieges nicht sofort vor lauter Euphorie die sowjetischen Denkmäler antasten, die staatliche Symbolik ändern oder den Status des Russischen als Amtssprache annullieren. Aber: Es gibt viel zu tun und eine Mehrheit ist (allen verfügbaren Umfragen zufolge) gegen solche Maßnahmen – und so sehe ich keinen Grund zur Annahme, dass die Übergangsregierung austickt und solche Sachen überhaupt anfängt. Alles zu seiner Zeit.

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  • Politische Trends in Belarus

    Politische Trends in Belarus

    „Administratives Ritual“ nennt Artjom Schraibman die am vergangenen Sonntag in Belarus abgehaltene Parlamentswahl: 110 Abgeordnete ziehen in das Repräsentantenhaus ein, keiner davon gehört der Opposition an. Das sei wenig überraschend, meint Shraibman, und doch habe die Wahl einige bemerkenswerte politische Tendenzen offenbart, die auch für Russland von Bedeutung sind, kommentiert der Minsker Politologe und Kolumnist auf Carnegie.ru.

    Die belarussischen Parlamentswahlen sind nach dem traditionellen, rundum kontrollierten Szenario verlaufen. Bei den letzten Wahlen hatte das Regime zwei Oppositionelle ins Parlament einziehen lassen. Dieses Experiment wurde jetzt beendet. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2020 war der Führung des Landes ihr seelisches Wohlbefinden wohl wichtiger als Zugeständnisse an den Westen, bei denen unklar bleibt, welche Gegenleistungen man dafür erhält.

    Aber selbst ein derart administratives Ritual wie Wahlen in Belarus vermag gewisse politische Trends zu offenbaren. Zu den innersystemischen Tendenzen gehört, dass sich der Anteil parteigebundener Abgeordneter erhöht hat und einige hochrangige und prominente Funktionäre des Staates ins Parlament geschickt wurden.

    Wenigstens ein bisschen politisches Gewicht

    Es sieht ganz danach aus, als würden Lukaschenko und seine Administration versuchen, dem Parlament mit Hilfe dieser gewichtigen, aber noch nicht alten Funktionäre wenigstens ein bisschen politisches Gewicht innerhalb des Systems zu verleihen. Es passt in die Logik der von Lukaschenko angekündigten Verfassungsreform: In den kommenden vier bis fünf Jahren sollen die Vollmachten des Präsidenten in Richtung Parlament und Regierung verschoben werden.

    Gleichzeitig ist die Zahl der Abgeordneten gestiegen, die regimefreundlichen Parteien angehören. Das belarussische Parlament wird zwar nach dem Mehrheitssystem gewählt, doch wird bereits seit einigen Jahren der Übergang zu einem gemischten System diskutiert, bei dem ein Teil der Abgeordneten über Parteilisten gewählt wird.

    Eine solche Wahlreform soll wohl ebenfalls Teil der erneuerten Verfassung werden. Wenn das Land zukünftig auch über das Parlament regiert werden soll, ist eine eigene Partei der Macht vonnöten, samt Spoiler-Parteien und einer Systemopposition.

    Unzufriedene Kräfte verbreiten im Wahlkampf ihre Ideen

    Da der Wahlprozess in Belarus seit Langem schon nichts mehr mit einem Kampf um Mandate zu tun hat, werden die Parlamentswahlen nun von verschiedenen Gruppen Unzufriedener intensiv zur Verbreitung ihrer Ideen genutzt. So traten bei den Wahlen die Anführer der bekannten Umweltproteste gegen die Akkufabrik in Brest an, wie auch die der Initiative Mütter 328, deren Kinder wegen geringfügigen Drogenbesitzes zu sehr hohen Haftstrafen verurteilt wurden. Fast alle sind entweder von den Behörden nicht als Kandidaten zugelassen worden oder haben ihre Registrierung wieder verloren, damit sich sozialer Protest nicht politisiert.

    Schließlich wäre da noch das wohl interessanteste Phänomen dieser Wahlen: der Auftritt zweier Kandidaten mit einer prorussischen und gleichzeitig regimekritischen Rhetorik. Deren Botschaft ist schlicht: In den Regionen herrschen Stagnation und Niedergang, das Regime erfüllt den Gesellschaftsvertrag nicht, den Beamten sind wir schnurzpiepegal, wir müssen Freunde Russlands sein, weil es das einzige Land ist, das uns hilft.

    Zwei Kandidaten mit prorussischer, regimekritischer Rhetorik

    Prorussische Kritik am Regime in Belarus galt immer schon als sehr gefährliches Terrain. Lukaschenko hat stets versucht, in dieser Hinsicht das Monopol zu behalten. Kritik an ihm war nur aus pronationalen oder proeuropäischen Positionen heraus erlaubt. Drei russophile Autoren, die bei der Agentur Regnum publizieren, haben für ihre Texte, in denen scharfe Töne gegenüber dem belarussischen Regime und dessen Identitäts-Politik angeschlagen werden, unlängst Strafverfahren und ein Jahr Untersuchungshaft bekommen.

    In dem Maße allerdings, wie sich die Differenzen zwischen Minsk und Moskau mehren, ergeben sich in der belarussischen Politik auch Spielräume für die prorussische Opposition. In den vergangenen Jahren ist bereits eine Reihe derartiger regionaler Internetportale und ziemlich populärer Telegram-Kanäle entstanden.

    Dieser Prozess befindet sich noch im Anfangsstadium. Es hat sich noch keine prorussische Bewegung gegen Lukaschenko formiert, und die Geheimdienste werden eine solche auch kaum zulassen. Doch ein Scheitern der Integrationsbemühungen von Moskau und Minsk dürfte diesen Aktivisten und Gruppen zusätzliche Möglichkeiten eröffnen, insbesondere, wenn es in Belarus dadurch zu einer Wirtschaftskrise kommt. Je mehr Akteure dieser Art es gibt, desto größer wird für Moskau die Versuchung sein, diese zu unterstützen, wenn sich das Verhältnis zu Lukaschenko verschlechtert.

    Dass die Opposition im neuen Parlament nicht vertreten ist, bedeutet keinen Rückgang des Tauwetters, weil das Tauwetter in Belarus nie Einfluss auf die Wahlen hatte. 2016 war der Dialog mit dem Westen stärker in Gang gekommen, und man hatte sich entschieden, diesem einen zusätzlichen Impuls zu verleihen, indem zwei Oppositionelle zu Abgeordneten wurden. Am Wahlprozess selbst wurde aber nichts geändert.

    Parlament ohne Opposition

    Dieses Mal war auch der Ablauf der Wahlen rigider als gewöhnlich: Die Wahlbeteiligung wurde durch vorzeitige Stimmabgabe erhöht, und Oppositionelle, die Mitglieder von Wahlkommissionen oder Kandidaten werden wollten, wurden noch stärker ausgesiebt. Es gab – wie früher – keinen vernünftigen Grund, die Opposition ins Parlament zu lassen.

    Das bedeutet erstens, dass das belarussische Außenministerium, das gewöhnlich als proeuropäische Lobby im System gilt, keinen ernstzunehmenden Einfluss auf Lukaschenko und seine Administration hat, wenn es um Wahlen geht.

    Das Maximum, was das Außenministerium heute tun kann, ist, die übrigen Staatsorgane für eine gewisse Zeit davon zu überzeugen, von ganz heftigen Repressionen abzusehen – damit es keine neuen politischen Häftlinge gibt oder damit Straßenproteste nicht brutal niedergeschlagen werden.

    EU und USA: Weder Engagement noch Reaktionen

    Zweitens sieht auch Lukaschenko in den Beziehungen zum Westen keine Aufgaben, die man über eine Oppositionsquote lösen könnte. Wie Lukaschenko kürzlich in Wien erklärte, sei es für die westlichen Unternehmen egal, ob das belarussische Parlament als legitim anerkannt werde oder nicht. Das Wichtigste seien Investitionsgarantien durch die Führung des Regimes und Stabilität im Land.

    Politisch hat die EU Belarus für den Fall, dass die Opposition im Parlament vertreten ist, keinerlei konkrete politische Gegenleistung in Aussicht gestellt. 

    Die Stimmung in Brüssel und Washington wird durch ein ausnahmslos loyales belarussisches Parlament natürlich nicht besser. Der Elan, sich in Richtung Belarus zu engagieren, dürfte sich künftig noch mehr in Grenzen halten als jetzt. Aber auch eine heftige Reaktion der EU oder der USA wird es wohl kaum geben. Schließlich hat der Westen die Sanktionen gegen Belarus nicht wegen der Wahlen verhängt, sondern wegen der erheblichen Repressionen während und nach den Wahlen [den Präsidentschaftswahl 2006 und 2010 – dek]. Solche Repressionen gibt es derzeit nicht.

    Gleichzeitig wird schon seit etlichen Jahren eine Isolation von Belarus mit der Befürchtung verknüpft, dass Minsk dadurch in den Einflussbereich Moskaus gedrängt werde. Das strategische Interesse, Belarus ungestört zwischen den Machtzentren lavieren zu lassen, ist seit spätestens 2015 größer als die Sorge um demokratische Ideale im Land.

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  • Belarus: Brüderliche Einverleibung?!

    Belarus: Brüderliche Einverleibung?!

    „Öl gegen Küsse“, so nennt man das Modell in Belarus: Moskau liefert Öl und Gas zu günstigen Bedingungen, Minsk zeigt sich im Gegenzug als treuer Freund Moskaus. Doch derzeit gibt es immer mehr Verstimmungen zwischen beiden Seiten. Etwa wegen des sogenannten Steuermanövers Russlands: Während die Ausfuhrzölle auf Rohöl auf Null Prozent sinken, steigt die Steuer auf die Förderung – und soll in vollem Umfang an die Abnehmer weitergegeben werden. Für Belarus bedeutet dies nicht nur, dass die einst zollfreie Ware plötzlich mehr kostet, sondern auch eine Weiterverarbeitung ist dann nicht mehr lukrativ.
    So forderte Lukaschenko von Moskau Kompensation, doch Anfang Dezember 2018 stellte Premierminister Medwedew ein Ultimatum und verlangte nach einer Gegenleistung: Die sieht er in einer stärkeren Integration zwischen beiden Ländern, also einer Zoll- und Währungsunion etwa. Eine solche (schrittweise) Annäherung war bereits in einem Unionsvertrag im Jahr 1999 geplant, dieser sowie andere Verträge gingen aber selten über Absichtserklärungen hinaus. 

    Mehrere Treffen zwischen Moskau und Minsk im Dezember 2018 blieben ergebnislos, eine Arbeitsgruppe wurde ins Leben gerufen, die an der angestrebten Annäherung arbeiten soll. Zwar betonte Kreml-Sprecher Dimitri Peskow, eine Angliederung von Belarus an Russland sei nicht geplant, doch gleichzeitig sitzt der belarussische Präsident Lukaschenko in einer Abhängigkeitsfalle. Unterdessen schwelt der Streit weiter.

    Wird Belarus eine zweite Krim? Artyom Shraibman schaut sich die Gründe, die scheinbar dafür sprechen, auf Carnegie.ru genauer an.

    Wie ein altes Ehepaar neigen Minsk und Moskau dazu, sich ständig Fehltritte und Kränkungen aus längst vergangenen Tagen vorzuhalten. Beim Streit über das sogenannte Steuermanöver in der Erdölindustrie und potentielle Ausgleichszahlungen für Belarus hat Moskau nun einen der ältesten Sprengsätze hervorgeholt: den nicht eingelösten Unionsvertrag von 1999. 

    Von Russland heißt es nun: Ihr wollt Unterstützung? Dann integriert euch tatsächlich! Allerdings steht dieses Ultimatum in einem neuen Kontext: Die Umfragewerte des Kreml sinken, russische Experten beraten über eine mögliche Machtübergabe 2024, gleichzeitig betrachtet man Russland nicht mehr als ein Land, das die Souveränität seiner Nachbarstaaten allzu ernst nimmt. Das zusammen sorgte für eine Flut von anonymen Telegram-Meldungen, offiziellen Stellungnahmen und Artikeln in der westlichen, russischen und belarussischen Presse, inwieweit eine Einverleibung von Belarus unumgänglich sei. 

    Seit 2014 lassen sich solche Prognosen nicht mehr so leicht von der Hand weisen. Panikmacher wie besonnene Kritiker können zurecht darauf verweisen, dass auch 2014 niemand mit der Krim oder dem Donbass gerechnet hätte. Und dass es Situationen gebe, in denen Regierungschefs schwer nachvollziehbare Entscheidungen treffen, da sie, geleitet von Vorurteilen, Phobien und dem Gefühl einer historischen Mission und den zugänglichen Informationen, andere Lösungen für noch schlechter halten.

    Deswegen muss jede Analyse solcher Themen mit dem Vorbehalt beginnen, dass im Prinzip alles möglich ist. Jede Prognose ist gewissermaßen eine Aufbereitung des vergangenen Krieges. Ausgehend von den gegenwärtigen Bedingungen, können wir nur die Wahrscheinlichkeit gewisser Szenarien abschätzen. Und auf die Mythen über Belarus und sein Verhältnis zu Russland verweisen, die unter denen besonders verbreitet sind, die den Anschluss prognostizieren.

    Sehen wir uns das Szenario der Einverleibung von Belarus aus drei Perspektiven an: der belarussischen Gesellschaft, der Führungselite und Russland. 

    Liebe auf Distanz

    In Russland ist der Irrglaube verbreitet, allein der zickige Lukaschenko hielte Belarus, die  sowjetischste aller ehemaligen Sowjetrepubliken, davon ab, sich wie die Krim in einem freudestrahlenden Sprint Russland anzuschließen.

    In Wirklichkeit gibt es in der jüngsten Geschichte von Belarus kaum einen stabileren Trend als die wachsende Zahl von Befürwortern der Unabhängigkeit. 28 Jahre in einem eigenen Staat mit allem, was juristisch und politisch dazugehört, mit einer Generation, die in einem unabhängigen Land aufgewachsen ist und mittlerweile selbst Kinder hat, hinterlassen ihre Spuren in der kollektiven Identität einer Nation.

    Dass die Mehrheit der Belarussen die Union mit Russland befürwortet, heißt noch lange nicht, dass sie eine Verschmelzung beider Länder anstrebt. Werden die Belarussen befragt zu dem derzeitigen Ausmaß der Zusammenführung mit Russland und nach der Rechtmäßigkeit von Russlands Anspruch auf die Krim, zeigt sich für beides eine stabile Zustimmung zwischen 55 und 75 Prozent, je nach Formulierung der Fragen und den zur Wahl stehenden Optionen. 

    Wird jedoch gefragt: Vereinigung mit Russland oder Erhalt der Souveränität, dann hat erstere nicht die geringste Chance. Nur 15 bis 20 Prozent befürworten eine stärkere Zusammenführung und weniger als 5 Prozent wollen eine Eingliederung in die Russische Föderation (Umfrage der Belarussischen Analysewerkstatt von Andrej Wardomazki vom April 2017).

    Außerdem befindet sich die potentielle „russische Partei“ – anders als in der Ukraine, der Republik Moldau oder Kasachstan – in keiner bestimmten Region. Es gibt keine belarussische Krim und keinen belarussischen Donbass, die sich als Aufmarschgebiet für die Destabilisierung der Regierung in Minsk eignen würden.  

    Die prorussischen Belarussen sind im Gegensatz zu den prowestlichen nicht einmal eine eigene politische Kraft, sogar gemessen am belarussischen Maßstab gesellschaftlicher Apathie sind sie nicht mobilisiert. Sie empfinden keine Diskriminierung auf sprachlicher oder kultureller Ebene, um der Matrix von Krim-Donezk folgend zu argumentieren: Unsere ganz besondere, russlandnahe Identität wird von westbelarussischen Nationalisten bedroht – diese Karte lässt sich im heutigen Belarus nun wirklich nicht ausspielen. 

    Auch in der Außenpolitik gibt es keine uneingeschränkte Sympathie für Russland. Fügt man in den Umfragen dem simplen „Russland oder EU?“ noch ein paar Varianten hinzu, wie zum Beispiel „ähnlich enge Beziehungen zu allen“ oder „keinem Block beitreten“, liegt die Zustimmung zu diesen neutralen Optionen bei 60 Prozent (Umfrage der Belarussischen Analysewerkstatt von Andrej Wardomazki vom September 2018). Würde die belarussische Regierung in ihrer Außenpolitik also einen neutralen Kurs verkünden, stieße sie beim Großteil der Bürger auf enthusiastische Zustimmung. 

    Sogar die nicht einmal ansatzweise nationalistischen „sowjetischen Belarussen“ sehen Russland als ein Land der Oligarchen, der sozialen Ungleichheit, der Korruption, der Kriminalität und der falschen Wege. Wenn diese Menschen, von denen die meisten im Staatsdienst tätig oder Rentner sind, nostalgisch auf das einst große Land, die Sowjetunion, zurückblicken, dann ist das ein Land, das in seiner sozialen Ordnung dem heutigen Belarus wesentlich näher ist als dem heutigen Russland. 

    Belarus mag ein überraschend russlandfreundliches und russischsprachiges Land sein, aber wenn Moskau meint, in der belarussischen Gesellschaft eine Stütze zu finden, so wird das wohl kaum gelingen. 

    Schon seit vielen Jahren ist die Eingliederung in die Russische Föderation ein Tabuthema in der belarussischen Politik. Sogar für die Kommunisten, die sich ja theoretisch nach der Sowjetunion sehnen könnten, ist die Unabhängigkeit axiomatisch. Die Regierung hat gezeigt, dass sie bereit ist, eine Überschreitung der Grenzen des Zulässigen hart zu bestrafen: 2017 verbrachten drei allzu prorussische Journalisten ein ganzes Jahr wegen Anfachung von Hass zwischen den Nationen in Untersuchungshaft.

    Es ist schwer, eine „russische Partei“ zu mobilisieren, wenn es keine wirklichen Parteien oder wenigstens ein halbwegs entwickeltes Netz von nicht regierungsnahen Organisationen oder andere politische Infrastruktur gibt, weder in Russland noch in Belarus. Hinzu kommt, dass Belarus ein autoritär regiertes Land ist, wo jegliche Angriffe auf die Stabilität der Regierung im Keim erstickt werden. 

    Aber nehmen wir an, die Einverleibung von Belarus, wie wir sie uns ausmalen, geschieht schnell: mit Panzern auf der Straße oder einem Umsturz in Minsk. Würden sich die Menschen gegen die Okkupation wehren?

    Eine drei Jahre alte Umfrage besagt, dass 19 Prozent bereit wären, eine Waffe in die Hand zu nehmen (Umfrage des IISEPS vom Juni 2015). Aber die Frage ist viel zu hypothetisch, um sich auf diese Zahlen zu verlassen. 

    Allerdings lässt sich mit Sicherheit vorhersagen, dass sofort Politiker auftauchen und zum Widerstand aufrufen würden. In Belarus gibt es ein paar national-demokratische und nationalistische Parteien und Bewegungen, die sich mit der Situation nicht abfinden würden. Sie haben in etwa dasselbe Verhältnis zu Russland wie die ukrainischen Nationalisten: Sie sehen es als ein aggressives Imperium und eine permanente Bedrohung der belarussischen Unabhängigkeit. Der reale Beginn einer Einverleibung  würde die Stimmung in der Gesellschaft anheizen. Die Operation würde also nicht ohne Massenproteste in den Großstädten vonstattengehen können. 

    Aber ob wir hundertprozentig überzeugt sind oder nicht, dass es Widerstand geben würde, das ist nicht Kern unserer Analyse. Wichtiger ist, dass niemand, einschließlich Moskau, mit Sicherheit davon ausgehen kann, dass es keinen Widerstand geben wird. Es ist ein nicht kalkulierbares Risiko. Und das bedeutet, dass man bei der Planung einer solchen Operation damit rechnen muss, auf Proteste oder Partisanenwiderstand zu treffen. Diese Feststellungen brauchen wir später für die Analyse der Vorteile und Risiken für Russland in dieser Angelegenheit.

    Wenn man etwas zu verlieren hat

    Eine wesentliche Hürde für jedwede enge Anbindung von Belarus ist sein politisches Regime. Autokraten teilen ungern ihre Macht, weder im Inland noch außenpolitisch. Alexander Lukaschenko hat zwar stapelweise Unionsverträge mit Russland unterzeichnet, als der Rücktritt von Boris Jelzin in Sicht war und um den Platz im Kreml konkurriert wurde. Sobald der jedoch vergeben war, verschwand auch Minsks Wunsch, sich mit Russland zu verbünden.

    Lässt man brutale persönliche Erpressungen außer Acht, kann man sich nur schwer vorstellen, was Moskau Lukaschenko für den Verzicht auf seine Macht zu bieten hätte. Geld, eine Yacht und eine Villa bei Sotschi kompensieren wohl kaum den Verlust von Möglichkeiten und Status eines uneingeschränkten Herrschers von einem mittelgroßen europäischen Land. 

    Bleibt also nur die Variante einer Spaltung der belarussischen Elite und die Suche oder Schaffung einer prorussischen Fraktion vor Ort.

    Die Führungsriege in Belarus ist nicht homogen. Es gibt prowestliche Diplomaten, marktorientierte Technokraten, rote Direktoren und einfach nur opportunistische Beamte. Aber all diese Unterschiede verblassen vor dem Hintergrund der Treue zu Lukaschenko, die sie ihm schon viele Jahre halten.

    Die meisten, wenn nicht alle hochrangigen Beamten profitieren von der Souveränität. Nicht zuletzt durch die Möglichkeit, ohne finanzielle Sorgen zu leben und dank ihrer Beziehungen nach einem Rückzug aus dem Staatsdienst in die Privatwirtschaft zu gehen, und das in einem kleinen und bestens kontrollierten Land, das nicht in Einflusssphären einzelner Oligarchen unterteilt ist. Das russische Kapital, das die Vereinigung beider Länder mit sich brächte, würde nicht nur ihre angestammten Plätze, sondern auch ihre Garantie auf eine sorgenfreie Zukunft gefährden.

    Aber selbst wenn wir annehmen, dass irgendwo im Verborgenen noch überzeugte russophile Beamte sitzen, ginge für sie der Verrat an ihren Vorgesetzten mit allzu großen persönlichen Risiken einher, erst recht, wenn man bedenkt, dass der Ausgang dieses Abenteuers ungewiss ist. Ein belarussischer Beamter jeder Karrierestufe riskiert schon durch die Aufnahme von eigenständigen Verhandlungen mit Moskau oder mit Kollegen im Staatsapparat alles, was er hat, einschließlich seiner Freiheit. Besonders aktuell ist dieses Problem in einem System, in dem die begründete Angst herrscht, dass die Geheimdienste alle Beamten äußerst genau beobachten.

    Bislang gibt es keinen Grund anzunehmen, dass unter den belarussischen Silowiki, die sich – wie auch alle anderen Beamten – gegenseitig kontrollieren, der Wunsch bestünde, die Souveränität aufzugeben. Für sie ist das persönliche Risiko beim Scheitern eines solchen Vorhabens sogar wesentlich größer als für die Staatsbeamten. 

    Die kostspieligste Variante

    Damit sind wir bei der Kernfrage angekommen: Ist die Sache den Aufwand tatsächlich wert? Wollte Belarus von sich aus der Russischen Föderation beitreten, würde sich Moskau wohl kaum widersetzen. Aber da mit keinen freiwilligen Szenarien zu rechnen ist, blieben nur die gewaltsamen mit den dazugehörigen Ausgaben.

    Kosten würden sowohl durch die Operation selbst als auch durch die Mitfinanzierung der neuen Region mit fast zehn Millionen Menschen entstehen, die der Westen zudem wie im Fall der Krim durch Sanktionen isolieren und nicht anerkennen würde. Darüber hinaus könnten auch Russland selbst neue, schwerwiegende Sanktionen erwarten.

    Würde Russland einfach so Nachbarländer, die nicht niet- und nagelfest sind, einsammeln und anschließen, müsste man beispielsweise mit einer Angliederung des deutlich weniger komplizierten Südossetien rechnen. Weil dies aber bislang nicht geschehen ist, können wir davon ausgehen, dass für Moskau eine weitere Verschlechterung der Beziehungen zum Westen von Bedeutung wäre.

    Wäre Wladimir Putin so besessen von seinen Umfragewerten, dass er dafür sogar ganze Länder gewaltsam angliedern würde, wozu dann die Erhöhung des Rentenalters? Er hätte dieses Problem auch seinen Nachfolgern überlassen und die sakralen Zahlen der Volksliebe aufrechterhalten können.

    Soziologen beobachten schon seit Monaten eine gestiegene Nachfrage in der russischen Gesellschaft nach einer friedlichen Außenpolitik und einer Hinwendung der Regierung zu innenpolitischen Fragen. Offensichtlich sind diese Zahlen auch dem Kreml bekannt. Nicht nur, dass eine Angliederung von Belarus keinen Anstieg in den Umfragewerten garantiert, sie hätte womöglich sogar den gegenteiligen Effekt: die Unzufriedenheit des Volkes. Erst recht, wenn diese Operation mit neuen Sanktionen und finanziellem Aufwand verbunden wären. 

    Mit anderen Worten: Die Frage von 2024 durch die Vereinigung mit Belarus zu lösen, käme der Provokation eines scharfen Konflikts mit einem bislang verbündeten Land gleich. Es wäre ein Szenario voller unkalkulierbarer Risiken und Ausgaben, die nicht einmal steigende Umfragewerte garantieren. Wenn Putin an der Macht bleiben möchte, könnte er dieses Problem wesentlich leichter lösen: durch eine Verfassungsänderung.

    Es müsste viel passieren, damit die Waage sich noch zur anderen Seite neigt. Aber bis dahin gleicht Moskaus Annäherungsultimatum an Minsk eher dem Wunsch, endlich Geld zu machen, als dem Versuch, ein solches Projekt mit Gewalt bis zum Ende durchzuziehen.

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    „Wolodja, verdirb nicht den Abend“

    Langweilig ist es zwischen Moskau und Minsk selten. Einmal mehr illustrierten das die zahlreichen Spitzen und Vorwürfe, die der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko am vergangenen Freitag bei seiner siebeneinhalbstündigen Pressekonferenz in Richtung Russland losließ. Ein für den 9. Februar geplantes Treffen von Putin und Lukaschenko wurde danach auf unbestimmte Zeit verschoben.

    Hat man in den beiden Hauptstädten noch vor wenigen Jahren die Idee des Russisch-Belarussischen Unionsstaats weitergesponnen, sind inzwischen Streitigkeiten um Öl- und Gaszahlungen zur Regelmäßigkeit geworden. Deutlich verschärft hat sich der Ton nach der Krim-Angliederung im März 2014: Lukaschenko stellte damals etwa die vermeintliche historische Zugehörigkeit der Halbinsel zu Russland in Frage und meinte, dass man nach dieser Logik große Teile Russlands an Kasachstan und die Mongolei zurückgeben müsste.

    Artyom Shraibman, Politik-Redakteur des unabhängigen belarussischen Nachrichtenportals tut.by, vergleicht Russland und Belarus mit einem alten Ehepaar. Nach der jüngsten Wutrede Lukaschenkos fragt er im russischen Online-Medium Carnegie.ru: Ist es mit der Romantik nun endgültig vorbei? 

    Freundschaft auf Eis?  / Foto © kremlin.ru
    Freundschaft auf Eis? / Foto © kremlin.ru

    Die skandalöse Pressekonferenz von Alexander Lukaschenko Anfang Februar hat die Seiten der russischen Medien gefüllt. Was vielleicht wie ein plötzlicher Wutausbruch erschien, war wohl eher ein ziemlich erwartbares Ereignis in der Abwärtsspirale der russisch-belarussischen Beziehungen.

    Der aktuelle Streit zwischen Minsk und Moskau ist vielschichtig wie nie. Wie in einen Strudel werden jeden Monat neue Bereiche der bilateralen Beziehungen hineingezogen, angefangen bei Gas und Öl bis hin zu Grenzfragen und Streitereien um Lebensmittelbestimmungen. Diese Krise speist sich aus sich selbst. Das Negative in der Berichterstattung und wechselseitige Verärgerungen erzeugen neue, unnötige Skandale: Die Verhaftung prorussischer Publizisten, Lukaschenkos demonstrative Abwesenheit bei den Gipfeltreffen der OVKS und der Eurasischen Wirtschaftsunion in Sankt Petersburg sowie die Minsker Entscheidung, den russisch-israelischen Blogger Alexander Lapschin nach Aserbaidschan auszuliefern.

    Zuletzt erfolgte die Entscheidung des FSB, an der Grenze zu Belarus ein Grenzregime einzurichten. Dieser Schritt bedeutet in erster Auslegung eine de facto-Einführung von Passkontrollen, und zwar dort, wo es praktisch nie welche gab.

    Katharsis eines Präsidenten

    Lukaschenkos Pressekonferenz wäre womöglich nicht so emotional geraten, hätte der FSB diese Entscheidung nicht erst wenig Tage vorher verkündet. Vernichtend wäre sie allerdings trotzdem ausgefallen, weil so oder so der Siedepunkt erreicht war. Der Auftritt des belarussischen Präsidenten enthielt mehr Emotionen als Politik: Er machte seinem Ärger Luft, baute den angestauten Stress ab.

    Zu Beginn des rekordverdächtigen siebeneinhalbstündigen Gesprächs mit Presse und Volk vermied Lukaschenko sogar das Wort „Russland“. Ungefähr so, wie Wladimir Putin den Namen Alexej Nawalny niemals öffentlich in den Mund nimmt. Gefragt nach den Beziehungen zu Moskau sprach Lukaschenko fast anderthalb Stunden. Dabei begann er mit den Worten: „Die Lage ist an einem Punkt angelangt, an dem ich kaum das Recht habe, etwas zu verhehlen.“ Auf das Thema kam er sogar dann zurück, wenn es  um ganz andere Fragen ging. Eine vollständige Liste der auf der Pressekonferenz geäußerten Vorwürfe gegenüber Russland würde etliche Seiten füllen. Versuchen wir es stichpunktartig:

    Lukaschenko beschuldigte Moskau, internationale Öl-, Gas-, und Grenzverträge verletzt zu haben. Er erklärte, er habe wegen des Öl- und Gasstreits gegen Russland bereits Klage eingereicht und die belarussischen Vertreter aus den Zollgremien der Eurasischen Wirtschaftsunion abberufen. In Bezug auf die sich hinziehende Unterzeichnung des Zollgesetzbuches der Eurasischen Union erklärte Lukaschenko, dass er das Dokument bis zu einer Lösung des Öl- und Gasstreits nicht anrühren werde. Er äußerte den Vorwurf – der auf der Hand liegt, aus dem Munde eines Verbündeten jedoch grob klingt – dass Russland Belarus nicht als unabhängigen Staat wahrnehme.

    Lukaschenko hat den Innenminister angewiesen zu prüfen, ob nicht ein Strafverfahren gegen Sergej Dankwert, den Chef der russischen Landwirtschaftsaufsicht (Rosselchosnadsor), eröffnet werden könne. Dabei drohte er Dankwert mit einer Untersuchungshaft in Minsk, damit ihm die Lust vergehe, belarussische Lebensmittel zu verbieten. Erneut kam die Weigerung, einen russischen Luftwaffenstützpunkt einzurichten, dabei hat Moskau dieses Thema seit einem Jahr nicht mehr öffentlich angesprochen.

    „Wir sind durch Feuer und Flak geflogen. Und Sie wissen, wohin“, erklärte Lukaschenko programmatisch. Es wurden auch Details aus vertraulichen Verhandlungen auf höchster Ebene ausgeplaudert, mit bissigen Zitaten wie: „Wolodja [Koseform von Wladimir – dek], verdirb nicht den Abend“ und „Das habe ich Putin bereits gesagt, als der noch Demokrat war“.

    Wir sind durch Feuer und Flak geflogen. Und Sie wissen, wohin

    Es wäre falsch zu sagen, dass Lukaschenko vollständig die Kontrolle über sich verloren hätte. Neben Dutzenden skandalöser Erklärungen, die dann meist Schlagzeilen machen, gab es genauso viele besänftigende Töne. Der belarussische Präsident versprach, auf die FSB-Entscheidung über die Verschärfung des Grenzregimes nicht mit gleicher Münze zu antworten, um den Russen keine Probleme zu bereiten. Lukaschenko folgte der in unseren Ländern klassischen Formel „Gut ist der Zar, böse sind die Bojaren“ und gab nicht Putin die Schuld an der Verschlechterung der Beziehungen, sondern seinem Umkreis: „Da gibt es in der Tat unterschiedliche Kräfte. Sie sind heutzutage leider auch an der Spitze des Landes zu finden. Und was besonders schlecht ist: Einige Dinge weichen von den Ansichten und Entscheidungen des Präsidenten selbst ab.“

    Lukaschenko ist ein erfahrener Verhandlungsführer, und der rhetorische Schachzug leuchtet ein. Indem er Putins Untergebenen die Schuld an den Problemen in die Schuhe schiebt, gibt er Putin, so dieser will, die Möglichkeit zu einer Aussöhnung ohne Gesichtsverlust. Auf diese Weise haben beide Seiten die vergangenen 15 bis 20 Jahre agiert: Sobald die Menge der Streitereien auf Ebene der Ministerien und Staatskorporationen qualitativ relevant wurde, mischten sich die Präsidenten ein, und im Namen der jahrhundertealten Bruderschaft entschieden sie alles gütlich.

    Jetzt geschieht nichts dergleichen, und so gelangen wir zu einem weiteren Grund für Lukaschenkos  demonstrativen Zorn: Er will den früheren Putin am Verhandlungstisch zurückhaben, statt all jene unfreundlichen Gesprächspartner aus Moskau, mit denen Minsk in den vergangenen Monaten zu tun hatte.

    Es stimmt, dass zwischen den Präsidenten eine persönliche Abneigung und eine psychologische Unvereinbarkeit besteht. Andererseits war Wladimir Putin nahezu das einzige Kraftzentrum innerhalb der russischen Elite, das die Beziehungen der beiden Staaten potenziell auf positive Bahnen lenken konnte.

    Die schwindende goldene Mitte

    Traditionell hat es in der russischen Elite drei Ansätze für die Beziehungen zu Belarus gegeben, zwei extreme und einen zentristischen.

    Eins der Extreme ist der Ansatz der pragmatischen Marktwirtschaftler in der Regierung, zu deren Exponenten Dimitri Medwedew und Arkadi Dworkowitsch gezählt werden können – sowie zuvor auch Alexej Kudrin und Anatoli Tschubais. Auf der Expertenebene werden diese Positionen in Kreisen der Higher School of Economics vertreten. Diesen Leuten ist eine imperiale Agenda, die Idee eines „Sammelns postsowjetischer Erde“ fremd; Lukaschenkos Lieblingsargument „Wir haben doch gemeinsam in den Schützengräben gekämpft!“ lässt sie kalt. Das von einigen russischen Intellektuellen verehrte Lager der Pragmatiker war für die belarussische Regierung immer schon  der unangenehmste Verhandlungspartner. Diese russischen Funktionäre und Experten vertreten am aktivsten den Standpunkt, dass Minsk im Großen und Ganzen ein Schmarotzer sei und endlich nicht mehr durchgefüttert werden sollte.

    Das andere Extrem ist imperial und nationalistisch. Es ist im Block der Silowiki verbreitet sowie auf der Expertenebene unter Verfechtern des Russki mir, radikalen Eurasiern und Slawophilen. Deren Agenda ist einfach: Die Unabhängigkeitsspielchen der Provinz im Nordwesten sind natürlich amüsant, doch werden sie früher oder später ein Ende haben müssen. Solange Lukaschenko auf einem Integrationskurs bleibt, ist er auf unserer Seite, sobald er aber dem Westen Avancen macht, muss man ihn daran erinnern, wer hier der kleine Bruder ist.

    Der belarussische Präsident hat auch das imperiale Lager in der russischen Elite nicht allzu sehr in sein Herz geschlossen, weil er weiß, dass ihm in dessen Weltbild allenfalls ein Gouverneursposten zufallen würde. In guten Zeiten immerhin hatte Lukaschenkos traditionelle Rhetorik von der unverbrüchlichen slawischen Bruderschaft durchaus eine Wirkung auf die russischen Imperialen gehabt.

    Putin als Schlichter zwischen den Extremen

    Wladimir Putin übernimmt auf der innerrussischen Bühne oft die Rolle des zentristischen Schlichters zwischen dem pragmatisch-liberalen Kremlturm einerseits und dem der Konservativen und Silowiki andererseits. Einen solchen vermittelnden Ansatz hatte Putin auch stets gegenüber Minsk verfolgt, was Lukaschenko sehr entgegenkam.

    Zum einen ist der auf Integration gerichtete Eifer des Kreml fast immer duldsam gewesen, weil Putin kein fanatischer Anhänger der eurasischen Ideen ist. Zum anderen drehte Putin regelmäßig die von der eigenen Regierung zugedrehten Öl- und Gashähne wieder auf, weil er für Beschwörungen einer slawischen Bruderschaft empfänglich ist.

    Die Konflikte zwischen Minsk und Moskau erfolgten immer dann, wenn die Linie des Kreml einem der beiden Extreme zuneigte: angefangen mit Putins Vorschlag, dass Belarus 2004 in Form von sechs Verwaltungsgebieten Russland beitreten könnte, bis hin zum Schwenk in Richtung der Pragmatiker unter der formalen Präsidentschaft Medwedews. Es ist kein Zufall, dass die letzte anhaltende Krise der Beziehungen – mit ihren Milch-, Zucker-, Öl- und Informationskriegen – in den Jahren 2009 und 2010 war.

    Plumper Druck auf Minsk: Ölhahn auf und wieder zu

    Lukaschenkos Problem besteht heute darin, dass die goldene Mitte allmählich aus der Rechnung herausfällt. Denn diese extremen und bislang marginalen Ansätze innerhalb der russischen Außenpolitik sind nun eigenmächtig und ebenbürtig geworden, zumindest wenn es um Belarus geht. Es scheint, als sei Wladimir Putin vollauf mit der globalen Agenda beschäftigt und kümmere sich einfach nicht mehr um Kleinigkeiten wie die Streitereien mit Minsk. Deren Lösung wurde delegiert an Silowiki und Traditionalisten oder aber an Pragmatiker und Technokraten. Hierher rührte denn auch der plumpe Druck auf Minsk zur Errichtung eines Luftwaffenstützpunktes einen Monat vor Lukaschenkos Wiederwahl 2015 und das Ansetzen des Energiehebels bis zum Anschlag: Nämlich dann, wenn Moskau zur Eintreibung der Minsker Schulden aus Gaslieferungen ganz unverhohlen einfach die Öllieferungen drosselt.

    Das hatte auch Lukaschenko beiläufig erwähnt, als er auf der Pressekonferenz von den schleppenden Gasverhandlungen mit Putin sprach: „Als wir bei ihm waren, haben wir bis zwei Uhr nachts alles besprochen, ganz familiär. Und dann kam die letzte Frage: Er nimmt seine Unterlagen und versucht, mir irgendwas zu erklären. Ich sagte ihm: ‚Warte mal, willst du sagen, dass ihr diesen Weg nicht so gehen könnt, wie eigentlich beabsichtigt?‘ ‚Ja, ich habe meine Gründe, die Minister haben sich bei mir gemeldet‘.“

    Lukaschenko möchte, dass Putin wie früher die Minister im fraglichen Moment aus Konflikten heraushält und selbst entscheidet – und nicht, andersherum, die Probleme auf Untergebene abwälzt. Daher rührt auch der heftige Ton der Pressekonferenz. Der belarussische Präsident möchte sich beim russischen Kollegen laut Gehör verschaffen, damit dieser endlich den erbärmlichen Zustand der Beziehungen zur Kenntnis nimmt.

    Herbst einer Ehe

    Wie im Streit zweier Eheleute muss einer manchmal laut werden. Minsk hat Dampf abgelassen. Jetzt sollte das Pendel des Konflikts – zumindest auf der öffentlichen Ebene – vom nervenaufreibenden Höhepunkt langsam wieder in ruhigere, eingeschliffene Bahnen zurückschwingen.

    Der Öl- und Gasstreit wird, falls er nicht beim Treffen von Putin und Lukaschenko am 9. Februar beigelegt werden kann [das Treffen wurde verschoben – dek], vor dem Gerichtshof der Eurasischen Union landen. Die belarussischen Schulden von einer halben Milliarde US-Dollar werden derweil weiter anwachsen und darauf warten müssen, dass die Politiker sie wenigstens zum Teil abschreiben oder Kompensationsmechanismen finden.

    Derweil wird Sergej Dankwert wohl kaum ein Strafverfahren zu befürchten haben, solche Spitzen sind zu riskant, schließlich handelt es sich um einen hochrangigen Funktionär der föderalen Verwaltung. Dankwert wird allerdings auch kaum aufhören, immer mal belarussisches Rindfleisch und Milch an der Grenze zurückzuschicken. Der Blogger Lapschin wird wohl nach Aserbaidschan ausgeliefert werden [Lapschin wurde inzwischen bereits ausgeliefert – dek] und danach in eines der Länder überstellt, deren Staatsangehörigkeit er hat. Die Fachleute vom Grenzschutz werden sich hinsetzen und erörtern, wie man nun auf neue Art mit der gemeinsamen Grenze leben wird: Die visafreie Einreise für Europäer und Amerikaner nach Belarus tritt ab dem 12. Februar in Kraft, und Moskau wird begreifen, dass bisher kein Strom westlicher Migranten die Gebiete Smolensk und Brjansk im Sturm nimmt.

    Doch der Konflikt wird nie mehr ganz verschwinden. Um erneut die Ehe-Analogie zu bemühen: In den Beziehungen zwischen Belarus und Russland hat der Alltag endgültig die Romantik abgetötet, mit der vor 20 Jahren alles anfing. Aus einem komplizierten Bund zweier emotionaler Partner mit ihren Macken und einem Hang zu gegenseitiger Erpressung ist eine Scheinehe geworden. Der Mann hat jetzt neue Interessen, die Frau kokettiert mit dem Nachbarn, zuerst als Neckerei und Spiel der Eifersucht, dann aus längerfristigem Kalkül: Womöglich wird man sich früher oder später eine neue Bleibe suchen müssen.

    Geht es einer Scheidung entgegen?

    Geht es einer offiziellen Scheidung entgegen? In absehbarer Zukunft nicht, das wäre nicht die slawische Art. Die heutigen Eliten, seien es die in Minsk oder in Moskau, werden sich wohl an den vielzähligen Formaten bilateraler Integration festhalten: Unionsstaat, OVKS, Eurasische Wirtschaftsunion, GUS, all diese hübschen Stempel im Pass. Umso mehr, als von deren Existenz für Belarus ganze Wirtschaftszweige abhängen und für den russischen Nachbarn das Image eines attraktiven Gravitationszentrums, das Russland aufrechterhalten will.

    Doch das ändert nichts am Kern der Sache – das gewohnte Beziehungsformat steckt in der Sackgasse. Während sie sich ständig neue Beulen zufügen, wird beiden Seiten bewusst, dass eine Integration derart unterschiedlich großer und gleichzeitig autoritärer Länder nicht sowohl gleichberechtigt als auch finanziell unkompliziert sein kann. Alle Versuche Moskaus, seine jahrelangen Investitionen in einen größeren Einfluss auf Minsk umzumünzen, werden auf Widerstand stoßen. Im gleichen Maße, wie sich Belarus an seine Unabhängigkeit gewöhnt hat, ist dessen ewiger Präsident nicht fähig, seine Macht mit irgendjemandem zu teilen. Und die belarussischen Versuche, Moskau für das frühere Lehens-Modell wiederzugewinnen – in Belarus trägt das den schönen Namen „Öl gegen Küsse“ – sind ebenfalls fruchtlos. Der Kreml ist daran nicht mehr interessiert.
    Selbst wenn es gelingen sollte, den aktuellen Streit unter großen Anstrengungen einzudämmen, wird er in die Geschichtsbücher eingehen, zumindest in die belarussischen. Nach der Unabhängigkeitserklärung und deren institutioneller Verankerung – eine eigene Bürokratie, Währung und Armee – ist dieser Konflikt für Belarus eine der wichtigsten Etappen, um sich von der einstigen imperialen Metropole abzunabeln.

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