Nach dem Besuch des Duma-Abgeordneten Sergej Gawrilow im georgischen Parlament vergangenen Donnerstag war es in der Hauptstadt Tbilissi zu heftigen Protesten gekommen. Die Demonstranten hielten unter anderem Schilder hoch mit englischsprachigen Aufschriften wie „Stop Russia!“ oder „Russia is occupant“. Die Polizei ging mit alle Härte gegen die Demonstranten vor. Nun kriselt es auch in den georgisch-russischen Beziehungen: Wegen der angeblich „russlandfeindlichen Provokation“ während der Proteste verhängte Russlands Präsident Putin am Tag darauf ein Flugverbot, russische Airlines dürfen ab dem 8. Juli keine Flüge nach Georgien mehr anbieten. Dies sei nötig, um die „nationale Sicherheit zu gewährleisten“. Dabei sehen Beobachter in der Einladung Gawrilows und im brutalen Vorgehen gegen die Demonstranten vor allem eine Führungsschwäche der georgischen Regierung. Die Einladung stößt auf Unverständnis, zumal der Georgienkrieg von 2008 sowie die starke russische Militärpräsenz in Abchasien und Südossetien im medialen wie öffentlichen Bewusstsein Georgiens sehr präsent sind.
Doch weshalb reagiert Russland nun so scharf? Was bedeutet das Flugverbot zur Hochsaison tatsächlich für den Tourismus und für die Beziehungen der beiden Länder untereinander? Wjatscheslaw Polowinko und Arnold Chatschaturow haben für die Novaya Gazeta russisches Staatsfernsehen geschaut und unterschiedliche Politologen befragt.
Die Proteste in Tbilissi, die am 20. Juni begonnen haben, wurden zum gefundenen Fressen für die Propagandamacher des russischen Fernsehens. Bis dato hatten sie noch rund zehn Mal täglich jedwede Neuigkeit aus der Ukraine wiedergekäut. „Neuer Majdan in Tbilissi“ titelte die Sendung 60 Minuten im Fernsehsender Rossija. Artjom Schejnin brachte das georgische Thema in seiner Sendung Wremja pokashetsehr ausführlich und genau, aber mit Standard-Einsprecher: „Die Menschen sind bestimmt nicht von allein auf die Straße gegangen, jemand hat sie instruiert.“
In beiden Sendungen trat der russisch-orthodoxe Kommunist Sergej Gawrilow auf. Während der Interparlamentarischen Versammlung für Orthodoxie hatte er [im Plenarsaal des georgischen Parlaments – dek] auf dem Stuhl des Parlamentspräsidenten Georgiens Platz genommen, was der formale Auslöser für die Proteste war. Wie ein Mantra wiederholte Gawrilow, dass die Schuld „auf Seiten der Gastgeber“ liege – alle anderen, angefangen bei Alexander Chinschtein bis zu Maria Sacharowa, stimmten mit ein: Es sei eine „große zurechtgebastelte Provokation“. Zu einem gewissen Zeitpunkt schien es, der Kreml selbst glaube die Geschichten, dass die Proteste auf Befehl „englischsprachiger Instrukteure“ begonnen hätten und habe daraufhin entschieden, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Traditionell griff man zu Bomben auf Woronesh: Präsident Wladimir Putin erließ ein Verbot, das russischen Flugzeugen ab dem 8. Juli nicht mehr erlaubt nach Georgien zu fliegen. Bürgern, die schon dort sind, soll die Möglichkeit offen stehen, nach Hause zurückzukehren.
„Vom Sicherheits-Standpunkt her ist diese Maßnahme womöglich plausibel, aber sie schießt über das Ziel hinaus“, so der Polittechnologe Witali Schkljarow, der auch ein Jahr in Georgien gelebt hat. „Eine andere Frage ist, inwieweit es auch für einen Präsidenten juristisch überhaupt zulässig ist, privaten Airlines zu verbieten, in ein anderes Land zu fliegen.“ Bei den Fluglinien allerdings wurden diesbezüglich keine Fragen laut: Sie murrten zwar ein wenig, stellten aber allesamt am 22. Juni den Verkauf von Flugtickets nach Georgien ein. Doch für die in Tbilissi lebenden Russen war die Entscheidung über die „Evakuierung“ ein echter Schock. Aus Sicht des Kreml gibt es hier jedoch keinerlei Unstimmigkeiten, stellt der Polittechnologe Gleb Pawlowski klar: „Die Staatsmacht glaubt aufrichtig, dass sie Gutes tut, wenn all diese Menschen beispielsweise auf die Krim fahren können.“
Viele Wege führen nach Tbilissi
Das Verbot von Flügen nach Georgien ist ein Schlag für die Tourismusbranche des Landes. Nach Angaben russischer Reiseanbieter kommen jährlich im Durchschnitt 5 Millionen Touristen nach Georgien (im vergangenen Jahr waren es insgesamt 8,7 Millionen). Davon sind 1,4 Millionen russische Staatsbürger, mehr Menschen kommen nur aus Aserbaidschan. Im Jahr 2018 stieg die Zahl der russischen Besucher um 24 Prozent. Allerdings wird durch das Einstellen von Flügen russischer Airlines der Reisebetrieb nach Georgien nicht insgesamt lahmgelegt. Man muss nun Umwege nehmen, aber eine vollständige Blockade gibt es nicht.
„Der Druck auf Georgien ist die Folge einer Kränkung der russischen Machthaber“, meint der Polittechnologe Alexej Makarkin. „Dabei geht es nicht einmal darum, dass der Abgeordnete Gawrilow beleidigt wurde, sondern dass sich die georgischen Machthaber nicht entschuldigt haben. Regierung und Opposition in Tbilissi sind zerstritten, ihr Problem ist nicht gelöst, aber einen offensichtlichen Konsens gibt es: Gawrilow ist selber schuld. In Russland schmerzt eine solche Position, darum hat man sich überlegt, wie man [zurück]schlägt.“
Georgischen Wein zu verbieten ist sinnlos, das hat schon vor gut zehn Jahren nicht sonderlich gut funktioniert. Also hat man sich jetzt auf die Touristen fokussiert, die sich, vorwiegend wegen der russischen Staatspolitik gegenüber Ägypten und der Türkei in den vergangenen Jahren, nach Tbilissi umorientiert haben: Dort ist es günstig und lecker.
Die Georgier unterscheiden stets zwischen der russischen Regierung und den russischen Bürgern
In Tbilissi selbst nimmt man die Taktik des Kreml mit Ironie auf: „Es gibt einen ökonomischen Aspekt dabei, ja, der mag unangenehm sein, aber auch nicht wirklich gravierend“, erklärt Jegor Kuroptew, ein russischer Medienmanager, der in Tbilissi arbeitet. „Russische Touristen sind hier sehr beliebt. Die kommen sogar und beobachten die Proteste, finden das interessant, alles ist in bester Ordnung. Daher wirkt es merkwürdig, den eigenen Leuten zu verbieten, irgendwohin zu fliegen. Schade, dass der Kreml mit einer solchen Entscheidung versucht, die Beziehung zwischen den Völkern zu verschlechtern.“
„Die Georgier unterscheiden stets zwischen der russischen Regierung und den russischen Bürgern. Gegenüber dem Kreml hat das Land sehr klare Vorbehalte: Gespräche mit Politikern darf es nur über eine ,Deokkupation der Gebiete’ [von Abchasien und Südossetien – Novaya] geben“, meint Kuroptew. „Dass sich Gawrilow auf den Stuhl des Parlamentspräsidenten gesetzt hat, das war bloß der Auslöser. Dass überhaupt eine offizielle russische Delegation mit Duma-Abgeordneten kommt, konnte nur so aufgenommen werden“, schließt Kuroptew.
Der Kreml bietet den Menschen wieder das Thema Kampf mit dem äußeren Feind an
Die Idee des Kreml bestehe darin, den Abgeordneten Gawrilow pars pro toto mit den Bürgern Russlands gleichzusetzen, sagt Alexej Makarkin. Georgien sei für den Kreml in vielerlei Hinsicht nebensächlich. Diese Proteste könnten [dem Kreml] aber dazu dienen, neues Leben in die Beziehungen mit einem ganz anderen, einem loyalen, aber mittlerweile unzufriedenen Gegenüber einzuhauchen: „Dieses Verbot und die Informationskampagne zielt auf solche Menschen ab, die sowieso nicht nach Georgien reisen. Die Logik dahinter: Sie schikanieren uns, und wir sollen auch noch dorthin fahren? Wir helfen sowieso allen, uns sind sowieso alle zu Dank verpflichtet. Das Verbot soll gerade die Menschen zusammenschweißen, die so denken“, betont Makarkin. „Früher haben sie traditionsgemäß den Staat unterstützt, dann aber kam die Rentenreform, und die Menschen wollten Gerechtigkeit. Nun bietet man ihnen wieder das Thema Kampf mit dem äußeren Feind an.“
Für den Kreml sei der ganze Vorfall ein unerwartetes Geschenk, meint auch Gleb Pawlowski: „Ein Flugverbot ist in diesem Fall zwar übertrieben, Moskau aber will diese Geschichte aufbauschen. Rein praktisch sind diese Proteste für den Kreml ungünstig, aber gleichzeitig eine passende Gelegenheit, um sich demonstrativ beleidigt zu zeigen und nach Bedarf die Eskalation fortzusetzen“, so Pawlowski.
Die Beziehungen des Kreml mit den georgischen Machthabern waren in den letzten Jahren durchaus sachlich (soweit das überhaupt möglich ist, wenn die diplomatischen Beziehungen abgebrochen sind). Angesichts der Ergebnisse des ersten Protesttages schrieb aber die georgische Präsidentin Salome Surabischwili auf Facebook, dass die Massenproteste ausschließlich Russland zupass kämen, das „Feind und Besatzer“ sei. Interessant, dass Surabischwili, die die Protestierenden de-facto des Spiels auf der Seite der „Besatzer“ beschuldigt, dabei die Rhetorik der Demonstranten aufgreift. Solche Slogans wurden übrigens zu einem zusätzlichen Reizfaktor für die russischen Machthaber. Eine Version legt nahe, dass das Verbot gerade dann durchgesetzt wurde, als die Banner-Sprüche gegen Russland und Putin durch die Welt gegangen waren.
Laut Experten wäre es logisch gewesen, bei einer neuerlichen Eskalation im Konflikt zwischen Russland und Georgien gleich am Anfang auf die Bremse zu treten. Nun aber sei das schon sehr schwierig: Jetzt sei der Moment, alle Vorteile aus der aufgeheizten Stimmung bis zum Ende „auszuschöpfen“, meint Gleb Pawlowski. Außerdem „muss einer den ersten Schritt machen“ zur Versöhnung, ergänzt Witali Schkljarow. Den aber will keiner machen. Und vielleicht kann es auch keiner.
Um das gegenwärtige Russland zu erklären, bemühen viele russische Sozialwissenschaftler Weimar-Vergleichе: Nach dem Systemzusammenbruch kam es in beiden Ländern zu massiven wirtschaftlichen und politischen Krisen. Politiker und Intellektuelle beider Länder sprachen oft über Identitätskrisen und über Demütigungen durch Feinde, über die Wesensfremdheit der liberalen Demokratie für ihr Volk. Die Demokratie scheiterte und wurde hier wie dort zum Schimpfwort. Schließlich gab es in beiden Ländern die Phönix aus der Asche-Erzählung, in Russland hat sich dafür die Formel „Erhebung von den Knien“ etabliert.
Einige Sozialwissenschaftler sehen auch zwischen der Wilhelminischen und der Gesellschaft des Homo Sovieticus Parallelen. Diese seien von Untertanen durchsetzt gewesen, wie sie zum Beispiel Heinrich Mann beschrieb: obrigkeitshörig, kollektivistisch und konformistisch. Und diese Eigenschaften, so die Behauptung der Wissenschaftler, würden sowohl die politische Kultur der Weimarer Republik als auch die des gegenwärtigen Russland prägen.
Die Beweisdecke für solche Thesen ist sehr dünn, meint dagegen Grigori Judin. In einem Interview mit der Novaya Gazeta räumt der Soziologe mit gängigen Klischees auf.
Novaya Gazeta: In einem Vortrag sprachen Sie kürzlich über das Modell des Homo Sovieticus, das von vielen russischen Soziologen aufgegriffen und von prominenten Persönlichkeiten unterstützt wird: Wladimir Putin etwa spricht von einem „Element des Kollektivismus“ in den Herzen der Russen. Ist da etwas dran?
Grigori Judin: Es gibt die Sichtweise, die UdSSR habe eine neue anthropologische Art hervorgebracht, die zudem noch schrecklich resistent ist: Nichts kann ihr etwas anhaben. Dieser Typus vernichtet sämtliche Institutionen, die auf seine Transformation abzielen. Zu seinen typischen Eigenschaften gehören Konformität, Paternalismus; er liebt jede Form von Gleichmacherei. Insgesamt also ein höchst unangenehmer Typ, der bei jedem normalen Menschen Abscheu hervorrufen muss. All dem liegen zwei Dinge zugrunde, die man mit dem sowjetischen Menschen assoziiert: der Kollektivismus und der Hass auf den Individualismus.
Das bringt uns in eine recht merkwürdige Situation. Denn sämtliche Studien zeigen, dass es überhaupt keinen Grund gibt, weder über den sowjetischen noch den heutigen russischen Menschen so zu denken. Überhaupt ist die Gegenüberstellung von Individualismus und Kollektivismus aus Sicht der Sozialwissenschaften ein fragwürdiges Unterfangen: Ihre Gründerväter waren eher um eine Synthese bemüht.
Russland ist eines der individualistischsten Länder überhaupt
Und selbst wenn wir diese Dichotomie bemühen, stellen wir fest, dass im heutigen Russland die individualistische Denkweise viel stärker ausgeprägt ist. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls die internationale Werte-Forschung, die es uns erlaubt, Russland mit anderen Ländern zu vergleichen. Wie sich herausstellt, ist Russland eines der individualistischsten Länder überhaupt.
Womit hängt das zusammen?
Das ist nicht weiter überraschend, denn die Institutionen des Kollektiv- oder gemeinschaftlichen Lebens, die den Individualismus ausgleichen würden, sind bei uns nicht entwickelt. Sie wurden in einem hohen Maß bereits in der späten Sowjetunion unterdrückt, und danach hat sich überhaupt niemand mehr darum gekümmert. Seit den 1990er Jahren versuchen wir, eine liberal-demokratische Gesellschaft aufzubauen, aber von den zwei Komponenten haben wir nur an eine gedacht. Wir haben eine gestutzte Version des liberal-demokratischen Systems importiert: einen Liberalismus ohne Demokratie.
Wir haben eine gestutzte Version importiert: einen Liberalismus ohne Demokratie
Damals bestand die Hauptaufgabe darin, eine Marktwirtschaft aufzubauen, wirtschaftliches Wachstum zu sichern, Konkurrenz zu schaffen. Unter Existenzangst verlangte man den Menschen Unternehmersinn ab und lehrte sie, dass niemand für sie sorgen wird, wenn sie es nicht selbst tun. Heute ist die Gewissheit, dass du keine Hilfe zu erwarten hast und jeder sich selbst retten muss, zum Grundprinzip des russischen Lebens geworden.
Das Ergebnis ist eine zunehmend radikale Entfremdung der Menschen voneinander und der fehlende Glaube an das gemeinschaftliche Handeln. Für den demokratischen Aspekt interessierte sich so gut wie keiner. Doch genau das, was wir also links liegen ließen, weil es uns unwichtig erschien, ist das Allerwichtigste: Institutionen der regionalen Selbstverwaltung, regionale Vereinigungen, Berufsverbände. Um den Ausbau der regionalen Selbstverwaltung hat sich in den 1990er Jahren niemand gekümmert, und später wurde sie ganz bewusst unterdrückt. Niemand hat für Initiativen von unten und Berufsverbände gesorgt, ganz im Gegenteil, in allen Bereichen, die traditionell in den Händen von Fachleuten lagen, sehen wir heute die uneingeschränkte Macht von Managern.
Aber dieser Individualismus ist keiner, den man als positiv bezeichnen kann.
Kürzlich wurde ich bei einem Vortrag gefragt: Welcher Schlüsselbegriff beschreibt die russische Gesellschaft, wenn es weder der Kollektivismus noch der Individualismus tun? Atomisierung – das ist der Begriff der Stunde.
Aus soziologischer Sicht geht es nicht um einen Gegensatz von Individualismus und Kollektivismus. Moderne Gesellschaften können nur bestehen, wenn ein gesundes Gleichgewicht zwischen den beiden existiert. Unser Problem ist, dass in Russland ein aggressiver Individualismus vorherrscht, der von Angst genährt wird und deshalb in brutale Konkurrenz, totales gegenseitiges Misstrauen und Feindschaft umschlägt.
Verstehe ich richtig, dass ein gesunder Kollektivismus nicht das Primat der Gruppe über das Individuum meint, sondern die Idee eines Gemeinwohls? In Russland steht man dieser Sicht ja eher zynisch gegenüber.
Genau das ist das Schlüsselwort, das die Alltagsmoral in Russland beschreibt: Zynismus. Wenn du dich lächerlich machen willst, musst du nur das Wort „Gemeinwohl“ in den Mund nehmen: Wo hast du denn so was je gesehen? Weißt du denn nicht, wie es auf der Welt zugeht? Genau diese ethische Grundeinstellung resultiert aus einem mangelnden Gleichgewicht, einem unterentwickelten Gemeinschaftsleben.
Das Interessanteste ist, dass wir die Propaganda der Sowjetzeit gemeinhin belächeln, aber sobald es um den sowjetischen Kollektivismus geht, schenken wir ihr aus irgendeinem Grund weiterhin Glauben. Die UdSSR existiert seit 30 Jahren nicht mehr, aber wir glauben immer noch, dass die Sowjetmenschen echte Kollektivisten waren. Was an der spätsowjetischen Zeit so kollektiv gewesen sein soll, ist dabei völlig unklar. Es ist jedoch bequem, an die Mär vom schrecklichen sowjetischen Kollektivisten zu glauben – so können wir skeptisch herabschauen, anstatt zu handeln, und dabei auch noch das eigene Ego streicheln (ich bin ja ganz anders, weil ich Wert auf Persönlichkeit und Individualität lege).
Richtet sich die heutige TV-Propaganda nicht in genau diesen Begriffen an das kollektive Unterbewusstsein der Russen? „Wir sitzen alle in einem Boot“, „wir müssen uns verbünden“ und so weiter.
Natürlich, diejenigen, die diese Botschaften aussenden, wollen, dass wir uns mit ihnen verbünden. Gleichzeitig sagt man uns: Verbündet euch ja nicht untereinander. Das ist furchtbar gefährlich und kann nur in einer Revolution enden, diese Botschaft „Verlasst euch auf die Führung, unterstützt sie, und sie wird euch voreinander und vor heimtückischen Feinden beschützen“.
Die Propaganda verbreitet also eine verzerrte Botschaft über die Notwendigkeit des Zusammenhalts, der Geschlossenheit. Aber funktioniert sie auch, oder macht das alles keinen Sinn?
Sie funktioniert, man muss nur richtig verstehen, worauf sie abzielt. Das Ziel ist, die Atomisierung als eine unvermeidbare Tatsache hinzustellen. Die Botschaft der offiziellen Propaganda ist nicht, dass wir in einem perfekten Land mit tadelloser Regierung leben. Ganz und gar nicht – vielmehr sagt uns die Obrigkeit: „Ja, ich bin schlecht, aber wenn ich nicht da bin, wird es euch noch schlechter gehen, so ist das Leben. Jeder Mensch und jeder Politiker kümmert sich nur um sich selbst, das ist die menschliche Natur. Kollektives Handeln ist unmöglich. Und ganz egal, wer nach mir kommt, er wird kein bisschen besser sein, aber er wird euch nicht vor der Außenwelt beschützen können oder wollen. Es wird Chaos und Anarchie geben.“ Die Hauptemotion, mit der die Propaganda arbeitet, ist die Angst, und das Hauptmotiv, dessen sie sich bedient, ist die Suche nach Schutz.
Ein Thema, das aus den Nachrichten nicht mehr wegzudenken ist, sind die Beziehungen zur Ukraine. Das ist eine ziemlich schmerzhafte Geschichte: Ganze Familien sind wegen der Krim, dem Maidan und so weiter zerbrochen. Wie passt das zusammen mit dem ungesunden Individualismus der russischen Gesellschaft? Hat dieser Konflikt Konsequenzen, die nicht einkalkuliert waren?
Wenn man sagt, dass es in Russland an kollektivem Leben mangelt, heißt das auch, dass das Bedürfnis danach immer da ist. Es gibt eine ganze Reihe von Anzeichen, dass die Menschen insgesamt nur schwer mit diesem Mangel umgehen können. Dieses Problem haben nicht nur wir: Immer häufiger hört man von der Rückkehr der Identität als einer der Haupttendenzen der liberalen und postliberalen Welt.
Eine ganze Weile schien es, als würde unsere Welt flexibler werden, zu einem Ort, an dem sich jeder nach Belieben seine eigene Identität wählen und gestalten kann. Jetzt aber sehen wir, dass die Menschen überall auf der Welt versuchen, zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Daher auch der Rechtsruck und das Erstarken der konservativen Kräfte, die keine klaren Programme anbieten, sondern an die erwachenden Emotionen appellieren.
Überall auf der Welt versuchen die Menschen, zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Daher auch das Erstarken der konservativen Kräfte
Die Menschen streben stets nach einem kollektiven Leben, und in Russland sehen wir dafür viele Beweise. Die Geschichte mit der Krim kam 2014 – ein oder zwei Jahre, nachdem unterschiedliche Teile der russischen Gesellschaft begonnen hatten, ihr Bedürfnis nach kollektivem Handeln zum Ausdruck zu bringen und sich Bewegungen und Demonstrationen anzuschließen.
Nicht nur, das ist ein Beispiel von vielen. Parallel dazu konnte man einen Boom beim ehrenamtlichen Engagement beobachten, der sich nur teilweise mit den Protestbewegungen überschnitt. Es gab ein allgemeines Bedürfnis, das auch heute noch spürbar ist. Der Mensch ist so geschaffen, dass er kollektive Ziele braucht, eine Identität.
Die Mobilisierung von 2014 war ein Mittel der Machthaber, auf dieses Bedürfnis zu reagieren – teils unbewusst, teils aber auch mit Kalkül.
Wir haben gesehen, wie dieselben Leute, die zwei Jahre zuvor bei diversen Bewegungen mitgelaufen waren, nun zum Gewehr griffen und in den Donbass fuhren. Und alles nur, weil sie, grob gesprochen, einen Sinn im Leben brauchten. Das ist das Problem im heutigen Russland: Die Menschen sehen keinen Sinn, sie sehen keine Ziele, die gesellschaftlich akzeptiert wären. Initiativen von unten werden im Keim erstickt; das einzige Lebensmodell, das angeboten wird, ist die Erhöhung des Konsumstandards. Aber Konsum kann keinen Sinn liefern, für den man lebt.
Das ist das Problem im heutigen Russland: Die Menschen sehen keinen Sinn
Die Mobilisierung von 2014 hat gezeigt, dass die „konservativen Werte“, die dieses Vakuum vielleicht hätten ausfüllen können, gar nicht existieren. Viele Familien wurden entlang der Linie Russland/Ukraine gespalten. Jetzt beobachten wir die Spaltung der orthodoxen Kirche. Genau das meine ich mit Atomisierung – wenn die Institutionen des kollektiven Lebens schwach sind, ist es sehr einfach, die Menschen gegeneinander aufzuhetzen.
Bis vor Kurzem schien es, als würde die Ukraine in den Hintergrund rücken. Jetzt ist sie wieder in den Nachrichten. Werden die Aufrufe der Propaganda wieder Gehör finden?
Diesen Bonbon kann man nicht ewig lutschen. Ein paar Mobilisierungs-Reserven stecken vielleicht noch in diesem Thema, vor allem, wenn etwas Unerwartetes geschieht: Eine Verschärfung der Situation mit der Ukraine oder einem beliebigen anderen angrenzenden Gebiet – das könnte noch einmal denselben Effekt haben. Aber es ist klar – dies ist eine hohle Identität: Ja, es gibt Menschen, die zum Kämpfen in den Donbass gegangen sind, aber alle anderen sitzen weiterhin vor dem Fernseher. TV-Solidarität ist ein Surrogat, und Mal um Mal schwindet dessen Wirkung dahin.
Die Fake-Mobilisierung übers Fernsehen findet ihr Ende. Auch wenn man die Dosis der Verstrahlung durch Propaganda noch erhöhen kann – eine solche Geschlossenheit wie früher wird es nicht mehr geben, denn die Propaganda ist zur Gewohnheit geworden. Die Nachfrage nach einer kollektiven Identität ist jetzt außer Kontrolle des Präsidenten und seiner Administration geraten. Deren Repertoire ist ausgeschöpft. Deswegen fangen die Menschen an, selbst etwas zu suchen, von unten.
Arkady Ostrovsky wurde in der Sowjetunion geboren. Heute lebt er mit seiner Familie in London, schreibt für den Economist und die Financial Times über Russland und Osteuropa. Für sein Buch The Invention of Russia erhielt er 2016 den renommierten Orwell Prize. Nun erscheint das Werk, das sich mit dem postsowjetischen Russland im Allgemeinen und mit Medienmanipulation im Besonderen auseinandersetzt, auf Russisch. Anlass für Colta.ru den Autor zum Interview zu bitten.
Ostrovsky spricht über Fake-News, Trump und eine neue Weltordnung – und warum das alles vor allem mit Russland zu tun hat.
Arnold Chatschaturow: Vorbei ist er, der Honeymoon von Donald Trump und dem Kreml – der Name des US-Präsidenten taucht in den russischen Medien inzwischen deutlich seltener auf, der Ton ist abgekühlt. Kann die Rückkehr zu einer feindseligen Rhetorik gegenüber den USA für die russischen Machthaber von Vorteil sein?
Arkady Ostrovsky: Zunächst muss man sagen, dass der Antiamerikanismus für Russland nichts Althergebrachtes ist. In der russischen Kultur ist Amerika eher Traum und Zukunftsbild gewesen, Jenseits und Neue Welt.
Meines Wissens taucht Amerika als Ballung des Bösen erstmals bei Gorki in der Stadt des gelben Teufels aus dem Jahr 1906 auf. Wobei aber Gorkis Briefe über Amerika äußerst wohlwollend sind. Das Bild von Amerika als Zukunft zieht sich durch die Dichtung der 1910er und 1920er Jahre. Und Stalin schrieb in seiner Arbeit Über die Grundlagen des Leninismus, der Leninismus sei die Vereinigung von revolutionärem Geist und amerikanischer Geschäftstüchtigkeit.
In den 1970er und 1980er Jahren gab es in der UdSSR dann eine Karikatur des Antiamerikanismus – allen war vollkommen klar, wie sehr der Westen tatsächlich „am Verfaulen“ war.
Das ‚böse Amerika‘ ist für den Kreml Erklärung und Rechtfertigung für alles, was im Land geschieht
Doch heute ist der Antiamerikanismus für den Kreml eine der tragenden Säulen und der wesentlichen ordnenden Konstruktionen geworden; das „böse Amerika“ ist Erklärung und Rechtfertigung für alles, was im Land geschieht. Der Gedanke, diese Konstruktion einzureißen, macht natürlich Angst. Erstens ist unklar, was an ihre Stelle treten sollte. Zweitens könnte bei der Bevölkerung eine erhebliche kognitive Dissonanz auftreten – bisher leuchtete nämlich allen ein, weshalb man fest zusammenhalten und sinkende Löhne akzeptieren muss. Insofern ist es für die Ideologie des Kreml weitaus günstiger, die USA zum Feind zu haben als zum Partner.
Die anfängliche Euphorie des Kreml nach der Wahl Trumps hatte nicht nur mit Schadenfreude zu tun (seht mal, bei denen bröckelt alles, die haben sich ihren eigenen Maidan organisiert), sondern auch mit der Freude, sich selbst im anderen wiederzuerkennen.
Für den Kreml ist es günstiger, die USA zum Feind zu haben als zum Partner
Zwar sind sich Putin und Trump vom Persönlichkeitstyp her nicht besonders ähnlich, es ist jedoch absolut bemerkenswert, dass Trump tatsächlich genau dieselben Techniken verwendet – zum Beispiel wenn er die Presse von Briefings ausschließt und sie als Fake-News bezeichnet. Alle im Fernsehen lügen – das war ja einer der Schlüsselsätze Putins im Jahr 2001, als er mit den Angehörigen der Kursk-Opfer sprach. Und Trumps Hauptlosung Make America great again? ist natürlich ein Abklatsch von Russland von den Knien erheben.
Kann man sagen, dass das Konstruieren von gefakter Wirklichkeit für politische Zwecke gewissermaßen eine russische Technik ist?
In Russland hat dieses Phänomen tatsächlich immer eine wichtige Rolle gespielt. Die russischen Medien haben die Wirklichkeit stets konstruiert anstatt sie zu beschreiben. Das gilt sowohl für die sowjetischen als auch für die postsowjetischen Medien. In diesem Sinne ist die Rede davon, dass „wir jetzt hier mal ordentlich was aufbauen“ eine ausgesprochen russische Sache, das fing schon bei den Bolschewikian, wenn nicht noch früher.
Und in den 1990er Jahren ging dieses Konstruieren munter weiter. Selbst das profilierteste und fähigste Presseorgan jener Zeit, die Tageszeitung Kommersant, beteiligte sich an der Konstruktion der Wirklichkeit: geschrieben wurde nicht über das Land, das existierte, sondern über das Land, das man sich wünschte.
Später, in den 2000er Jahren, übernahm dies die Hochglanzsparte – [das trendige Moskauer Stadtmagazin – dek] Afischa etwa beschrieb eine europäische Stadt, die es noch gar nicht gab. Solche futuristischen Entwürfe sind immer gefährlich.
Sowjetische und postsowjetische Medien haben die Wirklichkeit stets konstruiert, anstatt sie zu beschreiben
In der Politik hat man nach den Wahlen von 1996 begonnen, mit Fakes zu arbeiten, bis später die Politik endgültig durch Polittechnologie ersetzt wurde. Man kann über die Wahlen von 1996 sagen, was man will, aber immerhin war Jelzin eine reale historische Figur, er war nicht dem Fernsehen entsprungen. All das, was danach losging – die idiotischen Spiele der Oligarchen, die 1997 die Regierung demontierten, dort ihre Silowiki unterbrachten und so weiter – diese Entwicklung gipfelte in der Olympiade 2014, als herauskam, dass die Medaillen-Erfolge der russischen Sportler gar nicht echt, sondern gedopt waren. Und dann stellt sich heraus, dass die Krim genau so ein Dopingmittel ist.
Meinen Sie, dass die Ereignisse in den USA vielleicht in einem komplexeren Sinne mit Russland zu tun haben? Also jenseits der mutmaßlichen Versuche des Kreml, Einfluss auf die US-Wahlen zu nehmen?
Richtig, ich meine nicht die Hackerangriffe, wenngleich es die bestimmt gab, davon bin ich überzeugt. Das hat es immer gegeben: Die Sowjetunion hat sich auch 1984 in die US-amerikanischen Wahlen eingemischt.
Ich glaube, die Verbindung ist in der dringenden Notwendigkeit einer neuen Agenda zu sehen, eines einfach gestrickten Narrativs, das mit der Geschichte zu tun hat.
Warum ist in beiden Ländern von Fake-News die Rede? Wenn man sich mit der Gegenwart befasst, braucht man Fakten, wenn man aber nostalgischen Erinnerungen an die Vergangenheit nachhängt, stören Fakten nur.
Wenn man nostalgischen Erinnerungen an die Vergangenheit nachhängt, stören Fakten nur
Trump ist ein Symptom der weltweiten Verschiebungen, die bis zu einem gewissen Grad mit dem Ende des Kalten Krieges zusammenhängen. Die Konfrontation mit der UdSSR hielt alle in Spannung. Danach setzte die große Entspannung ein, ja eine gewisse Faulheit.
Lange Zeit herrschte überall der Eindruck, das postsowjetische Russland sei eine Geschichte für sich: Das Land war mit sich selbst beschäftigt, irgendwelche Prozesse waren dort im Gange, die keinerlei Ähnlichkeit mit dem hatten, was man im Westen kannte. Und mit einem Mal stellt sich heraus, dass Russland überhaupt keine Ausnahme ist, sondern im Gegenteil – ein Vorreiter dessen, was heute in der Welt passiert. Nur haben sich diese Probleme in Russland früher und heftiger offenbart.
Russland ist zum „Pilotprojekt“ einer neuen Weltordnung geworden?
Ja, und dieses Projekt hängt mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zerfall der UdSSR zusammen.
Eine Weile ging man davon aus, Russland werde sich, nachdem es sich von der kommunistischen Herrschaft befreit hatte, zu einem normalen westlichen Land entwickeln. Doch die sogenannte russische Elite setzte ihre Macht nicht für den Aufbau von Institutionen und die Schaffung einer politischen Basis ein, sondern für die Vermehrung von Macht und Geld. Und bald wurde klar: eine Idee muss her. Russland ist so gesehen ein ideenzentriertes Land, mit einer besonderen Mission und einem Ziel, wie auch die USA.
Mit einem Mal stellt sich heraus, dass Russland überhaupt keine Ausnahme ist, sondern im Gegenteil – ein Vorreiter dessen, was heute in der Welt passiert
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre war Jelzin besessen davon, eine russische Idee zu finden, herauszufinden, wie wir uns selbst definieren können, wenn nicht über das Imperium oder die Konfrontation mit dem Westen. Er rief sogar spezielle Kommissionen zu dieser Frage ins Leben, wofür man ihn damals allerdings belächelte.
Als er zum dritten Mal die Amtsgeschäfte übernahm, stand es schlecht um die Wirtschaft, dazu kamen die Ereignisse auf dem Bolotnaja-Platz. Es wurde offensichtlich, dass nun die ideologische Agenda oberste Priorität hatte.
Putin und Trump haben gemerkt: Wenn es an ökonomischen Siegen mangelt, ist es deutlich effektiver, wieder in den Kampfmodus zurückzukehren. Wir leben im Zeitalter der Postmoderne: Es reicht, den Anschein einer Mobilmachung zu erzeugen, was ihnen auch bestens gelingt. Putin mit den Olympischen Spielen und der Krim, Trump mit seiner mexikanischen Mauer und dem Kampf gegen den Islam. Ein solcher Medienkrieg erfordert keine so großen Mittel. Eine andere Sache ist es, dass in diesem Krieg reale Menschen sterben.
Wie wir sehen, versucht Trump, sich von der messianischen Rolle der USA als Verfechterin liberal-demokratischer Werte loszusagen, stattdessen setzt er auf Pragmatismus und nationale Interessen. Was geschieht in dieser Hinsicht heute in Russland?
In Russland haben noch die Bolschewiki Anspruch auf das vierte Rom erhoben. Die UdSSR war in gewissem Sinne wirklich das Zentrum der Komintern, die Wiege einer zukünftigen weltweiten proletarischen Revolution. Heute wird Russland zum Symbol für die geistige Klammer, die traditionellen Werte und den Nationalismus.
Putin und Trump haben gemerkt: Wenn es an ökonomischen Siegen mangelt, ist es deutlich effektiver, wieder in den Kampfmodus zurückzukehren
An symbolischer Aufladung mangelt es dem Regime nicht: Selbst der letzte Diktator beeilt sich heute Putin zu preisen, und die amerikanischen Ultrarechten sagen, Russland sei das Zentrum traditioneller Zivilisation. Russland ist dabei, für viele europäische Politiker so etwas wie ein ideologisches Leuchtfeuer zu werden.
Die USA haben sich tatsächlich von dieser Rolle verabschiedet, haben ihren Status einer besonderen Nation, der für das Land lange Zeit sehr wichtig war, abgegeben.
Äußerst bezeichnend war Trumps Antwort auf eine Frage des Senders Fox News, wie er es mit Putin halte, der sei doch ein Mörder? – „Ach, wissen Sie, wir haben auch viele Mörder.“ Im Westen war man davon allenthalben schockiert, schließlich bedeutet das, wir sind alle gleich, von einer moralischen Überlegenheit der USA kann nicht mehr die Rede sein.
Fünf Jahre sind vergangen, seit zehntausende Menschen im ganzen Land auf die Straße strömten, Unzufriedene, die vehement Wahlfälschung anprangerten. Massenproteste – einen ganzen Winter lang. Heute wirkt das wie aus einer anderen Welt. Viele Analysten sehen den Willen, sich politisch zu betätigen, in Russland inzwischen an einem Tiefpunkt angelangt. Einen etwas anderen Blick auf den Zustand des Landes hat Gleb Pawlowski.
Pawlowski galt einst als eine der grauen Eminenzen des Kreml und ist mit seiner früheren Nähe zur Macht eine gewichtige Stimme für die russische Medienlandschaft. Sowohl Jelzin als auch Putin half er als Polittechnologe jahrelang, hohe Zustimmungswerte zu bekommen, fiel später jedoch in Ungnade und wandelte sich zu einem zynisch-kritischen Kommentator seiner Zeit. Einer, der nie aufgehört hat, die Putinsche Politik als inszenierte Welt, als Theater zu sehen und in kühlen strategischen Kategorien zu denken.
Im Interview mit dem Webmagazin Colta.ru erklärt er nun, warum er ausgerechnet dem Jahr 2017 eine neue Politisierung der Gesellschaft prophezeit, was er darunter versteht und was das für ihn mit Putins jüngster Rede zur Lage der Nation zu tun hat.
Beginnen wir mit den jüngsten Ereignissen. Die Rede des Präsidenten vor der Föderalversammlung wird allgemein als „versöhnlich“ eingeschätzt. Worauf ist Ihrer Meinung nach diese demonstrative Neutralität seiner Ansprache zurückzuführen?
Die Programmrede enthielt nichts von dem, was man angstvoll erwartet hatte; sie wurde als versöhnlich und beruhigend empfunden. Es war aber auch keine Rede zur Lage der Nation. Wenn der Präsident die Situation nicht eskalieren lassen will, wendet er sich nicht an sein Land, sonst würde seine Rede extrem ausfallen. Putin möchte vorerst dem populistischen Expansionstrend, den er selbst vorgegeben hat, nicht mehr folgen. Also hören wir am Rednerpult eine „Botschaft seines Redenschreibers“.
Da erinnert er plötzlich an das Exportpotential der Landwirtschaft, obwohl dieses Thema schon zehn Jahre alt ist. Ich hatte früher schon, 2010 war das wohl, geraten, in der Propaganda auf Russland als neuen Agrarexporteur zu setzen, doch hatte der Kreml sich das damals nicht getraut. Oder er spricht ausführlich von der High-Tech-Branche. Das ist gut, wenn man nicht vergisst, dass die digitale Wirtschaft und Kommunikation schon seit fünf Jahren staatlicherseits bombardiert wird. Die hätte man einfach nur nicht stören dürfen. Jetzt braucht man wirklich viel Haushaltsmittel, um dem Verwundeten wieder auf die Beine zu helfen.
Putin sucht Themen, die niemandem wehtun, die nicht spalten – und dabei stellt sich heraus, dass er fast alles umschiffen muss. Denn in der Politik gibt es keine wichtigen Themen, die konfliktfrei wären, und das ist auch ganz normal: Das Land politisiert sich. Aber dann fragt man sich: „Worüber schweigen wir heute eigentlich?“
Mussten die Eliten beruhigt werden, angesichts der „Korruptions-Show“?
Ja, die Rede sollte den Grad ihrer Politisierung reduzieren. Es politisieren sich ja gerade die Eliten – über repressive Injektionen und das Gezeter bezahlter Aktivisten. Wem aber gibt Putin die Anweisung, sich zu beruhigen? Jenen, die provozieren, oder jenen, die schon provoziert wurden? Auf jeden Fall hat der Präsident keine einzige direkte politische Direktive ausgegeben, die einen Kurswechsel verlangen würde. Über die Rede verteilt gab es eine Menge Andeutungen, ohne dazugehörigen Adressaten. Im derzeit bestehenden Block-System des Regimes sind alle steuernden Zwischenelemente zerstört worden; für alles ist Putin zuständig. Wie soll er sich da verhalten? Also versucht er, die Politik Russlands diskursiv zu korrigieren, wobei er lediglich das Repertoire der Termini und Timbres seiner Phrasen ändert. Das ist eine sehr schwache Einflussnahme. Dafür wird die Zuständigkeit der höchsten Instanz auch dort gewahrt, wo es an der Zeit wäre, andere entscheiden zu lassen.
Der hellen Aufregung nach zu urteilen ist der Fall Uljukajew das wichtigste Ereignis der politischen Saison. Wie interpretieren Sie die Verhaftung?
Wir erörtern endlos nicht-politische Ereignisse als politische Zeichen. Noch trauriger ist, dass wir ausgerechnet jene Bilder diskutieren, die man uns auf dem monopolisierten Markt des Verkäufers aufschwatzen möchte. Wir trauen uns nicht, sie nicht zu kaufen, wir schlucken oder kauen sie, jeder was er kann. Worum geht es denn im Fall Uljukajew? Schauen Sie: Der Fall wurde von Anfang an wie eine Premiere im Theater vorbereitet, was der Präsident auch völlig unzweideutig über seinen Pressesprecher erklärt hat. Die Vorbereitung lief ganz nach den Regeln des Theaters: Bühnenbild, Inszenierung und Reaktionen der Kritiker wurden im Vorfeld genau durchdacht. Wenn wir über solche Sachen reden, reden wir in Wirklichkeit von nichts Politischem. Das sind sklavische Diskussionen. Inhaltsleerer Tratsch über das Leben der Herrschaften.
Putin sucht Themen, die nicht ins Fleisch schneiden, die nicht spalten – und dabei stellt sich heraus, dass er fast alles umschiffen muss
Wir hoffen wie immer, dass uns das etwas über den inneren Aufbau und Zustand des Kreml sagt.
Die erklären uns nur, was sie erklären wollen. Wenn Sie im Theater sitzen, erfahren Sie auch nichts über das Leben hinter den Kulissen. Die Dramaturgen des Kreml betreten nicht die Bühne. Es gibt hier auch kein gesellschaftliches Interesse, da es ja keine öffentliche Politik gibt. Die Sache ist nach dem gleichen Prinzip aufgebaut, wie die Politsendungen im Fernsehen: Da hat man ein Fenster, in das man zwar reinschauen, in dem man aber nichts ändern kann.
Andererseits lässt sich die Technik diskutieren, mit der das bewerkstelligt wurde. Wie der Präsident und Oberste Befehlshaber des Landes über ein halbes oder ganzes Jahr hinweg aus irgendeinem Grund die Abhörprotokolle der Telefongespräche seines Ministers gelesen, ihn aber nicht entlassen hat. Das allein vernichtet das Vertrauen in die Angelegenheit, ganz gleich, wieviel Schmiergelder Uljukajew genommen hat. Diese Falle, die nach allen Regeln des Theaters gebaut wurde, macht die ganze Geschichte rechtlich gesehen irrelevant. Wir diskutieren, was Uljukajew bei Rosneft gemacht hat, obwohl die Bedeutung dieses Konzerns bis ins Absurde hochgespielt wird. Rosneft heute, das ist einfach ein staatliches Super-YUKOS.
Auf welche Weise ändert die weltweite Wende zum Rechtspopulismus die Lage Putins auf der außenpolitischen Bühne? Schließlich hat er als einer der ersten diesen Trend aufgegriffen, als er nach den Ereignissen um die Krim begann, „im Namen des Volkes“ zu regieren.
Der Erste ist nicht unbedingt auch Herr der Entwicklung. Putin war gut, solange das liberale Establishment den Mainstream in der Welt bildete. Wenn Trump zum Mainstream wird, dann ist Putin überflüssig.
Es ist ja schön und gut, ein krasser Macher zu sein, wenn rundum nur Warmduscher zu finden sind. Aber was soll man tun, wenn auch alle anderen Machos sind – und du nicht mehr alle mit deinem Geld beeindrucken kannst. Das ist wie mit unserer Ukraine-Politik, wo nur raffgierige Gruppen geblieben sind, die alle dringend Geld haben wollen. Bezeichnend ist auch der Präsident der Philippinen, der sich mit Liebesgestöhn an uns schmiegt, wo doch klar ist, dass er einfach nur Kredite braucht.
Mit Trump öffnet sich ein Fenster der Möglichkeit, unsere Politik, die im Sumpf feststeckt, zügig wieder auf Kurs zu bringen. Populismus als Trend eröffnet die Gelegenheit, eine Sache schnell durch eine andere zu ersetzen. Aus der Ukraine-Geschichte sollten wir möglichst herauskommen, doch wird uns das nicht leicht gemacht. Es gibt nichts, womit wir ein Spiel zwischen den USA und der EU beginnen könnten, weil wir uns auch mit Europa zerstritten haben und Asien uns nur ausnutzt. Wenn wir mit Maria Sacharowa weiterhin das Universum verlachen und den Nationen ins Gesicht spucken, wird man wohl kaum mit uns verhandeln wollen. Das europäische Establishment wird nicht verschwinden – es wird von einer alten Kultur und einem System gut regulierter Volkswirtschaften getragen und sich weder Putin noch Trump beugen.
Der Präsident hat über ein halbes oder ganzes Jahr hinweg die Abhörprotokolle seines Ministers gelesen, ihn aber nicht entlassen. Das vernichtet Vertrauen in den Fall Uljukajew
Also ist der Sieg von Trump gar nicht so sehr ein Triumph für Putin?
Im Kreml war man lange nicht mehr so glücklich wie nach dem Sieg von Trump. Diesen armen Würstchen kommt der Sieg wie der ihre vor, doch beweist das nur, wie inadäquat sie sind. Denn wer Trump auch immer sein mag, er bleibt der Anführer der stärksten Volkswirtschaft und der Oberbefehlshaber der stärksten Armee der Welt. Er wird uns nicht folgen, nicht hinter uns hergehen, sondern über uns hinweg. Leute wie Trump wenden sich schnell ab, sobald jemand nicht mehr von Nutzen ist.
Trump hat Russland als Symbol gebraucht, um die Präsidentenwahlen zu gewinnen. Er hat sein Spiel gegen das gesamte Establishment in D.C. gespielt. Da brauchte es ein Symbol, das ihn als Feind Washingtons kenntlich machen würde und dabei den Wählern gleichgültig wäre, sie nicht spalten würde. Russland ist dem amerikanischen Wähler völlig egal. Trump wusste aber sehr wohl dass er die Demokraten in Washington mit Russland reizen würde wie eine klappernde Konservendose am Schwanz einer Katze – so hat er hat die Demokraten aufgeregt, zur Freude seiner Wähler.
Wenn der Kreml aber unvorsichtig wird und anfängt, andauernd die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wird er wieder zu einer bequemen Zielscheibe der Weltöffentlichkeit. Dann würde Russland wieder die gleiche Rolle zuteil, die es im amerikanischen Wahlkampf hatte, nur eben für alle – inklusive der Populisten. Das wäre eine sehr gefährliche Lage. Es würde uns selbst von jenen wenigen Freunden und Verbündeten isolieren, die noch geblieben sind.
Wenden wir uns wieder der Innenpolitik zu. Selbst wenn die Verhaftung Uljukajews ein vereinzeltes, gut inszeniertes Schauspiel ist, so haben wir doch in letzter Zeit eine ganze Reihe von Strafverfahren gegen Gouverneure, hochgestellte Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden und so weiter erlebt. Werden gerade die Spielregeln verschärft?
Beginnen wir damit, dass ein Vergleich mit der Zeit vor 2012 sinnlos ist. Die dritte Amtszeit Putins stellt eine Verletzung seiner eigenen, selbst auferlegten Regeln dar. Er hat jene Erwartungen enttäuscht, die er selbst formuliert hat. Das erfolgte ab Sommer 2012. Der Prozess gegen Pussy Riot begann, das Dima-Jakowlew-Gesetz wurde verabschiedet; so etwas wäre zuvor unmöglich gewesen. In der gleichen Zeit gab es auch den ersten Versuch, ein Antikorruptions-Theater aufzuführen, den Fall Serdjukow. Es wurde allerdings schnell klar, dass man nicht jeden X-beliebigen als Zielscheibe nehmen kann. Das Motiv der Gaunerei hätte die gesamte Führungsschicht mit hineingezogen; dazu war Putin aber noch nicht bereit.
Dann ging es weiter bergab. Eine grundlegende Veränderung gegenüber der Situation von 2012 bestand – insbesondere nach der Geschichte mit der abgeschossenen Boeing – in dem Aufkommen einer komplexen, nun schon auf ein weltweites Publikum ausgerichteten Medienmaschinerie. Plötzlich gab es das Ziel, mit den inneren Angelegenheiten auf eine internationale Bühne zu treten. Im Kreml begann man, weltweit um Publikum zu kämpfen. Sie spielten dafür auf sämtlichen verfügbaren Klaviaturen: Russia Today, Soziale Netzwerke, eine affilierte Klientel in westlichen Parteien von unterschiedlich starkem Gesindel. Das ist der Testlauf einer strategischen Maschine, die bereits nicht mehr „intern“ bleiben konnte. Die Wirtschaft wurde dem Aufbau eines globalen Mega-Einflusses geopfert.
Die Anti-Korruptions-Verfahren sind eines der Content-Programme jener Maschine, die um eine innere Mehrheit kämpft. Schnitt und Montage werden fortgeführt, mit dem Content wird es allerdings, soweit ich das absehen kann, Probleme geben.
Die Anti-Korruptions-Verfahren sind eines der Content-Programme jener Maschine, die um eine innere Mehrheit kämpft
Die politische Aufgabe besteht heute darin, eine Bevölkerungsgruppe zu erfassen und sie danach zur entscheidenden zu erklären. Bei uns redet man gern von „Mehrheit“, dabei haben doch die Wahlen im September gezeigt, dass die Krim-Mehrheit nicht einmal wirklich zu den Wahlen geht und umso weniger zu weiteren Schritten bereit ist. Die sind nicht willens, Krieg zu führen, ja nicht mal als Statisten wollen sie agieren. Die Mehrheit wird heute von Schauspielergruppen dargestellt, Bikern, Kosaken und Experten im Fernsehen. Das sind alles eindeutig Minderheiten. Es gibt überhaupt keine Mehrheit. Und je kleiner die Mehrheit, umso wichtiger sind diese Aktivisten, die vorgaukeln, dass es sie gebe.
Aktuelles politisches Moment ist, dass die Regierung versucht, den Grad der Aggression im Land zu reduzieren, weil es schwieriger geworden ist, es zu steuern. Und dann erscheint es dem Regime aber wichtiger, Uljukajew hinter Gitter zu bringen, als das Land mit Signalen zu beruhigen, dass man in Sicherheit sei. Dabei ist nicht einmal die Regierung in Sicherheit, und sie regiert auch nicht, sondern wartet einfach ab, wie das alles enden wird.
Und inzwischen wird das Land kollektiv von Rosneft, dem FSB und dem Sicherheitsrat regiert?
Nicht im Kollektiv. Jeder für sich, und nicht das ganze Land. Je nach Zuständigkeiten der Apparate hat jeder seinen Kontrollbereich. Insgesamt ist es ein kunterbuntes, fragmentiertes System. Sogar der Duma fällt etwas zu: Sie ist kein Parlament, kein Repräsentationsorgan, überhaupt keine Macht, und doch beschließt sie die Gesetze. Von denen einige mit der Konstruktion einer Maschinerie zu tun haben werden, die der Bevölkerung Geldstrafen abpressen soll, um dem Staatshaushalt die Erdöleinnahmen zu ersetzen.
Das besagte neue Wirtschaftsmodell.
Eher ein neues Fiskalmodell. Die Speisung dieses Modells funktioniert auf dieselbe Weise wie früher. Einen unfertigen Staat, in dem den Bürgern unternehmerisches Engagement und Sicherheit genommen und das Privateigentum in den Untergrund abgedrängt wurde, können Sie nicht auf Steuereinnahmen umstellen. Die Bürger können Ihnen keine Haushaltsgrundlage über Steuern verschaffen, das sind einfach Mittel um Haushaltslöcher zu stopfen. In reichen Regionen wie Moskau ist das Prinzip einfach: Sie haben eine gewisse Summe vor uns verheimlicht? Macht nichts – dann nehmen wir halt 200 Rubel [etwa 3 Euro – dek] fürs Parken. Das geht, solange es massenhaft verborgene Einkünfte gibt, die die Bürger nicht deklarieren.
Was kann das System tun, um den Druck zu verringern und die Steuerbarkeit zu erhöhen?
Der Druck im System steigt, es wird zunehmend schwächer. Man kann sich verschiedene Entwicklungsszenarien vorstellen. Eine erste Variante wäre, den Druck mit Mitteln des Systems selbst zu senken, und zwar über die formal verfassungskonformen halbautoritären Strukturen.
Zum Beispiel bei den Wahlen – könnte man nicht wenigstens auf Gemeindeebene die Ventile öffnen? Nein, nicht mal das, dem kommt die irrationale Angst vor Wahlen in die Quere. Eine Regierung, die aus einer Fügung bestimmter Umstände hervorgeht, behält diese für immer in Erinnerung und fürchtet sich vor deren Wiederholung. Die Sowjetmacht hat nie das bekämpft, woran sie zugrunde ging, sondern die ohnehin zahlenmäßig irrelevanten antisowjetischen Untergrundorganisationen – weil sie selbst aus dem Untergrund kam. Die heutige Regierung ist aus Wahlen hervorgegangen – zwar aus populistisch moderierten, aber öffentlichen. Also hat sie Angst vor Wahlen und agiert mit Verboten, Filtern und Sperren ohne Ende. Aber es gibt Wahlen – und Möglichkeiten, die Interessen bestimmter Gruppen in Szene zu setzen, gibt es ebenfalls.
Eine zweite Variante wäre, eine fieberhafte Wirtschaftsaktivität in Gang zu bringen. In irgendwelchen Branchen einen Aufschwung mittelgroßer Betriebe zu erzeugen, mit Steuerbefreiungen und bereitgestellten Kreditsystemen. Hier stellt sich dann sofort die Frage: Und wer kontrolliert das? Und wenn etwas schiefgeht?
Als Versicherung scheint unserer Staatsmacht der durchschaubare Mensch zu dienen. Wenn kein durchschaubarer Mensch im Plan vorkommt, dann hält man den Plan für gefährlich. Wobei der durchschaubare Mensch selbst absolut nichts durchschauen muss.
Das jüngste Beispiel dafür ist die Ernennung von Jewgeni Sinitschew vom FSB zum Gouverneur von Kaliningrad. Dieser Mann erklärte aufrichtig, er habe von Amtsführung keine Ahnung, das sei ihm zuwider. Er plagte sich lange damit, scharenweise rannten sie ihm die Tür mit irgendwelchen Handelsprojekten ein, mit Schmiergeldern, und er bekam es mit der Angst zu tun, hielt alles für Provokation. Man erbarmte sich, er wurde abgelöst.
Dasselbe bei Nawalny: Einmal zum durchschaubaren Menschen erklärt, und der Kreml hält an ihm fest. Sollte das System ihn verlieren, befürchtet es, überhaupt nicht mehr zu durchschauen was passiert. Wobei ich überzeugt bin, dass Nawalny keine geheimen Abmachungen mit dem Kreml hat.
Wir befinden uns in so einer Übergangszeit, wo eine Möglichkeit zu politischem Handeln entsteht. Wer als erstes auf diese öffentliche Fläche hinaustritt, riskiert zwar viel, kann dafür aber einen Platz darauf einnehmen. Der Kreml beeilt sich, der erste zu sein. Stellt sich die Frage: Wessen Interessen kann er vertreten? Nach 20 Jahren gibt es nach wie vor keine Antwort darauf. Über Fürst Wladimir den Heiligen kann man endlos philosophieren, aber wessen Interessen sind das bitte? Wenn das System auf diese Frage keine Antwort findet, wird es nach Putins Abgang einfach fortgeblasen. Bis zu einem gewissen Grad ist ihnen das klar.
Es braucht eine Koalition von Interessen, keine erschlagende Fernseh-Mehrheit. Das wird ein schwieriger und gefährlicher Übergang, und er hat schon begonnen.
Für die Beantwortung dieser Frage muss man verstehen, welche Interessen man im Spezialoperations-Modus überhaupt vertreten kann, wie im Fall von Rosneft.
Ja, die Technik der Spezialoperationen sind ein Störfaktor. Eine Spezialoperation darf von den anderen nicht durchschaut werden – sobald jemand dahinterkommt, ist es vorbei. Unverständliches kann keine breite Koalition um sich versammeln. Uljukajew wurde verhaftet, und die Beliebtheitswerte stiegen um drei Prozent, hurra. Und weiter? Wo wollt ihr euch diese drei Prozent hinstecken? Wächst dadurch das BIP um drei Prozent oder gehen drei Prozent als Freiwillige nach Syrien? Nein, das ist einfach eine Selbstbeweihräucherung der Staatsspitze. Ich sah, frohlockte und wies mit dem Zeigefinger durch den Bildschirm: „Pass bloß auf, Alter – ich hab 90 %!“ Dieses alte Schema des Mythos hat bis auf einen kurzfristigen Kitzel keine Wirkung mehr.
Das russische Regime ähnelt in gewisser Weise der Antike: Es ist eine Welt der Mythen. Wie konnten erwachsene Menschen, die Griechen, die mathematische Überlegungen anstellten, an Zeus glauben? Genauso wie wir jetzt an Putins Beliebtheitswerte glauben. Es gibt ein mythisches Band: Umfragen und Wahlen. Auf keines von beiden kann man verzichten.
Die Wahlen demonstrieren, dass es keine Alternative gibt, und zwischen den Wahlen gibt es Umfragen, das sind ja mythische Wahlen, und die zeigen, dass es auch keine Alternative geben wird. Vom Volk ist das völlig losgelöst, so ist die Struktur des Mythos. In die kann man reingezogen werden, aber irgendwann funktioniert sie nicht mehr.
Es würde reichen, Fragen zu stellen, die den Mythos durchkreuzen. Nur ein Geisteskranker kann behaupten, es gäbe keine Kandidaten auf die Präsidentschaft. Gibt es etwa keine Minister im Land, keine Gouverneure, keine Führungspersönlichkeiten auf nationaler Ebene? Sogar Setschin, Belych oder Kirijenko könnten genauso gut wie Putin regieren. Selbst auf der kürzesten Liste ließen sich auf Anhieb fünfzig Kandidaten finden. Dass es keine Alternative zu Putin gibt, ist ein Märchen aus der entpolitisierten Welt.
Angeblich gibt es das Bedürfnis nach einer starken Hand, deren Rolle Putin übernommen hat.
Das ist kein Mythos mehr, sondern Propaganda. Was ist das für eine starke Hand, und was kratzt sie? Hat sie etwas importsubstituiert? Hat sie das gespaltene Volk der Ukraine irgendwohin geführt? Sehen Sie sich den unglückseligen Donbass an – da sehen Sie die Taten der starken Hand. Schluss mit den Luftschlössern. Putin ist tatsächlich kein untalentierter Leader, aber er hat ein Problem: Er hat sein Programm, den ihm möglichen Teil erfüllt, komplett. Er hat gemacht, was er konnte, und jetzt denkt er sich aus, was er noch tun könnte. Und wenn er noch 20 Jahre an der Macht bleibt, denkt er sich weiter irgendwas aus, solange es noch materielle Ressourcen gibt.
Worin bestand denn das Programm, mit dessen Umsetzung er die ganze Zeit beschäftigt war?
Ein Minimum an fiskaler und polizeilicher Ordnung im Land. Die Wiederherstellung des Vertrauens der Bevölkerung in den Staat, freilich auf sehr niedrigem Niveau. Der Kaukasus. Seine Macht fußt auf einer Entpolitisierung bei gleichzeitigem „bonapartistischen“ Manövrieren zwischen Eliten und Volk. Die Entpolitisierung war die Basis von allem, ein Konsens zwischen der Bevölkerung und allen Kräften, die im Jahr 2000 zur Mannschaft gehörten.
Entpolitisierung des Landes bedeutete die Entfernung von Konflikten aus der Öffentlichkeit. Sie haben einen Konflikt mit jemandem? Kommen Sie bitte in unseren Empfangsraum, zur Besprechung. Putin war Moderator unzähliger solcher Geschäfte, bis er genug davon hatte. Dieser Ansatz war für etliche Dinge bequem, stieß aber gegen eine Wand zunehmender Komplexität. Das Land war zu komplex geworden und die Konflikte zu kompliziert. Sollen wir denn bis in alle Ewigkeit damit beschäftigt sein, zu entscheiden, welche Interessen die richtigen sind und welche nicht? Die Antwort ist durch die Abschaffung unabhängiger Parteien und politischer Kräfte von der öffentlichen Bühne bereits gegeben. Dann zog sich alles in die Länge. Zerstört hat diesen Konsens Putin selbst – durch die Rochade und dann durch die Krim, indem er im Land eine Atmosphäre des Kampfes für eine mobilisierte Mehrheit und der Suche nach virtuellen Feinden schuf.
Dieses Jahr wird, glaube ich, die Frage nach den Aufgaben des politischen Moments aufwerfen. Das bisherige Spiel Staat jenseits der Politik haben wir eindeutig hinter uns gelassen. Insofern befinden wir uns wieder in einer politischen Zeit. Es läuft ein Prozess des Auftauens, der Politisierung einer Welt nicht anerkannter Interessen. Dazu gehören neue Subjekte, die wir einfach nicht kennen. Als politisches Subjekt kennen wir nicht mal Setschin: Bisher ist er ein latenter Player, ein Gesicht, das auf einen Sack Dollar gemalt ist. Aber sie alle werden unweigerlich an die Oberfläche gelangen.
Und die erste Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, lautet: Wo ist das Programm der nächsten Präsidentschaft? Damit sollten wir uns das ganze nächste Jahr auseinandersetzen, nicht mit Putin. Es sind keine Debatten in Sicht, obwohl sie nicht verboten sind. Die Frage geht also an die Gesellschaft. Die Politiker können sich nicht durchringen, auf die Bühne einer Übergangszeit zu treten. Die denken: Wenn Putin geht – dann beginnt die Übergangszeit. Aber das ist eindeutig ein Fehler. Der Zug ist schon losgefahren, wir müssen herausbekommen, wohin die Reise geht.
Ich hatte erwartet, dass wir das früher herausbekommen würden, rund um die Wahlen im September. Hätten wir auch, wenn in der Duma ein oder zwei neue Fraktionen entstanden wären, aber das war nicht der Fall. Also schlägt der Prozess einen anderen Weg ein. Wer tatsächlich als erster die Bühne des Übergangs betreten und sich, ohne vernichtet zu werden, ihrer bemächtigen wird – ich weiß es nicht. Aber wir treten in eine Periode ein, in der wir nicht nur nicht umhinkommen, politisch rechts und links zu definieren, was bisher kaum etwas bedeutet, sondern auch die Sprache zu verfeinern, auf der wir sprechen.
Das politische Feld wurde all die Jahre niedergebrannt, und jetzt …
Jetzt rollt eine Menge mit Verbrennungen davongekommener politischer Krüppel heran, die wir inzwischen geworden sind. So, wie die Debatten geführt werden, ist es nicht möglich, eine Seite zu finden, der man sich anvertrauen kann.
Es gibt Bürgergemeinschaften – die konnten nicht völlig zerstört werden, weil sie nicht allzu eifrig in die Politik drängten, mal abgesehen von Menschenrechtsorganisationen. Aber ob die Zivilgesellschaft als Repräsentant der Nation auftreten kann, weiß ich nicht. Auf dem vergangenen Allrussischen Bürgerforum wurde erstmals anerkannt, dass die Zivilgesellschaft nicht nur eine Liste von NGOs ist und kein Ghetto für eine Handvoll Wohltäter und Umweltschützer. Jetzt ist klar, dass die Zivilgesellschaft gleichbedeutend mit der politischen Nation ist. Sie besteht aus lauter Gemeinschaften. Russland besteht aus lauter Minderheiten, die sich zu Interessensbündnissen zusammenschließen werden. Daher wird es Konflikte unterschiedlicher Intensität geben, nicht nur mit der Regierung.
Wird die Post-Putin Ära noch unter dem jetzigen Präsidenten beginnen?
Ja, sie läuft schon. Deswegen ist es ja so schwierig, derzeit politisch und historisch den eigenen Standpunkt zu bestimmen. Die Post-Putin-Ära zeichnet sich durch einen Zuwachs an Unbestimmtheit aus. Sogar Putin versucht, in ihr seinen Platz zu finden.