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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Lieder auf den Leader

    Lieder auf den Leader

    Kinder in Uniform trällern, dass sie „Onkel Wowa“ in die letzte Schlacht folgen würden. Mit der populären Losung Krim nasch besingen sie die Angliederung der Halbinsel an Russland, auch die Formel Alaska gehört zu uns bleibt nicht unerwähnt. Mittendrin die Duma-Abgeordnete Anna Kuwytschko. Nachdem das Musikvideo im November 2017 viral gegangen war, brachte diese Lobeshymne auf Putin der Abgeordneten letzten Endes allerdings mehr Kritik als Lob ein, auch in staatsnahen Medien. Selbst der nicht gerade als Putin-kritisch bekannte Moderator Anton Stepanenko sparte im staatsnahen Kanal Rossija 24 nicht mit Spitzen gegen Kuwytschko. Seine Sendung beendete er mit einem historischen Vergleich: Zu Sowjetzeiten, so Stepanenko, mussten Musiker ihr Repertoire erst von den Zensurbehörden absegnen lassen. Mit Glasnost wurde die Zensur aufgehoben. Heute, so der Moderator, könne man in Anbetracht mancher Werke sagen, dass das ein Fehler gewesen ist.

    „Onkel Putin, wir sind mit dir“ – Kinder in Uniform beteuern singend, dass sie Putin in die letzte Schlacht folgen würden


    Damit verdeutlichte Stepanenko tatsächlich einen wesentlichen Unterschied: Während die Propaganda in der Sowjetunion monopolisiert war und nicht genehmigte Beifallsbezeugungen aller Art üblicherweise gemaßregelt wurden, hat sich im modernen Russland eine ganze Gattung der Loblieder auf Putin etabliert, die staatlicherseits offenbar keinen Einschränkungen unterliegt.

    Imidshmeiking

    Imidshmeiking (engl. image making) beziehungsweise Piar (PR) des Präsidenten – so wird in Russland die von oben gesteuerte Polit-PR bezeichnet, die die Beliebtheit Putins steigern soll. Die intransparente Stiftung für effektive Politik soll dabei eine wichtige Rolle spielen1, Verteidigungsminister Sergej Schoigu soll dazu angeblich schon genauso wertvolle Tipps beigetragen haben wie der sogenannte „Kreml-Chefideologe“ Wladislaw Surkow. Beispiele gibt es viele, und sie sind hinlänglich bekannt: Putin als Judoka, der seine Gegner aufs Kreuz legt, als Reiter, der die Weiten Russlands erkundet, als Steuermann, der Schiffe, Flugzeuge, Mähdrescher und Rennautos lenkt. Antike Amphoren holt er vom Meeresgrund, als Musiker berührt er die Herzen, als Tierfreund spielt er mit dem Niedlichkeitsfaktor und als Federball-Spieler mit Dimitri Medwedew.

    Unabhängig von staatlich orchestrierter Polit-PR ist in Russland schon seit Jahren ein Imidshmeiking zu beobachten, das „aus dem Volk“ kommt. Seien es die Tausende2 poetischer Lobeshymnen auf stihi.ru oder die Elogen einiger Hobbyliteraten – die Gattung ist reich an Beispielen. Die Klickzahlen sind unbekannt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die ursprünglichste Form der Lyrik – das Lied – den größten Resonanzraum findet.

    Einen wie Putin

    In der Hitparade solcher Loblieder besetzt die Girlband Pojuschtschije Wmeste (dt. etwa die gemeinsam Singenden) einen prominenten Platz: 2002 gegründet, gab die „Agitbrigade“3 sogleich das Lied Takowo kak Putin (dt. Einen wie Putin) zum Besten. Eigentlich ironisch angelegt, entwickelte sich der Gassenhauer zu einem Grundstein des Putin-Bildes, das manche Wissenschaftler als Personenkult beschreiben.4 Besungen werden Putins Stärke und seine Alkoholabstinenz. Diese Eigenschaften korrespondieren mit einer Umfrage aus dem Jahr 2012, der zufolge 39 Prozent der Befragten von allen Eigenschaften Putins vor allem seine Tatkraft und 35 Prozent seine Gesundheit schätzten.5 26 Prozent der Befragten war das Fehlen von schlechten Eigenschaften wichtig: Da Putin laut seiner oft vorgebrachten Bekundung nur wenig trinke, hebe er sich mit seiner Abstinenz von seinem Vorgänger Jelzin ab6 und biete mit seinem Lebenswandel ein gutes Vorbild für russische Männer.

    Dies war auch die wichtigste Botschaft von Pojuschtschije Wmeste, deren Bandname viele an Iduschtschije Wmeste (dt. etwa die zusammen Gehenden) erinnerte – eine mitunter als Putin-Jugend kritisierte Jugendorganisation. Nach dem großen Hit, der auch auf Englisch vertont wurde, verschrieb sich die Band vor allem der patriotischen Propaganda und besang Meinen Abgeordneten (russ. Moi Deputat), Unsere Stadt (russ. Nasch Gorod) und die Siegesparade (russ. Parad Pobedy). Erfolg, gemessen in YouTube-Klicks, war der Girlgroup allerdings nur mit ihrem Loblied auf Putin beschieden.

    „Takowo kak Putin“ – eines der erfolgreichsten Loblieder auf den Präsidenten


    Geblendet und verzaubert

    Mit ähnlich vielen YouTube-Klicks kam 2015 die bis dahin weitgehend unbekannte Sängerin Maschani zu Ruhm. Ihr Lied heißt schlicht Mein Putin (russ. Moi Putin), sie trägt es im Video in verschiedenen Garderoben vor: in einem Kleid, das wie die russische Trikolore aussieht, und in einem, das an die Flagge der Ukraine erinnert. Es bleibt verborgen, was die Sängerin mit ihrer Kleider-Allegorie ausdrücken will – vor allem, weil sie in dem Lied auch die Angliederung der Krim besingt:

    Du provozierst und holst die Krim zurück
    Und in der Folge
    – frei von allen Fesseln –
    wirst du die [Sowjet-]Union wiederbeleben
    Und ich?
    Geblendet und verzaubert,
    kann ich dich nicht vergessen

     

     

    „Geblendet und verzaubert, kann ich dich nicht vergessen“ – Sängerin Maschani singt über „ihren Putin“

    Timati und die Galeeren

    Der Mainstream-Rapper Timati geht 2015 mit seinem Homie Sascha Tschest andere Wege: Düstere Beats werden hier berappt mit den Worten Mein bester Freund, das ist Präsident Putin – diesem Song zufolge ein „cooler Superheld“: 

    Alle Mädchen verlieren den Kopf
    Mein bester Freund ist noch nicht verheiratet
    Arbeitet ohne Pause
    Von Montag bis Samstag


     

    Rapper Timati nennt Putin einen „coolen Superhelden“

    Hier geht es dem Duo um den in staatsnahen Medien oft thematisierten Arbeitseifer des nationalen Leaders. Er habe seit 2000 „wie ein Sklave auf Galeeren geschuftet“, sagte Putin selbst im Jahr 2008. Auch Ljudmila Putina schlug 2013 in dieselbe Kerbe, als sie meinte: „Unsere Ehe ist deshalb zu Ende, weil wir uns praktisch nie sehen. Wladimir Wladimirowitsch ist völlig in seine Arbeit vertieft.“7

    Putins Kalender auf kremlin.ru/trips ist tatsächlich nahezu lückenlos, laut manchen Beobachtern vermittelt er damit gezielt den Eindruck „eines Staatspräsidenten, der ohne Unterlass, ,rund um die Uhr‘ im Einsatz ist, sich bei der Ausübung seines Amtes nicht schont und damit das vertraute Bild vom guten Herrscher evoziert, der sogar noch nachts arbeitet, während sein Volk schläft.“8

    Alles Propaganda?

    Die meisten Loblieder stellen Putin als rastlosen und fürsorglichen Superhelden dar. Ist das Putin-Lied deshalb gleich so etwas wie (Graswurzel-)Propaganda? Also eine Art (bottom-up-)Legitimationsstrategie für das sogenannte System Putin? Vielleicht – wahrscheinlicher sind es jedoch bloß Versuche, mit einem populären Thema öffentliche Aufmerksamkeit zu erzeugen und damit auch als Trittbrettfahrer Berühmtheit zu erlangen.

    Mit Blick auf die vielen YouTube-Klicks scheint ein solches Kalkül tatsächlich aufzugehen. Doch sind zustimmende Kommentare eher selten, es überwiegen Kritik und Ironie.

    Schmählieder

    Kritik und Ironie kennzeichnen auch die vielfältigen Schmählieder über Putin. Die Tradition der massentauglichen Politsatire in Russland geht auf die Breshnew-Zeit zurück, schon damals hat sie ganz spezifische und teilweise sehr subtile Zugänge gefunden, um die Wlast zu kritisieren.

    Nicht ganz so subtil, vielmehr galgenhumorig, reiht sich die Band Rabfak in die Gattung der Schmählieder ein. Entstanden ist der Song im Vorfeld der Dumawahl 2011 und war bei den Anhängern der Bolotnaja-Bewegung populär. Er heißt schlicht Unsere Klapse (stimmt für Putin). Mit der Klapse ist Russland gemeint, das Lied stellt die Frage:

    Wer hat dem Volk Gazprom und Lukoil geklaut?
    Keine Antwort. Und für dich eine Spritze in den Arsch.

    Die Spritze dürfte eine Reminiszenz an die sowjetische Strafpsychiatrie sein, der Humor des Liedes ist derb und drastisch, die Wortwahl Mat-durchsetzt.


     

    Das Schmählied „Unsere Klapse (stimmt für Putin)“ war unter Anhängern der Bolotnaja-Bewegung populär

    Auch Wasja Oblomow kommt in seinem Schmählied von 2011 nicht ohne Schimpfsprache aus. Bleib locker, Bro heißt das Stück übersetzt, es ist noch einige Monate vor den Bolotnaja-Protesten entstanden. Hier resümiert der lyrische Putin seine positiven Eigenschaften: seine Stärke, seine Alkoholabstinenz, seinen Arbeitseifer. Auch, dass er Terroristen „im Scheißhaus kaltgemacht“ habe, bleibt nicht unerwähnt, genauso wie Putins Judoka-Coolness. In der ersten Strophe des Liedes sagt der lyrische Putin, dass er „für immer [an die Macht – dek] gekommen“ sei, in der letzten heißt es:

    Meine guten Taten werdet ihr nie vergessen!
    Was auch passiert, euch muss klar sein, dass ihr zu mir kommen müsst, wenn ihr Probleme habt.
    I’m back in the USSR, оh yeah!


     

    „Back in the USSR“ unterstellt Wasja Oblomow in seinem Lied von 2011

    1. vgl. Sartorti, Rosalinde (2007): Politiker in der russischen Ikonographie: Die mediale Inszenierung Vladimir Putins, in: Pietrow-Ennker, Bianka (Hrsg.): Kultur in der Geschichte Russlands, S. 333-348, hier S. 336 ↩︎
    2. republic.ru: V poiskach akyna: Obraz Vladimira Putina v narodnoj poėzii ↩︎
    3. Eigenbezeichnung des Band-Managers, vgl. peoples.ru: Pojuščie vmeste ↩︎
    4. Robert Henschel (2015): Sounds of Power: Music and the Personality Cults of Putin and Chávez ↩︎
    5. vgl. romir (2012): Neotvratimaja neotrazimost’ und Fleischmann, Eberhard (2010): Das Phänomen Putin: Der sprachliche Hintergrund, S. 30 ↩︎
    6. vgl. Engelfried, Alexandra (2012): Zar und Star: Vladimir Putins Medienimage, in: Osteuropa, 62. Jg., 5/2012, S. 47-67, hier S. 53 ↩︎
    7. zitiert nach: Moskowski Komsomolez: Ljudmila Putina: Vladimir Vladimirovič polnost’ju pogružen v rabotu ↩︎
    8. Sartorti, Rosalinde (2007): Politiker in der russischen Ikonographie: Die mediale Inszenierung Vladimir Putins, in: Pietrow-Ennker, Bianka (Hrsg.): Kultur in der Geschichte Russlands, S. 333-348, hier S. 339 ↩︎

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  • Editorial: Russland und die EU

    Editorial: Russland und die EU

    Russland und die EU,

    liebe Leser, die beiden hätten auf Facebook wohl den Beziehungsstatus „es ist kompliziert“. Es ist eine Beziehung, die viele beschäftigt. Und bei der oft alte Ängste wieder hochkommen – sodass es manchmal schwierig scheint, sich ein Bild zu machen. Wir haben auf dekoder über die letzten Monate viele interessante Texte veröffentlicht, die das Bild klarer werden lassen.

    Russland und der Westen – da fragt man sich inzwischen: Wer ist er denn, „der Westen“? Die Spaltungen gehen ja schon lange nicht mehr zwischen Ost und West, sie gehen durch einzelne Gesellschaften, ja durch einzelne Gesellschaftsschichten hindurch. Wie gut es das System Putin versteht, diese Spaltungen für sich zu nutzen, davon spricht der Politologe Sergej Medwedew in seinem Essay Exportgut Angst.

    Auch Michail Korostikow beschreibt auf der Seite des Moskauer Carnegie Zentrums, wie leicht es die russische Staatsführung schafft mit Drohgebärden, die eigentlich aus einer Schwäche heraus entstehen, in westlichen Gesellschaften alte Ängste neu zu entfachen. Wobei, wie er schreibt, auch die westliche Medienwelt gern „belanglose Geschichten aufbläht zu echten James-Bond-Comics“.

    In einem Interview mit Colta.ru, das wir übersetzt haben, stellt der Journalist Arkady Ostrovsky angesichts der Orbans, Trumps und Le Pens in der Welt die These auf: „Russland war Vorreiter dessen, was heute in der Welt passiert.“

    Da weltweit auch populistische Bewegungen erstarken, wäre es vor diesem Hintergrund eigentlich naheliegend, Putin als einen Populisten zu begreifen. Dieser Schluss führt aber in die Irre, meinen Grigori Judin und Ilja Matwejew in: Warum Putin kein Populist ist.

    Dennoch schafft Putin es immer wieder, antiwestliche Ressentiments in der russischen Gesellschaft anzuheizen. Russland sei eine vom Westen „belagerte Festung“, der Westen wirke „der Wiedergeburt Russlands als Supermacht entgegen“. Als Lösung dieses Konflikts schlägt Putin eine neue Weltordnung vor. Und holt damit eigentlich nur die verstaubte Breschnew-Doktrin aus der Mottenkiste, meint der Außenpolitik-Experte Wladimir Frolow.

    Gleichwohl gelingt es der russischen Staatsmacht immer wieder, einen Keil zwischen die westlichen Länder zu treiben. Sei es das Pipeline-Projekt Nord Stream 2 oder die Frage nach Sanktionen gegen Russland: Europäische Politiker zeigen sich immer wieder uneinig. Nicht zu übersehen sind aber auch Versuche, die einzelnen Gesellschaften im Westen zu entzweien: Die Machenschaften der sogenannten Trollfabrik im US-Wahlkampf ist nur eines der Beispiele.

    Über den tatsächlichen Umfang und die praktischen Auswirkungen solcher Versuche gibt es bislang nur Schätzungen. Diese Versuche gibt es aber, und es ist nachvollziehbar, warum die westlichen Länder sich zu Reaktionen genötigt fühlen.

    Dass diese Reaktionen manchmal aber unverhältnismäßig ausfallen, das hat der Fall von Russia Today (RT) gezeigt. Im November 2017 musste sich nämlich dieser russische Auslandssender als ausländischer Agent in den USA registrieren. Die russische Reaktion folgte prompt und wie üblich nach dem Muster „Bomben auf Woronesh“: Die eilig beschlossenen Gegenmaßnahmen haben das Potenzial, die verbliebenen kritischen Medien in Russland noch mehr in die Mangel zu nehmen.

    Wir merken jedenfalls: All diese Fragen machen den dekoder umso wichtiger. Wenn Ihr das ebenfalls meint und unsere Arbeit unterstützen wollt, dann werdet doch Mitglied in unserem dekoder-Klub!

    Wir freuen uns auf Euch,

    Tamina Kutscher (Chefredakteurin) und Anton Himmelspach (Politikredakteur)

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  • Wlast

    Wlast

    Sevilla im 16. Jahrhundert, die Inquisition wütet, Scheiterhaufen lodern, das Mittelalter ist in seiner dunkelsten Phase. Unvermittelt taucht Jesus auf, alle erkennen ihn, auch der Großinquisitor. Dieser sagt: Die Kirche braucht Jesus nicht mehr, sie hat seine Tat „verbessert“ und die allumfassende Herrschaft des Klerus auf drei Kräften aufgebaut – Wunder, Geheimnis, Autorität. Jesus schweigt. 

    In dieser Sequenz aus Die Brüder Karamasow setzt sich Dostojewski mit dem Begriff Wlast auseinander. Mit der Triade Wunder, Geheimnis, Autorität definiert er die Voraussetzungen für das damalige Verständnis von Herrschaft.

    Auch heute gehört Wlast zu den abstraktesten Begriffen im Russischen. Zugleich ist sie aber zentral im politischen Diskurs Russlands. Wlast kann sowohl den Macht- und Herrschaftsbegriff umfassen, als auch die Staatsmacht, die Regierung, Behörden, Oligarchen oder einfach irgendeine Obrigkeit – mit entsprechenden Schwierigkeiten bei der Übersetzung in andere Sprachen. Je nach Interpretation kann Wlast außerdem ganz unterschiedliche Bedeutungsinhalte haben: Von der personifizierten Staatsmacht Putins, über die Anonymität und Unsichtbarkeit der Macht, wie man es etwa bei Kafka kennt, bis hin zum Orwellschen Unterdrückungsapparat.

    Wunder, Geheimnis, Autorität – der Begriff „Wlast“ wird im russischen Sprachgebrauch mitunter sakralisiert
    Wunder, Geheimnis, Autorität – der Begriff „Wlast“ wird im russischen Sprachgebrauch mitunter sakralisiert
    Leviathan – so beschreiben viele Beobachter das Herrschaftssystem des gegenwärtigen Russlands. Gemeint ist ein absolutistischer Staat, wie ihn der politische Philosoph Thomas Hobbes in seinem gleichnamigen Hauptwerk beschreibt. Die Macht des Souveräns ist hier uneingeschränkt, alle Menschen müssen sich ihr unterwerfen. Die Staatsmacht bei Hobbes ist allerdings auch zuständig für den Schutz der Bürger, in Russland dagegen werfen ihr viele Kritiker vor, Gegensätzliches zu tun: Sie verhalte sich oft wie ein Verbrecher, meint beispielsweise der Kulturwissenschaftler Boris Paramonow.1

    Auch der bekannte russische Regisseur Andrej Swjaginzew weist mit seinem preisgekrönten Film Leviathan auf den verbrecherischen Aspekt der Wlast hin. Der Protagonist lehnt sich hier zwar gegen die Wlast auf, zeigt sich am Ende aber ohnmächtig. Alles bleibt scheinbar beim Alten: Die Macht des Stärkeren siegt, und „das Volk bleibt stumm“.

    „Das Volk bleibt stumm“

    Dieser oft zitierte Schlusssatz stammt aus Alexander Puschkins Drama Boris Godunow aus dem 19. Jahrhundert. Der Begriff Wlast hat sich über Generationen in seiner Bedeutung geformt und verstetigt. Heute repräsentiert er sowohl im kremlnahen Diskurs als auch für viele Kulturkritiker eine wichtige Eigenschaft des Staat-Bürger-Verhältnisses in Russland. Demnach ist Wlast eine Einbahnstraße: Die Machthaber haben sie, die Bürger sind apolitisch, sie sind wie bei Puschkin eine „schweigende Mehrheit“.2

    Stimmt also das gängige kulturalistische Klischee, dass in Russland schon immer eine Untertanenmentalität geherrscht habe? Wohl kaum. Das Schweigen während der Zarenzeit und in der Sowjetunion entsprang der eigenen Angst, es kam durch Unterdrückung zustande. Das Schweigen heute erklärt sich auch aus dem sogenannten Gesellschaftsvertrag: Der Kreml sorgt für Stabilität und wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein, so die verkürzte Version dieses theoretischen Modells. 

    Historismus und Historiosophie

    Wie ist es zu erklären, dass viele Wissenschaftler den Grundstein für diesen Gesellschaftsvertrag in den 1990er Jahren verorten? Ähnlich wie in der Weimarer Republik oder im postfranquistischen Spanien wurde im damaligen Russland eine gesamtgesellschaftliche Orientierungslosigkeit diagnostiziert. Der Zusammenbruch des Kommunismus führte demnach zu einem „Werte-Vakuum“, beziehungsweise zu einer „Identitätskrise“ oder eben einem „Weimar-Syndrom“.3

    Kann eine ganze Gesellschaft tatsächlich in eine „Identitätskrise“ geraten? Schwer vorstellbar, zumindest kann man das nicht wissenschaftlich nachweisen. Trotz dieser Unzulänglichkeit schien kaum ein Wissenschaftler in Russland an dem „Werte-Vakuum“ der 1990er Jahre zu zweifeln. Und auch die Folge war für viele klar: Das Vakuum müsse mit neuen Werten gefüllt werden. Dabei suggerierten manche Sinnangebote, dass diese Werte nur in Russlands Vergangenheit gefunden werden können. 

    Tatsächlich erlebte Russland in den 1990er Jahren einen regelrechten Nachfrageboom nach allem Historischen. Viele neue Bücher kamen heraus, Auflagen schnellten in die Höhe, sodass manche Wissenschaftler schon von einem umfassenden Historismus sprachen.4 Der russische Historiker Alexej Miller konstatiert, dass dabei die Historiosophie zur populärsten Form der Geschichtsschreibung in Russland wurde.5

    Oft dargestellt als ein geschichtswissenschaftliches Denkschema unter anderen, entbehrt die Historiosophie de facto jeder Wissenschaftlichkeit, denn in dieser Theorie ist alles pfadabhängig, die Geschichte ganzheitlich und unverbrüchlich. Und weil Russen schon immer die Staatsmacht sakralisiert hätten, müssten ihre „paternalistischen Erwartungen“ erfüllt werden, um den „historischen Sinn“ des Landes wiederherzustellen, so die vereinfachte historiosophische Erklärung für das Phänomen einer allgegenwärtigen und absoluten Wlast.6 Historiker wie Alexej Miller sehen in der Historiosophie einen „Gegenstand des Glaubens“ und nicht der „kritischen Analyse“.7

    „Auf die Vergöttlichung der Wlast!“

    Dass Analyse in Russland ohnehin nur eine Nebenrolle spiele, meint dagegen Wladislaw Surkow, der einstmals als Chef-Ideologe des Kreml galt. In seinem Schlüsseltext Russische Politische Kultur aus dem Jahr 2007 schrieb er, dass „die Synthese in unserer kulturellen Praktik vor der Analyse herrscht, die Bildlichkeit vor Logik, Intuition vor Vernunft, das Allgemeine vor dem Konkreten“.8

    „Ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt“ – so ungefähr kommentierte der damalige Politiker Nikita Belych Surkows Programm: Der Spindoktor konstruiere einen „unverrückbaren Archetypus der russischen archaischen Wlast“ und schaffe erst durch diese Konstruktion Tatsachen.9

    Vielleicht schaffte Surkow auch Tatsachen, nachdem er bei der Feier des ersten Wahlerfolgs Putins im Jahr 2000 das Glas hob und dazu aufrief, „auf die Vergöttlichung der Wlast!“10 zu trinken? Vieles spricht für diese These, zumal autoritäre Systeme sehr oft über eine Mischung von personalisierten und meritokratischen Elementen legitimiert werden.11 Meritokratisch bedeutet, dass der Herrscher sich über seine besonderen Verdienste definiert. Oder definiert wird – so sprechen die staatsnahen Medien oft über die Verdienste Putins: Er habe das Land „von den Knien erhoben“, auf denen es in den 1990er Jahren lag, so das häufigste Motiv. Auch Patriarch Kirill arbeitete am „Charisma des nationalen Leaders12 als er die 1990er Jahre mit „Hitlers Aggression“ und der „Smuta“ verglich, den Ausgang daraus als Putins Verdienst lobte und dessen Führung als „Gotteswunder“ pries.13

    Allgegenwärtig und unsichtbar

    Vielleicht ist eine solche Sakralisierung auch der wichtigste Grund dafür, dass der Begriff Wlast eigentlich nicht klar eingegrenzt werden kann: Wlast ist gleichzeitig allgegenwärtig und unsichtbar, monopolisiert und zerstreut. Der gravierende Mangel an funktionierenden politischen Institutionen könnte ein anderer Grund sein, er könnte aber auch mit dem ersten zusammenhängen.

    Manche Wissenschaftler sind überzeugt, dass die meisten Russen den Staat ohnehin nicht als ein System von Institutionen begreifen, sondern als Volk, Kultur, Geschichte, soziale Beziehungen und Heimat.14 Wlast ist nur ein Teil dieser Heimat, nicht mehr.

    Ausgehend vom russischen Philosophen Nikolaj Berdjajew glauben auch heute noch viele Kulturwissenschaftler, dass Russen das „staatsloseste Volk“ seien, das zugleich eine sehr „mächtige Staatlichkeit“ schaffte. Dass sie sich als das „anarchischste Volk“ willig dem Bürokratieapparat unterwerfen.15

    Diese Widersprüche seien Teil des großen Mysteriums, das oft als die „geheimnisvolle russische Seele“ beschrieben wird – ein ursprünglich literarisches Motiv, das auch heute verschiedenartig gedeutet wird: Viele konservative Sinnerzeuger bemühen es seit dem Ende der Sowjetunion immer wieder gerne, um ihre Argumente für die russische Samobytnost zu stützen, Russlands Eigenartigkeit, die für sie oftmals auch eine Untertanenmentalität enthält. Manche Kritiker betonen vor allem das Anarchische – das Volk bleibt zwar auch für sie stumm, im Inneren sei es aber (wie bei Puschkin) von tiefem Mißtrauen und Schuldzuweisungen gegenüber der Wlast erfüllt.

    Auch Putin philosophierte schon über das Geheimnis.16 Angeblich soll Berdjajew neben Dostojewski zu seiner liebsten Nachtlektüre gehören. Der französische Philosoph Michel Eltchaninoff vermerkte dazu in seinem Buch In Putins Kopf, dass diese Lektüre jedoch oberflächlich sei: Dostojewski habe Russland insgesamt als Teil Europas gesehen, Berdjajew betonte individuelle Freiheiten – beides stehe in Konflikt zu Putins Politik.17


    1. vgl. svoboda.org: Dva kita Andreja Zvjaginceva ↩︎
    2. vgl. Byzov, Leontij (2011): Ėpocha Putina: ot krizisa cennostej k krizisu institutov und Miller, Alexej (2007): Imperija v sebe: O vozraždenie imperskogo sindroma v Rossii, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Posle imperii, S. 102-123 ↩︎
    3. vgl. golos-ameriki.ru: Shevcova: „Vneshnaja politika dlja kremlja stala instrumentom vnutrennich zadač“ und Kaspė, Irina/Kaspė, Svjatoslav (2006): Pole bitvy – strana: Nation-Building i nashi nėjshnbildery, in: Neprikosnovennyj zapas №6 (50) ↩︎
    4. vgl. zum Beispiel Rastimeshina, Irina (2013): Politika Rossijskogo gosudarstva v otnoshenii kul’turnogo nasledija cerkvi: tradicionnye podchody i innovacionnye technologii, S. 137 ↩︎
    5. Miller, Alexej (2008): Istorija imperij i politika pamjati, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperi i buduščee Rossii, S. 25-58, hier S. 25 ↩︎
    6. vgl. Baranov, Alexej (2008): Političeskie otnoshenija i političeskij process v sovremennoj Rossii: Avtorskij kurs lekcij, S. 216ff. und Miller, Alexej (2008): Nasledie imperij: inventarizacija, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperij i buduščee Rossii, S. 5-22 ↩︎
    7. vgl. Miller, Alexej (2008): Nasledie imperij: inventarizacija, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperij i buduščee Rossii, S. 5-22, hier S. 7 ↩︎
    8. Surkov, Vladislav (2007): Russkaja političeskaja kul’tura: Vzgljad iz utopii, in: Nezavisimaja Gazeta: Lekcija Vladislava Surkova: Materialy i obsuždenija v „Nezavisimoj Gazete“, S. 6-22, hier S. 8 ↩︎
    9. Belych, Nikita (2007): Ideologija suverennoj bjurokratii, in: Nezavisimaja Gazeta: Russkaja političeskaja kul’tura: Vzgljad iz utopii: Lekcija Vladislava Surkova: Materialy i obsuždenija v „Nezavisimoj Gazete“, S. 72-78, hier S. 74f. ↩︎
    10. zit. nach: Pavlovskij, Gleb (2014): Sistema RF v vojne 2014 goda: De Principatu Debili, S. 69 ↩︎
    11. vgl. Albrecht, Holger/Frankenberger, Rolf (2010): Autoritarismus Reloaded: Konzeptionelle Anmerkungen zur vergleichenden Analyse politischer Systeme, in: dies.: Autoritarismus Reloaded, S. 37-60, hier S. 57f. ↩︎
    12. zum Begriff vgl. Sakva, Richard (2008): Putin i vlast’ protivorečij, in: RAN. INION: Dva prezidentskich sroka V. V. Putina: dinamika peremen: Sbornik naučnych trudov, S. 10-31 ↩︎
    13. zit. nach: stoletie.ru: „Cerkov’ vsegda byla s narodom“ ↩︎
    14. vgl. vedomosti.ru: Rossijskaja smyslovaja matrica ↩︎
    15. Berdjajew, Nikolaj: Sud’ba Rossii ↩︎
    16. YouTube: V. Putin o russkoj duše ↩︎
    17. vgl. inosmi.ru: Idejnye istočniki Vladimira Putina, i kuda on klonit ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Kalaschnikow

    Kalaschnikow

    Kalaschnikow blicke auf seine berühmte Schöpfung „wie auf ein Kunstwerk, zum Beispiel eine Stradivari-Geige“ – so beschreibt der Bildhauer Salawat Schtscherbakow die Bildsprache des von ihm geschaffenen Denkmals. Am 19. September 2017 wurde es feierlich im Zentrum Moskaus enthüllt.1

    Vorangegangen waren Diskussionen darüber, dass es zynisch sei, die am weitesten verbreitete Feuerwaffe der Welt in einem Denkmal zu verewigen.2 Schließlich habe sogar Michail Kalaschnikow selbst – eineinhalb Jahre vor seinem Tod im Jahr 2013 – Abbitte geleistet: Er hatte an den Patriarchen Kirill geschrieben und ihm vom „unerträglichen Seelenschmerz“ berichtet – sei er doch indirekt verantwortlich für den Tod von so vielen Menschen.3

    Kirill erlöste den Waffenkonstrukteur – schließlich habe dieser die Waffe nur zur „Verteidigung des Vaterlandes“ konstruiert. Der Patriarch gratulierte dem Büßer zum Tag des Sieges und betonte, dass Kalaschnikows Beitrag zur Erlangung des „Großen Sieges immer in der Erinnerung dankbarer Nachkommen leben wird“.4

    Es bleibt verborgen, was Kirill mit dem „Großen Sieg“ meinte: Schließlich verweist die Bezeichnung von Kalaschnikows Schöpfung AK-47 (Awtomat Kalaschnikowa obrasza 1947, dt. Kalaschnikows automatisches Gewehr, Modell 1947) auf ihr Geburtsjahr 1947 – also auf ein Datum zwei Jahre nach dem „Großen Sieg“ im Großen Vaterländischen Krieg

    Da weder die Sowjetunion noch Russland danach Verteidigungskriege führten, bleibt auch schleierhaft, was Kirill mit „Verteidigung des Vaterlandes“ meinte. Vielleicht ja den Kalten Krieg, vor dessen Hintergrund die Kalaschnikow zu einem festen Bestandteil politischer Ikonographie wurde – nicht nur in Russland.

    Irgendwas war schiefgelaufen, als die linksextremistische RAF an ihrem Logo bastelte: Am Ende prangte darauf die Maschinenpistole MP 5 von Heckler & Koch – Standardwaffe der bundesdeutschen Polizei, die für die RAF mitunter den Klassenfeind verkörperte.5 Eigentlich hätte es eine Kalaschnikow sein müssen – wie auch bei vietnamesischen und kubanischen Kommunisten, die sich dem Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus verschrieben hatten.

    Diese Episode verdeutlicht, dass sich an der symbolischen Wirkung der AK-47 bereits 1971 die Geister schieden. Für die einen ist sie Symbol für Terrorismus, Kriege in Entwicklungsländern und Kindersoldaten, die kaum größer sind als das Maschinengewehr. Die anderen assoziieren sie mit Unabhängigkeit, Widerstand gegen Kolonialismus, Imperialismus und kapitalistische Unterdrücker.  

    Die AK-47 prangt auf der Staatsflagge Mosambiks und ziert die Wappen Simbabwes und Osttimors. Die kolumbianische Guerillabewegung FARC trägt es genauso im Logo wie die palästinensische Hisbollah und das Freiwilligenkorps der rechtsradikalen Formation Prawy Sektor aus der Ukraine. Russia Today verweist in seinem Lexikon Russiapedia darauf, dass in Afrika Kinder Kalash genannt werden,6 und Narcocorridos (mexikanische Drogen-Balladen) besingen die Waffe als Ziegenhorn – wegen des gebogenen Magazins.7

    Abgekupfert?

    Doch ist die Kalaschnikow tatsächlich eine Konstruktion Kalaschnikows? Eben wegen des gebogenen Magazins und anderer äußerer Ähnlichkeiten mit dem deutschen Sturmgewehr 44 kursiert seit den 1950er Jahren die Hypothese, dass nicht Michail Kalaschnikow der eigentliche Schöpfer der Waffe sei, sondern der deutsche Waffenkonstrukteur Hugo Schmeisser. Dieser wurde nach dem Krieg zwangsweise als Spezialist für Waffentechnik in die Sowjetunion gebracht und hatte dort bis 1952 in einer Waffenfabrik in Ishewsk gearbeitet. 

    Die Quellenlage zu seiner dortigen Arbeit ist dürftig, da sich die Ähnlichkeiten seines Sturmgewehrs 44 mit dem Sturmgewehr AK-47 aber vor allem auf das Äußere beschränken, sehen Waffenspezialisten die Kalaschnikow als eine weitgehende Eigenleistung des sowjetischen Waffenkonstrukteurs.8

    Der „Kalaschnikow“ zum Verwechseln ähnlich - das deutsche „Sturmgewehr 44“
    Der „Kalaschnikow“ zum Verwechseln ähnlich – das deutsche „Sturmgewehr 44“

    Ishewsk

    Gestützt wird diese Argumentation auch dadurch, dass Kalaschnikow erst 1948 nach Ishewsk kam – demnach konnte er Schmeisser erst nach der Entwicklung seiner AK-47 kennengelernt haben. Wie dem auch sei, 1948 fingen die Ishmasch-Werke in Ishewsk mit der Massenproduktion der AK-47 an. Die Stadt im Ural avancierte alsbald zu einem wichtigen Industriezentrum, bekam das Label Hauptstadt der Rüstung und den Ehrentitel Stadt des Arbeitsruhms

    Im Laufe der Zeit wird die Waffe immer weiter entwickelt, insgesamt verlassen über 70 Millionen Exemplare die Fabrik in Ishewsk. Hinzu kommen die lizensierten Kalaschnikows, die befreundete Länder der Sowjetunion oft kostenlos herstellen durften. Schließlich wird das Gewehr auch ohne Lizenz kopiert, sodass mit den Jahren insgesamt schätzungsweise rund 100 Millionen Exemplare in Umlauf kommen.9 Andere Schätzungen gehen von der doppelten Menge aus10, jedenfalls ist die Kalaschnikow sowie ihre Nachbauten und Derivate die am weitesten verbreitete Feuerwaffe der Welt.11

    Weapon of choice

    Die Beliebtheit der Waffe erklärt sich aus ihrer Verlässlichkeit, ihrer Einfachheit und ihrem Preis. Vor allem Letzterer ist dafür ausschlaggebend, dass die Kalaschnikow als weapon of choice bei den Kriegen und bewaffneten Konflikten in Entwicklungsländern zum Einsatz kommt. Manche Exemplare waren auf afrikanischen Märkten in den Jahren 1986 bis 2005 schon für zwölf US-Dollar erhältlich12; mit höherer Nachfrage stiegen auch die Preise – in Syrien musste man von 2011 bis 2013 beispielsweise mindestens 2100 US-Dollar für eine Kalaschnikow auf den Tisch legen.13

    Nimmt man also an, dass die Kalaschnikow die am weitesten verbreitete Feuerwaffe ist, und dass sie vor allem in Konfliktregionen zum Einsatz kommt, in denen weltweit die meisten Menschen durch Schusswaffen umkommen14, dann ist der Schluss naheliegend, dass sie auch die mengenmäßig tödlichste Feuerwaffe ist. 

    Bescheidenheit

    Vielleicht war es ja eine solche Wahrscheinlichkeitsrechnung, die Kalaschnikow 2013 zu seinem Büßerbrief an den Patriarchen bewegt hatte. Einige Monate nach seiner Erlösung durch Kirill verstarb der 94-Jährige in Ishewsk. Die Waffenschmiede Ishmasch wurde ihm zu Ehren in Konzern Kalaschnikow umbenannt. Heute rühmt sich der Konzern, der mehrheitlich zu Rostec gehört, 95 Prozent aller Kleinwaffen Russlands zu produzieren.15

    Die staatsnahen Medien zeichnen Michail Kalaschnikow als einfachen Mann von nebenan.16 Er sei sehr bescheiden gewesen, genauso anspruchslos wie seine Schöpfung. Nicht einmal die Rechte an der Handelsmarke Kalaschnikow wollte er zu Geld machen – als „wirklicher Patriot hat er kein Wort über eine Bezahlung dafür verloren“, so der ehemalige Direktor von Ishmasch/Konzern Kalaschnikow Konstantin Bussyrgin.17

    Heute wird unter der Marke Kalaschnikow auch Bekleidung vertrieben, unter anderem erhältlich im neuen Kalaschnikow-Shop am Moskauer Flughafen Scheremetjewo.18 Der mit höchsten Ehrentiteln des Landes dekorierte Waffenkonstrukteur wurde in Russland zu einer Legende.19 Mehrmals traf er sich mit Putin, angeblich soll im Gespräch mit Kalaschnikow Putins Idee für die Einführung eines Tags des Büchsenmachers entstanden sein.20

    Zur fünften Begehung dieses Feiertags am Tag des Erzengels Michael – dem in Russland mitunter als Heerführer der himmlischen Scharen verehrten Heiligen – weihte Russlands Kulturminister Wladimir Medinski das Kalaschnikow-Denkmal am Moskauer Gartenring ein. Der Bildhauer Salawat Schtscherbakow betonte, dass sein Werk genau dem entspreche, was der Mensch Kalaschnikow verkörperte – Bescheidenheit.21Das Denkmal ist rund sieben Meter hoch.


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  • Gopniki

    Gopniki

    In Jogginghosen und Schiebermützen hocken sie halbkreisförmig im Slavic Squat, in der Mitte einе zwei Liter Plastikflasche Billigbier und ausgespuckte Schalen von Sonnenblumenkernen. Laut Klischee sind Gopniki (klein)kriminell, ungebildet und kommen mit einem spezifischen Vokabular von nur vier Grundwörtern aus. Demgegenüber versteigen sich manche russischen Soziologen dazu, mehr als jeden dritten Einwohner des Landes zu dieser Subkultur zu zählen.

    Klischees über Klischees – der Gopnik / Foto © Wolodymyr Pankratow/Wikimedia unter CC BY-SA 4.0
    Klischees über Klischees – der Gopnik / Foto © Wolodymyr Pankratow/Wikimedia unter CC BY-SA 4.0

    „Was soll eigentlich diese Russenhocke?“ fragte bento Ende 2016 nach dem Flashmob auf Instagram, bei dem sich tausende Nutzer hockend präsentiert hatten.1 Vorausgegangen waren Statements einiger Avantgarde-Hipster, die ihren Kulturimport aus Russland zum Modetrend erklärten: Demnach sollten Jogginghosen 2016 zum letzten Schrei werden.

    (Klein)kriminelle Subkultur

    Naturgemäß meinten es die Hipster ironisch: Kaum jemand möchte ernsthaft in einen Topf mit dem Original dieses Lebensstils geworfen werden – dem Gopnik. Die Bezeichnung dieses Stereotyps, das von Soziologen als eine Subkultur verstanden wird, ging Ende der 1980er Jahre in den allgemeinen Sprachgebrauch ein.

    Der Ursprung ist unklar: Vielleicht bezieht sich der Begriff auf die Abkürzung GOP, die in den 1920er Jahren für Städtisches Wohnheim des Proletariats stand und sich zum arroganten Synonym für Unterschichten-spezifische Bildungsferne entwickelte.

    Vielleicht kommt Gopnik vom Ausdruck gopstop – was in russischer Entsprechung zum deutschen Jargon Rotwelsch „Raubüberfall“ bedeutet. Dem meistens (auch vom Gopnik selbst) als Schimpfwort verwendeten Begriff steht die gängige Eigenbezeichnung gegenüber – (realny) pazan, was ungefähr soviel wie das amerikanische (real) Gangsta bedeutet.   

    Gossenjargon=kriminell?

    (Real) Gangsta und Rotwelsch sind Begriffe, die im Westen einen radikalen Bedeutungswandel erlebten. Der erste kam auf in den 1980er Jahren als ein kriminelles und gegenkulturell-orientiertes Stereotyp. Mit der Kommerzialisierung des Gangster-Rap wurde die Figur des Gangsta aber schon in den 1990er Jahren Teil der Massenkultur – sowohl in den USA als auch in vielen Ländern Westeuropas.

    Aus ähnlichen Gründen entbehrt auch Rotwelsch das Kriminelle: In älterer Literatur noch als deutsche „Gaunersprache“ bezeichnet, gilt es heute als ein Soziolekt mit einem Sonderwortschatz – als ein Jargon.

    Ähnlich beim Gopnik: Die Neigung zum Mat-durchsetzten Gossenjargon gehört für viele Soziologen zu den Grundfesten dieser Subkultur. Dass diese Sondersprache auch Anleihen bei fenja macht – der russischen Gefängnissprache – macht allerdings nicht alle Sprecher automatisch zu Kriminellen. Dennoch hält sich die Zuschreibung: Gopniki seien gewalttätig, homophob, ausländerfeindlich und verüben gopstops – rauben Wertsachen.2 Sie gingen keiner Arbeit nach, hätten aggressiv-tumbe Gesichtsausdrücke, seien flegelhaft, kurz: sie weisen wegen ihrer „Unterschichtsmentalität“ alle Bürgerschreck-Qualitäten auf.3

    Indes, der Zusammenhang zwischen dem Lebensstil der Gopniki und ihrer angeblichen Neigung zur Kriminalität wurde noch nie nachgewiesen. So haben es viele von ihnen beispielsweise schon in die Mittelschicht geschafft: Dort gehen sie geregelter Arbeit nach, setzen ihren Lebensstil aber als sogenannte tschawy (in Anlehnung an die britischen Chavs) oder polugopy (dt. Halb-Gopniki) fort. Sie schmücken sich mit spezifischen Statussymbolen, pflegen situativ Jargon4 – und dürften damit zum Teil wohl eine ähnliche Nähe zur Kriminalität an den Tag legen, wie es die Mittelschichts-Jugendlichen in der deutschen Provinz der 1990er taten, als sie das gewaltverherrlichende Cop Killer von Bodycount nachsangen.5

    Russischer Chanson wird Mainstream

    Klischees über Klischees: Gopniki seien grundsätzlich kriminell und würden diese Kriminalität auch in ihren Musikvorlieben zelebrieren, und zwar bei der ihnen zugeschriebenen Neigung zum sogenannten „russischen Chanson“ oder „coolen beziehungsweise harten Lied“ („blatnaja pesnja“).6 Ohne den Zusammenhang zwischen Gopnik und russischem Chanson nachzuweisen, verweisen russische Soziologen in einem Analogieschluss einfach auf die Gefängnis-Nähe von gegenkulturell-orientierter Subkultur und Musikgattung.

    Ähnlich wie zuvor Gangster-Rap in den USA und in Westeuropa, schaffte es diese Musikgattung, die häufig Kriminalität romantisiert (Stichwort aus dem Rap: thug life), Ende der 1990er Jahre erstmals in die russischen Charts. Damit vollzog sich ein Übergang von zunächst gegenkulturell angelegten Orientierungen in die Massenkultur, wie er im Westen zuvor nicht nur bei Hip-Hop, sondern auch bei Punk und Rock auszumachen war.7

    Ohne auf die Kommerzialisierungs-Mechanismen der Musikindustrie einzugehen, erklärten Kulturkritiker den Hype des russischen Chansons damit, dass nahezu ein Viertel der männlichen Bevölkerung Russlands entweder im Gefängnis waren oder gerade im Gefängnis sitzen.8 Diese große Gruppe bildete demnach den Resonanzraum für diese Musik und verhalf dem russischen Chanson alleine wegen ihrer schieren Anzahl in die Charts.

    Der Einzug der zuvor als gossenhaft verfemten Musik in die Massenkultur ging einher mit einschlägigen Blockbustern, die zum Teil auch mit Mitteln aus der staatlichen Filmförderung finanziert wurden.9 Kritiker geißelten die Romantisierung des Kriminellen, beklagten einen Sprach- und Kulturverfall, mussten das Phänomen aber alsbald auch bei der politischen Elite des Landes feststellen.

    Jargon in der Politik

    Bereits vor seiner ersten Präsidentschaft versprach Putin, Terroristen „im Scheißhaus kaltzumachen“. Seine häufige Neigung zum Jargon wurde Gegenstand vieler humoristischer Kommentare; auch Sozialwissenschaftler fragten nach den Gründen seiner Verbalausfälle. Demnach ist sein Hang zu stilistisch derberen Registern wohlkalkuliert: Einerseits breche er bewusst gängige Sprachnormen, um dadurch Aufmerksamkeit zu bekommen.10 Andererseits zeigt er sich damit als ein tatkräftiger Politiker, der „hart durchgreift“ und „Klartext“ spricht. Schließlich präsentiert er sich auch als „einfacher Mann von nebenan“,11 der die Aura der hemdsärmeligen Street Credibility verströmt und somit stammtisch-kompatibel erscheint.12

    Ob dieses Streben nach Volksnähe im Umkehrschluss die steile These von gleich 50 Millionen Gopniki im Land plausibel macht, ist fraglich – weder Soziolekte noch Musikvorlieben genügen für eine klare Zuordnung, zumal Soziologen13 ihre These kaum mit Forschungsergebnissen belegen können. Grundsätzliche Schwierigkeit besteht außerdem darin, dass Subkulturen und Lebensstile nie exakt fassbar sind. Insofern bleibt der Gopnik ein schwer greif- und verifizierbares Klischee.

    Vermehrte Anklänge an diesem klischeehaften GopnikiLebensstil kann man in Russlands politischer Elite dagegen durchaus finden. Putin schöpft aus diesem einschlägigen Kanon, wenn er junge Soldaten als pazany tituliert, der Eigenbezeichnung der Gopniki; oder auch, wenn er von „Schore verhökern“ (Rotwelsch: „Diebesgut veräußern“, russ. „schurowat“) spricht und so den russischen Export von Rohholz kritisiert.14

    Murka, der Chanson-Klassiker schlechthin, erklingt auch mal in der Duma-Kantine.15 Außenminister Lawrow schimpft Mat, und auch seine Diplomaten-Kollegen aus dem Außenministerium fallen durch unflätige Verbalinjurien auf.

    Nicht nur deshalb verglich Sergej Medwedew – eine der profiliertesten Stimmen des liberalen Lagers – die gesamte russische Außenpolitik mit einem Gopnik, der allen Angst einjage. Und der bekannte Karikaturist Sergey Elkin erntete im April 2017 auf Facebook tausende Likes und Shares für die Abkürzungsbuchstaben des Außenministeriums (MID) im halbkreisförmigen Slavic Squat. Um die hockenden Buchstaben liegen ausgespuckte Schalen von Sonnenblumenkernen.


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  • St. Georgs-Band

    St. Georgs-Band

    Gibt man auf Yandex-Bildersuche den russischen Begriff Den Pobedy (dt. Tag des Sieges) ein, dann werden nur rund 20 der ersten 100 Ergebnisse kein St. Georgs-Band enthalten. Erdacht 2005 zum 60. Jubiläum des Sieges über Hitlerdeutschland, avancierte das schwarz-orange gestreifte Bändchen innerhalb weniger Jahre zum zentralen Symbol des „Kults um den Großen Vaterländischen Krieg“.

    Benannt wurde es nach St. Georg – einem der wichtigsten orthodoxen Heiligen und bekanntesten Held der russischen Mythenwelt. So schmückt sein Bildnis beispielsweise das Wappen Moskaus, aber auch der stilisierte Drachentöter auf dem Staatswappen Russlands wird oft mit St. Georg verbunden. Nicht zuletzt deshalb kritisierten einige Beobachter schon 2010 die Kreml-Nähe des Symbols.

    Wohin man zu den jährlichen Feierlichkeiten am Tag des Sieges am 9. Mai auch blickt, das schwarz-orange gestreifte St. Georgs-Band ist omnipräsent. Wie kein anderes Symbol verkörpert es für die russische Öffentlichkeit den Sieg über den Nationalsozialismus.

    Entstehung des Symbols

    Das St. Georgs-Band geht zurück auf den Russischen Orden des Heiligen Georg, der 1769 als höchste militärische Auszeichnung von der deutschstämmigen Zarin Katharina der Großen eingeführt wurde. Benannt nach dem Heiligen Georg, der in Russland als Großmärtyrer verehrt wird, symbolisieren die Farben Feuer und Asche. Diese Metaphern sollten den besonderen Mut und die Tapferkeit der handverlesenen Ordensträger ausdrücken.

    Wurde die Auszeichnung nach der Oktoberrevolution zunächst abgeschafft, erkannte Stalin die enorme patriotische Wirkung des St. Georgs-Bandes und verlieh es nach dem Ende des Großen Vaterländischen Krieges postum allen Veteranen.

    Wiedergeburt und Popularisierung

    Danach verlor es zunächst wieder an Bedeutung, bis im Jahr 2005 die regierungstreue Jugendorganisation Studentische Gemeinschaft (Studentscheskaja Obschtschina) sowie einige Firmen in einer Aktion der Nachrichtenagentur RIA Nowosti zahlreiche Bänder in Moskau verteilten.1 Diese Initiative trug dazu bei, dass das St. Georgs-Band inzwischen Einzug in die Populärkultur gehalten hat: In den ersten sechs Jahren nach der Einführung wurden nach Angabe der Studentischen Gemeinschaft mehr als 50 Millionen Bänder verteilt.

    So werden sie an Jacken, Taschen, Autoantennen und -spiegeln angebracht, um der Kriegsopfer und Veteranen zu gedenken und den Stolz über den Sieg gegen den Faschismus auszudrücken. Im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten sieht man auch häufig patriotische Autoschriftzüge wie „Spasibo dedu sa pobedu“ (dt. „Danke Opa für den Sieg“)2 oder „Na Berlin“ (dt. „Nach Berlin“).

    Wahrnehmungen des neuen Symbols

    Alsbald regte sich Kritik gegen eine solche Bändchen-Schwemme: Das mittlerweile abgeschaltete Portal za-lentu.ru geißelte schon 2011 den „Kitsch“ und die „Dekadenz“ bei der „profanisierten“ Verwendung des „heiligen Symbols“ Russlands. Die regierungstreue Jugendorganisation Wolontjory Pobedy (dt. Ehrenamtler des Sieges) erstellte 2017 Richtlinien für die richtige Verwendung, in denen sie auf Piktogrammen die korrekte Bindeweise demonstrierte und darauf aufmerksam machte, die Bändchen nicht auf Taschen und an Autoantennen anzubringen.3 Im Vorfeld der Feierlichkeiten im Jahr 2017 kündigten auch Aktivisten des Moskauer Jugendparlaments an, auf Streife zu gehen – gegen die „unethische Verwendung des Georgs-Bändchens4.

    St. Georgs-Band an einer Autoantenne/Foto © Charlik
    St. Georgs-Band an einer Autoantenne/Foto © Charlik

    Auch Veteranenverbände und die Kommunistische Partei lehnten sich erst gegen das neue Symbol auf – ersetzte das Bändchen doch die Rote Fahne, das zuvor wichtigste Symbol des „kommunistischen Sieges“ über den Faschismus. Gleichzeitig wurden damit zunächst nicht nur die ehemals sowjetischen Nachbarländer milde gestimmt, die das alte Symbol mit sowjetischer Okkupation assoziierten, sondern auch der russische Klerus, der die Rote Fahne mit Repressionen gegen die Kirche verband.

    Staatssymbol

    Während solche Kritik über die Jahre weitgehend verstummte, wird das St. Georgs-Bändchen inzwischen immer häufiger auch als Symbol der Loyalität gegenüber Putin und dessen Politik gedeutet.5

    Da es immer mehr für Russki Mir (dt. Die russische Welt) steht, regt sich auch in den baltischen Ländern mit großen russischsprachigen Minderheiten Besorgnis: In Lettland wurden schon 2010 „Aktivisten“ gesichtet, die Nummernschilder von mit Bändchen geschmückten Autos aufschrieben (und deren Fahrer wohl den Behörden meldeten). In Estland gab es ernstzunehmenden Quellen zufolge eine diskrete politische „Empfehlung“ an die Medien, die Bändchen-Aktionen nicht zu thematisieren.6 In Litauen, wo es seit 2008 verboten ist, sowjetische Symbole zu benutzen, wurde das Bändchen ebenfalls mit Argwohn aufgenommen.7

    In der Ukraine lieferten sich 2009 – also bereits fünf Jahre vor der Krim-Angliederung – die zumeist russischsprachigen Städte der Halbinsel eine Art Wettbewerb: Simferopol stiftete ein 50 Meter langes „antifaschistisches“ Bändchen, Sewastopol konterte mit 300 Metern. Im Zuge der Angliederung der Krim und des Kriegs im ukrainischen Donbass benutzten prorussische Separatisten das Symbol, um ihre Zugehörigkeit zu Russland und ihren Kampf gegen die „Kiewer Faschisten“ zum Ausdruck zu bringen. Im Mai 2017 stellte das ukrainische Parlament das Verwenden des Bändchens unter Strafe.

    Seit 2015 diskutieren auch moldawische Politiker über ein gesetzliches Verbot des Symbols.

    In einem „Kult des Großen Vaterländischen Krieges8, in dem das Georgsband zum Gegenstand einer regelrechten „kollektiven Psychose“9 (Michail Jampolski) wurde, bewerten russische Staatsmedien solche Initiativen derzeit nicht selten als Affront gegen Russland.10

    Auch innenpolitisch führt das Symbol zu einer schroffen Polarisierung: Werden die Träger des Bändchens zunehmend mit der Unterstützung des Systems Putin assoziiert, hat sich bei der Protestbewegung 2011/12 das Weiße Band als Erkennungsmerkmal etabliert. 


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  • Infografik: Russlands Verhältnis zu den USA

    Infografik: Russlands Verhältnis zu den USA

    Spätestens seit Donald Trumps Einzug ins Weiße Haus im Januar 2017 schaut die Welt gespannt auf die wechselhaften Beziehungen zwischen Russland und den USA.

    Aktuell sind die politischen Beziehungen anhaltend auf einem Tiefpunkt. Das war nicht immer so, im Gegenteil. Anfang der 1990er Jahre wünschte sich die große Mehrheit noch die USA als Kooperationspartner.

    Wie kam dieser radikale Umschwung zustande? In welchem Zusammenhang stehen die Umfragewerte mit politischen Ereignissen im Verlauf der Zeit?

     

    Quelle: Lewada

    „Wie stehen Sie zu den USA?“ Diese repräsentative Infografik verdeutlicht die Höhen und Tiefen in den Zustimmungs- und Ablehnungswerten, wie sie das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada in regelmäßigen Abständen ermittelt. Wir haben diese Grafik mit einigen Ereignissen versehen, die das Auf und Ab der Linie erklären können. Um ein genaueres Bild zu bekommen, können Sie in bestimmte Zeiträume hineinzoomen.

    Es fallen insgesamt vier steile Ausschläge auf, immer zum Zeitpunkt eines Krieges: im Kosovo, Irak, Georgien und in der Ukraine. Auch dazwischen gab es viel Bewegung, doch wenn man das gesamte Bild betrachtet, dann fällt auf, dass bis zur Angliederung der Halbinsel Krim auf jeden Anstieg ein nahezu symmetrischer Wiederabfall folgte.

    Die russische Soziologie erklärt das Auf und Ab mit dem besonderen Verhältnis vieler Russen zur Supermacht USA: Die USA seien für sie der wichtigste Referenzpunkt, so etwas wie das Maß aller Dinge – sowohl in positiver wie auch in negativer Hinsicht.

    Große Linien

    Nach der jahrzehntelangen Feindschaft im Kalten Krieg standen die Zeichen im Russland der frühen 1990er Jahre ganz auf Freundschaft: Wenn Hilfe von außen erwartet wurde – dann vor allem von den USA. Wenn nach einem Land gefragt wurde, mit dem Russland in erster Linie zusammenarbeiten sollte – auch dann wurden die Vereinigten Staaten genannt. Die USA als Feind? Mitte der 1990er Jahre sahen das nur rund sieben Prozent der Befragten so.1 Bis heute hat sich dieses Bild allerdings umgekehrt, und zwar nahezu parallel zum Wandel der bilateralen Beziehung zwischen Russland und den USA.

    Der erste Stimmungswandel kam in den Jahren 1998 und 1999. Damals fielen viele Ereignisse zusammen: die Nato-Intervention im Kosovokrieg, die Russland kritisierte, der Zweite Tschetschenienkrieg, der massive Kritik des Westens am russischen Vorgehen nach sich zog, die erste Nato-Osterweiterung vom 12. März 1999, die wiederum für Zerwürfnisse sorgte.

    Der demonstrative Schulterschluss nach dem 11. September 2001 verpuffte schnell – Anfang 2002 kündigten die USA an, einseitig vom ABM-Vertrag zurückzutreten, der seit 1972 die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen regelte. Hintergrund waren Pläne der Bush-Regierung ein nationales Raketenabwehrsystem zu installieren, was in Russland auf Skepsis traf.

    Zum ersten sichtbaren Bruch zwischen den USA und Russland kam es schließlich in den Jahren 2003 und 2004. Der Irakkrieg, die bunten Revolutionen in Georgien und der Ukraine sowie die zweite Nato-Osterweiterung führten zu einer massiven Verschlechterung der Beziehungen zwischen beiden Ländern.

    Seit Mitte der 2000er Jahre werden die USA in Meinungsumfragen zu einem der größten Feinde Russlands gezählt. Die Rede, die Präsident Wladimir Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2007 hielt, wurde vor diesem Hintergrund als eine „Brandrede“ aufgefasst, für viele Beobachter markierte sie eine Wende in der russischen Außenpolitik.

    Einen weiteren Tiefpunkt in den Beziehungen markierte der Georgienkrieg 2008. Der Amtsantritt Barack Obamas, der kurz danach proklamierte „Reset“ und der Richtungswechsel hinsichtlich des von George W. Bush forcierten Raketenabwehrschirms bewirkten zwar eine neuerliche Annäherung, doch das war nur ein kurzes Intermezzo. Die Angliederung der ukrainischen Halbinsel Krim, der Krieg in der Ostukraine, die daraufhin als Antwort verhängten Sanktionen und der Krieg in Syrien entzweiten Russland und die USA nachhaltig.

    Parallele Linien – was die Grafik nicht sagt

    Doch wie hängen all diese Ereignisse mit dem öffentlichen Meinungsbild in Russland zusammen? Warum sind die ermittelten Zustimmungs- und Ablehnungswerte nahezu deckungsgleich mit der jeweiligen politischen Linie des Kreml?

    Zum einen kann der Zusammenhang damit erklärt werden, dass die Befragten sich bei solchen Umfragen unter Anpassungsdruck wähnen und deshalb nicht ihre eigentliche Meinung äußern, sondern die sozial erwartbare. Soziale Erwünschtheit nennt man diesen Effekt. Zum anderen sind Amerikakritik und Antiamerikanismus global anzutreffende Haltungen, die sich bei solchen Ereignissen wie dem Irakkrieg in vielen Ländern verstärken, nicht nur in Russland.2

    Außerdem spiegeln sich in Umfragen auch vielschichtige individualpsychologische Phänomene, wie zum Beispiel eine Neigung zu Stereotypen oder Verschwörungstheorien.

    Jenseits solcher Erklärungen stellen viele unabhängige Beobachter – sowohl in Russland als auch im Westen – einen weiteren möglichen Zusammenhang fest: Seit über zehn Jahren werden mit jeder Verschlechterung der bilateralen Beziehungen auch mittels Propaganda die gewünschten Stimmungen in der Gesellschaft erzeugt.3 Staatliche und kremlnahe Medien konstruieren demnach Feindbilder und tragen so zum Selbstbild Russlands als „belagerter Festung“ bei. Dies lenke erstens von innenpolitischen Problemen ab und stelle zweitens „Gefahren“ her, die eine einende Kraft entfalten und das Volk hinter dem Präsidenten versammeln.

    Mit dem Amtsantritt Donald Trumps schien sich die Situation zunächst zu ändern. Der neue amerikanische Präsident gab sich bisweilen betont Putin-freundlich. Und in den unabhängigen russischen Medien häufte sich schon die Frage, wie das russische Herrschaftssystem ohne ein Feindbild auskommen könne.

    Die großen Erwartungen an eine Annäherung zerschlugen sich aber bereits während Trumps ersten Monaten im Amt. Anfang August 2017 setzte er seine Unterschrift unter die neuen Sanktionen gegen Russland, die sich unter anderem für die Angliederung der Krim und die mutmaßliche Einmischung in die US-Präsidentschaftswahlen richten. 

    Vor allem Russlands Rohstoffgeschäft, das einen großen Teil des Staatshaushalts ausmacht, kann durch diese Sanktionen betroffen werden. Der Außenpolitik-Experte Wladimir Frolow kommentierte die erste Reaktion der politischen Elite Russlands als Panik.4

    Panik kam auch auf, nachdem die USA im April 2018 neue Sanktionen beschlossen: Wegen mutmaßlicher Einmischung in den US-Präsidentschaftswahlkampf fielen 24 russische Oligarchen und mehr als ein Dutzend Unternehmen unter die neuen Sanktionen. Die Finanzmärkte in Moskau taumelten, der Rubel verlor rund zehn Prozent gegenüber dem Euro, manche Analysten sprachen vom Schwarzen Montag an der Moskauer Börse.

    Einige Tage zuvor hatten die USA außerdem beschlossen, 60 russische Diplomaten auszuweisen. Damit demonstrierten sie einen Schulterschluss mit anderen westlichen Ländern, die wegen des Falls Skripal ebenfalls russische Diplomaten des Landes verwiesen.

    Den vorläufigen Tiefpunkt in der Eskalationsspirale bildete der von den USA im April 2018 initiierte Luftangriff auf syrische Lager und Forschungseinrichtungen für Chemiewaffen. Die Angriffe waren eine Reaktion auf den mutmaßlichen Giftgaseinsatz durch das syrische Regime. Einige russische Politiker drohten im Vorfeld des Luftangriffs mit einem Gegenschlag, sodass manche Beobachter schon die zweite Kuba-Krise heraufziehen sahen. Da Russland nicht mit militärischen Mitteln auf den Angriff reagierte, trat das Szenario nicht ein. Trotz Aufatmens bedeutete der Angriff aber dennoch eine neue Verschärfung des Konflikts zwischen Russland und den USA.

    Vor dem Hintergrund anhaltend schlechter Beziehungen zwischen Russland und den USA staunten viele Beobachter, als die antiamerikanischen Stimmungen in der russischen Gesellschaft nach der Fußball-WM 2018 rapide sanken. Das Ab in der Kurve erklärten sie mit rund drei Millionen ausländischen WM-Touristen, die das seit Jahren verbreitete Bild des russophoben Ausländers ins Wanken brachten. Die renommierte russische Politologin Lilija Schewzowa etwa meinte in diesem Zusammenhang, dass die propagandistischen Feindbilder mitsamt der Formel belagerte Festung immer weniger Anklang fänden: „Allem nach zu urteilen ist den russischen Bürgern sehr bewusst, dass die Konfrontation Russlands mit dem Westen ein Ablenkungsmanöver ist: von innenpolitischen Problemen und von der Unfähigkeit der Regierenden, diese zu lösen“, so Schewzowa.

    Text: Anton Himmelspach
    aktualisiert am 19.04.2018


    1.polit.ru: Lev Gudkov: Otnošenie k SShA v Rossii i problema antiamerikanizma
    2.Speulda, Nicole: Documenting the Phenomenon of Anti-Americanism
    3.siehe zum Beispiel republic.ru: Pjat’ mifov ob Amerike, tiražiruemych v Rossii; bpb.de: Notizen aus Moskau: Woher kommt der russische Antiamerikanismus?; the-village.ru: Sociolog Lev Gudkov – ob effektivnosti propagandy v Rossii
    4 republic.ru: Chuže, tschem pri Obame. Pochemu novye sankcii SShA vyzvali paniku v Moskve.
     

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  • Gleb Pawlowski

    Gleb Pawlowski

    Gleb Pawlowski gab gern und viele Ratschläge, kommentierte das politische Geschehen – in den Medien, vor allem aber in den Sozialen Netzwerken. Seine Stimme galt vielen politischen Analysten in Russland als gewichtig. Als Berater für Jelzin und später für Putin war er zunächst viele Jahre Polittechnologe, für manche Beobachter zählt er gar zu den Erfindern der Polittechnologie in Russland. Irgendwann erfand sich Pawlowski neu, als Publizist, nüchterner Analytiker und scharfzüngiger Kritiker des Regimes. Nicht immer wusste man jedoch, was davon zu halten war, wenn er aus dem Nähkästchen zu plauderte.

    Gleb Pawlowski gründete 1989 die erste private Nachrichtenagentur der UdSSR und lancierte sie unter dem Namen PostFactum – 27 Jahre, bevor heute der Begriff „postfaktisch“ die Debatten darum beherrscht, was wahr ist, was nicht und ob Fakten überhaupt noch zählen. Seinerzeit war Pawlowski im Milieu sowjetischer Dissidenten angedockt. Dabei war er unter anderem im Untergrund tätig gewesen, was ihm als Mitherausgeber des Samisdat-Magazins Poiski drei Jahre Verbannung in die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Komi einbrachte.

    Spindoktor und graue Eminenz des Kreml

    Im neuen Russland stieg Pawlowski schnell zum einflussreichen Polit-Berater auf: So rückte er in den 1990er Jahren in nächste Nähe des Kreml. Er war Mitbegründer der Stiftung für Effektive Politik (russ. Fond effektiwnoi Politiki, FEP), einer Agentur, die sich auf Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit für Politiker spezialisiert hatte. Über die FEP koordinierte Pawlowski nicht nur Boris Jelzins Kampagne für die Präsidentschaftswahl 1996 über die strategische Zusammenarbeit mit Presse und Fernsehen, sondern zog im Hintergrund auch weiter Fäden, um später Wladimir Putin Wahlerfolge zu sichern. Fürs Internet schuf er gazeta.ru, vesti.ru und lenta.ru, die seinerzeit als kremlfreundliche Portale installiert wurden. All das prägt sein Image bis heute: als Spindoktor und einstige graue Eminenz des Kreml. Manchen gilt er als Erfinder der russischen Polittechnologie schlechthin, einer gelenkten Herstellung von Öffentlichkeit und Meinungsprägung in Russland. Andere schreiben ihm gar zu, Putin erst zu Putin gemacht zu haben.1

    scharfsinniger Kritiker des Herrschaftssystems

    Foto © Bogomolov/Wikipedia
    Foto © Bogomolov/Wikipedia

    Zum Bruch mit der Staatsmacht kam es im Jahr 2011. Pawlowski soll sich gegen die Machtrochade – den Ämtertausch zwischen Medwedew und Putin – ausgesprochen haben und deshalb in Ungnade gefallen sein. Seitdem plauderte er fleißig aus dem Nähkästchen, gab angebliche Insider-Informationen preis und tat sich als scharfsinniger Kritiker des Herrschaftssystems hervor. Eines Systems, das er erklärtermaßen mitgeschaffen haben soll. So sagte Pawlowski gern von sich selbst, gemeinsam mit Wladislaw Surkow zentrale Elemente der politischen Ordnung in Russland mitinstalliert zu haben, etwa bei Gründung der inzwischen wieder in Vergessenheit geratenen Jugendorganisation Naschi oder bei Erarbeitung des propagierten Konzepts einer sogenannten souveränen Demokratie.2 Auf diese Weise inszenierte er sich auch als Strippenzieher über Deutungshoheiten zu zentralen Themen in der öffentlichen Sphäre des Landes.

    Die Bezeichnung Polittechnologe hat sich Pawlowski dennoch stets verbeten3, gab sich seit seiner Kehrtwende als eine Art außenstehender Privatier, eine Stimme aus dem Off. Er war vor allem publizistisch tätig, sehr präsent in den Sozialen Medien und ein gern gesehener Interviewgast. Wenige Stunden nach dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine konstatierte Pawlowski in einem Interview mit Radio Svoboda: „Die Welt ist eine andere. Es wird kein Zurück geben, vergesst es. Und natürlich wird es in dieser neuen, nebulösen Welt für Russland keinen Platz geben.“4

    aktualisiert am 27.02.2023


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    Editorial: dekoder-Gnosmos

    Bei unserer Gnosen-Umfrage, liebe Leser, konntet Ihr zwischen drei Themen auswählen: Ella Pamfilowa, Sowjetmensch und Russische Rockmusik. Die meisten Likes haben entschieden – und hier ist sie nun, die Gnose zu einem zentralen Phänomen der politischen Kultur der UdSSR: dem Sowjetmenschen.

    Normalerweise wählen wir  unsere Gnosen-Themen so aus: Wir scannen den journalistischen Artikel, den wir übersetzen, auf Begriffe und Formeln, die einer Entschlüsselung bedürfen. Für manche davon reicht eine lexikalische Notiz: die nennen wir Blurb, das ist ein kleines Textfenster, das aufspringt, wenn Ihr mit der Maus drauf geht. Weiterführende Begriffe dagegen, die wir zu Knotenpunkten unseres dekoder-Wissensnetzes machen wollen, lassen wir „vergnosen“. Konkret heißt das: Wir beauftragen Experten, einen Artikel darüber zu schreiben. Und tragen so das Wissen aus den Forschungszimmern der Institute in den öffentlichen Raum des Internets.

    Der Weg, den wir nun mit der Umfrage eingeschlagen haben, ging nun nicht vom Artikel zur Gnose, sondern andersherum: Ihr habt einen dieser Knotenpunkte ausgewählt, und wir fragten als Autor für die Gnose über den Sowjetmenschen Benno Ennker (geb. 1944) an – einen Osteuropahistoriker mit Lehraufträgen in St. Gallen und Tübingen, der schon seine Doktorarbeit zum Thema Leninkult geschrieben hat. Wir konnten uns sicher sein, dass der Wissenschaftler das Thema sowohl mit Leidenschaft als auch mit nötiger Distanz beleuchten wird. Außerdem haben wir zur Gnose einen Artikel gefunden – den wir Euch morgen präsentieren werden. 

    Dekodieren, das hieß in diesem Fall: In Zusammenarbeit mit dem Autoren zerlegten wir die so vielfältige Chiffre des Sowjetmenschen in ihre Einzelteile, übersetzten ihren Kontext und fügten alles zu einer systematischen, gut verständlichen Analyse zusammen.

    Der Sowjetmensch ist einer der zentralen Bezugspunkte, mit denen wir Russland entschlüsseln können. So eröffnet die Gnose viele neue Blickwinkel innerhalb unseres „Gnosmos“: etwa zum Begriff des Liberalen, der im Russischen schon seit Sowjetzeiten eine negative Bedeutung hat. Auch der Anpassungsdruck der Kommunalka – einer Lebensform der Sowjetmenschen im Kleinen – lässt sich besser verstehen, wenn man den Anpassungsdruck auf den Sowjetmenschen im Großen kennt.

    Schon bald werden wir außerdem zeigen, wie die Kraft der Rockmusik daran mitwirkte, den Mythos über diesen Idealmenschen ins Wanken zu bringen. Wir werden uns auf den Sowjetmenschen beziehen, wenn wir Euch bald den großen Unterschied zwischen Russen und Russländern präsentieren. Deshalb möchten wir Euch für Eure Auswahl danken!

    Wenn Ihr Euch durch den dekoder „Gnosmos“ klickt, werdet Ihr außerdem viele weitere solcher Bezüge, Querverweise und Ergänzungen entdecken.

    Wir wünschen Euch viel Freude beim Lesen,

    Eure dekoder Gnosenredakteure
    Anton Himmelspach und Leonid A. Klimov

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  • Irina Jarowaja

    Irina Jarowaja

    Was Medienpräsenz und das Durchbringen von Gesetzesinitiativen angeht, macht ihr so schnell keiner was vor: Irina Jarowaja ist als einzige Abgeordnete gleich in beiden Kategorien unter den Top Ten aller 450 Duma-Parlamentarier der Legislaturperiode 2011 bis 2016.1 Als Hardlinerin gilt sie spätestens seit ihrer jüngsten Initiative, das Anti-Terror-Paket zu ändern – mit voraussichtlich massiven Auswirkungen auf die Meinungs- und Informationsfreiheit. Die Verabschiedung des sogenannten Jarowaja-Pakets war zugleich ein Paukenschlag, mit dem die VI. Duma ihre Arbeit im Juni 2016 beendete und sich in die Sommerferien verabschiedete.

    Wer ist diese Frau, die ihre politische Karriere bei der liberalen Partei Jabloko begann und deren Name nun mit einem der restriktivsten Gesetzespakete Russlands verbunden ist?

    Foto © Wikipedia über CC BY 4.0
    Foto © Wikipedia über CC BY 4.0

    Zwei explizite Altersangaben stechen in Irina Jarowajas (geb. 1966) Biographie auf der Homepage von Einiges Russland2 hervor: dass sie „mit 28 Lebensjahren“ stellvertretende Staatsanwältin und mit 29 Jahren bereits Chefin der Untersuchungsabteilung der Staatsanwaltschaft wurde. Alle weiteren Angaben zu ihrem rasanten Aufstieg folgen dann wieder einem streng chronologischen Muster nach Jahreszahlen.

    Politische 180-Grad-Wende

    Die steile Karriere der jungen Juristin brachte ihr alsbald auch einen Abgeordnetensitz im Rat der Oblast Kamtschatka ein, wo sie sich der liberalen Partei Jabloko anschloss und zugleich den Fraktionsvorsitz übernahm. Aus dieser Zeit, die auf der Homepage übrigens ohne den Verweis auf Jabloko auskommt, sind enge Kontakte zu Michail Chodorkowskis Stiftung Open Russia überliefert. Jarowaja hat sich außerdem als eine scharfe Kritikerin der Partei Einiges Russland hervorgetan.3  Nach ihrer eigenen Angabe hat sie diese Kritik auch in der Staatsduma geäußert, doch waren alle ihre Versuche, als Jabloko-Abgeordnete einen Sitz in der Volkskammer zu bekommen, erfolglos. Erst mit einer 180-Grad-Wendung – ihrem Übertritt  in die Machtpartei Einiges Russland Ende 2007 – erreichte die zweifache Mutter ihr Ziel und wurde Dumaabgeordnete. Fragen zu und Kritik an diesem Bruch in ihrer politischen Biographie ließ sie unbeantwortet, auch zu dem Vorwurf, dass sie solche Parteiübertritte zuvor selbst kritisiert hätte, schwieg sie.

    Im Konservativ-Patriotischen Klub

    Die radikale Kehrtwende der neuen Abgeordneten wurde im Jahr 2008 deutlich: Jarowaja trat dem Konservativ-Patriotischen Klub bei – einer Dachorganisation innerhalb der Partei Einiges Russland – und übernahm gleich darauf die Leitung dieser Parteiströmung. Vor diesem Hintergrund zeichnete sie für über 70 Gesetzesvorlagen (mit-)verantwortlich und trug somit wesentlich zu einem Rekord bei: Die V. Duma hat in den Jahren 2007 bis 2011 über anderthalbtausend Gesetze verabschiedet4, was ihr den sarkastischen Beinamen des „verrückten Druckers“ einbrachte.

    Agentengesetz und Anti-Terror-Paket

    Kurz nach Beginn der Proteste gegen die Fälschungen bei der Dumawahl 2011 wurde Jarowaja zur Leiterin des parlamentarischen Ausschusses für Sicherheit und Korruptionsbekämpfung ernannt. In dieser Eigenschaft geißelte sie die Proteste als „Selbstzweck“ und als „Farce der Chamäleons“.5
    Ihren Ruf als Hardlinerin erarbeitete sie sich mit der anschließenden Ko-Autorschaft des NGO-„Agentengesetzes“. Mit dessen Verabschiedung im Juli 2012 wurde der Name Jarowaja zu einem Synonym für die autoritäre Konsolidierung Russlands. Zum „Gesicht der Partei, Symbol der abschließenden VI. Legislaturperiode [der Duma]“6 wurde sie aber erst nach der Annahme eines von ihr initiierten Änderungsgesetzes im Juni 2016: Das Anti-Terror-Paket trägt seit der Bekanntmachung des Entwurfs inoffiziell ihren Namen – Jarowaja-Paket beziehungsweise -Gesetz.

    Der Entwurf wurde nach dem Absturz eines russischen Ferienfliegers über Ägypten und im Zuge der Terror-Anschläge in Paris initiiert. Das Paket sieht restriktive Neuerungen sowie einzelne Änderungen in der Extremismus- und Terrorbekämpfung vor: So soll es unter anderem eine Anzeigepflicht für alle als terroristisch beziehungsweise extremistisch eingestuften Straftaten geben, bei Unterlassung droht bis zu einem Jahr Haft. Die Strafmündigkeit soll in dem Zusammenhang auf 14 Jahre herabgesenkt werden. Außerdem ist eine massive Vorratsdatenspeicherung und Internetkontrolle geplant.7

    Kritiker der Novelle bemängeln, dass die Umsetzung des Jarowaja-Pakets die Bürger-Staat-Beziehungen auf eine neue Ebene heben wird. Bürger werden demnach zu informellen Staatsbediensteten, die indirekt verpflichtet sind, für Recht und Ordnung zu sorgen.8 Die Anzeigepflicht bedeutet individuelle Verantwortung für alle extremistischen Straftaten, die im Vorfeld hätten bemerkt werden können. Da der Begriff des Extremismus dabei allerdings einer weit gefassten Logik folgt, kann das Paket eine Welle von Denunziationen auslösen.

    Einzelne Oppositionspolitiker vergleichen das  Paket deswegen mit den Kontrollmechanismen aus Orwells Roman 19849 und erwarten von der VII. Duma weitere Schritte der autoritären Konsolidierung. Der Name Jarowaja jedenfalls steht auf der Wahlliste in der ersten Gruppe, an erster Stelle.10


    1. Noch nicht veröffentlicht, zum Überblick: Ekaterina Šul‘man: Facebook-Post vom 28. Juni 2016 ↩︎
    2. Edinaja Rossija: Jarovaja Irina Anatol‘evna ↩︎
    3. slon.ru: Oborotni s mandatom: Otkuda berutsja edinorossy ↩︎
    4. Ria Novosti: Gosduma pjatogo sozyva: rekord po čislu zakonov i skandalov ↩︎
    5. patriotplatform.ru: Irina Jarovaja: Malo kto chotel idti za liderami „farsa chameleonov“ ↩︎
    6. So die Charakterisierung der Politikwissenschaftlerin Ekaterina Šul‘man auf Echo Moskvy ↩︎
    7. Einen Überblick über das gesamte Paket bietet u. a. Meduza: «Paket Jarovoj» prinjat: I ėto očen‘ plocho ↩︎
    8. lenta.ru: Dembel‘skij paket: Kak izmenitsja žizn‘ rossijan posle vstuplenija v silu popravok Jarovoj ↩︎
    9. So bspw. Dimitri Gudkow auf Kommersant: «Zakon pridetsja proignorirovat‘, esli chočeš‘ žit‘» ↩︎
    10. Edinaja Rossija: Spiski partii „Edinaja Rossija“ na vyborach v Gosdumu VII sozyva ↩︎

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