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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Jewgeni Prigoshin

    Jewgeni Prigoshin

    Was ist der Unterschied zwischen einem Staat und einer Räuberbande? Diese Frage hat der Philosoph Augustinus im 5. Jahrhundert gestellt. Seine Antwort gehört zu den geläufigsten politikwissenschaftlichen Abgrenzungen: Es ist das Recht, was einen Staat ausmacht, eine Räuberbande steht vor allem für Willkür.

    Im Rechtsstaatlichkeits-Ranking von The World Justice Project besetzt Russland 2022 Platz 107 von 140. Viele wissenschaftliche und journalistische Stimmen beschreiben das System Putin seit über anderthalb Jahrzehnten als eine Art Selbstbedienungsladen für die politische Elite: Die innere Stabilität dieser Kleptokratie würden zwar bestimmte ponjatija gewährleisten – eine aus dem Kriminellenjargon entlehnte Formel für einen informellen Verhaltenskodex. Nach Außen agiere das System jedoch oft in der rechtlichen Grauzone oder schlicht als ein Willkürregime. Aus dieser Logik heraus kann man auch den Aufstieg von Jewgeni Prigoshin erklären – und sein Ende.

    Eigentlich ahndet das russische Strafgesetzbuch Söldnertum und Existenz privater Militärfirmen mit bis zu 15 Jahren Haft. Gefragt nach dem berüchtigsten Militärunternehmen Russlands sagte auch Wladimir Putin bei einer Pressekonferenz 2018: „Was Wagner angeht – […] alles muss im Rahmen des Gesetzes bleiben“.1 

    Zu dieser Zeit sind russische Söldner der Gruppe Wagner laut zahlreichen Hinweisen an den Kriegen in der Ostukraine, in Syrien, im Sudan und in der Zentralafrikanischen Republik beteiligt. Und der russische Unternehmer Jewgeni Prigoshin geht genauso wenig auf die Gerüchte ein, dass er der Gründer, Eigentümer und Leiter dieses Militärunternehmens sei, wie auch auf die Gerüchte, dass er hinter der sogenannten Trollfabrik stecke. Diese Hinweise liefern unter anderem offenbar auch2 US-amerikanische Geheimdienste, so dass die USA im Februar 2018 den Vorwurf gegen Prigoshin erheben, dass seine Unternehmen die US-Wahl 2016 manipulierten.3

    Schon seit Dezember 2016 steht Prigoshins Name auf einer US-Sanktionsliste, seit 2017 auch seine weiteren Unternehmen, wegen Beteiligung am Krieg im Osten der Ukraine. Auf dieselbe Liste kam 2017 auch die Gruppe Wagner. Im Februar 2023 hat die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft außerdem ein Ermittlungsverfahren wegen Kriegsverbrechen gegen Prigoshin eingeleitet. 

    Putins Koch, Kriegsverbrecher, Trumps Königsmacher, Russlands Cheftroll, -Propagandist, -Desinformator? Die Liste der Zuschreibungen und Vorwürfe an Prigoshin ist lang. Dabei waren seine Machenschaften lange Zeit ziemlich undurchsichtig, und erst im Zuge des russischen Überfalls auf die Ukraine wurde Prigoshin wirklich zu einem öffentlichen politischen Akteur.

    „Koch“

    Es ist offenbar ein unternehmerisch kluger Schritt von Jewgeni Prigoshin (geb. 1961), als er 1990 den – laut Eigenaussage – ersten Hotdog-Stand Leningrads aufmacht. Das Geschäft läuft, in kürzester Zeit betreibt Prigoshin schon eine kleine Hotdog-Kette, hinzu kommen später eine Supermarktkette und Restaurants. 

    Dabei ist der Jungunternehmer 1990 erst seit zwei Jahren aus dem Gefängnis raus: 1979 wurde er wegen Diebstahl zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt, 1981 wegen Diebstahl, Raub und Betrug zu 13 Jahren Haft. Angeblich soll Prigoshin laut Eigenaussage in den 2000er Jahren rehabilitiert worden sein, dass er deshalb aber wirklich eine weiße Weste habe, ist allerdings zweifelhaft.4 

    Fest steht jedenfalls, dass Prigoshin 1988 begnadigt wird, 1990 ist er wieder in Leningrad, wo er angeblich Wladimir Putin kennenlernt, der in der Stadtverwaltung unter anderem für Glücksspiel-Lizenzen zuständig ist. Prigoshin engagiert sich auch im Casino-Business, und dem soll die frische Männerfreundschaft mit Putin förderlich sein. Jedenfalls isst Putin oft in Prigoshins Restaurants, und aus dem Wirt wird alsbald ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann. Er baut einen Catering-Service auf, betreibt prestigeträchtige Wirtshäuser und das Schiffrestaurant New Island, wo Putin unter anderem mit George Bush und Gerhard Schröder speist. Im Restaurant Staraja Tamoshnja, das ebenfalls Prigoshin gehört und als eine der ersten Adressen Sankt Petersburgs gilt, feiert Putin seine Geburtstage, Prigoshin betreibt das einzige private Restaurant im russischen Weißen Haus und hat seinen Spitznamen weg – Putins Koch.

    „Troll“

    Den Grundstein für seinen zweiten Spitznamen soll Prigoshin bereits zu jener Zeit gelegt haben, als der Begriff Trolling noch gar nicht richtig geläufig ist. 2011 beklagen sich Eltern aus Sankt Petersburg und Moskau im Netz über das Schulessen ihrer Kinder. Prigoshins mit Catering beauftragte Mischholding Concord steht am Pranger. Laut Recherchen engagiert der Gastronom daraufhin Trolle, die das Netz mit Lobliedern auf das Schulessen fluten. Das Prinzip funktioniert – die kritischen Kommentare der Eltern werden entweder auf die Schippe genommen oder gehen einfach in der Flut unter. Concord Catering wird zum Quasi-Monopolisten für Schulessen in Russlands Hauptstädten und sorgt auch für über 90 Prozent der Verpflegung russischer Streitkräfte.5 

    Rund zwei Jahre nach dem Vorfall mit dem Schulessen wird zum ersten Mal über die sogenannte Trollfabrik gemunkelt. Vor dem Hintergrund des Euromaidan nimmt sie mutmaßlich unter dem Dach der Agentur für Internet-Recherchen in der Petersburger Uliza Sawuschkina Fahrt auf. 2015 wird die Agentur in Glawset unbenannt, laut Gerüchten soll diese „Nachrichtenagentur“ Teil einer Medienholding sein, die Jewgeni Prigoshin gehört. Sie heißt übersetzt Föderale Nachrichtenagentur (FAN), wurde 2014 gegründet und schaffte es innerhalb kürzester Zeit in die Top Ten der am meisten zitierten russischen Medien. Oft heißt die FAN schlicht Medienfabrik, laut einer investigativen Recherche von RBC ging sie aus der Trollfabrik hervor.6 

    Beobachter vermuten, dass diese Trollfabrik hinter den russischen Netz-Angriffen im französischen Wahlkampf steckte oder auch hinter der auffallenden Menge russlandfreundlicher Social-Media Kommentare zu Themen wie dem Krieg im Osten der Ukraine. Auch die Überflutung von Angela Merkels Instagram-Account im Jahr 20157 soll aus dem unscheinbaren Gebäude an der Uliza Sawuschkina in Sankt Petersburg erfolgt sein. Da die FAN keine Gewinne erwirtschaftet, gilt sie Vielen als eine „patriotische Holding“, ein ehemaliger FAN-Redakteur meinte: „Gewinn wird nicht immer dort gemacht, wo auch Inhalte gemacht werden.“8 Sprich: Die FAN ist kein Medium im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr ein Propaganda- und Desinformationsinstrument.

    „Patriot“

    „Danke den geehrten amerikanischen Kameraden. Ich bin froh darüber, meiner Heimat nützlich zu sein.“9 Mit diesen Worten quittiert Prigoshin im Juni 2017 die US-Sanktionen gegen seine Unternehmen Concord Catering und Concord Management i Consulting wegen Beteiligung am russischen Krieg gegen die Ukraine. Gleichzeitig kommt auch die Gruppe Wagner auf die US-Sanktionsliste, Prigoshin streitet jede Beziehung zu der Söldnertruppe jedoch weiterhin ab. 

    Mit dem großflächigen Überfall Russlands auf die Ukraine klingen die Dementis jedoch zunehmend halbherziger, und Ende September 2022 veröffentlicht die Presseabteilung der Firma Concord auf VKontakte einen Kommentar von Prigoshin: „2014, als der Genozid an der russischen Bevölkerung im Donbass begann […] und ich wie so viele Unternehmer eine Gruppe zusammenstellen wollte, die Russen schützt, […] habe ich selber alte Waffen gereinigt und Experten gesucht. […] Von diesem Moment an, am 1. Mai 2014, wurde eine Gruppe von Patrioten geboren, die später den Namen Wagner erhielt.“10

    Wegen der Hinweise auf Prigoshins Trolltätigkeit lässt es sich über diese Aussage wohl genauso spekulieren, wie darüber, ob bzw. weshalb Putin den mutmaßlichen Söldnerchef zeitnah tatsächlich mit weitreichenden Vollmachten für den Krieg ausstattet. Da die regulären Streitkräfte bei ihrer Invasion in die Ukraine seit Monaten verheerende Niederlagen kassieren, wird darüber gemunkelt, dass der Verteidigungsminister Sergej Schoigu bei Putin in Ungnade gefallen sei. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, warum manche Beobachter glauben, dass Prigoshins Stern etwa ab September 2022 aufgestiegen sei.11 Prigoshin wird jedenfalls zu einer Art Gesicht des Krieges, ihm zugeschriebene und andere Propaganda-Organe preisen seine Söldnertruppe als heldenhaft und effektiv. In Wirklichkeit gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass sie massive Kriegsverbrechen verübt, dabei aber immer weniger nennenswerte Kriegserfolge erzielt.12

    „Kanonenfutter“

    TschWK Wagner wirbt landesweit um Rekruten, Prigoshin rekrutiert allem Anschein nach selbst Insassen von Haftanstalten und verspricht ihnen Begnadigung13 (das Begnadigungsrecht übt in Russland der Präsident aus). Laut zahlreichen Analysten besteht die Kriegstaktik der Gruppe Wagner aus Artilleriefeuer und Frontalangriffen, die Söldner seien Kanonenfutter. Es gibt Hinweise auf Hinrichtungen von Deserteuren, „das ist ein sehr zynisches und unmenschliches System. […] man rekrutiert tausende Söldner und überlässt sie ihrem Schicksal. Wenn sie sterben – umso besser“, sagt Militärexperte Pawel Lusin. 

    Mit der Rekrutierung baut Prigoshin zunehmend auch seine Medienpräsenz aus: Er brüstet sich auf seinen und anderen staatsnahen Propagandakanälen mit den angeblichen Erfolgen von Wagner, spricht vor Kamera mit Söldnern, keift auf Telegram gegen die regulären Truppen des Verteidigungsministeriums, kritisiert öffentlich den Chef des Generalstabs der Streitkräfte Waleri Gerassimow, lanciert eine Kampagne gegen den Generaloberst Alexander Lapin, trollt Ende 2022 den Ex-Präsidenten Dimitri Medwedew: Dieser habe bei seinen Visionen der wirtschaftlichen Zukunft Russland „erotische Fantasien“.14 

    Im Januar 2023 ernennt Putin Gerassimow jedoch zum Oberbefehlshaber über die russischen Kriegstruppen, Lapin wird zum Chef des Generalstabs des Heeres befördert, einen Monat später übernimmt das Verteidigungsministerium die exklusive Anwerbung von Gefängnisinsassen. Damit stärkt Putin Prigoshins Gegner und die regulären Streitkräfte, auch andere Hinweise deuten darauf hin, dass Prigoshins Stern seit Dezember 2022 untergeht.15

    „Marsch der Gerechtigkeit“

    Ist Putin ein gefährlicher Konkurrent erwachsen?16 Hat sich die Gruppe Wagner als genauso ineffektiv erwiesen wie die regulären Streitkräfte?17 

    Über Putins Motive wird viel spekuliert, auch Prognosen hinsichtlich Prigoshins Zukunft sind Thema. Manche glauben schon im Februar 2023, dass Prigoshin nicht eines natürlichen Todes sterben wird: Elitenkonflikte seien in Putins Mafia-Staat systemisch, die russische Kleptokratie habe keinen Verbrecherkodex, das Willkürregime fresse sich selbst von Innen auf.18 Andere Beobachter sehen dagegen doch bestimmte innere Logiken des Regimes: Prigoshin habe sich bei den regulären Streitkräften unbeliebt gemacht und damit einen Loyalitätskonflikt provoziert. Denn für die Soldaten galt Prigoshin als ein Mann Putins, wenn dieser aber Kampagnen gegen das Verteidigungsministerium lanciert, dann erweckt das den Eindruck, dass die regulären Streitkräfte in Ungnade gefallen sind. Das Prinzip „teile und herrsche“ ist dabei offenbar an seine Grenzen gestoßen, letztendlich habe Putin die Stabilität seiner sogenannten Machtvertikale gefährdet gesehen und musste Prigoshin zurückpfeifen – was aber nicht heiße, dass Prigoshin eines Tages nicht doch noch eine zweite Chance bekommen wird.19 

    Mit Prigoshins sogenanntem „Marsch der Gerechtigkeit“ auf Moskau am 23. und 24. Juni 2023 wurde dieses Szenario jedoch unwahrscheinlicher: Der Aufstand der Wagner-Gruppe zeigte, dass der Präsident den Söldnerchef offensichtlich nicht mehr zurückpfeifen konnte.

    Bei seinem „Marsch“ sagte Prigoshin Dinge, für die Oppositionelle in Russland viele Jahre Haft bekommen würden: Weder die Ukraine noch die NATO hätten eine Bedrohung für Russland dargestellt. Der Krieg sei nur begonnen worden, „weil ein paar Typen sich aufplustern wollten“. 

    Putin reagierte in einer Videobotschaft: „[…] womit wir es hier zu tun haben, ist Verrat. Unverhältnismäßige Ambitionen und persönliche Interessen haben zum Betrug geführt“. Am 29. Juni soll Putin offiziellen Angaben zufolge Prigoshin im Kreml empfangen haben. Angeblich hat er dem Wagner-Chef Sicherheitsgarantien gegeben. Am 23. August ist ein Flugzeug abgestürzt, in dem Prigoshin gesessen haben soll. Kaum ein Beobachter hat darin einen Unfall erkannt.


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  • Podcast #4: „Auf Sklavenjagd“

    Podcast #4: „Auf Sklavenjagd“

    In der rassistischen und menschenverachtenden Ideologie der Nazis galten die Menschen aus der Sowjetunion als „Untermenschen“. Antislawismus vermischte sich dabei mit Zynismus: Einige der rund drei Millionen verschleppten Zwangsarbeiter mussten Waffen herstellen, mit denen Menschen in ihrer Heimat getötet werden sollten. 

    Der Einsatz von sogenannten „Ostarbeitern“ in der deutschen Kriegswirtschaft ist Thema des Podcasts von ХЗ: Julia Boxler, Ani Menua und Helena Melikov befragen für dekoder die Historikerin Ksenja Holzmann zum Schicksal der zivilen Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion.  



     

    Zum Weiterlesen:

    „Den Hass haben wir von den deutschen Soldaten gelernt“

    Russlands Jugend und der Zweite Weltkrieg

    „Weißt du, da war Krieg“

    Veröffentlicht am 07.05.2021

    Die Entstehung dieses Podcasts wurde gefördert mit Mitteln der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« (EVZ)

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    „Ostarbeitery“ – Warum wir uns erinnern müssen

  • Nord Stream 2

    Nord Stream 2

    Putin könne nach Belieben jederzeit den „Gashahn zudrehen“, seine „Gaswaffe zücken“, Deutschland zu einer „Geisel Moskaus“ machen: Diese Argumente gegen eine russische Gas-Pipeline sind schon nahezu 20 Jahre alt. In der damaligen Debatte über Nord Stream (NS1) hielten die Gegner der Pipeline den Gasunternehmen die steigende Abhängigkeit Europas von Russland entgegen. Dadurch, so die Argumentation, würde der Anteil russischen Gases auf dem westeuropäischen Gasmarkt steigen, Nord Stream-Eigner Gazprom könne zum dominanten Akteur auf dem europäischen Gasmarkt werden, der Kreml könne die EU unter Druck setzen und erpressen. Die Gasunternehmen erwiderten damals, dass Russland von Gasexporten stärker abhängig sei, als die EU von den -importen, außerdem sei Gas in freien Marktwirtschaften grundsätzlich eine Ware und kein Politikum. Kurzum: Der Eingriff in die Baupläne sei Dirigismus.

    Wie in dem Film mit dem Murmeltier wiederholten sich diese Argumente auch beim Bau von Nord Stream 2 (NS2): Diese Pipeline sollte nahezu parallel zu dem bereits bestehenden 1224 Kilometer langen Pipeline-Strang von Wyborg, zwischen Sankt Petersburg und der finnischen Grenze, nach Lubmin bei Greifswald verlaufen. Schon Ende 2019 sollte sie zusätzliche 55 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr von Russland nach Deutschland transportieren. 

    Das Projekt war jedoch von Anfang an mit massiven Unwägbarkeiten behaftet, die eine Umsetzung in Frage stellten. Vor allem die im Dezember 2019 in den USA beschlossene Strafandrohung gegen die am Bau beteiligten Unternehmen1 galt für viele Experten als der endgültige Todesstoß für Nord Stream 2.2 Der Baustopp schien damit erzwungen. 

    Schließlich forderten zahlreiche deutsche Politiker nach der Nowitschok-Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny im August 2020 von der Bundesregierung einen offiziellen Baustopp für Nord Stream 2. Im Juli 2021 vereinbarten die USA und Deutschland zunächst die NS2 fertigzustellen, ohne unter die US-Sanktionen zu fallen. Wegen des zu erwartenden russischen Überfalls auf die Ukraine stoppte die Bundesregierung zwei Tage vor Kriegsbeginn im Februar 2022 schließlich die Inbetriebnahme. 

    Der scharfen Kontroverse um die NS2 geht eine lange Streitgeschichte voraus – die sich immer wieder auch um eine Frage dreht: Nord Stream 2 – geht es bei Gasgeschäften mit Russland um eine Ware oder um ein Politikum? 
    So sorgten schon die im Juli 2017 beschlossenen US-Sanktionen3 gegen Russland für Aufregung in Deutschland: Der damalige Außenminister Sigmar Gabriel sagte, dass „die Sanktionen auch dazu dienen sollen, die Russen vom europäischen Gasmarkt zu verdrängen. Die Amerikaner wollen amerikanisches Gas in Europa verkaufen, damit amerikanische Jobs sichern und würden so unliebsame Wettbewerber los“4.
    Matthias Warnig, Chef des NS2-Projekts und Gazprom-Lobbyist, warnte vor den Folgen: „Sollten die Sanktionen tatsächlich so kommen, hätte das eklatante Auswirkungen auf die gesamte Öl- und Gasversorgung.“5

    Wechselnde Fronten?

    Die staatsnahen russischen Medien vermittelten damals den Eindruck, dass die EU mit ihrer Ablehnung der US-Sanktionen automatisch für NS2 eintritt, ganz nach dem Motto: „der Feind meines Feindes ist mein Freund“. Dabei sprachen Vertreter der EU-Kommission schon zuvor mehrmals von NS2 als einem Projekt, das sich gegen ihre Diversifizierungspolitik und damit gegen einen wettbewerbsfähigen und transparenten EU-Gasmarkt richte.6
    Vor allem Polen und die baltischen Staaten protestierten gegen die Pipeline mit der Begründung, dass NS2 eine Bedrohung sowohl für die EU-Energiesicherheit als auch für die politische Sicherheit einzelner EU-Mitgliedstaaten darstelle. 2006 hatte der polnische Verteidigungsminister Radoslaw Sikorski schon den ersten Strang ausladend mit dem Ribbentrop-Molotow-Pakt verglichen, und auch bei NS2 warf Polen Deutschland Energie-Egoismus vor. 
    Daneben gab es auch pragmatische Bedenken: Die Wettbewerbsfähigkeit von neuen Terminals für LNG (Flüssigerdgas) in Polen und Litauen würde durch NS2 verschlechtert, so die Argumentation.7

    Gasmarkt im Wandel

    Hinzu kam der sich wandelnde Gasmarkt: Verursacht durch ein Überangebot an Flüssigerdgas war von 2015 bis etwa 2021 ein Rückgang der Gaspreise auf den Weltmärkten zu beobachten. Im Jahr 2018 stieg die weltweite LNG-Produktion um 22 Millionen Tonnen an, 2019 hat sich der Zuwachs mehr als verdoppelt. Laut Einschätzung von Rohstoffexperten kann LNG in den nächsten Jahren zu einem ernsthaften Konkurrenzprodukt für konventionelles Pipeline-Gas werden. Auch die – als Schiefergas gewonnenen – Überschüsse auf dem US-amerikanischen Markt könnten dazu beitragen, dass die Bedeutung von starren Pipeline-Systemen abnimmt. Viele Faktoren spielen da eine Rolle – unter anderem die politische Situation bei (potentiellen) LNG-Exporteuren wie Katar oder Iran – insgesamt werden sich die weltweiten Gasmärkte mittelfristig aber stark wandeln, so die Einschätzung.8

    Milliardengrab?

    Vor diesem Hintergrund drohte das rund 9,5 Milliarden US-Dollar teure Projekt NS2 bereits in der Bauphase zu einer Risikoanlage zu werden. Schon seit etwa 2015 kritisierten einige Experten die systematischen Fehlinvestitionen von Gazprom: Die starren Pipeline-Systeme seien zu teuer und könnten mittelfristig nicht mehr mit LNG konkurrieren, so die Argumentation, die einige am Beispiel der Pipeline Sila Sibiri bekräftigen: Das Großprojekt von Gazprom transportiert seit Dezember 2019 Erdgas in die Länder des pazifischen Raums. Es soll länger als 30 Jahre dauern, bis die Kosten der Pipeline wieder eingespielt sind.9 

    Angesichts solcher Misserfolge spekulierte Gazprom vermutlich darauf, dass die Nord Stream AG, die zu 51 Prozent Gazprom gehört, sich mit NS2 eine marktbeherrschende Stellung in Deutschland erarbeitet – und neuen Anbietern so den Markteintritt erschwert. Unter anderem wäre dann LNG aus den USA unter bestimmten Voraussetzungen nicht konkurrenzfähig – auch weil Deutschland dafür zuerst ein teures LNG-Terminal bauen müsste.

    Diese Rechnung schien aber nur zum Teil aufzugehen: Noch vor Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gelan es Gazprom immer seltener, Abnehmer wie E.On und EnBW durch langfristige Lieferverträge zu binden. Denn mit dem Rückgang der Gaspreise sank bei Abnehmern im Westen das Interesse an solchen Langzeitverträgen.

    Handel schafft Frieden versus Energie-Egoismus

    NS2-Befürworter ließen dieses Szenario eines Preisverfalls meist außer Acht und argumentierten, dass das NS2-Erdgas für die deutschen Verbraucher preiswerter wäre als LNG aus den USA.10 Damit könnten außerdem sowohl der Ausstieg aus der Kernenergie kostengünstiger abgefedert als auch die gesteckten CO2-Ziele effizienter erreicht werden. Deutschlands Stellung als Transitland und Drehscheibe für Gas würde gestärkt, die nationalen Anbieter hätten im innereuropäischen Wettbewerb bessere Karten. 

    Hinzu kam das Argument „Handel schafft Frieden“: Mehr gegenseitige Abhängigkeit zwischen Russland und Europa könne in Russland einen politischen Wandel bewirken und damit die seit der Krim-Angliederung schwelenden politischen Spannungen zwischen den Handelspartnern mildern, so die Argumentation.

    Die Kritiker von NS2 hielten dem entgegen, dass der Marktanteil russischen Gases auf dem deutschen Gasmarkt durch NS2 von rund 37 Prozent auf rund 60 Prozent steigen könnte.11 Gazprom hätte dann eine sehr dominante Marktstellung. 
    Außerdem verwiesen die NS2-Gegner darauf, dass eine verwirklichte Pipeline die gemeinsame europäische Energiepolitik infrage stelle: NS2 untergrabe die Entwicklungspläne eines einheitlichen Energiebinnenmarkts der EU und könnte damit die gesamte europäische Energieversorgungssicherheit gefährden. 

    Tatsächlich hatte NS2 kaum eine der Anforderungen der EU für den Gasbinnenmarkt erfüllt: So ist die Pipeline eigentumsrechtlich nicht entflechtet, Netz und Vertrieb sollten vielmehr aus einer Hand kommen. Um diese Hürde zu überwinden, hätte Gazprom zunächst einen Pipeline-Betreiber schaffen müssen, den auch die Bundesnetzagentur als unabhängig (von Gazprom) hätte einstufen müssen. Außerdem hätte dann auch die Europäische Kommission die Einhaltung der EU-Vorschriften überwachen müssen: unter anderem, ob Gazprom den Zugang zur Pipeline für Dritte garantiert und transparent arbeitet, insbesondere im Hinblick auf die Versorgungssicherheit. 

    Erzwungener Baustopp 

    Allein diese Anforderungen der EU hätten im Grunde schon das Aus für das NS2-Projekt bedeuten können. Ausschlaggebend für den zwischenzeitlich erzwungenen Baustopp von Dezember 2019 bis Juli 2021 waren jedoch die Sanktionen, die die USA im Dezember 2019 angedroht hatten: Für nahezu alle Beteiligungen an der Fertigstellung sahen diese gravierende Strafmaßnahmen vor. Damit schien das Projekt am Ende, das Risiko unter die US-Sanktionen zu fallen, war für die Beteiligungsunternehmen zu hoch.

    Tatsächlich unterzeichnete Gazprom im Dezember 2019 einen neuen Transitvertrag mit der Ukraine, der bis 2024 laufen sollte.12 Manche russische Analysten, wie etwa Michail Krutichin werteten den Vertrag damals als Eingeständnis, dass Gazprom selbst immer weniger mit der Fertigstellung von NS2 rechnete. Angesichts aller Unwägbarkeiten bei NS2 konnte Gazprom nur noch eine einzige Hoffnung haben: Dass die Bundesregierung das Projekt weiter verfolgt – trotz der EU-Anforderungen für den Gasbinnenmarkt auf der einen und der US-Sanktionen auf der anderen Seite. Noch Ende August 2020 hat sich Kanzlerin Angela Merkel für eine Fertigstellung der Gaspipeline ausgesprochen.

    Über die Gründe für die strikte Haltung der Kanzlerin wurde viel spekuliert. Manche Beobachter betonten, dass der Anlandungspunkt der Gasleitung in Merkels Wahlkreis liegt, andere machten darauf aufmerksam, dass die Lobbyarbeit der beteiligten europäischen Unternehmen Uniper, Wintershall Dea, OMV, Engie und Royal Dutch Shell schon immer besonders effektiv gewesen sei. Schließlich, so eine These, die mit dem erwähnten Argument von Sigmar Gabriel verwandt ist, wollte sich Merkel die Einmischung der USA verbieten.13 Bei einem offiziellen Baustopp hätten der Bundesregierung auch immense Schadensersatzforderungen durch die am Bau beteiligten Unternehmen drohen können.

    Kehrtwenden

    In diesem Spannungsverhältnis quer durch die Interessen von europäischen und US-amerikanischen Unternehmen, von nationaler und gesamteuropäischer Souveränität sowie Aspekten der Versorgungssicherheit, platzte Anfang September 2020 die Nachricht, dass Merkel die Zukunft von NS2 wegen des Falls Nawalny offen lässt. Im Juli 2021 folgte jedoch die Kehrtwende: In Verhandlungen beschlossen Angela Merkel und Joe Biden, dass der Weiterbau von Nord Stream 2 nicht mehr mit US-Sanktionen geahndet würde. Deutschland sollte sich im Gegenzug für eine zehnjährige Verlängerung des 2024 auslaufenden Transitvertrages durch die Ukraine einsetzen und finanzielle Hilfe beim Ausbau erneuerbarer Energien in der Ukraine leisten. Zudem sollte Deutschland Sanktionen gegen Russland verhängen, wenn Gazprom die NS2 als politisches Druckmittel einsetzt.
    Die Ukraine und Polen haben die Einigung scharf kritisiert: Sie sei vage formuliert und schaffe politische und wirtschaftliche Bedrohungen für die Ukraine und Mitteleuropa. Auch in den deutschen Medien wurde die Vereinbarung kontrovers diskutiert: Während manche begrüßten, dass man so eine Investitionsruine auf dem Grund der Ostsee abgewendet habe, kritisieren andere, der Vertrag gehe zu Lasten der Ukraine. Außerdem seien die Kapazitäten der vorhanden Pipelines aus Russland sowieso bislang nicht ausgeschöpft.

    Befürworter des Projekts betonten demgegenüber, dass Erdgas in den nächsten Jahren zunehmend zu einer Übergangstechnologie werde: Auch wegen des Kohle- und Atomausstiegs wird die Nachfrage nach Erdgas in der EU steigen. Ohne die NS2 wäre das Risiko für die künftige Versorgungssicherheit zu hoch, so die Argumentation.

    Im Zuge des russischen Überfalls auf die Ukraine verstummten in Deutschland jedoch die meisten Stimmen der Befürworter des Projekts, nur noch wenige Politiker wie Sahra Wagenknecht, Alice Weidel oder Wolfgang Kubicki brachen dafür die Lanze. Die Bundesregierung stoppte am 22. Februar 2022 das Zertifizierungsverfahren für NS2, Russland lieferte anschließend deutlich weniger Erdgas nach Westeuropa, und Gazprom berief sich dabei auf „höhere Gewalt“ oder „Wartungsarbeiten“. Zahlreiche europäische Politiker hielten dies für Vorwände und Druckmittel, mit denen der Westen gezwungen werden sollte, die wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine verhängten Sanktionen zurückzunehmen. Für sie war also offenbar klar, dass Gas aus Russland nicht bloß eine Ware ist. Ende September 2022 schlugen offenbar drei von vier Strängen beider Pipelines schließlich Leck – die EU geht von Sabotage aus.

    aktualisiert am 28.09.2022


    1. govtrack.us: National Defense Authorization Act for Fiscal Year 2020, S. 1790 ↩︎
    2. golos-ameriki.ru: Severnyj potok-2: krach ili koma? ↩︎
    3. Dieses Gesetz beinhaltete zunächst unter anderem eine weitgehend abstrakte Androhung, dass die USA Sanktionen gegen Unternehmen verhängen können. Im Juli 2020 konkretisierte die Trump-Regierung das Gesetz hinsichtlich des NS2-Projekts: Alle daran beteiligten Unternehmen sind damit von Strafmaßnahmen bedroht. congress.gov: H.R.3364 (2017-2018) – 115th Congress; state.gov: Updated Public Guidance for Section 232 of the Countering America’s Adversaries Through Sanctions Act (CAATSA) ↩︎
    4. Die Welt: Gabriel kritisiert Sanktionen scharf ↩︎
    5. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Gefahr für die gesamte Öl- und Gasversorgung ↩︎
    6. europa.eu: Kommission ersucht Mitgliedstaaten um Verhandlungsmandat für Nord-Stream-2-Vereinbarung mit Russland ↩︎
    7. Deutsche Welle: OPAL-Pipeline entzweit Polen und Deutschland ↩︎
    8. iea.org: Gas 2019: Analysis and forecasts to 2024; iea.org: Gas 2020; pwc.com: Navigating the transformation of the gas market – Adapting to survive in a period of change ↩︎
    9. vgl. news.ru: „Gazprom“ počti dostroil „Silu Sibiri“: Postavki gaza po magistral’nomu puti v Kitaj načnutsja v dekabre ↩︎
    10. Diese Argumentation wird durch Umfrage-Ergebnisse gestützt, die Forsa im Auftrag der Wintershall ermittelt hat und die im August 2017 veröffentlicht wurden. Demnach lehnten damals 83 Prozent der Deutschen die geplante Erweiterung der amerikanischen Wirtschaftssanktionen ab. Vgl. wintershall.com: Trump-Effekt? Deutsche wollen lieber Erdgas aus Russland als Flüssiggas aus den USA ↩︎
    11. Der Spiegel: Worum es im Gasstreit wirklich geht ↩︎
    12. Bundeszentrale für politische Bildung: Analyse: Vorübergehende Stabilisierung: Der russisch-ukrainische Vertrag zum Gastransit ↩︎
    13. ko.ru: „Severnyj potok – 2“: nakazat‘, ne nakazyvaja? ↩︎

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  • Sergej Sobjanin

    Sergej Sobjanin

    Der sowjetische Gassenhauer „Beste Stadt der Welt“ dröhnt aus den Lautsprechern, Menschen jubeln und halten Transparente mit der Aufschrift „Unser Bürgermeister“ hoch. Die Stimmung ist gut, obwohl einige der offiziell 50.000 Teilnehmer von ihren Arbeitgebern dazu eingespannt werden, an den Feierlichkeiten teilzunehmen.1 Der Event-Moderator ergreift das Mikro: „Unser Kandidat Sergej Sobjanin führt mit 56 Prozent. Heute ist ein doppelter Feiertag: Tag der Stadt und Tag des Wahlsiegs!“2

    Letztendlich gewinnt Sobjanin die Moskauer Bürgermeisterwahl 2013 mit rund 51 Prozent. Der unterlegene Oppositionspolitiker Alexej Nawalny kreidet schon kurz nach den Feierlichkeiten Wahlfälschungen an und versammelt seine Anhänger genau dort, wo Sobjanin tags zuvor seinen Triumph feierte – am Bolotnaja Platz.

    Der Amtsinhaber wählte diesen Ort wahrscheinlich nicht zufällig: Die Chiffre Bolotnaja steht schon seit fast zwei Jahren für die Proteste gegen Wahlfälschung. Schon während dieser Proteste stellte Sobjanin fest, dass Moskauer unzufrieden seien und Reformen wollten; er forderte eine „ernste Veränderung“ der Kommunikation mit der Bevölkerung und ihre Teilnahme an der Lokalpolitik.3

    Eine Bürgermeisterwahl später steht Sobjanin so gut da wie nie zuvor: 2018 gibt es bei der Wahl keine richtigen Konkurrenten, die Wahlbeteiligung bleibt aber dennoch auf gewohntem Niveau von rund 30 Prozent. Bolotnaja-Proteste sind Vergangenheit, und Sobjanin holt eines der landesweit besten Ergebnisse aller Gouverneurswahlen 2018: Etwa 70 Prozent stimmen für ihn. Gab es wirklich eine „ernste Veränderung“, oder worin besteht der Erfolg des Bürgermeisters – der in der Corona-Krise 2020 als „russischer Söder“ von sich Reden macht?

     

     


    Zum Zoomen mit dem Mausrad die Strg-/Ctrl-Taste gedrückt halten oder in den Vollbild-Modus wechseln. Quelle: ZIK

     

    In Moskau, so schreibt der Journalist und „noodleremover“ Alexej Kowaljow, gebe es praktisch keine Lokalmedien. Es komme zwar eine Vielzahl an Zeitungen und kostenlosen Anzeigenblättern raus, auch Fernsehkanäle gebe es und Onlinemedien; dem überwiegenden Großteil von ihnen sei aber eines gemeinsam – sie gehören der Stadtverwaltung. Und diese, so Kowaljow, gebe ihren Medien auch ihre eiserne Regel vor: „drei Moskau, drei Sobjanin“. Dieser Richtschnur zufolge müsse in jedem Text über Moskau das Stadtoberhaupt Sergej Sobjanin ausschließlich in positivem Licht und mindestens drei Mal erwähnt werden.4 Dafür gebe die Moskauer Stadtverwaltung Schätzungen zufolge umgerechnet 500 US-Dollar pro Minute aus.5

    Für Kowaljow ist klar: Diese Mittel werden in den Personenkult um Sobjanin investiert. Dessen Spitzenplatz in den Beliebtheits-Ratings russischer Gouverneure sei ein Zeugnis dafür.

    „Mann ohne Eigenschaften“

    Doch worin besteht dieser Personenkult? Sobjanin erscheint für viele doch eher farblos, fern jeder Glorifizierung: Ihn umweht der Stallgeruch einer Amtsstube, seine seltenen Interviews gleichen bürokratischen Deklarationen, die öffentlichen Reden wirken gestanzt und maschinell. Vielleicht ist es auch der Grund, weshalb Sobjanin von seinen frühen Weggefährten den Spitznamen „Roboter“ abbekam, und weshalb der Journalist Kirill Martynow in Sobjanin gar einen „Mann ohne Eigenschaften“ sieht.6

    Sobjanins Biografie auf der Website des Moskauer Bürgermeisters liest sich knapp und trocken. Die meisten der insgesamt dreizehn aufgeführten Stationen aus dem Werdegang bestehen aus Ein- bis Vierzeilern: 1958 kommt er in der Oblast Tjumen zur Welt, 1980 erlernt er den Schlosserberuf, 1984 übernimmt Sobjanin ein Parteiamt. 1989 folgt der Juraabschluss, 1991 wird er Bürgermeister einer Kleinstadt, 1994 Duma-Vorsitzender des Autonomen Kreises der Chanten und Mansen. 2001 ist Sobjanin Gouverneur der Oblast Tjumen, 2005 kommt er nach Moskau und leitet fortan die Präsidialadministration. Nach einem kurzen Intermezzo als stellvertretender Regierungschef wird Sobjanin 2010 zum Bürgermeister von Moskau ernannt.

    Die letzten zwei Punkte seiner offiziellen Biografie sind demgegenüber etwas ausführlicher: 2013 reicht er sein Rücktrittsgesuch beim Präsidenten ein, um eine vorgezogene Gouverneurswahl zu ermöglichen. Am 18. September 2018 tritt er sein Amt erneut an: Er bedankt sich für das Vertrauen und verspricht die „Fortsetzung der Umgestaltung auf dem Gebiet des Gesundheitswesens, des Transports, des Blagoustrojstwo […].“7

    Sergej Sobjanin gilt als „Mann Putins“. Quelle - Wikimedia
    Sergej Sobjanin gilt als „Mann Putins“. Quelle – Wikimedia

    Blagoustrojstwo

    Der Begriff Blagoustrojstwo war im August 2018 Thema von The Economist, er bezeichnet eine Verbesserung der städtebaulichen Gestaltung und bezieht sich im Artikel hauptsächlich auf das massive Moskauer Umbauprogramm seit 2011. Laut Economist sehen die Machthaber darin ein Instrument zur Demonstration von Effektivität und zur Förderung von Loyalität – insofern ist Blagoustrojstwo eine Art Legitimationsstrategie. Viele Moskauer wiederum sehen in der Chiffre etwas Ähnliches, allerdings mit anderen Vorzeichen: Blagoustrojstwo sei eine Beschwichtigungsstrategie, die die urbane Mittelschicht von neuen Bolotnaja-Protesten abhalten soll.8 Während manche Wirtschaftswissenschaftler Blagoustrojstwo auch als ein Konjunkturprogramm verstehen, sehen einige Korruptionsforscher darin eher größere Anreize zu Raspil.9

    Bei vielen Moskauern kommt Sobjanins Umbauprogramm jedenfalls an: Viele der unliebsamen Verkaufsbuden (russ. „Larki“), die die Hauptstadt förmlich zupflasterten, werden abgerissen. Die asphaltierten Trottoirs, die zuvor oft mit Pfützen übersät waren, erstrahlen nun verbreitert und mit Pflastersteinen (russ. „Plitki“) in neuem Glanz. Moskauer Parkanlagen und Boulevards sind sauber, saniert und herausgeputzt. Die notorisch verstopften Straßen werden genauso ausgebaut wie Parkplätze, es gibt 30 neue Metrostationen, mehr Busse und dutzende Kilometer Fahrradwege. Der 2017 eröffnete Sarjadje-Park unweit des Kreml gehört nun laut dem US-amerikanischen Nachrichtenmagazin Time zu den 100 Greatest Places 2018. Für Proteste dagegen sorgten die Pläne, mehrere tausend Wohnhäuser, darunter zumeist sogenannte Chruschtschowki, abzureißen.
    Es gibt jedoch auch Verbesserungen, die zwar nicht vom Bürgermeister abhängen, ihm jedoch auch in die Hände spielen: So halten beispielsweise die Autofahrer nun in Moskau meistens tatsächlich vor dem Zebrastreifen, und Taxifahrten werden erheblich günstiger. Kurzum: Die Qualität des öffentlichen Raumes steigt unter Sobjanin, genauso wie die gefühlte Lebensqualität.

    Parallel dazu steigen auch die Ausgaben des Moskauer Haushalts: in sieben Jahren um fast das Doppelte.10 2017 sind sie ungefähr so hoch wie die Ausgaben von einem Viertel aller restlichen Regionen Russlands. Pro Kopf gibt Moskau ungefähr das Dreifache des Landesdurchschnitts aus.11

    Dazu gehören auch Sozialausgaben: So sind die Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln für Moskauer Rentner seit dem 1. August 2018 kostenlos. Die Stadtverwaltung erweitert daneben auch das Freizeitangebot für Rentner, und mit Inkrafttreten der unliebsamen Rentenreform erhalten auch Menschen im Vorrentenalter (Steuer-)Vergünstigungen und diverse Ermäßigungen für städtische Dienstleistungen.

    Urbanisierung und Zentralisierung

    Die Ausgabenflut erklärt für viele Beobachter auch den Wahlerfolg Sobjanins im September 2018. Finanziert wurde sie vor allem durch fortschreitende Zentralisierung von Ressourcen in Moskau.

    Das  vielerorts gemutmaßte Kalkül ging offenbar auf: Ein Wiederaufflammen der Bolotnaja-Bewegung ist derzeit nicht vorstellbar. Doch lebt die Hauptstadt gewissermaßen noch mehr auf Kosten anderer Regionen als vor dem Umbau. Das Realeinkommen sinkt landesweit schon seit vier Jahren in Folge, und es stellt sich vermehrt die Frage, ob die restlichen 82 Föderationssubjekte mit dieser Art des Länderfinanzausgleichs weiterleben können, ohne Sozialproteste zu riskieren.

    Parallel dazu kommt auf Russland möglicherweise ein anderes Problem zu: Je lebenswerter das Zentrum empfunden wird und je schwieriger das Leben in der Peripherie, desto mehr Menschen kommen ins Zentrum. Diese Entwicklung setzt eine zweifache Abwärtsspirale in Gang: Die Peripherie verarmt noch mehr, das Zentrum wird mit zunehmenden ökologischen und sozialen Problemen konfrontiert. Stadtsoziologische Studien zeigen, dass eine solche Binnenmigration zur Ghettoisierung von Großstadträndern führen kann. So wächst auch die Bevölkerungsdichte in Moskauer Banlieues schon seit vielen Jahren, vor allem Vororte wie Mytischtschi kämpfen mit gravierenden sozialen Problemen.12

    Während der Corona-Krise macht sich die Journalistin Tatjana Jurassowa dorthin auf. In ihrer Reportage13 für die Novaya Gazeta stellt sie fest, dass in Mytischtschi nur 13 bis 15 einsatzbereite Rettungswagen gibt – also mindestens zehn weniger, als gesetzlich vorgeschrieben. So kommt es, dass Patienten mit Herzinfarkt oder in anderen lebensbedrohlichen Situationen durchschnittlich drei Stunden auf den Notarzt warten müssen, obwohl das Gesetz 20 Minuten verlangt. 
    Das Krankenhaus von Mytischtschi ist chronisch unterversorgt, schreibt Jurassowa: Es gibt nicht genug Krankenhausbetten, elementare Hygienestandards werden nicht eingehalten, viele Ärzte und Pfleger sind nach den Gehaltskürzungen der vergangenen Jahre weggegangen – nach Moskau.

    Krisenmanager

    Dessen Bürgermeister Sobjanin ist der erste hochrangige Politiker Russlands, der sich während der Pandemie mit einer Gesichtsmaske zeigt. Insgesamt scheint es vielen Beobachtern in Russland, dass Sobjanin in der Corona-Krise das Ruder an sich reißt: Während Putin sich kaum über konkrete Maßnahmen äußert, ist Sobjanin der erste Politiker Russlands, der den Wahrheitsgehalt offizieller Infektions-Statistiken anzweifelt. Er ist auch der erste Politiker des Landes, der eine allgemeine Ausgangssperre verhängt und ein „smartes“ Kontrollsystem einführt: Jeder Gang vor die Tür erfordert in Moskau einen Antrag, man bekommt daraufhin einen QR-Code, mit dem man sich bei Polizeikontrollen ausweisen kann. Verstöße gegen die Ausgangssperre werden mit Geldstrafen von bis zu 40.000 Rubel (März 2020: rund 460 Euro) geahndet. 

    Laut einer Modellrechnung wären in Moskau 117.000 Menschen an Corona gestorben, wenn man keine Maßnahmen gegen die Ausbreitung getroffen hätte.14 Vielleicht hatte Sobjanin solche Zahlen vor Augen, als er solch drastische Schritte einleitete. Und vielleicht hat der Journalist Iwan Dawydow also Recht, wenn er schreibt, dass Sobjanin nicht zum Sündenbock gemacht werden will, wenn sich auch in Russland alles nach italienischem Szenario entwickelt.

    Auf jeden Fall könnte das „smarte“ Kontrollsystem dem Moskauer Bürgermeister aber auch nach Corona nützlich sein: Schon vor der Krise hat er in der Stadt ein engmaschiges Überwachungssystem mit Gesichtserkennung aufbauen lassen. Da manche Verstöße gegen die Ausgangssperre damit nachgewiesen werden konnten, wissen die Behörden nun offenbar, wie Massenüberwachung funktioniert. Sie wissen nun auch, wo die Moskauer tatsächlich leben – früher hatte die Regierung nur Zugang zu Meldeadressen. Aus solchen Gründen befürchten manche Menschenrechtler, dass Sobjanin die Kontrollsysteme nach Corona beibehalten wird, auch um neue Bolotnaja-Proteste zu verhindern. 

    Aktualisiert am 02.04.2020


    1. vgl. lenta.ru: Na razogreve u Sjutkina ↩︎
    2. zitiert nach: republic.ru: Pobednyj Konzert Sobjanina ↩︎
    3. zitiert nach: vedomosti.ru: Sobjanin: Vybory pokazali, čto ljudi chotjat peremen ↩︎
    4. vgl. noodleremover.news: Kul’t ličnosti Sergeja Sobjanina, kto ego obsluživaet, kto i skol’ko za ėto platit ↩︎
    5. vgl. republic.ru: Tri Sobjanina v edinyj den’ golosovanija ↩︎
    6. vgl. kmartynov.com: Samozvanez sobjanin ↩︎
    7. vgl. mos.ru: Sobjanin Sergej Semjonovič. Biografija ↩︎
    8. vgl. economist.com: What a campaign to revive Russia’s urban spaces means for civil society ↩︎
    9. vgl. rbc.ru: Rassledovanie RBK: Kto zarabatyvaet na rekonstrukzii Moskvy ↩︎
    10. vgl. budget.mos.ru: Struktura i dinamika raschodov ↩︎
    11. vgl. republic.ru: Stoličnaja lovuška: Čego stoit bojat’sja vlasti posle pobedy Sergeja Sobjanina na vyborach? ↩︎
    12. vgl. novayagazeta.ru: Korotišči berut stolizu v kol’zo ↩︎
    13. Novaya Gazeta: Vračam govorjat: «Šejte maski sami!» ↩︎
    14. Meduza: V Moskve vveli žestkie karantinnya mery ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Bystro #7: Putin Forever? Wie stabil ist das System?

    Bystro #7: Putin Forever? Wie stabil ist das System?

    Wie stabil ist das System Putin? Ein schneller Überblick in vier Fragen und Antworten – einfach durchklicken oder durchwischen.

    1. 1. Umfragen zufolge steigt derzeit die Protestbereitschaft in Russland. Können Proteste, wie die gegen die Rentenreform, das System Putin ins Wanken bringen?

      Tendenziell nicht. Obwohl sich die jüngsten Proteste teilweise nicht mehr nur gegen die Regierungspartei Einiges Russland, sondern auch gegen den Präsidenten wandten. Dennoch ist ihr Destabilisierungspotential recht gering: Der Druck der Straße ist üblicherweise nämlich dann am wirksamsten, wenn der Anteil von 15- bis 30-jährigen Männern an der Gesamtbevölkerung besonders hoch ist, und wenn die Arbeits-  und Perspektivlosigkeit in dieser Alterskohorte ebenfalls hoch ist. Dies ist in Russland bei Weitem nicht der Fall. 
      Allerdings sinkt das Realeinkommen nun schon seit vier Jahren in Folge, und notwendige Wirtschaftsreformen bleiben aus. Damit wächst in der Gesellschaft laut Umfragen sowohl die Unzufriedenheit mit der Staatsführung als auch der Ruf nach Veränderungen.

    2. 2. Immer wieder heißt es, dass immer noch zwei Drittel der Russen hinter ihrem Präsidenten stehen. Die Wahlen hat Putin auch gewonnen. Muss man das nicht anerkennen?

      Die Präsidentschaftswahl im März hat er zwar gewonnen, politische Konkurrenz war aber schon im Vorfeld unterbunden – es war also keine demokratische Wahl. Bei den Gouverneurswahlen im September musste die Regierungspartei Einiges Russland dann außerdem einige herbe Schlappen einstecken. Putins Zustimmungswerte liegen derzeit zwar tatsächlich bei 66 Prozent, sind damit aber seit April 2018 um 16 Prozentpunkte gesunken.

      Parallel zur steigenden Armutsquote wächst auch der gesellschaftliche Ruf nach Veränderungen. Umfragen zufolge ist dieser Wunsch erstmals seit Mitte der 1990er Jahre wichtiger als jener nach Stabilität. Der sogenannte Krim-Konsens scheint ebenfalls zu bröckeln, doch ist es unwahrscheinlich, dass der Kreml keine Gegenmaßnahmen ergreifen wird. In Rubel gerechnet ist der durchschnittliche Ölpreis 2018 so hoch wie noch nie, damit könnten aus dem Staatshaushalt zum Beispiel Sozialprogramme bezahlt werden, um neuen Zuspruch zu gewinnen.   

    3. 3. Der russischen Wirtschaft geht es schlecht. Bringt das Putin keine Minuspunkte in der Gesellschaft?

      Tatsächlich wächst die Unzufriedenheit mit dem System Putin: Die Korruption grassiert, gleichzeitig werden bei einem relativ hohen Ölpreis Steuern erhöht und das Rentenalter heraufgesetzt. Viele Menschen in Russland bekommen vor diesem Hintergrund vermehrt den Eindruck, dass „Menschen das neue Erdöl“ seien.
      Projektionsfläche für diese Unzufriedenheit ist allerdings nicht so sehr Putin, sondern vor allem Staatsbedienstete. Sie und ihre Familienmitglieder stellen in Russland rund zwölf Millionen Menschen. Sie sind gewissermaßen Profiteure des Systems und dürften kaum an Reformen interessiert sein. Demgegenüber gelten laut offiziellen Zahlen rund 20 Millionen (laut inoffiziellen: 36 Millionen) Menschen als arm. Da sich ihre Situation mit der Zeit verschlechtert, ist es denkbar, dass ihre Unzufriedenheit wachsen könnte.  

    4. 4. Und was sagen russische Wissenschaftler? Wie schätzen Sie die Stabilität des System Putin ein?

      Da gibt es unterschiedliche Szenarien. Da die Wohlstandsdividenden in den letzten Jahren wegbrechen, behaupten einige Politologen, dass die Verdienste (Meritokratie) Putins aus den 2000er Jahren heute nur noch eine Art Amtsbonus sind. Auch der Persönlichkeitskult bricht laut Soziologen ein. Das Regime sei eine lahme Ente, innenpolitisch weitgehend handlungsunfähig. Es habe zwar noch einige Stabilisierungs-Instrumente in petto, heute wirke aber vor allem das Feindbild legitimierend. Dies ist mittelfristig jedoch ein dünner Faden, der laut manchen Wissenschaftlern durchaus vom Westen eingerissen werden könnte. 
      Andere Wissenschaftler meinen dagegen, dass das Herrschaftssystem stabil und nachhaltig sei. Einer der wichtigsten Gründe sei die sogenannte Alternativlosigkeit: Durch die systematische Ausschaltung politischer Konkurrenz gebe es im heutigen Russland keine massentauglichen Alternativen, so die Argumentation. Hinzu kommen die in den letzten Jahren massiv ausgebauten Sicherheitsstrukturen: Solche Institutionen wie die Nationalgarde schaffen einerseits eine Drohkulisse, könnten bei Protesten andererseits aber auch die Repressionen verschärfen.



    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Anton Himmelspach
    Stand: 06.12.2018

    Diese Veröffentlichung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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    Infografik: Fremdenfeindlichkeit nimmt zu

    „Wohnung für eine russische Familie zu vermieten, Kaukasier unerwünscht“ – solche diskriminierenden Annoncen kennt laut Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum die überwiegende Mehrheit der Menschen in Russland. Mehr als ein Drittel der Befragten steht solchen Anzeigen positiv gegenüber, insgesamt wollen zwei Drittel der Gesellschaft den Zuzug anderer Ethnien nach Russland einschränken (bei Lewada als „Ethnophobie-Level“ erfasst).1

    Quelle: Lewada

    Obwohl Xenophobie in den letzten Jahren weitgehend aus den Massenmedien verschwand, ist sie seit 2017 wieder rapide gestiegen. Warum ist das so?

    Als im August 2018 die denkmalgeschützte hölzerne Mariä-Himmelfahrts-Kirche in der kleinen karelischen Stadt Kondopoga abbrannte, fühlten sich viele Menschen in Russland an 2006 erinnert. Damals kam Kondopoga zum ersten Mal in die Schlagzeilen: wegen massiver fremdenfeindlicher Pogrome. Da in der Folgezeit russlandweit dutzende andere Städte von Pogromen erfasst wurden, sahen viele Nationalismusforscher in Kondopoga die Initialzündung für fremdenfeindliche Übergriffe.

    Die Wirtschaft florierte 2006, Wirtschaftsvertreter forderten weiteren Zuzug von Gastarbeitern. Zeitweise lebten schätzungsweise bis zu sieben Millionen von ihnen in Russland, sie erwirtschafteten rund sieben bis acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts.2 Die meisten von ihnen kamen auch damals aus dem Kaukasus und Mittelasien nach Russland. Hier wurden sie zur Zielscheibe medialer Stigmatisierung, nationalistische Stimmen wie Alexander Dugin hetzten öffentlichkeitswirksam gegen „Überfremdung“ und forderten ein „Russland für Russen“.

    Diesem Slogan stand 2005 mehr als die Hälfte der Gesellschaft positiv gegenüber3, und „Nichtrusse“ war bei einem guten Drittel der Befragten das am negativsten konnotierte Wort.4

    Diese Zahlen waren umso frappierender, als frühere wissenschaftliche Studien Russland zur Mitte der 1990er Jahre noch als das Land in Europa darstellten, das am wenigsten fremdenfeindlich ist.5 Doch laut offiziellen Zahlen sind rund 20 Prozent der russländischen Gesellschaft keine ethnischen Russen. So ist es denkbar, dass bei einer repräsentativen Umfrage unter ethnischen Russen allein die Ergebnisse entsprechend höher ausfallen dürften.

    Ethnophobie – biologistische Grundlage?

    Die russische Nationalismusforschung bezeichnet diese Fremdenfeindlichkeit als Ethnophobie, weil der ermittelte Ressentiment-Grad beispielsweise gegenüber den Tataren oder Baschkiren weitaus geringer sei als gegenüber den ebenso muslimischen Usbeken, Kirgisen oder Tschetschenen. So könne man etwa nicht von Islamophobie sprechen, erklärt beispielsweise Waleri Solowei – ein Nationalismusforscher, der selbst ethno-nationalistische Standpunkte vertritt. Außerdem seien Tataren und Baschkiren laut Solowei den ethnischen Russen phänotypisch ähnlicher, sodass Ethnophobie in Russland eine biologistische Grundlage habe.6

    Diese weitverbreitete Ethnophobie schlug sich 2006 in Kondopoga nieder. Auf die landesweiten Pogrome, die mitunter auch von kremlnahen Massenmedien als ein Zeichen der „Erhebung des russischen Geistes“ gedeutet wurden, reagierten die Machthaber opportun(istisch): Sie fingen an, die Notwendigkeit der „Gewährleistung von Vorteilen für die verwurzelte Bevölkerung“ herauszustreichen.7 Das Kreml-Programm der Russländischen Staatsnation indes erachteten sie zunehmend als gescheitert. 

    Russländer: Staatsnation statt ethnische Nation

    Schon lange zuvor wurde der Begriff Russländer (russ. „Rossijanin“) oft synonym zu Russe (russ. „Russki“) verwendet. Angestoßen durch Boris Jelzin sollte Russländer in den 1990er Jahren zum neuen Bürgerbegriff avancieren. 
    Mit der Einführung sollte ein Bedeutungswandel von einem ethnisch-konnotierten Nationalitäten- zu einem Staatsbürgerbegriff angestoßen werden. Ein großer Teil der russischsprachigen Sozialwissenschaft sah darin den Übergang vom deutschen zum französischen Modell: Das ehemals deutsche Verständnis der Nation, das als ethnisch konnotiert gilt, sollte zu dem französischen Verständnis der État-nation (Staatsnation) übergehen, das alle Bürger Frankreichs – unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft – zu Franzosen vereint. 
    Es war die Grundidee der Jelzin-Regierung, damit eine neue „Staatsidee“ zu definieren und alle Ethnien in einer Staatsnation zusammenzubringen. Auch Putin setzte diese Idee weitgehend fort, bis Kondopoga. 

    „Es reicht, den Kaukasus zu füttern“

    Verschiedene oppositionelle Kräfte kritisierten Putin damals wegen des Jelzinschen Russländer-Programms. Auch der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny forderte lautstark „Es reicht, den Kaukasus zu füttern“ und begrüßte die sogenannten Russischen Märsche, auf denen rechtsextreme Parolen und „Tod dem Regime“ skandiert wurde.8 Die in Umfragen ermittelten völkisch-nationalistischen Stimmungen in der Gesellschaft waren zu stark, um sie zu ignorieren, also nahmen die Machthaber sukzessiv und versatzstückweise ethno-nationalistische Forderungen in ihr rhetorisches Programm auf und neutralisierten sie damit zum Teil.

    So verlangten Rechtsextreme die verfassungsmäßige Anerkennung von Russen als einziger „staatskonstituierender Ethnie“,9 auch der LDPR-Vorsitzende Wladimir Shirinowski unterstützte diese Forderung. Obwohl dieses Ansinnen auch 2018 nicht in der Verfassung steht, wurde es von Putin bereits einige Male als erfüllt dargestellt, zum ersten Mal ausdrücklich im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2012. Damals definierte er in einem programmatischen Text das russische Volk als „staatskonstituierend“ und schrieb:  „Die große Mission der Russen lautet: Die Zivilisation vereinen und verbinden. Über Sprache, Kultur und nach Fjodor Dostojewski über ,weltumfassende Aufgeschlossenheit‘ werden russische Armenier, russische Aserbaidschaner, russische Deutsche, russische Tataren verbunden.“10 

    Mit solchen Aussagen markierte Putin für viele Nationalismusforscher den Übergang vom anvisierten Modell der russländischen Staatsnation zu der sogenannten national-imperialen Position.11 

    Weniger Hetze in den Medien

    Parallel zu dieser Entwicklung gab es in staatsnahen Medien seit Kondopoga immer weniger Hetze gegen Arbeitsmigranten, und 2012/13 konstatierte Lewada ein Ausbleiben von ethnophoben Inhalten in russischen Massenmedien.12 Vermutlich weil die Meinungsforscher sehr oft „einfach die Abendnachrichten nehmen und am nächsten Morgen die Menschen befragen, ob sie mit diesem oder jenem Gedankenkonstrukt einverstanden sind, das am Vorabend verbreitet wurde“, kam es 2014 zu einem rapiden Abfall der Ethnophobie-Werte. 

    Einige russische Soziologen liefern eine andere (beziehungsweise ergänzende) Erklärung: Das von den staatsnahen Medien forcierte Feindbild Westen diene zum einen dazu, von innenpolitischen Problemen abzulenken und stelle zum anderen automatisch das empfundene Bild der „Überfremdung“ in den Schatten. Hintergrund sei das Prinzip des sogenannten konstituierenden Anderen: Eine „kollektive Identität“ formiere sich durch Distinktion, Abgrenzung von Angehörigen bestimmter sozialer Gruppen. Mit dem Umschwenken auf eine antiwestliche Linie fand also eine Art Ersatz-Distinktion statt, so die Erklärung.13

    Der Westen als Ersatz-Feindbild

    In der Ethnophobie-Infografik ist dieses Phänomen zweimal sichtbar: 2014 sind die antiwestlichen Stimmungen parallel zur Einführung westlicher Sanktionen hoch geschnellt, und das Ethnophobie-Niveau ist ebenso rapide gefallen. Im Sommer 2018 sind die antiwestlichen Stimmungen dagegen gesunken, während die ethnophoben anstiegen. Mit wissenschaftlichen Mitteln ist ein solcher Mechanismus der Ersatz-Distinktion allerdings nicht nachvollziehbar: Weder ist der Begriff „kollektive Identität“ eingrenzbar, noch kann man erklären, warum diese (vermeintliche) Identität zwangsläufig durch Distinktion gebildet werden muss. 

    Schließlich liefern einige russische Soziologen eine Erklärung für den Wiederanstieg der Werte im Jahr 2018: Ethnophobe Stimmungen wachsen dann, wenn Menschen mit ihrer wirtschaftlichen Situation unzufrieden sind und/oder mit einschneidenden sozialen Reformen konfrontiert werden. Da das Realeinkommen in Russland nun seit vier Jahren in Folge sinkt und weil die anberaumte Rentenreform gravierende Einschnitte im Alltagsleben vieler Russen ahnen lässt, würden die Existenzängste auf andere projiziert.14

    Text: Anton Himmelspach
    erschienen am 18.09.2018


    1.vgl. levada.ru: Monitoring Ksenofobskich Nastroenij 
    2.vgl. demoscope.ru 2013: Trud migrantov obespečivaet 7–8 % VVP Rossii 
    3.Lewada (2018): Obščestvennoe mnenie 2017, S. 174 
    4.vor „Kapitalismus“ (31,2 %), „Revolution“ (30 %), „Kommunismus“ (26,1 %) und „Westen“ (24,7 %), vgl. Byzov, Leontij (2005): Rossijskoe obščestvo v poiskach neokonservativnogo sinteza, in: Vostočnoevropejskie issledovanija, 2005, № 2, S. 121, zitiert nach: Solovej, Tat’jana/Solovej, Valerij (2009): Nesostojavšajasja revoljucija (Istoričeskije smysly russkogo nacionalisma), S. 276f. 
    5.vgl. Solovej, Tat’jana/Solovej, Valerij (2009): Nesostojavšajasja revoljucija (Istoričeskije smysly russkogo nacionalisma), 269f. 
    6.vgl. Solovej, Tat’jana/Solovej, Valerij (2009): Nesostojavšajasja revoljucija (Istoričeskije smysly russkogo nacionalisma), 274f. 
    7.vgl. Pain, Ėmil’ (2007): Imperskij sindrom i imitacija nacional’naja stroitel’stva v Rossii, in: Sociologija: teorija, metody, marketing, 2007, S. 3, S. 38-59, S. 54 
    8.vgl. Pain, Ėmil’ (2007): Imperskij sindrom i imitacija nacional’naja stroitel’stva v Rossii, in: Sociologija: teorija, metody, marketing, 2007, S. 3, S. 38-59, S. 50 
    9.vgl. hierzu die Ausführungen von Alexander Below, Anführer der Bewegung gegen illegale Immigration: Belov, Aleksandr (2006): Imperskij marš russkogo buduščego 
    10.Nezavisimaja Gazeta: Vladimir Putin: Rossija: nacional’nyj vopros 
    11.Manche Nationalismusforscher sahen in dieser Position eine sowjetische Provenienz. Das Modell der Nation war dort zwar im Grunde etatistisch (Staatsnation), hatte aber zugleich einen starken ethnokratischen Anstrich: Alle sowjetischen Ethnien galten darin als „Brüder-Völker“, der russischen Ethnie stand allerdings faktisch stets zumindest die Rolle des primus inter pares zu, vgl. Kaspė, Svjatoslav (2012): Političeskaja teologija i NATION-BUILDING: obščie položenie, rossijskij slučaj, S. 71; Malinovna, Ol’ga (2011): Tema prošlogo v ritorike presidentov Rossii, in: Pro et Contra, maj–avgust 2011, S. 106-122, S.108; Pain, Ėmil (2015): Imperskij Nacionalizm, in: Obščestvennye nauki i sovremennost’, № 2, S. 54-71 
    12.levada.ru: Ksenofobija v 2017 godu 
    13.snob.ru: Analitiki zafiksirovali rost ksenofobii v Rossii 
    14.vgl. levada.ru: Monitoring Ksenofobskich Nastroenij  

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  • Attribute der Macht

    Attribute der Macht

    Seit Mitte der 2000er Jahre strahlt das russische Fernsehen eine „visuelle Konstante“ aus, die man „öfter sieht als den Wetterbericht“.1 Auf diese Pointe brachte es der russische Politologe Alexander Elin. Gemeint ist Wladimir Putin.
    Dabei ist der Präsident nicht nur in staatsnahen Medien allgegenwärtig: Viele russische Souvenirläden bieten entsprechende Devotionalien feil, T-Shirts mit Putins Konterfei kann man an Moskauer Flughäfen sogar im Automaten kaufen, und auf YouTube findet man rund ein Dutzend Loblieder auf den Leader

    Worin besteht der so oft in unabhängigen Medien kolportierte Persönlichkeitskult um Putin? Welche Attribute werden dem Leader zugeschrieben? Und auf welche Kraft setzt der Kreml bei den Bildern?  

    Putin-Ikonen aus der Bildersuche von Yandex. Solche Devotionalien bekommt man auch in manchen russischen Souvenirshops / Bild © Screenshot aus der Yandex-Bildersuche nach „Putin Ikona“

    Charisma und Verdienste

    In autoritären Systemen sollen das Charisma sowie die Verdienste des Herrschers den Glauben an die Rechtmäßigkeit von Herrschaftsbeziehungen hervorrufen.2 Manche russischen Wissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang vom Imagemaking, der Russland-Experte Richard Sakwa von der „Arbeit am Charisma“ des nationalen Leaders. Laut Sakwa hat der Aufbau der sogenannten Machtvertikale Anfang der 2000er Jahre eine Legitimitätskrise ausgelöst: Die Aushöhlung demokratischer Mechanismen erforderte demnach eine neue Legitimationsstrategie, und diese sei seit der Mitte der 2000er Jahre auch durch die ständigen „mobilisierenden Bemühungen für die Unterstützung seines [Putins] Images“3 entstanden. 

    Diese Bemühungen schlugen sich nieder in Symbolen und in Diskursen. Dazu gehört vor allem die Erzählung über das Russland der 2000er Jahre.

    Gotteswunder 

    Die postsowjetische Gesellschaft Russlands versank in den 1990er Jahren in Chaos und Kriminalität, die Privatisierung der Betriebe bot ein Schlachtfeld, das rücksichtslose Oligarchen plünderten. Als lichie 1990e – „verrückte“ oder „wilde 1990er“ – sind diese Jahre der Gesellschaft bis heute im Gedächtnis, oder auch als prokljatije, „verfluchte 1990er“. 

    Patriarch Kirill zog hier gar Parallelen zur Smuta – die Zeit der Wirren zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Das Ende dieser „Smuta“ der 1990er Jahre verglich der Patriarch entsprechend mit einem „Gotteswunder“, das aufs Engste mit Putin verknüpft sei.4Demnach sei es Putin binnen weniger Jahre gelungen, das Land „von den Knien zu erheben“. Wie ein Phönix aus der Asche sei Russland emporgestiegen und endlich wieder auf Augenhöhe mit anderen Mächten. 

    Wladislaw Surkow soll bei der Feier des ersten Wahlerfolgs Putins im Jahr 2000 das Glas erhoben und dazu aufgerufen haben, „auf die Vergöttlichung der Macht!“ zu trinken.5Viele russische Politologen sehen heute in dem Trinkspruch Programm. Hier steht Putin auf dem byzantinischen Thron in der orthodoxen Mönchsrepublik Athos. / Foto © kremlin.ru


    Handsteuerung (mit starker Hand)

    In diesem Zusammenhang ist auch immer wieder die Rede von der Handsteuerung (russ. „Reshim rutschnogo Uprawlenija“) oder der „starken Hand“ (russ. „silnaja Ruka“). Als politisches Symbol tauchen diese Begriffe vor allem im Kontext damit auf, dass Putin die Lösung bestimmter Probleme „zur Chefsache mache“ beziehungsweise sie „selbst in die Hand nehme“. Viele Politikwissenschaftler erklären die Handsteuerung auch mit dem Phänomen der Machtvertikale – die autoritäre Konsolidierung des Landes und Machtkonzentration in einer Hand. 

    So bemüht die „Arbeit am Charisma“ neben einer gewissen Art der Sakralisierung also auch das Motiv der Stärke. Musterhaft dafür steht Putins allererste Amtshandlung als Interimspräsident: Am 31. Dezember 1999 besuchte er russische Soldaten an der Front in Tschetschenien und schenkte ihnen Jagdmesser. Laut manchen Polittechnologen war es eine PR-Aktion, die darauf bedacht war, Putins Profil mit dem Attribut der Stärke zu füllen und gleichzeitig an die Popularität der Armee anzuknüpfen.6 

    Putins allererste Amtshandlung als Interimspräsident: Am 31. Dezember 1999 besuchte er russische Soldaten an der Front in Tschetschenien und schenkte ihnen Jagdmesser. / Foto © kremlin.ru

    Tatkraft und Gesundheit

    Schon einige Tage zuvor hatte Putin versprochen, „gnadenlos“ gegen die „Feinde Russlands“ vorzugehen. Als solche markierte er den tschetschenischen Separatismus, die Massenarmut und die Oligarchie.7 Diese Triade der Feinde wiederholte er auch nach seiner Amtsübernahme sehr oft, dabei sparte er auch nicht mit martialischem Vokabular: Russland müsse gegenüber seinen Feinden „tyrannisch“ sein, die Feinde seien „Ratten“, die „vernichtet“ gehören, wenn es sein muss, dann müsse man sie auch „im Scheißhaus kaltmachen“.8
    Mit dieser Wortwahl gab sich Putin einerseits als ein tatkräftiger Politiker, der „hart durchgreift“ und „Klartext“ spricht, andererseits setzte er sich aber auch von seinem Vorgänger Jelzin ab: Dieser galt vor allem zum Ende seiner Präsidentschaft als ein siecher Alkoholiker, der viele Menschen an die Epoche der sowjetischen Gerontokraten erinnerte. Auch die im Westen so oft belächelten Bilder von Putin mit freiem Oberkörper schlagen in dieselbe Kerbe: Einer Umfrage aus dem Jahr 2012 zufolge schätzten die Menschen in Russland an ihrem Präsidenten vor allem seine Tatkraft und seine Gesundheit.9 Mit diesen Eigenschaften setzte sich der Präsident nicht nur von Boris Jelzin ab, sondern auch von dessen Epoche – dem Chaos der 1990er Jahre10.  

    Fachmann am Steuer

    Seine Tatkraft stilisierte Putin auch, indem er sich am Steuer zeigte: Im Rennauto, im Kampfjet, im U-Boot, oder auf einem Mähdrescher – der Präsident schien stets darum bemüht, sich so darzustellen, als habe er fest die „Zügel (oder das Steuer) in der Hand“. Unter etwas anderen Vorzeichen ist das Motiv des „Politikers als Steuermann“ bereits bei Platon zu finden. In Politeia wandte sich der Philosoph mit diesem Gleichnis sowohl gegen Demokratie als auch gegen Oligarchie und Tyrannis: Im „idealen Staat“ solle der „echte“ Steuermann-Politiker ein Fachmann sein, nur so könne laut Platon Gerechtigkeit walten.11

    Gangster

    Der Fotograf namens Platon verewigte Putin dagegen in einem Bild, an dem sich immer noch die Geister scheiden. Das Time Magazine hatte Putin 2007 zum Mann des Jahres gewählt und schickte den Fotografen nach Moskau zu einem Shooting. Laut Platon mochte Putin das Ergebnis, „weil es ihn als harten Kerl zeigt“.12 Die politische Ikonografie der Putin-Gegner benutzt das Bild dagegen oft bei Protestveranstaltungen, als Schreckbild. 

    Laut Fotograf Platon mochte Putin das Bild, „weil es ihn als harten Kerl zeigt“. Für Kreml-Kritiker spricht das Foto jedoch Bände. / Bild © Screenshot aus der Yandex-Bildersuche nach „Putin Proteste“

    1. zit. nach/vgl.: Sartorti, Rosalinde (2007): Politiker in der russischen Ikonographie: Die mediale Inszenierung Vladimir Putins, in: Pietrow-Ennker (Hrsg.): Kultur in der Geschichte Russlands, S. 333-348, hier S. 333 ↩︎
    2. vgl. Albrecht, Holger/Frankenberger, Rolf (2010): Autoritarismus Reloaded: Konzeptionelle Anmerkungen zur vergleichenden Analyse politischer Systeme, in: Albrecht, Holger/Frankenberger, Rolf (Hrsg.): Autoritarismus Reloaded, S. 37-60, hier S. 57f. ↩︎
    3. vgl. Sakwa, Richard (2008): Putin i vlast‘ protivorečij, in: RAN. INION: Dva prezidentskich sroka V.V. Putina: dinamika peremen: Sbornik naučnych trudov, S. 10-31, hier S. 30 und Engelfried, Alexandra (2012): Zar und Star: Vladimir Putins Medienimage, in: OSTEUROPA, 62. Jg., 5/2012, S. 47-67, hier S. 60ff. ↩︎
    4. zit. nach: stoletie.ru: Cerkov’ vsegda byla s narodom ↩︎
    5. zit. nach: Pavlovskij, Gleb (2014): Sistema RF v vojne 2014 goda: De Principatu Debili, S. 69 ↩︎
    6. vgl. novayagazeta.ru: Pobedit‘ na vyborach ili stat‘ prezidentom ↩︎
    7. vgl. Ščerbinina, Nina (2010): Mifo-geroičeskoe konstruirovanie političeskoj real’nosti Rossii, S. 204 ↩︎
    8. vgl. ebd. S. 203ff. und Fleischmann, Eberhard (2010): Das Phänomen Putin. Der sprachliche Hintergrund, S. 313 ↩︎
    9. vgl. romir (2012): Neotvratimaja neotrazimost‘: 50 % rossijan po-prežnemu sčitaet, čto Vladimir Putin ne imeet nedostatkov, S. 1. und Fleischmann, Eberhard (2010): Das Phänomen Putin. Der sprachliche Hintergrund, S. 30 ↩︎
    10. vgl. Engelfried, Alexandra (2012): Zar und Star: Vladimir Putins Medienimage, in: OSTEUROPA, 62. Jg., 5/2012, S. 47-67, hier S. 48 ↩︎
    11. vgl. Platon (2000): Der Staat, Sechstes Buch, III. und IV. sowie Münkler, Herfried (1994): Arzt und Steuermann: Metaphern des Politikers, in: ders.: Politische Bilder: Politik der Metaphern, S. 125-140 ↩︎
    12. vgl. zeit.de: Putin-Fotograf Platon. „Ich spürte die kalte Autorität“ ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Infografik: Wer ist Freund, wer Feind?

    Infografik: Wer ist Freund, wer Feind?

    Alle politischen Handlungen und Motive lassen sich auf die Unterscheidung von Freund und Feind zurückführen, so schrieb es 1927 Carl Schmitt.1 Viele russische Politikwissenschaftler meinen, dass man den deutschen Philosophen lesen müsse, um die russische Politik zu verstehen. Sergej Medwedew zum Beispiel behauptet, dass Putins Politik dann im Einklang mit Schmitts Theorie des Ausnahmezustandes stünde, wenn der Präsident gegen Normen verstößt2 – sei es bei systematischen Repressionen, die verfassungswidrig sind, oder bei der Angliederung der Krim, die das Völkerrecht verletzt. Andere Wissenschaftler betonen gar, dass Putins grundsätzliches Politikverständnis aus Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung bestünde. 

    Die Schmittsche Unterscheidung von Freund und Feind beschäftigt auch das unabhängige Lewada-Institut. Seit 2006 ermittelt es in jährlichen (außer 2008) Meinungsumfragen, wie die russische Gesellschaft das Verhältnis verschiedener Staaten zu Russland einschätzt:3 Welche fünf Länder sind Russland am freundlichsten gesinnt, welche am feindlichsten?


    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Meinungsumfragen funktionieren in Russland nach einem besonderen Prinzip, meint der Soziologe Grigori Judin. Die Meinungsforscher nehmen sehr oft „einfach die Abendnachrichten und befragen am nächsten Morgen die Menschen, ob sie mit diesem oder jenem Gedankenkonstrukt einverstanden sind, das am Vorabend verbreitet wurde“. 
    Diese Umfrage macht es besonders deutlich, denn die Antworten sind nahezu deckungsgleich mit der jeweiligen politischen Linie des Kreml, die wiederum auch die Fernsehnachrichten bestimmt, aus denen die meisten Menschen in Russland wiederum ihre Informationen beziehen. 
    Was sind dann solche Meinungsumfragen überhaupt wert? Zumindest zeigen sie den Trend, was schon für sich interessant sein kann. Außerdem spiegeln sie in Umkehrung der These von Judin auch die Abendnachrichten. In diesem Sinne sind Meinungsumfragen indirekte Mediendiskursanalysen. Schließlich zeigen sie auch, wie die (geäußerte) öffentliche Meinung in Russland gemacht wird. Im konkreten Fall heißt das, dass der Kreml Feindbilder forciert und damit die (geäußerte) Resonanz in der Gesellschaft erzeugt. Der Topos wird schon seit einigen Jahren von russischen Staatsmedien verbreitet: Russland sei von Russophoben umzingelt, die danach trachten, das Land genauso in die Knie zu zwingen wie in den 1990er Jahren. Auch im Inneren der belagerten Festung Russland gebe es feindlich gesinnte Menschen, die sogenannten ausländischen Agenten, also Agenten des eigentlichen Belagerers der Festung. 
    Viele Wissenschaftler meinen, dass die Konstruktion dieser Feindbilder von innenpolitischen Problemen ablenken soll und durch „Gefahren“ den sogenannten konstituierenden Anderen schaffe, der eine einende Kraft stiftet und so das Volk hinter dem Präsidenten versammelt.4 Feindbilder sind demnach also Legitimationsstrategien.

     


    Zum Zoomen mit dem Mausrad die Strg-/Ctrl-Taste gedrückt halten. Quelle: Lewada-Zentrum

    Russlands wichtigster Referenzpunkt

    Dieser Zusammenhang wird vor allem bei der Frage „Wie stehen Sie zu den USA?“ deutlich. Die russische Soziologie erklärt das Auf und Ab in dieser Meinungsumfrage mit dem besonderen Verhältnis vieler Russen zur Supermacht USA: Die USA seien für sie der wichtigste Referenzpunkt, so etwas wie das Maß aller Dinge – sowohl in positiver wie auch in negativer Hinsicht.

    In letzterer bedeutet es auch, dass die USA seit 2013 zu den am feindlichsten gesinnten Staaten stets an erster Stelle stehen – 2018 glauben es 78 Prozent der Befragten. Bis zur Mitte der 1990er Jahre sahen das aber nur rund sieben Prozent so.5 Viele Wissenschaftler erklären den krassen Umschwung auch mit der jahrelangen antiamerikanischen Propaganda, die – angefangen mit Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz6 – letztendlich in der Formel belagerte Festung gipfelte.7

    „Handlanger“

    Im feindlich gesinnten Fahrwasser der USA, so der Tenor von Staatsmedien, schwimme auch die Ukraine. Schon 2009 war das Land in der Umfrage nur wenige Prozentpunkte von den USA entfernt. Die Daten für 2008 fehlen, es ist aber wahrscheinlich, dass die Ukraine schon damals – und nicht erst 2009 – den Sprung von 23 auf 41 Prozent machte (der Wert bei den USA stieg entsprechend von 35 auf 45 Prozent). Der damalige ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko galt für die russischen Staatsmedien nämlich schon 2008 als ein Handlanger der USA. 2010 wurde Juschtschenko abgewählt, und da der neue Präsident Viktor Janukowitsch kremlnah war, wurde die Ukraine auch nicht mehr als feindlich gesinnt wahrgenommen: Der Wert fiel auf 13 Prozent.
    2013 lag er gar bei elf Prozent, doch vor dem Hintergrund des Euromaidans, der Krim-Angliederung und des Krieges im Osten der Ukraine kletterte er in der Folgezeit kontinuierlich auf 49 Prozent im Jahr 2018.

    Ähnlich verhielt es sich mit Georgien: Auch dort galt der Präsident (Micheil Saakaschwili) für die Staatsmedien Russlands als ein Handlanger der USA. 2008 entfesselte er zudem den Georgienkrieg, und 2009 besetzte Georgien die Spitzenposition im Ranking der feindlich gesinnten Staaten.

    Interessant ist auch die Entwicklung bei den baltischen Ländern: Abgesehen von besagten Ereignissen 2008 und 2009, waren sie bis 2011 stets in der Top-Fünf der feindlich gesinnten Staaten. Vor allem Estland sticht 2007 hervor – damals ging es um die Demontage eines Denkmals des sowjetischen Soldaten in Tallinn, was scharfe Kritik aus dem Kreml und eine entsprechende Kampagne in den staatlich-gelenkten Medien provozierte. Interessanterweise halbierte sich im Folgejahr der Wert bei Estland, auch Litauen und Lettland wurden in der Folgezeit immer weniger als feindlich gesinnt wahrgenommen.

    Sonderfall Türkei

    Von gestern auf heute zum Feind, morgen zurück – nach diesem Schema verlief 2016 die ermittelte Haltung zur Türkei. Von einem Prozent stieg der Wert auf 29, bevor er im Folgejahr auf acht Prozent fiel. Hintergrund war der türkische Abschuss eines russischen Kampfjets an der Grenze zu Syrien im November 2015. Ende Juni 2016 äußerte Erdogan in einem Brief sein Bedauern über den Abschuss, kurz darauf gab es ein Telefonat zwischen Putin und Erdogan. Danach waren die Beziehungen wieder so gut, dass manche Beobachter sich an Orwells 1984 erinnerten, wo Ozeanien abwechselnd mit Eurasien oder mit Ostasien Freund-Feind spielte.

    Sanktionen

    Einen steilen Ausschlag in der Statistik gab es 2018 für Großbritannien: Der Wert schnellte von 15 im Jahr 2017 auf 38 Prozent. Auslöser war der Fall Skripal. 27 Staaten entschlossen sich zu einem Schulterschluss mit Großbritannien und wiesen über 140 russische Diplomaten aus. Die russischen Machthaber protestierten, und die staatlich-gelenkten Medien ätzten in einer massiven Kampagne gegen Theresa May.
     
    Schon seit der Angliederung der Krim wettern sie gegen Angela Merkel. 2013 stand Deutschland noch mit 14 Prozent auf dem vierten Rang der freundlich gesinnten Länder, 2017 teilte es sich mit Litauen und Lettland aber schon den dritten Platz im Ranking der feindlich gesinnten. Da sich der Wert bei Frankreich nach 2014 nur minimal veränderte, liegt der Referenzschluss nahe, dass Merkel im Kreml als Motor der Einführung und turnusmäßiger Verlängerungen der EU-Sanktionen gegen Russland gilt. Deswegen wurde in russischen Staatsmedien gegen die Bundesregierung, weniger gegen Frankreich gehetzt.

    Freundlich gesinnte Staaten

    Wolodja [Koseform von Wladimir – dek], verdirb nicht den Abend“, soll der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko mal gesagt haben. Die zahlreichen Spitzen und Vorwürfe, die er bei seiner siebeneinhalbstündigen Pressekonferenz Anfang 2017 in Richtung Russland losließ, deuteten einen Umschwung in der traditionellen Freundschaft an. Obwohl Belarus seit 2006 mit 34 bis 55 Prozent immer das Freunde-Ranking anführt, müsste der Beziehungsstatus wohl dennoch auf „es ist kompliziert“ geändert werden. So wird in jüngster Zeit in Belarus ein Verbot des St. Georgs-Bandes diskutiert – solche Initiativen bewerteten russische Staatsmedien aber als Affront gegen Russland. Außerdem gilt Lukaschenko für viele Beobachter ohnehin als zunehmend unberechenbar8, seine ständigen Volten und Pendelbewegungen könnten durchaus irgendwann in einer Westbindung münden. 

    Eine solche ist bei dem zweitplatzierten „freundlich gesinnten“ China in nächster Zeit nicht zu erwarten. Doch ließe sich der Beziehungsstatus von Russland und China eher als Zweckfreundschaft beschreiben. Bis zur Angliederung der Krim pendelte China nämlich bei etwa 20 Prozent, 2014 verdoppelte sich der Wert, auch 2018 steht er bei 40 Prozent.

    Damit überholte China die traditionelle Nummer zwei – Kasachstan. Der kasachische Präsident Nasarbajew war schon 1989 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik, 1990 übernahm er nahtlos die Präsidentschaft. Russland verbindet mit Kasachstan nicht nur die längste Landgrenze, sondern auch die Nachbarschaft in Ranglisten der Pressefreiheit9 oder Bürger- und Freiheitsrechte.10

    Neu in der Top-Fünf der am freundlichsten gesinnten Länder ist seit 2016 Syrien. Zuvor unter „ferner liefen“, schnellte das Land auf den vierten Rang, 2018 zählen rund 21 Prozent der Befragten Syrien zu einem freundlich gesinnten Land.

    Wirksamkeit der belagerten Festung

    Diese Meinungsumfrage untermauert die Eingangsthese von Grigori Judin: Die öffentliche Meinung wird durch Fernsehnachrichten gelenkt, in denen der Kreml Feindbilder forciert. Da die öffentliche Meinung aber nur ein Produkt dieser Umfrage ist, bleibt es infrage gestellt, ob die Technologie des „konstituierenden Anderen“ tatsächlich zu einer wirksamen Legitimationsstrategie taugt. Die wirkliche Meinung der Menschеn in Russland bleibt nämlich ungewiss. Ebenfalls unbeantwortet bleibt also auch die Frage, ob es dem Kreml im Ergebnis gelingt, durch Feindbilder von den massiven innenpolitischen Problemen abzulenken. Und so liegt es für manche Politikwissenschaftler auf der Hand, dass die Legitimationsstrategie belagerte Festung eigentlich einer Ohnmacht gleiche.11 Ähnliches lässt sich übrigens auch von Carl Schmitts Freund-Feind-Schema behaupten.

    Grafik: Daniel Marcus
    Text: Anton Himmelspach
    Stand: Juli 2018


    1.vgl. Schmitt, Carl (1996): Der Begriff des Politischen, S. 26
    2.Forbes: Slovo suverena: počemu dlja ponimanija Putina nužen nemeckij filosof
    3.levada.ru: "Druz'ja" i "wragi" Rossii
    4.vgl. Pain, Emil (2007): Imperskij sindrom i imitacija nacional’nogo stroitel’stva v Rossii, in: Sociologija: teorija, metody, marketing, 2007/3, S. 38-59
    5.polit.ru: Otnošenie k SŠA v Rossii i porblema antiamerikanizma
    6.vgl. rbc.ru: Ego Fulton: k desjatiletiju mjunchenskoj reči Vlamidira Putina
    7.vgl. republic.ru: Pjat’ mifov ob Amerike, tiražiruemych v Rossii und the-village.ru: Sociolog Lev Gudkov – ob effektivnosti propagandy v Rossii
    8.vgl. The New York Times (2014): As Crisis Saps Economy, Belarus Replaces Premier
    9.vgl. Reporter ohne Grenzen: Rangliste der Pressefreiheit 2018
    10.vgl. Freedom House: Freedom in the World 2018. Table of Country Scores
    11.vgl. Newtimes.ru: Lilija Ševcova: „Vopros liš’ v tom, soglasjatsja li ėlita i narod bezropotno vernut’sja v voennoe vremja, kuda ich stalkivaet vals’“

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa.

    Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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  • Sergej Lawrow

    Sergej Lawrow

    Sergej Lawrow ist ein Profi, wie es keinen zweiten gibt auf der internationalen Bühne: Im März 2024 sind es 20 Jahre, die er als Außenminister Wladimir Putins Politik in der Welt vertritt. In dieser Zeit hat er sieben US-Außenministerinnen und Außenminister kommen und gehen sehen. Trotzdem sind die Momente rar, in denen sichtbar wurde, wofür Lawrow selbst eigentlich steht. Seine Rolle ist die eines äußerst erfahrenen, eloquenten und blitzgescheiten Beamten, der seine Talente ganz in den Dienst seines Präsidenten stellt und dessen Willen mit aller Härte durchsetzt – aber auch mit Tricks und Lügen.

    Mit seinen maßgeschneiderten Anzügen umweht Lawrow eine Aura des weltgewandten Gentlemans / Foto © kremlin.ru
    Mit seinen maßgeschneiderten Anzügen umweht Lawrow eine Aura des weltgewandten Gentlemans / Foto © kremlin.ru

    Das einzige Mal, als Sergej Lawrow Wladimir Putin öffentlich widersprochen hat, liegt inzwischen zwölf Jahre zurück: 2012 setzt der US-Kongress die Namen russischer Politiker und Beamter, die an schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren, auf eine Sanktionsliste. Als Antwort auf dieses sogenannte Magnitski-Gesetz will der Kreml die Adoption russischer Waisenkinder durch US-Bürger verbieten. Das trifft vor allem schwer kranke und behinderte Kinder, für die in Russland keine Adoptiveltern gefunden werden und für die es in russischen Kliniken keine angemessene medizinische Versorgung gibt.

    Lawrows Ministerium hat mit den Amerikanern in jahrelangen Verhandlungen Regeln für Adoptionen solcher Kinder ausgearbeitet. Als er auf einer Pressekonferenz im Dezember nach dem geplanten Adoptionsverbot gefragt wird, sagt er knapp: „Das ist falsch.“ Zehn Tage später unterschreibt Putin das Gesetz. Russische Medien berichten, der Präsident habe ein „hartes Gespräch“ mit seinem Außenminister geführt. Lawrow widerruft öffentlich und behauptet, er sei nie gegen das Adoptionsverbot gewesen.

    Die Magnitski-Liste und das darauf folgende Dima-Jakowlew-Gesetz markieren den endgültigen Schlusspunkt hinter dem Neustart-Versuch, den die Obama-Regierung vier Jahre zuvor mit Moskau unternommen hatte. Am 6. März 2009 hatten Lawrow und die US-Außenministerin Hillary Clinton in Genf einen symbolischen „Reset“-Knopf gedrückt, auf den die Amerikaner irrtümlich das Wort „перегрузка“ (peregruska, dt. Überlastung) geschrieben hatten anstelle von „перезагрузка“ (peresagruska) für Neustart. Nach dem Georgien-Krieg sollte noch einmal ein Versuch unternommen werden, das Verhältnis mit Russland zu retten. Der neue Präsident Dimitri Medwedew, so hoffte man in Washington, könnte dafür eine Gelegenheit bieten. Dieses Kapitel war mit der Rückkehr Putins in den Kreml abgeschlossen. Und genauso loyal wie Lawrow unter dem Interims-Präsidenten Medwedew mit den Amerikanern neue Abkommen verhandelt hatte, wickelte er nun die Annäherung wieder ab und schaltete um auf Konfrontation. 

    Der öffentliche Widerspruch an die Adresse seines Chefs blieb ein einmaliges Ereignis. Seitdem folgt Sergej Lawrow der außenpolitischen Linie, die in der Präsidialverwaltung vorgegeben wird, bis zur Selbstverleugnung. Als er 2015 auf der Münchner Sicherheitskonferenz vor der versammelten außenpolitischen Elite der Welt die „Angliederung“ der Krim mit der deutschen Wiedervereinigung verglich und behauptete, sie sei konform mit der UN-Charta verlaufen, muss ihm klar gewesen sein, wie absurd diese Behauptung war. Tatsächlich vergaßen die anwesenden Diplomaten für einen Moment ihre Höflichkeit und brachen in spontanes Gelächter aus. Das muss schmerzhaft gewesen sein für einen, der über mehr Erfahrung im außenpolitischen Geschäft verfügt als irgendjemand sonst im Saal, und der Gesprächspartner auch gern seine Überlegenheit spüren lässt.

    Selfmade Tschinownik

    Möglicherweise kommt Sergej Lawrows großes Selbstbewusstsein auch daher, dass er weiß, dass er seine Karriere niemand anderem als sich selbst zu verdanken hat. Die Familie, in der er 1950 geboren wurde, gehörte nicht zur Sowjet-Nomenklatura. Über seine Eltern ist wenig bekannt. Als Abiturient schuftete er auf der Baustelle für den Moskauer Fernsehturm in Ostankino – wer keine Beziehungen hatte, konnte mit solchen Arbeitseinsätzen seine Chancen auf einen Studienplatz verbessern.

    Eigentlich habe er vorgehabt, Physik zu studieren, erzählte Lawrow vor einigen Jahren. Aber weil die Aufnahmeprüfungen für das Institut für Internationale Beziehungen schon früher stattfanden, habe er sich auf den Rat seiner Mutter hin dort beworben. Das Moskauer Staatliche Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) war die Kaderschmiede der sowjetischen Diplomatie und ist heute die Kaderschmiede der russischen Diplomatie. Sie hat ein eigenes kleines Museum, das inzwischen auch ein bisschen ein Lawrow-Museum ist: Hier hängt die Fahne seiner studentischen Wandergruppe und die Hymne der MGIMO, die Lawrow geschrieben hat und die heute von den Studierenden gesungen wird. Im eigenen Haus ist Lawrow mehr als ein Chef, er ist auch ein Vorbild. 

    Am MGIMO lernt er neben Englisch und Französisch auch Singhalesisch. Nach seinem Abschluss wird der junge Nachwuchsdiplomat 1972 auf seine erste Station an die sowjetische Botschaft in Sri Lanka geschickt. Vier Jahre später kehrt er zurück nach Moskau ins Außenministerium. 1981 wird er Erster Sekretär der sowjetischen Vertretung bei den Vereinten Nationen. Als er in New York ankommt, haben sich die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und dem Westen gerade wieder verschlechtert: Nachdem Breshnew zunächst zaghafte Entspannungspolitik betrieben hatte, hat sich der Kalte Krieg mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen nach Afghanistan 1979 wieder verschärft. Auf ihrer sechsten Dringlichkeitssitzung forderte die  Generalversammlung mit 104 zu 18 Stimmen den sofortigen Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan. Lawrow vertritt stoisch die Linie der sowjetischen Propaganda: Die Soldaten leisteten „friedliche Aufbauarbeit und sozialistische Bruderhilfe“. 1982 stirbt Breshnew, zwei Nachfolger kommen und gehen, erst ab 1985 erfahren die Menschen in der Sowjetunion im Zuge von Glasnost vom tatsächlichen Krieg und den zahlreichen Toten. 

    Perestroika

    Lawrow bleibt bis 1988 bei der UNO. Derweil läuft zuhause die Perestroika auf Hochtouren. Zurück in Moskau wird er im Außenministerium stellvertretender Verantwortlicher für Wirtschaftsbeziehungen, später Referatsleiter für internationale Organisationen, stellvertretender Außenminister, und ab 1994 zehn Jahre lang UN-Botschafter. Bemerkenswert ist: In den Jahren des großen Umbruchs sind Wladimir Putin und Sergej Lawrow beide im Auslandseinsatz. Doch während der KGB-Offizier Putin im „Tal der Ahnungslosen“ des sozialistischen Bruderlandes DDR lebt und versucht, Gaststudenten für den KGB anzuwerben, lernt der Diplomat Lawrow in New York den American Way of Life kennen und Whiskey und Zigarren schätzen. Heute spricht noch immer der Gopnik aus Putin. Derweil ist sein Außenminister als Mann von Welt ein Unikat in der russischen Elite.

    Nach der jahrzehntelangen Feindschaft im Kalten Krieg stehen die Zeichen zu Beginn der 1990er Jahre ganz auf Freundschaft: Wenn Hilfe von außen erwartet wird, dann vor allem von den USA. Wenn bei einer Meinungsumfrage nach einem Land gefragt wird, mit dem Russland in erster Linie zusammenarbeiten sollte, auch dann nennen die Befragten in Russland zuerst die Vereinigten Staaten von Amerika. Die USA als Feind? Mitte der 1990er Jahre sehen das nur rund sieben Prozent der Befragten so.1 

    Wie die meisten Politiker durchlebt auch Lawrow eine eigene Perestroika und wird zu einem Freund Amerikas. Sozialisiert unter dem Außenminister des Kalten Krieges Andrej Gromyko – dem berüchtigten „Mister Njet“ – muss Lawrow von nun an die Vorgaben des neuen Außenministers Kosyrew erfüllen. Dieser gilt als „Mister Ja“, Kritiker werfen ihm den Ausverkauf russischer Interessen vor, Michail Gorbatschow klagte gar, das russische Außenministerium sei unter Kosyrew eine Filiale des US-amerikanischen gewesen.2 

    Neustart 

    Der erste Stimmungswandel kommt in den Jahren 1998 und 1999. Damals fallen viele Ereignisse zusammen: die NATO-Intervention im Kosovokrieg, der Zweite Tschetschenienkrieg und die erste NATO-Osterweiterung vom 12. März 1999. Die Wogen hatten sich gerade geglättet, da beginnen die USA 2003 den Krieg im Irak: Lawrow stimmt im Sicherheitsrat gegen ein militärisches Eingreifen und weiß dabei China, Frankreich und Deutschland an seiner Seite. Nach der großen internationalen Solidarität in der Folge des Terrors vom 11. September 2001 nimmt in vielen Ländern die kritische Einstellung zu den USA wieder zu. 

    Am 9. März 2004 ernennt Wladimir Putin Sergej Lawrow zum Außenminister. Mit seinen maßgeschneiderten Anzügen inszeniert sich der hochgewachsene Lawrow als ein weltgewandter Gentleman. Längst hat er einen Ruf als blitzgescheiter Verhandler, bei dem sich Sachkenntnis und ein kluger Humor paaren. Diplomaten aus aller Welt haben ihn bereits als UN-Botschafter respektiert.3 Putin pflegt eine Männerfreundschaft mit dem deutschen Kanzler Gerhard Schröder, Lawrow – mit seinem Counterpart Frank-Walter Steinmeier. Der Amtsantritt des neuen US-Präsidenten Barack Obama im Juli 2009, der kurz danach proklamierte „Reset“ und der Richtungswechsel hinsichtlich des von George W. Bush forcierten Raketenabwehrschirms bewirken zunächst eine neuerliche Annäherung. Doch es bleibt nur ein kurzes Intermezzo.

    Antiwestliche Wende

    Die Frage, wann der Kreml die antiwestliche Wende vollzogen hat, ist strittig: Viele sehen in Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 den Startschuss. Die anderen argumentieren, dass der ab 2009 vollzogene Reset die Wogen tatsächlich zunächst geglättet habe, und die antiwestliche Kontinuität erst mit der Reaktion des Kreml auf die Massenproteste gegen Wahlfälschung und Machtmissbrauch im Winter 2011/12 ihren Lauf nahm. Der Kreml brandmarkte die Protestwelle damals schnell als ein Ergebnis des amerikanischen Einflusses. Dann folgten die Magnitski-Liste und das Dima-Jakowlew-Gesetz. 

    Seit er in der Frage der Adoption russischer Waisenkinder vor Putin eingeknickt ist, verwandelt sich Lawrows Rolle mehr und mehr von der eines geschickten Verhandlers und respektieren Diplomaten zu einem Werkzeug seines Präsidenten, der die Außenpolitik dazu nutzt, von innenpolitischen Problemen abzulenken und neue Feindbilder zu schaffen, um darüber seine Herrschaft zu legitimieren. Als hybrider Krieger dreht Lawrow gemeinsam mit Putin die Eskalationsspirale. Seit der Krim-Annexion und den ersten Sanktionen, die als Antwort darauf verhängt wurden, dreht sie sich noch schneller. Der russische Politikwissenschaftler Sergej Medwedew verglich in diesem Zusammenhang die russische Außenpolitik mit dem Verhalten eines Gopnik und schrieb: „Die hauptsächliche Exportware Russlands ist nicht Öl oder Gas, sondern Angst.“ 

    Drohung und Beleidigung als neue Mittel der Diplomatie 

    Wenn Diplomaten für die Kunst der Verhandlung und des Dialogs stehen, dann sind Gopniki ihr Gegenteil: Sie sind Meister der Drohung, der gewaltsamen Sprache und des Monologs. Tatsächlich wurde der Ton der russischen Außenpolitik im Zuge der Bolotnaja-Proteste derber, und spätestens seit der Krim-Annexion gehören Gossenjargon und Beleidigungen zum festen Repertoire russischer Diplomaten. Die Propaganda-Organe preisen ihre verbalen Ausfälligkeiten als „Bestrafungen“, Kritiker werten den ostentativen Hang zu stilistisch derberen Registern als Dialogverweigerung und kalkulierten Bruch mit der Welt. In Russland kommt dieses Auftreten derweil gut an: „Die haben (wieder) Angst vor uns“ wird zu einer gängigen Propagandaformel, „Lawrow hat … ausgelacht“ zu einem beliebten Motiv der Propagandamedien.4 

    Gentleman und Gopnik – Lawrow beherrscht beide Rollen

    Lawrow hat in seiner Karriere zahlreiche Kehrtwenden mitgemacht Er begann unter Gromyko als ein scharfer Gegner des US-Imperialismus, vollzog während der Perestroika eine Kehrtwende und wurde 2014 zu einem Wiedergänger Gromykos, wobei er mit den häufigen Vergleichen durchaus kokettiert.5 Lawrow beherrscht den Spagat zwischen Gentleman und Gopnik, Sachargument und Whataboutism. Er kann beides sein: Intellektueller und Apparatschik, Stimme der Vernunft und Scharfmacher. Letzteren gibt er etwa im Fall Lisa, als er 2016 deutschen Behörden vorwirft, ein von Ausländern begangenes Verbrechen zu vertuschen. Sein einstiger Duz-Freund Frank-Walter Steinmeier wirft ihm daraufhin Propaganda vor.

    Außenminister Lawrow (links) und der russische Präsident Wladimir Putin während des Afrika-Gipfels in Sankt Petersburg im Juni 2023 / Foto © Yevgeny Biyatov/POOL/IMAGO/ITAR-TASS

    Lügen gehören inzwischen ebenso zu Lawrows Handwerkszeug wie die Litanei internationaler Spielregeln, Verträge und Präzedenzfälle, die er bei Bedarf im Schlaf aufsagen könnte. Seit der Krim-Annexion hat der Außenminister eine lange Liste von Lügengeschichten erzählt: Von der Behauptung, russische Soldaten kämpften nicht in der Ostukraine über die Fakes, die russische Auslandsvertretungen verbreiten6 bis hin zu den Vorwürfen, Washington betreibe Labore für Biowaffen in der Ukraine und arbeite an der „Endlösung der Russenfrage“7. Doppeldenk, Täter-Opfer-Umkehr, krude Verschwörungsmythen und primitiver Antiamerikanismus – das alles ist einem Ziel untergeordnet: Bewirtschaftung des Feindbildes zur Herstellung eines Ausnahmezustands und Rally ‘round the Flag Effekts. Die Argumentation ist schlicht und lässt sich auf fünf Punkte8 herunterbrechen:

    1. Die USA haben die NATO bis vor Russlands Grenzen ausgedehnt. Sie betreiben Revolutionsexport und führen Europa an der Leine. Im Ergebnis sind wir von Feinden (Nazis) umzingelt und müssen uns verteidigen (wie im Großen Vaterländischen Krieg).
    2. Sie („Pindossy“, „Gayropa“) sind moralisch verfault, wir stehen für die wirklichen Werte (Duchownost, Skrepy).
    3. Sie sind Heuchler und haben Doppelstandards (Kosovo, NATO-Osterweiterung, Irak), wir stehen für Gerechtigkeit („in der Wahrheit liegt die Kraft“, „Gott ist mit uns“, „Krim nasch“).
    4. Sie sind an allem Schuld, weil sie schon immer andere unterworfen und ausgebeutet haben (Kolonialismus, Imperialismus, Irak) – wir kämpfen immer für die Entrechteten und sind deshalb ihr nächstes Ziel.
    5. Wir haben die Atombombe. 

    Wofür Lawrow selbst steht, das lässt sich hinter dieser Rhetorik immer schwerer erahnen. Gewiss ist nur, dass Lawrows persönliches Interesse in einem Punkt deckungsgleich ist mit dem Interesse seines Landes: Lawrow erwartet Respekt. Früher wurde er ihm für seine Gescheitheit und seine Erfahrung entgegengebracht. Die Lacher auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2015 haben gezeigt, dass der Respekt verloren geht, je weiter Russland die Wahrheit verdreht. Im März 2023 wiederholte sich die Situation, als Lawrow auf einer Konferenz in Indien behauptete, Russland sei in der Ukraine der Angegriffene. Immer öfter greift Lawrow daher zur Drohung, um sich Respekt zu verschaffen. Am Ende dieser Entwicklung bleibt die Angst, die Russland mit seinen Atomkriegs-Szenarien auszulösen in der Lage ist, als letzter außenpolitischer Erfolg, den die Regierung noch erzielen kann.

    Überarbeitet am 8. März 2024


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