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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Boris Mikhailov – Foto-Chronist der Ukraine

    Boris Mikhailov – Foto-Chronist der Ukraine

    Eine umfassende Retrospektive des ukrainischen Fotografen Boris Mikhailov ist noch bis 15. Januar im Pariser Maison Européenne de la Photographie (MEP) zu sehen: Journal ukrainien – Ukrainian Diary umfasst 800 Fotografien. Mikhailov, der aus dem ostukrainischen Charkiw stammt, widmet diese Ausstellung der Ukraine und allen, „die unter dem heimtückischen und unerklärlichen Angriff auf unser Land leiden“. Kunstkritiker Anton Dolin hat sie für Meduza besucht. 
     

    Aus der Serie Luriki (Colored Soviet Portrait), 1971-85. Schwarz-Weiß-Fotografie, handcoloriert, 81 x 61 cm / © Boris Mikhaïlov, Collection Pinault / Courtesy Guido Costa Projects, Orlando Photo

    Heute, da alle Augen auf die Ereignisse in der Ukraine gerichtet sind, könnte man in der umfassenden Retrospektive des Fotografen Boris Mikhailov eine opportunistische Geste sehen. Doch der 84-jährige Charkiwer gilt längst – spätestens seit Anfang der 1990er Jahre – als lebender Klassiker und als ein Genie, das die Fotografie neu gedacht hat. Von allen Preisträgern des renommierten Hasselblad Foundation Awards (so etwas wie der Nobelpreis für Fotografie), stammt er als Einziger aus dem postsowjetischen Raum. Boris Mikhailov hat sein Leben lang die geltenden Regeln und Normen in Frage gestellt – erst die der Sowjetunion, und dann die der ganzen Welt.

    Ein Genie, das die Fotografie neu gedacht hat

    Mehr als ein halbes Jahrhundert hat Mikhailov in der UdSSR verbracht, dann ging er nach Deutschland, wo er auch heute noch lebt. Er bezeichnet sich jedoch ausschließlich als Ukrainer. Und wer würde ihm da widersprechen.

    Er dokumentierte den Zerfall der Sowjetunion und die ersten Jahrzehnte der ukrainischen Unabhängigkeit so schonungslos und poetisch wie kein anderer. Mikhailov fasst seine Bilder stets in Zyklen oder Serien zusammen: U Semli (Am Boden, 1991) ist inspiriert von Gorkis Na dne (dt. Am Boden bzw. Nachtasyl – Szenen aus der Tiefe). Sumerki (Dämmerung, 1993) wirkt wie durchdrungen von blauem Dunst. Das monumentale Promsona (dt. Industriegebiet, 2011) entstand im Donbass. Und Tschai, Kofe, Kaputschino (dt. Tee, Kaffee, Cappuccino, 2000–2010) ist eine scharfsichtige Chronik des postsowjetischen Chaos in seiner Heimatstadt Charkiw.

    Mikhailov hat sein Leben lang die geltenden Regeln und Normen in Frage gestellt – erst die der Sowjetunion, und dann die der ganzen Welt

    All diese Bilder sind noch bis 15. Januar 2023 in der Pariser Retrospektive zu sehen. Nach einem Besuch der Ausstellung scheint es, als könnte man die Funktionsweise der Ukraine in den vergangenen Jahrzehnten nur verstehen, wenn man sich Mikhailovs Aufnahmen anschaut – schonungslos und zärtlich zugleich.

    In der UdSSR dokumentierte Mikhailov unermüdlich die sapreschtschjonka – also alles, was verboten war (russ. sapret – Verbot). Weil man bei ihm Aktaufnahmen fand, verlor er seine Arbeit als Elektroingenieur. Er war immer darauf aus, das Unscheinbare, Ungeschönte – scheinbar Zufällige – aufzuspüren und sichtbar zu machen. In der Fotoserie Luriki (1971–1985) kolorierte und „verschönerte“ Mikhailov wiederum fremde Familienfotos. Und in SozArt (1975–1985) hübschte er auf diese Weise seine eigenen Reportagefotos von Demonstrationen und anderen offiziellen Veranstaltungen auf.

    Sehr eindrucksvoll ist die Krassnaja serija (dt. Rote Serie, 1968–1975), die die offiziöse Sowjetwelt als ein Sammelsurium von wunderlichen Sonderlingen und Monstern à la Hieronymus Bosch zeigt. So ist Mikhailov bereits in seinen frühen Arbeiten ohne viele Worte mit seinen Zeitgenossen in einen Dialog über Ästhetik und Zweck der Kunst getreten.

    Die Bruchstelle zwischen Sein und Bewusstsein spürt der Fotograf in der Serie Soljanyje osera (dt. Salzseen, 1986) auf. Sie zeigt Urlauber in der Gegend bei Slowjansk: Das Wasser des Stausees, in den die umliegenden Fabriken ihre giftigen Abfälle kippten, hielten die Menschen ganz aufrichtig für heilsam, seinem Schlamm schrieben sie Wunderqualitäten zu. Doch Mikhailovs Bandbreite erschöpft sich bei weitem nicht im grotesken Verlachen des einfachen Bürgers. Die Serie Tanzy (Tanz, 1978) dokumentiert eine Tanzveranstaltung im Charkiwer Stadtpark mit so viel Liebe und Ehrfurcht, dass man die müden, zerknitterten, vom Dauerstress zermürbten Helden dieser Bilder sofort umarmen möchte.

    Mikhailovs gesammeltes Werk umfasst auch Arbeiten, die den Ereignissen auf dem Maidan gewidmet sind. In der höchst beeindruckenden Serie Teatr wojennych deistwi. Akt II. Antrakt (dt. Kriegsschauplatz. 2. Akt. Pause, 2013–2014) wirkt es, als würde er die Tatsachen heranzoomen, ihnen einen neuen Maßstab verleihen.

    Die Pariser Ausstellung trägt nicht zufällig den Titel Ukrainisches Tagebuch: Ein eigener Saal ist Mikhailovs Fototagebuch gewidmet, das er schon sein ganzes Leben führt. Hier sind die Serien nicht chronologisch angeordnet – das liegt daran, dass viele der Bilder im Laufe von 20 bis 30 Jahren entstanden sind.

    Als könnte man die Funktionsweise der Ukraine in den vergangenen Jahrzehnten nur verstehen, wenn man sich Mikhailovs Aufnahmen anschaut – schonungslos und zärtlich zugleich

    In der Exposition mischt sich das Epische mit dem Lyrischen. Auf der einen Seite ist da der Zyklus Soljanyje osera, auf der anderen – der Krymski snobism (Snobismus auf der Krim, 1982), in dem der Künstler voller Selbstironie seine eigenen, ganz orthodox-sowjetischen Ferien am Meer zeigt. Auf der einen Seite das metaphysische Wjaskost (dt. Klebrigkeit, 1982), dessen Titel allein schon den Geist des Stillstands atmet, auf der anderen – das avangardistische Neokontschennaja dissertazija (dt. Unvollendete Dissertation, 1984), in dem Mikhailov eine unfertige wissenschaftliche Arbeit, die jemand weggeworfen hat, als Ready-Made benutzt und die Seitenränder mit wie zufälligen Fotos und philosophischen Kommentaren spickt.

    Ein eigener Raum ist der Skandal-Reihe Istorija bolesni (dt. Krankengeschichte, 1997–1998) gewidmet: Sie zeigt Portraitaufnahmen von Obdachlosen, die durch Mikhailovs Kameraobjektiv an die tragischen Helden von Caravaggio oder Rembrandt erinnern. Von manchen provokanten Arbeiten möchte man den Blick abwenden, aber es geht nicht – sie brennen sich augenblicklich ins Gedächtnis ein, verbleiben dort wie Narben. Die Fähigkeit, das Sakrale im Profanen zu sehen, das Ergreifende im Abstoßenden, das Schöne im Hässlichen – das ist es, woran man ein großes Talent erkennt.

    Die provokante Serie von Selbstportraits Ja ne Ja (dt. Ich bin nicht Ich, 1992), in der der Künstler nackt mit Dildos vor der Kamera posiert, ist im Stil eines Slapstick-Stummfilms gehalten. Oder die nach heutigem Maßstab noch gewagtere Serie Esli by ja byl nemzem (dt. Wenn ich Deutscher wäre, 1994): Mikhailov richtet die Kamera mit derselben bestechenden Ehrlichkeit und demselben vernichtenden Sarkasmus auf sich selbst wie auf seine Umgebung.

    Letzten Endes lässt sich das Subjektive nicht vom Objektiven trennen, deshalb dokumentiert ein wahrer Fotograf die Wirklichkeit immer in dem gleichen Maße, in dem er sie bricht. Hervorragend illustriert wird dieser Gedanke in der Dia-Show Wtscheraschni Buterbrod (dt. Butterbrot von gestern, 1960er–1970er Jahre), in dem „mangelhafte“, ausgemusterte Aufnahmen sich zum psychedelischen Soundtrack von Pink Floyd abwechseln und plötzlich eine unerwartete, oft frappierende Schönheit entfalten.

    Den Schlussakkord der Ausstellung bildet eine weitere Dia-Show: das prophetische Ispytanije smertju (dt. Prüfung durch Tod, 2014–2019), das von der modernistischen Architektur eines sowjetischen Krematoriums inspiriert ist.

    Die Ausstellung präsentiert die künstlerische Biografie des Fotografen als von einer Idee durchdrungen, die besonders heute wichtig und wertvoll ist: Mikhailov zeigt, wie komisch, verletzlich und unvollkommen der menschliche Körper, der Krankheit und Alter unterworfen ist, sein kann. Und doch ist er stärker als die vermeintliche Unerschütterlichkeit ideologischer Konstrukte und der Schönheitsideale, die sie propagieren.

    Die Bilder des Maidan fügen sich in diesen Gedanken gut ein: Sie handeln nicht von einem mystischen „Volk“, sondern von Menschen, die in der Lage sind, Trugbilder zu besiegen, allen voran den Mythos von der großartigen sowjetischen Vergangenheit. Mikhailov ist im Laufe seines langen Lebens Zeuge verschiedener Epochen geworden. Es bleibt zu hoffen, dass er bald das Ende des Krieges dokumentieren wird, der jetzt in seiner Heimat, der Ukraine, geführt wird.  

           

    Aus der Serie Luriki (Colored Soviet Portrait), 1971-85. Schwarz-Weiß-Fotografie, handcoloriert, 61 x 81 cm / © Boris Mikhaïlov, Collection Pinault / Courtesy Guido Costa Projects, Orlando Photo
    Aus der Serie Wtscheraschni Buterbrod, 1966-68. C-Print, 30 x 45 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie
    Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Wtscheraschni Buterbrod, 1966-68. C-Print, 30 x 45 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie
    Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Black Archive, 1968-1979. Schwarz-Weiß-Fotografie, 24 x 18 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn /
    Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Black Archive, 1968-1979. Schwarz-Weiß-Fotografie, 24 x 18 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn /
    Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Wjaskost, 1982. Schwarz-Weiß-Fotografie, Buntstifte, 30 x 18 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Tanzy, 1978. Silbergelatine-Abzug, 16,2 x 24,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Tanzy, 1978. Silbergelatine-Abzug, 16,2 x 24,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Krassnaja serija, 1968-75. C-Print, 45,5 x 30,5cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben mit Hilfe des Art Fund (mit Unterstützung der Wolfson Foundation) und Konstantin Grigorishin, 2011
    Aus der Serie Krassnaja serija, 1968-75. C-Print, 45,5 x 30,5cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben mit Hilfe des Art Fund (mit Unterstützung der Wolfson Foundation) und Konstantin Grigorishin, 2011
    Aus der Serie Krassnaja serija, 1968-75. C-Print, 45,5 x 30,5cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben mit Hilfe des Art Fund (mit Unterstützung der Wolfson Foundation) und Konstantin Grigorishin, 2011
    Aus der Serie , 1991. Silbergelatine-Abzug, Sepia getönt, 11,5 x 29,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    National Hero, 1991. C-Print, 120 x 81cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Sumerki, 1993. C-Print, 66 x 132,9 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Sumerki, 1993. C-Print, 66 x 132,9 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Ja ne ja, 1992. Silberabzug, 30 x 20 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Krymski snobism, 1982. Silberabzug, Sepia getönt, 15 x 20 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben durch Finanzierung des Russia and Eastern Europe Acquisitions Committee und des Photography Acquisitions Committee, 2016
    Aus der Serie Krymski snobism, 1982. Silberabzug, Sepia getönt, 20 x 15 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben durch Finanzierung des Russia and Eastern Europe Acquisitions Committee und des Photography Acquisitions Committee, 2016
    Aus der Serie Krymski snobism, 1982. Silberabzug, Sepia getönt, 20 x 15 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben durch Finanzierung des Russia and Eastern Europe Acquisitions Committee und des Photography Acquisitions Committee, 2016
    Aus der Serie « Salt Lake », 1986. C-Print, Sepia getönt, 75,5 x 104,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Soljanyje osera, 1986. C-Print, Sepia getönt, 75,5 x 104,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Tschai, Kofe, Kaputschino, 2000–2010. C-Print, 25,5 x 80 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Tschai, Kofe, Kaputschino, 2000–2010. C-Print, 25,5 x 80 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Teatr wojennych deistwi, 2013. C-Print / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Teatr wojennych deistwi, 2013. C-Print, 130 x 180 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Teatr wojennych deistwi, 2013. C-Print / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Istorija Bolesni, 1997–1998. C-Print, 172 x 119 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Istorija Bolesni, 1997–1998. C-Print / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Tagebuch-Serie, 1973–2016. Schwarz-Weiß-Fotografie, Buntstifte, 29,7 x 21 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris

    Original: Meduza
    Fotos: Boris Mikhailov
    Text: Anton Dolin
    Übersetzung: Jennie Seitz
    Bildredaktion: Andy Heller
    Veröffentlicht am: 01.12.2022

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    Fototagebuch aus Kyjiw

  • Was können wir denn dafür?

    Was können wir denn dafür?

    Ist das wirklich nur Putins Krieg? Inwiefern tragen auch gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger Russlands eine Mitschuld – solche, die mit der Politik im Land in der Regel gar nichts zu tun haben wollen? Mariupol, Butscha, Kramatorsk: Zeugnisse von Tod und Zerstörung, von immer neuen Gräueltaten in der Ukraine werfen diese Fragen stets aufs Neue auf.

    Anton Dolin fühlt sich derzeit an Ereignisse aus der Zeit der Jahrtausendwende erinnert, als aus dem jungen Premierminister Wladimir Putin plötzlich der neue Präsident des Landes wurde. Nach den wilden 1990er Jahren trat Putin als Garant für Stabilität auf. Der unausgesprochene Gesellschaftsvertrag lautete: Der Kreml sorgt für wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein. In einem vielbeachteten Kommentar auf Facebook schreibt der Journalist und Filmkritiker jedoch: Das Ungeheuerliche gab es bei Putin schon von Anfang an. Die kollektive Schuld, so Dolin, liegt darin, dass es toleriert wurde.

     

    Wo beginnt Putin? 
    Dort, wo er sein Ende gefunden hat. Genauer gesagt dort, wo er heute angekommen ist und uns alle hingeführt hat.

    Ich will vorausschicken: Ja, ich bin Filmkritiker und kein Politikanalyst. Doch es hat sich ergeben, dass ich von 1997 bis 2002 Korrespondent des Informationsdienstes von Echo Moskwy war. Im Pressepool von Putin – damals noch Premierminister und [nach Jelzins Rücktritt am 31. Dezember 1999 – dek] kommissarischer Präsident – reiste ich mit ihm durchs Land. Arbeitete nach der Explosion des Wohnhauses auf der Kaschirskoje Chaussee in den Trümmern. Berichtete über Parlaments- und Präsidentschaftswahlen und erhielt sogar von der Zentralen Wahlkommission eine Urkunde für tüchtige Arbeit.  
    Was dann kam, sollte, wie mir scheint, allgemein bekannt sein. Doch aus irgendeinem Grund ist es nicht für alle offensichtlich, selbst jetzt nicht.

    Putins Macht und seine Politik stehen auf vier Fundamenten, die in den ersten beiden Jahren seines Aufstiegs gelegt wurden.

    1. Operation „Nachfolger“

    Wer durch eine „Spezialoperation“ Präsident wurde, wer nicht gewählt, sondern durch eine Verschwörung der Eliten eingesetzt wurde, der kann nicht an demokratische Wahlen glauben. Das und nur das ist der Grund für die Fälschungen und die Verachtung der Wähler seit über 20 Jahren.  

    2. Die Explosionen der Wohnhäuser 1999

    Wie gesagt, ich war dort. Natürlich sind Zeugen und Experten nicht dasselbe. Es fehlt mir an Informationen, um mit Sicherheit den FSB für diese Übeltat (Explosionen von Wohnhäusern in mehreren Städten mit über 300 Toten und etwa 2000 Verletzten) verantwortlich zu machen und nicht die tschetschenisch-arabischen Söldner unter der Führung von Emir Ibn al-Chattab. Doch die Geschichte mit dem Rjasaner Zucker („FSB-Übungen“, bei denen Agenten Säcke mit Hexogen in den Hausflur schleppten) konnte bis heute niemand überzeugend erklären. Naja, und an das Schicksal des Experten in dieser Angelegenheit – Alexander Litwinenko – können sich vermutlich alle erinnern.

    Aber versuchen wir mal uns nicht auf das „Wer ist schuld?” zu konzentrieren, sondern auf das „Wer hat davon profitiert?” Die Terroristen haben nichts gewonnen; es gab von ihnen keine Androhungen, sie haben keine Verantwortung übernommen und keinerlei Forderungen gestellt. Putin und der FSB jedoch hatten in der Folge verängstigte, geeinte Wähler, ein überzeugendes Motiv für den Zweiten Tschetschenienkrieg, sprunghaft in die Höhe geschnellte Umfragewerte für den Silowik-Premierminister [Putin – dek] und einen diskreditierten Moskauer Bürgermeister Lushkow, der als Hauptkonkurrent bei der bevorstehenden Präsidentschaftswahl galt. 
    Warum hielten über all die Jahre eigentlich viele klar denkende Menschen die Version „der FSB sprengt Wohnhäuser“ für verschwörungstheoretischen Quatsch? Etwa, weil derartige Übeltaten nicht ins Bild der korrupten Bürokraten-Gauner-Diebe passen? Genauso haben sie auch nicht geglaubt, dass Putin die Ukraine angreift. „So einer ist Putin nicht.“ Nun ja. 
    (Ich erwarte mit Schrecken „ukrainische Terroranschläge“ in Russland. Von unseren Leuten.)

    3. Der Zweite Tschetschenienkrieg

    Den Emotionen der Massen, ihrem Schrecken und ihrer Rachsucht ein Ventil geben, den gordischen Knoten des unlösbaren Konflikts zerschlagen, na und einfach einen „kleinen siegreichen“ organisieren. Nach offiziellen Angaben gab es 1000 zivile Opfer – nach denen von Amnesty International 25.000. 

    Vieles ist wiederzuerkennen: Die Bombardierungen des dicht besiedelten Grosny, das praktisch dem Erdboden gleichgemacht wurde. Die Geheimhaltung der Verlustzahlen. Die strenge Kontrolle der Berichterstattung über den Konflikt in allen Medien. Das Verbot, Tschetschenen in der Presse zu Wort kommen zu lassen. Die Entmenschlichung des Feindes: Es gab keine Menschen, sondern ausschließlich „Kämpfer“, sie wurden nicht getötet, sondern „liquidiert”. Es war kein Krieg, sondern eine „antiterroristische Operation“. Und natürlich das von den Russen geliebte „im Klo abmurksen“.

    Ich erinnere mich gut an einen Streit mit einem ehemaligen Schulkameraden und Journalistenkollegen über diesen Krieg. „Es wurden dort tausende Menschen umgebracht!“, sagte ich. „Nicht Menschen, sondern Banditen-Gesindel“, parierte er kategorisch. Ich war erschüttert und erzählte ein paar Monate später auf dem Geburtstag eines Freundes einem anderen Kumpel (der heute erfolgreicher Kommunist und Anti-Putinist ist) von diesem Dialog. Der wiederum verwandelte meine Geschichte in eine Kolumne just über meine „Demokraten-Schizophrenie“. Jetzt erinnere ich mich, dass ich dort milde als „der gute Mensch aus einem schlechten Radiosender“ bezeichnet wurde. 
    Überhaupt etablierte und verbreitete sich der Ausdruck „Demokraten-Schizo“ genau in dieser Zeit. So nannte man die, die in den Tschetschenen Menschen sahen. 

    4. Die Zerschlagung von NTW

    Die Zerstörung des unabhängigen Fernsehsenders, der fähig war, Gegenkandidaten zur amtierenden Regierung wirksam zu unterstützen – das war der wichtigste Schritt des frühen Putins. Damals zeigte sich auch, dass sich Putin nicht im Geringsten von Demonstrationen und Protesten beeindrucken lässt. Plus seine Erklärung der Politik durch Wirtschaft: „ein Streit unter Wirtschaftssubjekten“ und basta. Damals begann der Weg, der im März 2022 mit der vollständigen Vernichtung aller Medien endete, die auch nur ein Deut an Unabhängigkeit besaßen.  

    All das gab es von Anfang an

    Nichts Neues. Kein bisschen. 
    Verachtung der Demokratie;
    Erbarmungslosigkeit gegenüber dem eigenen Volk;
    Entmenschlichung und Dämonisierung eines anderen Volkes;
    Hass auf die Meinungsfreiheit.
    Erstens, zweitens, drittens, viertens.
    All das gab es von Anfang an, als derart viele in Putin den vielversprechenden Jungpolitiker sehen wollten.

    Ich erinnere mich haargenau an einen Parteitag der Union der Rechten Kräfte im Vorfeld der Wahl (auch da bin ich gewesen), wo viele einflussreiche Liberale – die Mehrheit, wie es damals schien – dazu aufriefen, Putin zu unterstützen. Laut gegen ihn äußerte sich nur einer: der Menschenrechtler Sergej Kowaljow. Jaja, ein „Demokraten-Schizo“. 

    Über Putins Evolution zu diskutieren hat keinen Sinn. Wichtig ist eine andere Frage: Warum hat die Gesellschaft (nicht nur die russische) mit all dem seinen Frieden gemacht und das als normal empfunden, was heute die ganze Welt in Grauen versetzt? 

    Hier ist eine mögliche Antwort auf die für viele Russen so quälende Frage: „Was können wir denn bitteschön dafür?“ Unsere Schuld liegt darin, dass vielen von uns aus diversen Gründen vor 20 Jahren zulässig schien, was heute ungeheuerlich scheint.
    (Und es scheint nicht nur so: Es ist ungeheuerlich.)

    Ich persönlich fühle mich schuldig dafür, dass ich 2001, nachdem ich all das gesehen hatte, nur abwinkte und entschied, Filmkritiker zu werden. Womöglich war das falsch.

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