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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Darin liegt ihre Stärke: Ein Ökosystem ist schwerer zu unterdrücken“

    „Darin liegt ihre Stärke: Ein Ökosystem ist schwerer zu unterdrücken“

    Die Zeit im Gefängnis hat Ihar Karnei schwer gezeichnet. Aschfahle Haut, knochige Gestalt. 18 Kilogramm Gewicht habe er in der Haft verloren, sagte er nach seiner Freilassung. Der belarussische Journalist – 2024 zu fast vier Jahren Haft verurteilt – war unter den 14 Personen, die am 21. Juni 2025 infolge eines Besuches des US-Sonderbeauftragten Keith Kellogg in Minsk freigelassen wurden.  

    Der Journalist Ihar Karnei nach seiner Freilassung mit einem Foto, das ihn vor der Haft zeigt. / Foto © Iva Sidash/ Belarusian Association of Journalists (BAJ) 

    Seit den Protesten von 2020 verfolgt das Lukaschenko-Regime Journalisten und Medien mit scharfen Repressionen und kriminalisiert Leser und User, wenn sie Telegram-Kanäle abonnieren oder Beiträge in Sozialen Medien teilen. Der unabhängige Journalismus wurde nahezu vollständig ins Exil getrieben. Nun berichten Medien wie Pozirk oder Zerkalo aus Polen oder Litauen und versorgen die belarussische Gesellschaft im Land weiterhin mit Informationen.  

    Ihre Existenz ist prekär und sie ist noch prekärer geworden, nachdem die Trump-Regierung seit Anfang 2025 diverse Förderprogramme gestoppt hat. „Quasi über Nacht brach den belarussischen Medien die Hälfte ihres Budgets weg“, heißt es in einer Studie des Press Club Belarus. Aber ein Aus der belarussischen Medien wäre ein herber Schlag für die europäische Sicherheit, heißt es in dem Papier weiter. In einem aktuellen Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung greift der Historiker Felix Ackermann diese Studie auf und fordert eine bessere Unterstützung belarussischer Medien durch die Bundesregierung – auch im eigenen Sicherheitsinteresse.  

    Für dekoder hat die belarussische Journalistin Anna Wolynez mit Natalia Belikova vom Press Club Belarus über die Lage der belarussischen Medien und ihre Überlebenschancen gesprochen. 

     

    Die deutlichste Tendenz, die wir 2025 im Zusammenhang mit dem Stopp der US-amerikanischen Medienhilfen beobachten, ist, dass die belarussischen Medien begonnen haben, stärker mit ihren Finanzierungsmodellen zu experimentieren und sie zu diversifizieren. „Sie versuchen Aktivitäten auszubauen, die sich an die Belarussen im Ausland richten: Spendeneinwerbung, Entwicklung lokaler Communities, Clubtreffen mit Eintrittsgeld … Aber auch in den erfolgreichsten Fällen deckt das höchstens zehn Prozent des Jahresbudgets“, sagt Natalia Belikova vom Press Club Belarus

    Auch in Zukunft werden diese zusätzlichen Aktivitäten kaum ausreichen, um ohne unterstützende Fördermittel zu überleben und langfristig resilient zu werden. Der Press Club Belarus hat daher für alle, die den unabhängigen Medienunternehmen helfen wollen, eine Unterstützungsplattform gestartet: Save Belarus Media

    Werbung scheitert an Desinteresse und Repressionen 

    Ein werbebasiertes Finanzierungsmodell ist für belarussische Medien keine Option: Für ausländische Unternehmen ist Werbung, die sich an Menschen in Belarus richtet, uninteressant, weil diese keine potentiellen Kunden darstellen. Und für die belarussische Wirtschaft ist es gefährlich, mit den unabhängigen Medien in Verbindung gebracht zu werden, die das Lukaschenko-Regime fast ohne Ausnahme für „extremistisch“ erklärt hat.  

    Den härtesten Schlag müsse aber die riesige Zahl von Freiberuflern aushalten, sagt Natalia Belikova. Die Anzahl der Aufträge gehe zurück und verschärfe ihre auch zuvor schon verletzliche Situation. Die Redaktionen kürzen merklich im Bereich Social Media Marketing, reduzieren die Ausgaben für Fotos und Layout, aber auch für die Textproduktion an sich. In der Folge wird weniger Material, darunter auch Exklusivmaterial, veröffentlicht, wodurch mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ein Teil des Publikums verloren gehen wird, prognostiziert die Medien-Expertin im dekoder-Gespräch. 

    „Wie ein Medienangebot ein Publikum erreicht, hängt sehr stark von den großen Tech-Konzernen wie Meta, Google, TikTok und YouTube ab. Für deren Algorithmen ist die Quantität der publizierten Inhalte relevant. Werden es weniger, sinkt mittel- bis langfristig auch der Einfluss des Mediums.” 

    Dennoch hat laut Belikova bisher kein einziges Medium seine Arbeit komplett eingestellt. In der Regel werden zuerst sogenannte Subbrands geopfert – kleinere Projekte, die nicht direkt mit dem zentralen Produkt assoziiert werden. „Alle sind darauf ausgerichtet, die Dachmarke zu erhalten. Aber die Anzahl der Submarken und die Menge der Inhalte schrumpft“, meint die Leiterin der Abteilung für Internationale Kooperationen des Press Club Belarus. „Bis Jahresende werden wir die Folgen für die gesamte Branche messen können.“ 

    Die belarussischen Medien behalten hohe Reichweite 

    Die US-amerikanischen Geldgeber sahen in den Medien mehr als nur nichtkommerzielle Unternehmen, die für die Zivilgesellschaft arbeiten, nämlich Institutionen, deren Tätigkeit man nicht einfach einstellen und nach einiger Zeit wieder aufnehmen kann. Die europäischen Fördermittelgeber hingegen arbeiten häufiger nach einer Projektlogik, die nach Projektende konkrete Kennzahlen erwartet, die die erreichten Veränderungen darstellen – doch das wiederum ist für Medianarbeit nicht unbedingt relevant. 

    „Mit diesem Problem sind nicht nur die belarussischen Redaktionen konfrontiert, sondern auch Medien aus anderen osteuropäischen Staaten, aus Afrika und Asien“, sagt Belikova. „Deshalb wird unter Medienunternehmern und -entwicklern aktuell diese Besonderheit diskutiert, und wie man die klassischen europäischen Fördermittelgeber überzeugen könnte, ihren Projektansatz zu überdenken.“

    Natalia Belikova vom Press Club Belarus / Foto © privat  

     

    Natalia Belikova betont, dass man im Bereich der Advocacy-Arbeit für die Medien, also für Schutz und Förderung ihrer Interessen (gegenüber Geldgebern, internationalen Organisationen und ausländischen Regierungen), unabhängig vom Kontext mehr über ihre Stärken und Erfolge sprechen sollte. Der Press Club Belarus beruft sich bei der Interessenvertretung der belarussischen Medien stets auf deren Fähigkeit, wie ein Ökosystem zusammenzuarbeiten, in dem landesweite und thematische Medienangebote, Nischenausgaben und Nachrichtenagenturen einander in guter Nachbarschaft unterstützen. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass die belarussischen Medien weiterhin hohe Reichweiten erzielen, meint Belikova: „Darin liegt ihre Stärke: Ein Ökosystem ist schwerer zu unterdrücken, und dadurch wird Wirkung erzielt: Die unabhängigen Medien können weiterhin ihr Publikum erreichen.“   

    Trotz Repressionen versuchen etwa 15 Prozent des Publikums in Belarus, Informationen aus verschiedenen Quellen zu beziehen 

    Die zweite Besonderheit und auch eine weitere Stärke der belarussischen Medien liegt in ihrer Nähe zu Belarus – in jeder Hinsicht: Die wichtigsten Mediahubs befinden sich in Vilnius, Warschau und Białystok. Dort finden ihre Redaktionen Büroräume, Studios, Fachkräfte und technische Ausstattung, die man beispielsweise braucht, damit Nutzerinnen und Nutzern ohne VPN-Einsatz die staatliche Blockierung der Webseiten umgehen können.  

    Die Situation der belarussischen Medien im Exil unterscheidet sich auch dadurch von derjenigen aus anderen Ländern, dass man sich nach wie vor auf das Publikum im Land orientiert, meint Belikova. Und das obwohl aufgrund der Kriminalisierung der gesamten unabhängigen Branche im Grunde kein wirklicher Markt für sie existiert: Viele Medien haben den Status „extremistische Vereinigung“ bekommen, ein Teil ihrer Veröffentlichungen steht auf einer Liste „extremistischer Materialien“. Das bedeutet faktisch, dass jedes Like unter diesen Publikationen auf Social Media als Verbrechen gewertet wird.  

    All diesen Hindernissen zum Trotz signalisiert das Publikum Nachfrage: „Auch wenn in der Gesellschaft viel Angst herrscht, versucht ein großer Anteil [des Publikums] – einer Studie des Forschungszentrums iSANS zufolge etwa 15 Prozent – Informationen aus unterschiedlichen Quellen zu beziehen. Berücksichtigt man den Grad der Repressionen, so ist das ein recht hoher Anteil von Menschen, die sich um ein komplexeres Weltbild bemühen, als es die Propaganda anbietet. Das zeugt wiederum davon, dass die Gesellschaft in gewissem Maße gesund geblieben ist“, resümiert Belikova. 

    Und das sei es auch, was den belarussischen Medien helfen kann, mit Geldgebern in einer Sprache der Erfolge zu sprechen: Man müsse davon erzählen, welches einzigartige, wertvolle Angebot man dem Publikum macht, um so den sinnvollen Einsatz der Mittel hervorzuheben.  

    Überleben als Alltagsgeschäft  

    Die belarussischen Medien im Exil werden häufig mit den russischen verglichen, doch Belikova hält diese Analogie für unzutreffend: „Gerade im Hinblick auf den Einfluss auf die Menschen im Land kann man sie nicht vergleichen: In Belarus erreichen unabhängige Medien einen viel höheren Anteil der Bevölkerung, 25 bis 30 Prozent, während die Medien, die Russland verlassen mussten, nur noch eine Reichweite von sechs bis sieben Prozent im Land haben.“ Zieht man Parallelen zu Exil-Medien anderer Länder, dann seien die Kollegen aus Nicaragua den Belarussen am ähnlichsten. Eine Protestbewegung, wie sie in Belarus 2020 stattfand, gab es in Nicaragua 2018. Seitdem setzen die unabhängigen Redaktionen ihre Arbeit von Costa Rica aus fort.  

    „Bei ihnen gab es auch zuerst eine Zeit der Liberalisierung, und dann verbot der Präsident nach den Wahlen mit einem Mal alle unabhängigen Medien“, berichtet Belikova. „Die Journalisten wurden mit Flugzeugen außer Landes gebracht, ihnen wurde die Staatsbürgerschaft entzogen, aber, wie auch bei uns, besitzen die unabhängigen Medien in der Gesellschaft ein hohes Vertrauen.“ 

    Eine weitere Besonderheit der belarussischen Medien sei schließlich die durch jahrelange Arbeit unter schwierigen Bedingungen erlangte Standhaftigkeit. Genau genommen haben sie noch nie unter „normalen“ Bedingungen von Demokratie und Marktwirtschaft gearbeitet. Überleben ist gewissenmaßen ihr Alltagsgeschäft: Seit den 1990er Jahren gab es nur wenige Jahre, in denen Journalisten in Belarus nicht verfolgt wurden oder um ihre legale Arbeitsmöglichkeit fürchten mussten.  

    Stand Juli 2025 sitzen 38 Medienschaffende aufgrund ihrer Berufstätigkeit in belarussischen Gefängnissen. 

    Der Zustand der permanenten Erschütterung ist für unsere Medien zur Norm geworden 

    Gerade jetzt müssen die Medien aufgrund all dieser kombinierten Faktoren innovativ sein, um ihren Status quo zu bewahren, erklärt Belikova. „Natürlich gibt es Medienschaffende, die den Beruf verlassen. Andere haben sich bereits ein dickes Fell zugelegt. Nach den Neuigkeiten aus den USA hatten wir eine große Versammlung, die Lage war ernst, die Perspektiven unklar … Aber als der Schock überwunden war, sagten alle: ‚Ist wohl dein erstes Mal?‘ Resignation ist zwar da, aber sie wirft dich nicht in einem Maße aus der Bahn, dass du nicht mehr weitermachen kannst.“ 

    Normal ist eine solche Situation aber keinesfalls, betont die Expertin. Solcher Stress kann zu extremem Burnout, Angstzuständen und Depressionen führen. In einer Studie zu den Bedürfnissen von Beschäftigten der Medienbranche, die die Belarussische Journalistenvereinigung (BAJ) im Dezember 2024 vorstellte, gab die Hälfte der Medienschaffenden an, psychische Probleme zu haben. „Natürlich, alle würden gern mal wenigstens ein Jahr lang stabil auf zwei Beinen stehen, aber der Zustand der permanenten Erschütterung ist für unsere Medien zur Norm geworden. Das schlägt sich im Gesundheitszustand der Menschen nieder, in der Häufigkeit von Burnout-Erkrankungen und Depressionen … Gleichzeitig macht es aber auch stark.“ 

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    Verbannt und verboten

    Der freie Geist und das geschriebene Wort sind seit jeher Feinde von autoritären Systemen und Diktaturen. Auch das System Alexander Lukaschenko ist in den Jahren seiner Existenz immer wieder gegen die unabhängige Literatur vorgegangen. Es gab zwar keine offizielle Zensur wie in der Sowjetunion, dennoch übten die Machthaber eine gewisse Kontrolle über unabhängige Verlage aus, die beispielsweise eine offizielle Herausgeberlizenz brauchten, um ihrer Arbeit nachgehen zu können. Auch wurden Bücher nicht genehmer Autoren nicht in den staatlichen Buchhandlungen verkauft, die lange Zeit den Markt im unabhängigen Belarus dominierten. Die Existenz eines unabhängigen Schriftstellerverbandes, unabhängiger Verlage und Buchhandlungen wurde lange geduldet, auch wenn sie von Zeit zu Zeit mit Repressionen attackiert wurden, wie im Fall des Verlags Lohvinau. All das ist vorbei, seitdem der Staat nach den Protesten von 2020 die Gesellschaft, Medien, Kultur und Zivilgesellschaft massiv bekämpft. Seitdem gehen die Machthaber auch gezielter gegen Literatur, Verlage und Autoren vor.

    Die belarussische Journalistin Anna Wolynez erzählt die Geschichte des Verlags Januškevič, der in seiner Heimat liquidiert wurde und der ins Exil nach Polen ging, um dort weiterarbeiten zu können.

    Русская версия

    Der britische Botschafter verkleidet als Professor für Zauberkunst, Andrang beim Butterbierausschank, Aufteilung der Gäste nach den Hogwarts-Häusern – so sah Anfang 2020 die Harry-Potter-Nacht in Minsk aus. Zu den Organisatoren gehörte neben der Britischen Botschaft auch der unabhängige belarussische Verlag Januškevič

    Anlass für das Fest war die Veröffentlichung der belarussischen Übersetzung von Harry Potter und der Stein der Weisen. Die erste Auflage, 2000 Exemplare, verkaufte sich innerhalb von drei Monaten. Die zweite Auflage wurde ein halbes Jahr später an der litauischen Grenze vom Zoll beschlagnahmt. Die belarussischen Zöllner hätten sich davon überzeugen wollen, dass das Buch keinen Aufruf zum Sturz der Regierung enthält, erklärte der Verlag Januškevič in den sozialen Netzwerken. 

    Von allen anderen Harry-Potter-Bänden, die in Belarus verkauft wurden, unterschied sich dieser nur dadurch, dass er auf Belarussisch anstatt auf Russisch erschienen war. Schließlich durfte das Buch doch ins Land. Doch schon im Frühjahr 2021 konfiszierte der Zoll einen weiteren Titel des Verlags – den Roman Die Hunde Europas von Alhierd Bacharevič. Der Verkauf des Buchs wurde verhindert, ein Jahr später kam es auf die sogenannte republikanische Liste extremistischer Materialien
     

    Der Verleger Andrej Januschkewitsch / Foto © Andrej Radoman

    Die Eintagsbuchhandlung von Minsk

    Die Regierung hatte den Verlag Januškevič schon lange im Visier. Im Januar 2021 fand eine Durchsuchung in den Büroräumen statt, der Verlagsgründer Andrej Januschkewitsch wurde festgenommen. Nach der Befragung kam er wieder frei, doch die Technik des Verlags wurde konfisziert und die Konten gesperrt. Erst ein halbes Jahr später wurden sie wieder freigegeben. Im März 2022 musste der Verlag sein Büro räumen. Als die Bücher abverkauft wurden, standen die Leute stundenlang danach an.

    „Wir dachten, die Räumung wäre auf Initiative der Stadtverwaltung erfolgt, aber tatsächlich hatten viel höhere Stellen ihre Hände im Spiel“, erinnert sich Andrej Januschkewitsch. „Wir nahmen das nicht ernst und wussten nichts Genaues über die Hintergründe.“

    Der kleine unabhängige Verlag ließ sich nicht unterkriegen. Am 17. Mai 2022 eröffnete im Minsker Stadtzentrum die Buchhandlung Knihauka mit Büchern des Verlags Januškevič, seinen Freunden und Partnern. Der Name bedeutet „Kiebitz“ [doch auch das Wort kniha – „Buch“ – steckt darin – Anm. dekoder]. „Uns war nicht bewusst, dass es sich um eine systematische Attacke auf den belarussischen Buchdruck handelte“, räumt Januschkewitsch ein. 

    Die Buchhandlung Knihauka existierte genau einen Tag. Zuerst kamen Propagandisten vom staatlichen Fernsehen zur Eröffnung, kommentierten die Bücher und versuchten, darin Fotos der SS oder Texte über Nazismus zu finden. Dann kam die Antikorruptionsbehörde GUBOPiK mit einem Durchsuchungsbeschluss – Silowiki aus der Unterabteilung des Innenministeriums, die seit 2020 mit politischer Verfolgung befasst sind. Sie teilten mit, dass die Buchhandlung unter dem Verdacht stehe, „extremistische Literatur“ zu verbreiten, und konfiszierten zweihundert Bücher.

    „Ich hatte damals ein interessantes Gespräch mit dem Offizier. Er teilte Bücher offenbar in ‚richtige‘ und ‚falsche‘ ein. Wir befassten uns, seiner Ansicht nach, mit ‚falschen‘ Büchern. Tja, so ist das … Dem belarussischen Leser genügt Harry Potter auf Russisch, und wer braucht schon das [belarussischsprachige] Kupala-Theater, wenn es Gastspiele aus Moskau gibt“, bemerkt der Verleger sarkastisch. 

    Was in Belarus vier Jahre dauerte, gelang in Polen in weniger als einem Jahr

    Der Verlag Januškevič existierte von 2014 bis 2021 und gab in dieser Zeit etwa 150 Bücher von Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Ländern in belarussischer Sprache heraus. Es war ein privatwirtschaftliches Unternehmen, auch wenn der Verlag Fördermittel für einzelne Bücher bekam, etwa vom deutschen Goethe-Institut, der Stiftung Ireland Literature, dem polnischen Buchinstitut oder dem tschechischen Kulturministerium. Der Übergriff der Silowiki 2022 brachte die Arbeit zum Erliegen. Weitere Festnahmen folgten: Diesmal verbrachten eine Mitarbeiterin der Buchhandlung 23 Tage und der Verleger 28 Tage in Haft. Im Juni 2022 emigrierte Andrej Januschkewitsch nach Polen. 

    „Alles passierte plötzlich und war nicht geplant. Aber ich kenne Polen schon lange und spreche Polnisch. Ich habe hier Bekannte, Kollegen und Freunde“, erzählt er. Nach dem Umzug musste er praktisch bei Null beginnen. Das Team war in Belarus geblieben, so dass der Verlagsinhaber die Arbeit gemeinsam mit Lektoren, Korrektoren, Übersetzern und Designern aus verschiedenen Ländern nun selbst übernahm.

    Auch die Leserschaft half dabei, den Verlag wieder aufzubauen. Ein halbes Jahr nach dem Umzug initiierte der Belarusian Council for Culture eine Spendensammlung zur Unterstützung des Verlags, und zwar in der für Belarus neuen Form des Magistrats, einer Art Genossenschaft, die über einen definierten Zeitraum hinweg ein Projekt unterstützt. Im Rahmen des Magistrats Knihauka spendeten 325 Personen innerhalb eines halben Jahres 23.000 Euro. Der Verlag hat keine eigene Buchhandlung, die Bücher werden über das Internet vertrieben, zum Beispiel über die Online-Plattform allegro. Geplant sind auch der Verkauf über Amazon und die Eröffnung eines Büros mit Direktvertrieb. Im August 2023 ging der eigene Webshop an den Start, der wie die ehemalige Buchhandlung in Minsk heißt – knihauka.com. „Ein Haufen Probleme musste und muss noch immer gelöst werden, verbunden mit der Legalisierung, der Geschäftseröffnung und dem Geschäftsbetrieb. Aber Schritt für Schritt findet sich alles“, so Januschkewitsch. 

    Im Vergleich zu Belarus sind die Arbeitsbedingungen in Polen günstiger, findet der Verleger: kostenlose ISBN-Nummern, einfache Unternehmensregistrierung, eine große Auswahl an Druckereien, günstige Preise, viele Optionen für den Buchvertrieb. „So konnten wir gleich effizient an die Arbeit gehen. In Belarus haben wir drei bis vier Jahre gebraucht, um eine Webseite aufzubauen und bekannt zu werden oder Kontakte mit ausländischen Druckereien aufzubauen, weil die belarussischen nicht die gewünschte Qualität liefern konnten“, erzählt Januschkewitsch. 

    In Belarus müssen sich Verleger zudem beim Informationsministerium registrieren und eine Prüfung ablegen, um eine spezielle Zulassung zu erhalten. Im Januar 2023 wurde Andrej Januschkewitsch diese Zulassung entzogen – als erstem privaten Verleger in Belarus. „Diese Prüfung ist absoluter Schwachsinn und dient als ideologischer Filter, um unerwünschte Verleger aussortieren zu können“, meint er. 

    Bücher sind kein Brot – wer kein Geld hat, kommt auch ohne sie aus

    Während der Zeit in Polen sind bereits an die 20 Titel erschienen, darunter George Orwells Farm der Tiere und eine Neuauflage des legendären Romans Die Hunde Europas von Alhierd Bacharevič (in Zusammenarbeit mit dem Verlag Vesna). Die Auflage im Umfang von 1000 Exemplaren verkaufte sich innerhalb von sieben Monaten. 

    In Belarus hätte der Verlag diese Menge etwa in einem Jahr verkauft. Januschkewitsch erklärt das damit, dass die Leserschaft in Polen „konzentrierter“ sei: „In Belarus verlor sich der belarussische Leser in einem Meer aus russischsprachigen Büchern. Die Menschen wussten nicht, dass es uns gab. Hier aber gibt es kein russisches Monopol, zudem wächst das Bewusstsein dafür, Belarusse zu sein, nicht Russe. Diese Identität will gefördert werden, dadurch wächst das natürliche Interesse an der belarussischen Kultur.“
     
    Im Angebot sind nicht nur Bücher für Erwachsene. Eine Auflage von 200 Stück des Jugend-Fantasy-Romans Wolnery [dt. Die Freiwilligen] von Waler Hapejeu verkaufte sich innerhalb von zwei Monaten. Ebenso der Jugendroman Kasik s kamennaj horki i Wjadsmak Schawanaha Horada [dt. Kasik aus Kamennaja Horka und der Zauberer der Verborgenen Stadt] von Ales Kudryzki. 

    „Das ist etwas ganz Neues. Wir haben nicht viel in die Werbung investiert und hatten Angst, auf einer Auflage von 700 oder 1000 Stück sitzenzubleiben. Deshalb haben wir mit einer Probeauflage von 250 Exemplaren begonnen, und in weniger als zwei Monaten waren alle verkauft“, sagt der Verleger. Für 2023 und 2024 stehen Der Herr der Ringe und der nächste Band von Harry Potter auf dem Programm. Ein weiterer Erfolg des Verlags ist die Vertragsunterzeichnung mit dem „King of Horror“ Stephen King, dessen Bücher nun in belarussischer Übersetzung erscheinen werden. King hatte im Februar 2022 untersagt, dass seine Bücher ins Russische übersetzt werden.
     
    Januschkewitsch ist überzeugt: Die aktuell hohe Nachfrage nach belarussischsprachigen Titeln darf man nicht ungenutzt vorbeiziehen lassen. „Das Publikum ist da, es verlangt nach neuen Büchern, es hungert richtiggehend danach. Dabei erreichen wir noch gar nicht die großen Länder, wie Großbritannien, die USA und Frankreich, in denen viele Belarussen leben“, sagt er. 

    Es sei also höchste Zeit, die kulturelle Produktion intensiv anzukurbeln, um den günstigen Moment nicht verstreichen zu lassen. „Bücher sind kein Brot und keine Wurst, wer kein Geld hat, der kommt auch ohne sie aus … Aber die Belarussen wollen das Eigene und sind bereit, dafür Geld auszugeben“, meint Januschkewitsch. 

    Das belarussische Regime ist antibelarussisch

    Eines der jüngsten Bücher des Verlags ist Chloptschyk i sneh [dt. Der kleine Junge und der Schnee] von Alhierd Bacharevič. Es sollte ursprünglich bereits im Frühjahrsprogramm 2021 erscheinen, doch dann dauerte es bis zum Sommer 2023. Damals, erklärt der Verleger, habe er mit dem Autor lange über einige scharfe Formulierungen diskutiert. „Der Autor sagte offen, dass im Land Faschismus herrsche und die Situation schrecklich sei. Ich wusste, dass man das unmöglich drucken konnte, die Selbstzensur setzte ein, und ich konnte den Autor, dessen Bücher bereits aus den Bibliotheken und Buchhandlungen verschwanden, überzeugen. Aber dann wurde klar, dass das Problem nicht einzelne Formulierungen waren, sondern dass Bacharevič insgesamt in Belarus verboten werden sollte“, sagt Januschkewitsch. „Ich bin froh, dass wir das Buch jetzt unzensiert herausgeben konnten.“

    Die aktuelle Situation in Belarus, den Einfluss von Ideologie und Kulturpolitik auf den Buchmarkt, sieht der Verleger kritisch. Seiner Meinung nach waren der Besuch des GUBOPiK, die Schließung seiner Buchhandlung und die Ermittlungen gegen seinen Verlag damit verbunden, dass er belarussische Bücher vertreibt. „Ich werde nicht müde zu wiederholen, dass das belarussische Regime antibelarussisch ist. Sie brauchen das Belarussische nur als Vorwand, wie die Fassaden der potemkinschen Dörfer“, sagt Januschkewitsch. Nach diesem Prinzip arbeiten alle staatlichen Verlage. 

    „Ich muss lachen, wenn ich höre, dass auf der Bestsellerliste ein Buch mit dem Titel Der Genozid am belarussischen Volk während des Großen Vaterländischen Krieges steht. Was für ein Unsinn! Ich stelle mir vor, wie die Belarussen an einem ruhigen Familienabend gemütlich im Sessel sitzen und diesen trockenen, vom Generalstaatsanwalt redigierten Text lesen“, sagt der Verleger ironisch. In Belarus könne man sich entweder mit ideologischer Dienstleistung beschäftigen oder neutrale Bücher und Kinderbücher herausgeben. Den Finger am Puls der Zeit haben, sozialkritische oder tagesaktuelle Bücher bringen, das sei verboten. 

    „Es würde mich nicht wundern, wenn sie das Werk von Erich Maria Remarque für unerwünscht erklären. Seine Bücher haben einen stark pazifistischen Anklang, und warum sollte der belarussische Bürger unnötig an den Krieg in der Ukraine erinnert werden?“, sagt Januschkewitsch. Unerwünschte Autoren würden aus den Buchhandelsketten und den Bibliotheken verbannt, die unabhängigen belarussischen Verlage könnten zum großen Teil nicht mehr im Land selbst arbeiten. Gegen sie werde ein systematischer Feldzug geführt, erklärt der Verleger. Dadurch mussten 2022 mehrere Verlage ihre Tätigkeit einstellen: Knihasbor, Halijafy, Medysont und Limaryjus.

    Das ist Putins Rückkehr ins 19. Jahrhundert

    Könnte der Verleger heute nach Belarus zurückkehren? Bislang gebe es keinen Grund dafür, sagt Januschkewitsch. Bücher im Untergrund zu drucken, wie es die Bolschewiki und andere Revolutionäre vor 120 Jahren taten, werde heute nicht gelingen. Und auf offiziellem Weg könne man es aufgrund der Politik nicht tun, die darauf abzielt, alles Belarussische zu vernichten. In kultureller Hinsicht entwickelt sich Belarus zu einer russischen Provinz, resümiert der Verleger. 

    „Das ist Putins Rückkehr ins 19. Jahrhundert … Das Russische Imperium nannte man ‚Völkergefängnis‘, und in dieses Gefängnis kehren wir nun zurück, bloß in neuer Form“, sagt Januschkewitsch. „Das muss sich ändern: Das Nationale sollte für die belarussische Regierung Priorität haben. Um sich von Moskau loszureißen, müssen dieselben Schritte unternommen werden, die die Ukraine in den letzten fünfzehn Jahren gegangen ist. Unter anderem wurde dort ein eigener Buchmarkt auf die Beine gestellt.“

    Bis es soweit sei, würde eine Rückkehr bedeuten, sich in einem Dorf zu verstecken und die verlegerische Tätigkeit einzustellen. „Aber ich bin emigriert, um weiterhin frei arbeiten zu können“, sagt der Verleger. „In Polen kann ich herausgeben, was ich möchte. In Belarus ist das momentan unmöglich.“

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  • Proteste, Krieg und Solidarität: Die belarussische Diaspora in der Ukraine

    Proteste, Krieg und Solidarität: Die belarussische Diaspora in der Ukraine

    Seit Jahrhunderten sind Belarussen und Ukrainer Nachbarn. Und Belarussen sind auch immer schon gerne in die Ukraine ausgewandert. Vor allem nach den Protesten im Jahr 2020 in Belarus flohen viele Belarussen vor den Repressionen in die Ukraine. Jedoch änderte sich nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges vieles für sie: Nicht zuletzt weil der Kreml auch von belarussischem Territorium aus den Angriff führte und Alexander Lukaschenko damit in die Rolle des Ko-Aggressors geriet.

    Anna Wolynez hat die Geschichte der belarussischen Diaspora in der Ukraine recherchiert und mit Belarussen gesprochen, die auch während des Krieges dort geblieben sind.

    „Vor dem Krieg waren die Belarussen sehr beliebt, wir wurden sogar beneidet, weil Lukaschenko sehr populär war“, sagt Andrej Kuschnerow, ehemaliger Kämpfer des Kalinouski-Regiments und jetzt Mitglied des Belarussischen Veteranenverbands. Er zog 2005 von Belarus in die Ukraine und blieb dort bis 2012. Danach fuhr er ständig dorthin, und 2022 meldete er sich als Freiwilliger. Nach dem Dienst blieb er in der Ukraine.

    Die Belarussen wurden für die Stabilität in ihrem Land beneidet, für die höheren Durchschnittsgehälter und die sauberen Straßen, erklärt er, außerdem für die besseren Fleisch- und Milchprodukte und die gute Schokolade. „Die Ukrainer hatten ein sehr gutes Verhältnis zu den Belarussen, umso schwerer war der Schlag am 24. Februar. Das wurde als Verrat aufgefasst“, sagt Andrej. Seit Kriegsbeginn, meint er, sei man als Belarusse nicht mehr besonders gern gesehen.

    Trotzdem leben weiterhin Belarussen in der Ukraine. Obwohl es früher viel mehr waren: Zu Beginn der Nullerjahre waren sie in der Ukraine die zweitgrößte nationale Minderheit nach den Russen. 2001 lebten im Land 275.000 Belarussen. Rund ein Drittel davon lebte in der Ostukraine, unter anderem in Regionen, die jetzt unter russischer Besatzung sind. 

    Die Belarussen fuhren in die Ukraine, um ein bisschen Abwechslung zu haben, um Urlaub oder Einkäufe zu machen, aber ungefähr bis in die 2010er Jahre blieben sie gern auch länger. Offiziell durften sie sich zwar höchstens 90 Tage pro Halbjahr im Land aufhalten, aber bis zu einem gewissen Zeitpunkt konnte man diese Auflage leicht umgehen. Und manche Belarussen blieben lange: Sie studierten, arbeiteten, gründeten Familien, oder kamen, um künstlerisch tätig zu sein, oder auf der Suche nach politischer Freiheit. 

    Losgelöste belarussische Gemeinschaften

    Organisierte belarussische Gemeinschaften gibt es in der Ukraine seit Beginn der 1990er-Jahre, zum Beispiel die Belorusskoje kulturno-proswetitelskoje obschtschestwo (dt. Belarussische Kultur- und Bildungsgesellschaft) oder die Sjabry in Tschernihiw. Aber dass sie je eine soziale Bedeutung oder gar politisches Gewicht gehabt hätten, kann man nicht behaupten.

    Bis 2020, meint Andrej Kuschnerow, lebten die Belarussen voneinander losgelöst in der Ukraine, ohne die Zugehörigkeit zueinander zu suchen. „Die Verschlossenheit der Leute war einer der Gründe, und bis 2020 gab es wenige belarussische Communities. Die Leute interessierten sich nicht allzu sehr für belarussische Veranstaltungen, für Konzerte oder Theater“, sagt er.

    Bis 2020 (zum Teil auch später noch) agierten in der Ukraine auch Organisationen der „Pseudodiaspora“, die eng mit Lukaschenkos Regime kooperierten. Ein Beispiel dafür ist die Wseukrainski sojus belorussow (dt. Allukrainische Union der Belarussen), seit vielen Jahren von Pjotr Laischew geleitet, einem ehemaligen Mitarbeiter des sowjetischen und ukrainischen Geheimdienstes. Zu dieser Union gehörten „ein, zwei Dutzend Vereine mit einer Handvoll Mitgliedern“, heißt es in einer Studie zur Diaspora. Das formale Ziel der Organisation war die Zusammenführung von Landsleuten, faktisch ging es darum, regierungstreue Narrative als Position der gesamten Diaspora zu fördern. 

    Nach 2020 flüchteten Belarussen vor den Repressionen

    2020 zogen massenhaft politische Flüchtlinge und Fachkräfte in die Ukraine, um den Repressionen zu entkommen. Die Ukraine hatte die Wahlen in Belarus nicht anerkannt und den Belarussen das Aufenthaltsrecht auf das Doppelte verlängert – 180 Tage. Innerhalb dieser Frist musste man sich eine Aufenthaltserlaubnis besorgen.

    Die Ereignisse von 2020 veränderten die Strukturen der belarussischen Diaspora. Einerseits blieben „alte“ Organisationen wie Sjabry bestehen, deren Leiterin 2020 Lukaschenko lobte und ihre Landsleute bat, den Protesten fernzubleiben. Andererseits gründeten die frisch Zugezogenen neue Initiativen: Free Belarus Center, Belaruski Dom wa Ukraine, Belaruski infarmazyiny zentr. Ihr gemeinsamer Hintergrund ist die Flucht vor Repressionen. Diese Gemeinschaften sind aktiv prodemokratisch, orientieren sich an gegenseitiger Unterstützung. 

    Daten des Free Belarus Center zufolge passierten allein im August 2020 rund 47.000 Menschen die ukrainisch-belarussische Grenze, aber für viele war die Ukraine nur eine Zwischenstation auf dem Weg in die EU. Im Juni 2022 lebten noch 10.000 bis 12.000 Belarussen in der Ukraine. Sie kauften Wohnungen, Häuser und Autos, gründeten Firmen: etwa die Bar Karma oder das Art-Pub Torwald in Kyjiw. 

    Wie Belarussen in der Ukraine leben und sich freiwillig engagieren

    Die 30-jährige Wassilina ist 2021 aus Belarus ausgereist: „Mein Mann hätte jederzeit festgenommen werden können, es war eine Frage von Tagen. Wir schafften es nicht mehr, uns um ein Visum zu kümmern, und fuhren in die Ukraine“, erinnert sie sich.

    Jetzt wohnt das Paar im Süden der Ukraine und hält Kontakt zum aktiven Teil der Diaspora – zu Menschen, die nach 2020 und auch schon nach 2010 in Belarus verfolgt wurden. Sie organisieren Aktionen und unterstützen Belarussen im eigenen Land und in der Ukraine, unter anderem bei der Wohnungs- und Jobsuche. „Das ist eine sozusagen erzwungene, aber nette Gemeinschaft. Die Menschen verbindet die Emigration und die gemeinsame Sorge um Belarus. Sie sind untereinander loyal und hilfsbereit“, sagt Wassilina. 

    Manche von ihnen kennt das Paar aus einem Telegram-Chat, in dem Belarussen Informationen zu Dokumenten und zu Fragen des Alltags austauschen – solche Chats gibt es in jeder größeren Stadt. Offline trifft sich Wassilina zufolge nicht einmal ein Fünftel der Teilnehmer. Aktionen gibt es in ihrer Stadt jetzt keine mehr, aber die gegenseitige Unterstützung besteht nach wie vor. 

    „Wir wollen in der Ukraine bleiben”

    „Ein Teil der Leute hilft der Polizei und der Territorialverteidigung bei Patrouillen in der Stadt. Ein Teil stellt nützliche Dinge für die Front her, zum Beispiel Periskope, Kerzen oder Tarnnetze“, erklärt Wassilina.

    Wem helfen die Belarussen mehr? Physisch und finanziell den Ukrainern, meint unsere Gesprächspartnerin. Obwohl, sie helfen auch anderen Belarussen „praktisch sofort“, auch finanziell. „Aber seit Kriegsbeginn sind so gut wie keine neuen Flüchtlinge aus Belarus mehr zu uns gekommen, die Einreise in die Ukraine ist für sie schwierig geworden.“

    Gelegentlich trifft man aber doch neu zugezogene Belarussen. Der Freund von Maria, einer weiteren Gesprächspartnerin von uns, war ein halbes Jahr vor dem Krieg nach Lwiw gegangen. Sie war gerade dabei, ihre Dokumente für den Umzug vorzubereiten, als der 24. Februar kam. „Mein Freund hatte gesagt, dass er [in der Ukraine – dek] bleiben will. Und ich bin Ärztin, wenn ich irgendwie helfen kann … Die Entscheidung, in die Ukraine zu gehen, lag nahe“, erzählt Maria.

    Anfang April fuhr sie über Warschau in die Ukraine. Sie wurde nicht auf Anhieb über die Grenze gelassen. Eine Zeitlang wohnte Maria in einem Lager für ukrainische Flüchtlinge und kümmerte sich um ihre Dokumente. „Ich druckte meine E-Mails von Organisationen aus, bei denen ich mich freiwillig engagieren wollte, Ausbildungsnachweise, die Daten meiner Gastgeber“, zählt Maria auf. Beim zweiten Mal schaffte sie es bis zur Bahnstation auf der polnischen Seite der Grenze. „Ich habe die falsche Strecke erwischt. Ich stieg aus und stand mitten im Wald, unter einer Laterne, mit dem ganzen Gepäck. Da verstand ich, wieso der Zugbegleiter beim Aussteigen ein Kreuz geschlagen hatte“, erinnert sie sich. Von der Bahnstation ging sie mitten in der Nacht zum nächsten Dorf, wo eine alte Dame sich ihrer erbarmte und ihren Sohn bat, Maria zur polnisch-ukrainischen Grenze zu fahren.

    Dort wurde sie mehrere Stunden vernommen, doch diesmal fiel die Entscheidung positiv aus und die Belarussin konnte weiter nach Lwiw. „Es war eine Riesenfreude, hier anzukommen, nach dieser ganzen Nacht auf den Beinen, von der ich noch meinen Enkeln erzählen werde. Und ich muss dieser Babuschka eine Postkarte schreiben, dass ich gut angekommen bin. Nach so einem Erlebnis begegnet man den Menschen mit mehr Herzenswärme.“

    Abschied von einem gefallenen Soldaten des Kastus Kalinouski-Regiments / Foto © Pressedienst des Kastus Kalinouski-Regiments
    Abschied von einem gefallenen Soldaten des Kastus Kalinouski-Regiments / Foto © Pressedienst des Kastus Kalinouski-Regiments

    Die Freiwilligen-Bataillone sind nicht Teil der Diaspora

    Belarussen kämpfen auch auf Seiten der Ukraine. Die Gesamtzahl jener, die derzeit in Einheiten der ukrainischen Streitkräfte dienen, bereits aus der Armee entlassen oder gefallen sind, beträgt höchstens eintausend, erzählt Andrej Kuschnerow vom Belarussischen Veteranenverband.

    Während sie unter Vertrag stehen, gehören diese Leute nicht zur Diaspora, und danach bleiben sie selten im Land, sagt er: „Mein Planungshorizont betrug an der Front aus objektiven Gründen 15 Minuten. Aus denselben Gründen sind die Kämpfer nicht [in die Gesellschaft] integriert.“      

    Andrej selbst ist nach seinem Dienst in der Ukraine geblieben, kennt aber ansonsten nur wenige, die das auch so gemacht haben. Viele wollten gern, sagt Andrej, bekamen aber keine Aufenthaltserlaubnis. „Wer seinen Dienst beendet hat, muss einen Grund für seinen Aufenthalt im Land haben: Arbeit, Familie und dergleichen. Ohne Aufenthaltserlaubnis darf man sich maximal 180 Tage am Stück grundlos in der Ukraine befinden, die Zeit vor und nach dem Dienst inklusive“, sagt Andrej. „Normalerweise bleiben einem nach Vertragsende ein paar Monate, dann muss man ausreisen.“ 

    Was bringt es den Belarussen, für die Ukraine zu kämpfen? Kriegserfahrung, Blutsbrüder, Kontakte, Respekt in den Augen der Ukrainer. Aber teilweise gesellt sich zu alldem eine ernsthafte posttraumatische Belastungsstörung hinzu, und manchmal auch eine Behinderung durch eine schwere Verletzung.  

    Privilegien genießt man allerdings nicht unbedingt, erklärt Andrej. Mitte Januar 2023 war ihm kein einziger Belarusse bekannt, dem es gelungen wäre, das dafür nötige Dokument zu erhalten – einen Nachweis der Teilnahme an Kampfhandlungen. Die militärischen Strukturen der Belarussen in der Ukraine kümmern sich laut unserem Gesprächspartner nicht um dieses Thema, und der Veteranenverband hat bisher keine Lösung gefunden. 

    Mit Beginn des Krieges haben viele die Ukraine verlassen

    Mittlerweile unterstützen die Belarussen die Ukrainer auf jede erdenkliche Weise, meint die Belarussin Olga, die sich in der Ukraine in der Stiftung Rajon nomer 1 freiwillig engagiert. Nach ungefährer Schätzung des Belarussischen Informationszentrums haben seit Kriegsbeginn 80 Prozent der Belarussen die Ukraine verlassen. Olga meint, ein Großteil habe sich in anderen Ländern in Sicherheit gebracht oder habe keinen Aufenthaltsstatus erhalten.

    Die verbliebenen Belarussen sind oft sehr aktiv: Sie dokumentieren Kriegsverbrechen, bauen Häuser wieder auf, evakuieren Menschen aus gefährlichen Gebieten, organisieren Crowdfundings – zum Beispiel auf dem Dokumentarfilmfestival Na mjashy [An der Grenze – dek] im Dezember 2022. Es gab Vorführungen in Kyjiw, Odessa und Lwiw, und mit dem gesammelten Geld wurden Wundheilungsapparate gekauft. 

    Olga lebt seit Anfang 2021 in der Ukraine, und abgesehen von ihrer Freiwilligenarbeit dort dokumentiert sie Menschenrechtsverletzungen in Belarus. 2022 organisierte sie in Butscha eine Ausstellung über kriegsgefangene Belarussen, die für ihre Unterstützung der Ukraine zu Schaden kamen. 

    Olga hat Ukrainisch gelernt und versucht, es im Alltag zu sprechen. Ihr Umfeld besteht größtenteils aus Ukrainern. Und obwohl sich das Verhältnis der Ukrainer zu den Belarussen mit dem Beginn des Krieges und der Rolle Lukaschenkos deutlich verschlechtert hat, bemerkt unsere Gesprächspartnerin in persönlichen Interaktionen keine Veränderung. 

    Die aktuelle Situation der Belarussen in der Ukraine   

    „Die Belarussen sind sehr schutzlos. Hier in der Ukraine arbeiten Freiwillige, Wirtschaft und Staat gemeinsam an der Lösung eines großen Problems. Aber die Belarussen bekommen keine Unterstützung vom Staat, nur von anderen Belarussen“, meint Olga.

    Mit Beginn des Krieges wurden Belarussen ohne ständigen Wohnsitz die Bankkonten gesperrt, nur Einzelne bekamen später die Möglichkeit, sie wieder zu nutzen. „Die Entscheidung, die Konten zu entsperren, trifft die Bank auf Empfehlung des Sicherheitsdienstes der Ukraine“, erklärt Olga. Um ihr eigenes Konto hat sie sich bisher nicht gekümmert.     

    Die Belarussen leben während des Kriegs in der Ukraine, weil sie dieses Land lieben und weil sie helfen möchten. Von den vielen Schwierigkeiten lassen sie sich nicht abschrecken, ob es um gesperrte Konten oder die Suche nach Arbeit geht. Arbeitsplätze gibt es in der Ukraine wenig, erst recht für Belarussen, und Geld von einem ausländischen Arbeitgeber zu beziehen, ist komplizierter geworden. Dokumente aller Art, darunter Aufenthaltsbewilligungen, werden Belarussen ungern ausgestellt, und sie können ihre Pässe nicht im Land verlängern, weil die belarussische Botschaft geschlossen ist.

    Warum andere in der Ukraine geblieben sind

    Wassilina erklärt, sie bleibe zum Teil deswegen, weil sie sich dem Land gegenüber verpflichtet fühle, das sie aufgenommen hat, und zum Teil, weil von ihr und ihrem Mann die Arbeit anderer Freiwilliger abhängt. Aber irgendwann wollen sie die Ukraine verlassen. 

    Maria bleibt in Lwiw, weil es ihr dort gut geht: Familie, Haus und Zukunftspläne. Aber ob sie weiterhin bleiben kann, hängt von ihrem Aufenthaltsstatus ab. Seit April bemüht sich Maria um die Anerkennung ihres Diploms durch das Bildungs- und Wissenschaftsministerium, ohne die sie nicht arbeiten darf und keine Aufenthaltserlaubnis bekommt. „Ich möchte nicht gehen, trotz des Krieges. Das ist eine feine Stadt, ich fühle mich hier nicht fremd“, sagt sie.


    * Die Personen haben um Anonymität gebeten, alle Namen sind erfunden.

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    Aufstieg, Repressionen, Flucht – das Schicksal der belarussischen IT-Branche

    Belarus galt als „IT-Land“, der High-Tech-Sektor hatte sich rasant entwickelt. Er war der Stolz und die Hoffnung der belarussischen Wirtschaft. 2020 jedoch begann ein allgemeiner Niedergang, zunächst wegen Corona, dann wegen der Proteste, die nach den Präsidentschaftswahlen das ganze Land erfassten? Die IT-Experten waren daran aktiv beteiligt, leisteten technologische Hilfe, spendeten Gelder und nahmen an den Straßenprotesten teil.

    In den Augen der Regierung waren damit aus Hoffnungsträgern Verräter geworden. Es wurden Stimmen laut, die eine Abschaffung der Privilegien für Residenten des belarussischen High-Tech-Parks (HTP) forderten. Die Lage verschärfte sich mit Beginn des Krieges in der Ukraine, in den das belarussische Regime bekanntlich involviert ist. Die Menschen hatten Angst vor einer Mobilmachung, es folgten neue Sanktionen. Einige internationale Partner beschlossen, künftig keine Aufträge mehr nach Belarus zu vergeben. Die belarussischen IT-Firmen, die früher prosperierten, begannen ihre Mitarbeiter umzusiedeln und ihre Head-Offices ins Ausland zu verlegen.

    Wie sieht die Entwicklung in Belarus heute aus, warum und wohin wandern IT-Fachkräfte ab, und welche Zukunft hat der IT-Sektor? Ein Lagebericht von Anna Wolynez.

    Russische Version

    Entstehung der belarussischen IT-Branche und ihre Bedeutung für die belarussische Wirtschaft 

    Gewinnträchtig, erfolgreich und vielversprechend – das war in den letzten Jahren das Image des belarussischen IT- und High-Tech-Sektors. Ausgangspunkt waren Communities fähiger Ingenieure und Funktechniker und ihre in den 2000er Jahren gegründeten Firmen. Bald kamen die ersten Aufträge aus dem Ausland, die Branche setzte Steuererleichterungen für sich durch, und aus einigen Firmen wurden große internationale Unternehmen mit belarussischen Wurzeln, wie etwa Arkadi Dobkins Epam und Wiktor Kislys Wargaming.

    Für alle Unternehmen, die im High-Tech-Park (HTP) registriert sind, besteht in Belarus seit 2018 ein System von Steuererleichterungen. Es gab viele Programme und Räume zur Unternehmensentwicklung, etwa den Startup-Hub Imaguru, in dem Startups entstanden, die später weltweit bekannt wurden. Und es gab einen eigenen Investorenverband für Risikobeteiligungen. Zu den IT-Startups aus Belarus gehört beispielsweise die Firma Masquerade Technologies. Die Foto-Editing-App MSQRD, die später von Facebook gekauft wurde, war ihr Produkt. Das Startup, das die Video-App Vochi entwickelte, wurde von Pinterest übernommen. Die Investitionen in PandaDoc, einen Dienstleister für Dokumentenmanagement, lagen bereits bei mehr als einer Milliarde Euro.

    Die IT-Branche begann eine immer größere gesellschaftliche Rolle zu spielen. Crowdfunding-Plattformen sammelten Geld für soziale und kulturelle Projekte, für die der Staat keine Finanzen aufbrachte. Die IT-Community bedeutete eine äußerst wichtige Unterstützung für die karitative Medienplattform Imena („Namen“), über die Geld für soziale Organisationen gesammelt wurde, die Obdachlosen, Waisenkindern oder Menschen mit Behinderungen halfen. Im Land gab es jetzt mehr Menschen, die bereit waren, die Entwicklung der Gesellschaft finanziell zu unterstützen, etwa, indem sie beim Wettbewerb für soziale Innovationen Social Weekend als Mäzen auftraten oder andere soziale Projekte sponsorten.

    Die belarussischen IT-Kräfte erwarben sich den Ruf, eine eigene soziale Gruppe zu sein

    Unter den IT-Kräften gibt es sowohl ausgebildete Ingenieure als auch Geisteswissenschaftler. „2013 dachte man, die IT-Kräfte hätten Glück, weil sie zur Arbeit nach Amerika gehen können. Jetzt verdient man im IT-Bereich drei- bis vier mal so viel wie im belarussischen Durchschnitt, und das schon am Anfang der Karriere“, schreibt Gennadi Schupenko*. Er ist von einem Staatsunternehmen in die IT-Branche gewechselt und arbeitet seit 2016 in einer großen Outsourcing-Firma. „Allmählich hat sich die Meinung herausgebildet, dass man auch in Belarus viel Geld verdienen kann und man dafür nicht auswandern muss. Du bist ein normaler Büroangestellter und bekommst ein gutes Gehalt.“

    Die belarussischen IT-Kräfte erwarben sich den Ruf, eine eigene soziale Gruppe zu sein: reiche, schicke, moderne junge Leute. Man ging davon aus, dass sie ihr Geld im Inland ausgeben und dadurch die Unterhaltungs- und Freizeitbranche, den Bau neuer Wohnungen und das Gesundheitssystem finanzieren würden.

    Der IT-Sektor wuchs schnell: 2019 lag sein Anteil am BIP bei 6,5 Prozent. Das ist fast so viel wie die Anteile der in Belarus traditionellen Land- oder Forstwirtschaft. Das Wirtschaftsministerium hatte einen Anstieg des Anteils der IT-Branche am BIP auf 10 Prozent bis 2022/23 erwartet. Diese Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Erst kam die Pandemie, dann die Massenproteste von 2020 und 2021, an denen sich viele IT-Kräfte aktiv beteiligten. Und auch die Invasion Russlands in die Ukraine spielt eine Rolle.

    Im ersten Quartal 2022 betrug der Anteil der IT-Branche am BIP 8,1 Prozent. Immerhin bleibt der IT-Sektor die einzige Branche, deren Anteil am BIP des Landes weiterhin zunimmt. Wenn auch, wie Experten vom Zentrum für Wirtschaftsforschung BEROC feststellen, nicht mehr so stark wie früher.

    Logo der belarussischen „Cyberpartisanen“ / Screenshot
    Logo der belarussischen „Cyberpartisanen“ / Screenshot

    Wie und warum sich der IT-Sektor in Belarus verändert hat

    2020 setzten Entwicklungen ein, die die IT-Wirtschaft veränderten: die Corona-Pandemie, durch die der Arbeitsmarkt einen Wandel erfuhr, und die Präsidentschaftswahlen mit den anschließenden Protesten. Während der Pandemie deckten Aktivisten aus dem IT-Bereich Problemfelder ab, mit denen der Staat nicht zurechtkam: Sie informierten die Menschen, sammelten Geld und Schutzausrüstungen für die Krankenhäuser.

    Während des Präsidentschaftswahlkampfes halfen IT-Kräfte, eine alternative Stimmenauszählung zu organisieren, und schufen die Plattform Golos („Stimme“), die Wahlfälschungen aufzeigte. Mit der App Marsch koordinierten sich die Protestierenden. Mitarbeiter und Besitzer von IT-Firmen halfen enttäuschten Bediensteten von Sicherheitsbehörden, in den IT-Bereich zu wechseln, und sammelten über zwei Millionen US-Dollar, um Opfern von Repressionen zu helfen.

    Eine eigene Erwähnung verdienen die High-Tech-Spezialisten, die sich unter der Bezeichnung Cyberpartisanen zusammengeschlossen haben und Lukaschenko seit 2020 Widerstand leisten. Sie haben staatliche Internetseiten gehackt und dienstliche Informationen der Sicherheitsbehörden geleakt. Derzeit umfasst die Gruppe rund 60 Personen, die an der Entwicklung und dem Betrieb einer „Partisanenversion“ von Telegram arbeiten. Darüber hinaus sind die Cyberpartisanen aktiv am „Gleiskrieg“ beteiligt, bei dem Belarussen den Transport russischen Kriegsgeräts über belarussisches Territorium in die Ukraine zu verhindern versuchen.

    Nicht nur über ihre Struktur, sondern auch auf individueller Ebene spielte die IT-Community eine Rolle bei den Protesten. Viele aus der IT-Szene nahmen persönlich an den Demonstrationen teil. „IT-Kräfte und Einzelunternehmer gehörten zur Avantgarde der Proteste von 2020. Ich habe eigenhändig den High-Tech-Park aufgebaut und die Entwicklung der Einzelunternehmer gefördert. Warum gehen die jetzt alle auf die Straße?“, sagte Lukaschenko verständnislos.

    Viele von ihnen wurden verprügelt, festgenommen und verhaftet. Die Geschichte des Projektmanagers Witali Jaroschtschik* ist hier symptomatisch. Nach dem 10. August 2020 hat er mehrere Tage im Okrestina-Gefängnis verbracht, wo Menschen gefoltert wurden. Dann gab es mehrere Gerichtsverfahren wegen administrativer Vergehen. Seine Konten wurden eingefroren, weil er über die Stiftung BY_help Geldstrafen von Opfern der Repressionen bezahlt hatte. Im Strafverfahren gegen die Stiftung wurde Witali zum Zeugen gemacht. Zuerst versteckte er sich, 2021 verließ er schließlich das Land. Das alles hat sich stark auf seine Arbeit ausgewirkt: „Meine Produktivität sank um rund 80 Prozent. Von Ende April bis August 2021 habe ich kaum richtig gearbeitet. Ich brauchte fast ein Jahr, um auszuwandern und wieder Fuß zu fassen“, sagt Witali.

    Nicht nur Einzelpersonen wanderten ab, sondern auch ganze Firmen. Eines der ersten Unternehmen, das seinen Standort ins Ausland verlegte (nachdem dessen Topmanager festgenommen wurden), war das Startup PandaDoc. „Es ist unmöglich, in einem Land innovativ zu sein, in dem deine Mitarbeiter jederzeit in Geiselhaft genommen werden können“, sagt Nikita Mikado, der Gründer von PandaDoc, ganz offen.

    Belarus verliert im weltweiten wie auch im regionalen Ranking der Startup-Ökosysteme zielstrebig Punkte. Mit Beginn des Krieges in der Ukraine verschlechterte sich die Lage weiter. Noch mehr Menschen wanderten aus; die wichtigsten Gründe waren die Furcht vor Kriegshandlungen und die vor einer Mobilisierung in Belarus. In Polen wurden im Mai 2022  mehr Visa für IT-Kräfte als humanitäre Visa ausgestellt. Die meisten Firmen wollen zumindest einen Teil ihrer Teams ins Ausland verlegen, laut einer Umfrage im April 2022 bei fast 200 Firmen 74 Prozent der Unternehmen. Im November 2021 waren es noch 52 Prozent. 57 Prozent (früher 68 Prozent) der Firmen hatten ihren Sitz in Minsk .

    „Der Krieg hat eine zweite Auswanderungswelle losgetreten. Ein Bekannter von mir wollte nicht gehen, nicht einmal, als er wegen der Proteste strafrechtlich verfolgt wurde. Nach dem Beginn des Krieges jedoch sagte er, hier sei nichts Gutes zu erwarten … Jetzt ist er in Polen“, erzählt der IT-Fachmann Andrej Tester bei einem mittelgroßen Outsourcing-Unternehmen. „Es gab eine Welle kurzfristiger Emigration: Die Menschen gingen mit dem Gefühl „bloß weg hier“ und kamen dann zurück; ein Teil von ihnen bereitet jetzt jedoch einen langfristigen Umzug vor.” Andrej selbst bleibt in Belarus, wegen der Familie und der Kinder.

    Ein anderes Beispiel ist die Grafik-Programmiererin Maja* von der Firma Wargaming. Maja arbeitet seit anderthalb Jahren in der IT und plant, in die EU auszuwandern, weil die Situation in Belarus ihr Angst macht. „Sätze wie ’man muss sich den IT-Sektor vornehmen’ jagen mir Angst ein. Es gibt Gerüchte, dass ein Gesetz in Vorbereitung ist, das die Ausreise von Bürgern einschränkt. Das könnte auch IT-Kräfte betreffen. Wir wollen in Freiheit Geld verdienen und leben“, sagt sie. Die vielsagenden Zahlen: Die Netto-Abwanderung von Mitarbeitern aus dem belarussischen IT-Sektor belief sich allein in den ersten sieben Monaten 2022 auf über 10.000.

    Wohin der belarussische IT-Sektor zieht

    Die Firmen verlegen ihre Büros nach Polen, Litauen, Estland, Georgien, Usbekistan. Darunter sind Giganten wie EPAM, IBA, Wargaming, A1Q1, Startups wie Flo und Wannaby und viele andere. Angesichts der großen Nachfrage nach IT-Spezialisten helfen die Nachbarländer oft bei der Verlegung des Firmensitzes. In der Ukraine wurde das komplizierte Verfahren zum Erhalt einer Aufenthaltserlaubnis vereinfacht. Dorthin sind Hunderte, wenn nicht Tausende ausgewandert. Nach dem Beginn des Krieges sind viele wieder weitergezogen.

    Polen begann im September 2020, über das Programm Poland.Business.Harbor (PBH) Arbeitsvisa an IT-Kräfte zu erteilen, die Belarus verlassen wollen. Dadurch haben nach Angaben des polnischen Außenministeriums 44.000 Belarussen ein PBH-Visum zur Umsiedlung von Fachkräften und ihren Familien erhalten. Auch in Litauen und Lettland wurden Büros belarussischer Firmen eröffnet. Im litauischen Ministerium für Wirtschaft und Innovation fanden im März 2022 mit 60 (vorwiegend belarussischen) Firmen Verhandlungen über eine Ansiedlung statt.

    Und die, die geblieben sind? 

    „Nach unseren Beobachtungen behalten die IT-Firmen in Belarus ihren Status als juristische Person und ihren Entwicklungsstandort, verlegen aber reihenweise das Top-Management und die Mitarbeiter. Ein Grund für eine vollständige Verlegung kann die Weigerung sämtlicher westlicher Kunden sein, die Zusammenarbeit fortzuführen, oder eine Abschaffung der Privilegien für Residenten des HTP”, sagt Jelisaweta Kapitanowa, Leiterin der Vereinigung Belarus IT Companies Club.

    Ausländische Firmen lehnen die Zusammenarbeit mit Firmen in Belarus wegen der hohen Risiken ab, angefangen von der potenziellen Verhaftung von Mitarbeitern bis hin zu Sanktionen. Wegen der Sanktionen gegen Belarus sind die Geldflüsse beschränkt, das Finanzsystem ist instabiler geworden. In der Praxis kann das aussehen wie ein banales Zugriffsverbot auf ein Projekt von belarussischem Territorium aus. Darunter leidet die Branche, und die Regierung versucht, den Sektor zu erhalten und die IT-Firmen auf den Binnenmarkt auszurichten.

    Manche Unternehmen sind aber auch zufrieden mit den Arbeitsbedingungen in Belarus: „Die Risiken sind nicht höher als in anderen Ländern, sie sind akzeptabel. Die Gesetze werden ständig besser angepasst, der Verwaltungsaufwand wird vereinfacht. Das Einzige, was gleich geblieben ist: Man kann schwer etwas erreichen, wenn man mit staatlichen Stellen aneckt“, meint Dmitri Nor, Direktor von SkySoft, einem kleinen Webentwickler. „Die Bedingungen für Unternehmen waren bei uns immer recht gut. Es gibt aber eine Nuance: Man muss jetzt Gesetze einhalten und Steuern zahlen. Früher ging es nicht so streng zu, und wer dazu nicht bereit ist, muss jetzt vielleicht dichtmachen.“

    Was wird aus dem belarussischen IT-Sektor?

    „Die nähere Zukunft von Belarus als Unternehmensstandort ist äußerst traurig“, sagt in einem Interview der Unternehmer und Risikoinvestor Juri Melnitschek, der die App Mams.me entwickelt hat. Zum High-Tech-Park meint Juri, dass dessen steuertechnische Attraktivität sinke. Allerdings würden viele Unternehmen ihren Standort dort beibehalten: Der HTP umfasst über 1.000 Firmen.

    Was, außer Geld, verliert Belarus noch? Humankapital. Die besten Spezialisten wandern ab, ist aus den IT-Firmen zu hören. „Belarus gilt momentan als wenig aussichtsreicher und instabiler Standort. Schade um die Anfänger, die Startups, es gibt weniger Möglichkeiten und die Bedingungen sind schlechter. Auf dem Markt sind nur noch wenige gute Organisationen vertreten. Die Zukunft der belarussischen IT-Wirtschaft ist zerstört, und zwar, wie es derzeit aussieht, unumkehrbar“, meint Ilja*, der seit 2019 im IT-Bereich als Programmierer und als Manager in der Filiale eines großen russischen Unternehmens arbeitet.

    Der Wert der Abwandernden liege nicht nur in ihren beruflichen Qualitäten, ist Irina* überzeugt; sie ist leitende Kommunikationsexpertin in einer belarussischen Outsourcing- und IT-Firma. „Das sind Menschen, die sehr viel in ihre Bildung und Entwicklung investiert haben. Denkende Menschen, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Avantgarde in Belarus“, sagt sie.

    Rund 41 Prozent der IT-Kräfte sind abgewandert, und in einer Umfrage, die die Redaktion des Fachportals Dev.by im Sommer 2022 unter 5175 Personen durchgeführt hat, gaben weitere 25 Prozent an, dies zu planen. Unterdessen arbeiten die Belarussen im Ausland daran, sich zusammenzuschließen, eine Wirtschafts-Diaspora aufzubauen, die nach einem Machtwechsel in Belarus dorthin zurückkehren könnte.

    „Wie sind jetzt die Tendenzen? Alle ziehen aus Belarus ab, verlagern ihre Aktiva“, sagt Jaroslaw Lichatschewski, Begründer des Startups Deepdee und einer der Gründer der Stiftung BYSOL, die Opfer der Repressionen unterstützt. „Die Produktorientierung [Startups, die ein eigenes Produkt herstellen; – A.W.] ist zerstört. Niemand, der bei klarem Verstand ist, investiert jetzt in eine belarussische Firma. Das Gleiche gilt für das Outsourcing: Viele Kunden sind nicht bereit, mit Teams in Belarus zusammenzuarbeiten. Die belarussische IT-Branche wird sich – wie die Kultur, der Journalismus und das gesellschaftliche Leben – jetzt im Ausland regenerieren und entwickeln [müssen]. Die Frage ist nur, ob wir als Community bestehen bleiben oder uns in den neuen Ländern in alle Winde zerstreuen.”

    * die Namen der in diesem Beitrag genannten Personen, die in Belarus leben oder sich um die Sicherheit ihrer Familien sorgen, wurden geändert oder verkürzt.

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