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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Kafkas Schloss und Medwedews Villen

    Kafkas Schloss und Medwedews Villen

    Sie heißen Dar, Gradislawa und FSKI (Stiftung für sozial-kulturelle Initiativen). Und diese wohltätigen Stiftungen haben die Menschen am vergangenen Wochenende landesweit auf die Straßen gebracht. Zumindest indirekt. 
    In seinem Korruptionsbericht über Premier Dimitri Medwedew deckt der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ein ganzes Netz vermeintlich wohltätiger Stiftungen auf, über die der Premier heimlich Reichtümer anhäufe, etwa eine Luxus-Datscha, aber auch Weingüter und Yachten.

    Solche Stiftungen müssen ihre Jahresberichte öffentlich machen – auch um sicherzustellen, dass sie nicht unter das NGO-Agentengesetz fallen. Insofern müssten ihre Tätigkeiten leicht nachzuvollziehen sein – Anna Baidakowa von der Novaya Gazeta wurde allerdings eines Besseren belehrt. 

    Ein Netz von Pseudo-Stiftungen, mittels derer Premier Medwedew Reichtümer anhäuft – so lauten die Vorwürfe des Oppositionspolitikers Nawalny. Screenshot © Алексей Навальный/YouTube
    Ein Netz von Pseudo-Stiftungen, mittels derer Premier Medwedew Reichtümer anhäuft – so lauten die Vorwürfe des Oppositionspolitikers Nawalny. Screenshot © Алексей Навальный/YouTube

    Dar [dt. Gabe/Geschenk] – so heißt die Stiftung, der das Gut Milowka in Pljos gehörte. Dort wurde Dimitri Medwedew im Urlaub ausgemacht. Wir sandten der Stiftung eine Anfrage, eine Sekretärin bestätigte den Eingang telefonisch. 
    Doch als sich die Korrespondentin der Novaya Gazeta auf die Suche nach dem Dar-Büro macht, stellt sich heraus, dass sich an der Meldeadresse, 2. Spassonaliwkowski Pereulok 6, eine Baustelle befindet, die Firma Codest International S. r. L. errichtet hier einen Wohnhauskomplex. 
    Die Sekretärin lehnte ab, der Korrespondentin am Telefon die tatsächliche Büroadresse zu nennen (wenn es sie denn gibt), und bat um eine schriftliche Anfrage.

    Null Rubel für Hilfsaktionen

    Einzige Informationsquelle darüber, wie die mit Medwedew in Zusammenhang gebrachten Stiftungen ihre Mittel verwenden, sind Datenbanken wie SPARK, wo man unter anderem Berichte über den zweckgebundenen Einsatz der Mittel findet. Dort kann man etwa erfahren, dass die Stiftung für regionale gemeinnützige Projekte Dar im Jahr 2015 1,4 Milliarden Rubel [knapp 19.000.000 Euro] in Form von Spenden erhielt und 454,6 Millionen [rund 6.069.000 Euro] für zweckgebundene Maßnahmen ausgab.

    Doch waren das keine sozialen und wohltätigen Hilfsaktionen, Konferenzen oder Seminare – für diese Posten wurden 0 Rubel verwendet. Sondern es waren allesamt „sonstige Maßnahmen“. Wobei für Gehälter, Dienstreisen und Instandhaltung von Autos und Gebäuden 224,7 Millionen [rund 2.991.000 Euro] ausgewiesen wurden und weitere 574 Millionen [rund 7.640.000 Euro] für „Grundausstattung, Inventar und andere Besitztümer“.

    Leider ist so einem Bericht nicht zu entnehmen, welche „sonstigen Maßnahmen“ gemeint sind. Für einige Jahre gibt es gar keine Berichte, und da, wo es welche gibt, bleiben jedes Mal am Jahresende 6 bis 8 Milliarden [rund 1 bis 1,3 Millionen Euro] ungenutzt liegen.

    Oft enthalten alle Ein- und Ausgabeposten nur Striche

    Zu manchen Ausgaben der Stiftung Dar kann man in der Kartothek des Schiedsgerichts etwas finden. Dass Dar zum Beispiel im Jahr 2010 der Firma OOO Rikko-Stil in Krasnodar 603,4 Millionen Rubel gezahlt hat für den Bau eines „nicht für Wohnzwecke bestimmten Gebäudes mit Sportschwimmbecken an der Adresse: RF, Oblast Iwanowo, Rajon Priwolschsk, Dorf Milowka, Tschernew-Gut (Gut Milowka)“, lässt sich aus Dokumenten zu einem Prozess herleiten: Dar hatte von Rikko-Stil eine Vorauszahlung für Arbeiten zurückgefordert, die Rikko-Stil nicht erfüllt hat – den Großteil der bezahlten Summe.

    Die Jahresberichte anderer Stiftungen in der allgemein zugänglichen Datenbank geben ebenso spärlich Auskunft, oft enthalten alle Ein- und Ausgabeposten nur Striche.

    Gut Milowkа mit Entenhäuschen im Teich. Screenshot © Алексей Навальный/YouTube
    Gut Milowkа mit Entenhäuschen im Teich. Screenshot © Алексей Навальный/YouTube

    Nach Erkenntnissen des Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) hatte Gradislawa, eine Stiftung zum Erhalt von historischem und kulturellem Erbe, das Gut in Milowka von Dar als Spende erhalten. Über Gradislawa erfährt man zum Beispiel nur, dass die Stiftung im Jahr 2013 mit irgendeiner unternehmerischen Tätigkeit Einnahmen in Höhe von 531.000 Rubel [rund 8.770 Euro] erzielte und aus einer ungenannten Quelle weitere 749 Millionen [rund 12.365.000 Euro] bezog, die zudem weder als Spenden noch als Gewinn klassifiziert wurden.

    Von allen Stiftungen rund um Dimitri Medwedew ist die Stiftung für Sozial- und Kulturinitiativen (FSKI) die transparenteste. Zwar figurierte sie in den Ermittlungen auch nicht als Rechtsträger von Immobilien, doch steht sie mit Dar in Verbindung: Deren Tochtergesellschaft Verwaltungsteam der Stiftung Dar ist unter derselben Adresse gemeldet wie die Stiftung FSKI.

    Büroräume in einer Villa aus dem 19. Jahrhundert

    Die FSKI selbst befindet sich aber nicht in irgendeinem Business-Center, wo dutzende Firmen ihre Büroräume mieten, sondern in einem ebenerdigen Haus aus dem 19. Jahrhundert, auf der Bolschaja-Ordynka-Straße 70. Die Vorstellung, dass sich eine Organisation, als deren Präsidentin Swetlana Medwedewa auftritt, eine kleine alte Villa mit irgendeiner fremden Organisation teilt, fällt schwer.

    Die Stiftung für Sozial- und Kulturinitiativen (FSKI) im Zentrum Moskaus. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Die Stiftung für Sozial- und Kulturinitiativen (FSKI) im Zentrum Moskaus. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Die FSKI ist in der ganzen Liste die einzige Stiftung mit funktionierender Website. Darauf sind die Projekte der Stiftung beschrieben. Doch Antworten auf die Fragen, von wem sie die Spendengelder bekam, und wie und wofür sie diese ausgab, sucht man dort vergebens.

    749 Millionen aus einer ungenannten Quelle, die zudem weder als Spenden noch als Gewinn klassifiziert wurden

    Die Korrespondentin der Novaya Gazeta versuchte also, die Jahresberichte direkt bei den Stiftungen zu bekommen. Am Telefon der FSKI meldete sich ein Mädchen namens Kristiana, die ihre Funktion und ihren vollen Namen nicht nennen wollte. Sie erklärte, die Stiftung veröffentliche ihre Berichte „auf diversen anderen Websites“, es fiel ihr aber schwer zu sagen, auf welchen konkret.
    Nach Rücksprache mit der Leitung rief sie zurück und sagte, die Berichte würden auf der Website des Justizministeriums nur ein Jahr lang gespeichert, dort seien sie einsehbar gewesen, der Bericht für 2016 erscheine allerdings erst am 15. April.

    Allerdings stimmt das nicht: Auf dem Portal des Justizministeriums findet man Berichte gemeinnütziger Organisationen ab dem Jahr 2014. Nach langem Hin und Her sagte Kristiana, sie müsse weg, versprach, zurückzurufen … und war verschwunden.

    Trotzdem schickte die Stiftung der Redaktion ein Paket: Eine Mappe mit Broschüren über die Gefahr von HIV, ein Buch zum Gedenken an Leute, die bei Bränden Tapferkeit bewiesen haben, Titel „Brennendes Herz“, und noch einen Stapel Druckwerk über Programme, die die Stiftung auf ihrer Website auflistet (danke dafür – Anmerkung der Redaktion Novaya Gazeta). Offenbar ist das eben der FSKI-Tätigkeitsbericht.

    Ein greifbares Projekt der FSKI sind immerhin die Diagnosezentren Weiße Rose, in denen Frauen kostenlose Krebsvorsorgeuntersuchungen angeboten werden. Der zahlreichen Erwähnungen im Netz nach zu schließen gibt es diese Zentren wirklich, im Jahr 2014 berichtete die Weiße Rose den Erhalt von 90,7 Millionen Rubel [rund 1.480.000 Euro], für Gehälter habe sie 303.000 Rubel [rund 4.930 Euro] aufgewendet, für 18 Millionen [rund 293.000 Euro] Vermögenswerte gekauft.

    Nach langem Hin und Her sagte Kristiana, sie müsse weg, versprach, zurückzurufen … und war verschwunden

    Die Stiftung Gradislawa ist nicht besonders offen für Pressegespräche. Die Telefonnummer, die bei der Registrierung angegeben wurde, ist die von Generaldirektor Iwan Karabinski. Während des Gesprächs mit der Novaya-Korrespondentin wollte er keine Email-Adresse oder Faxnummer angeben, meinte: „Ich kann Sie ja nicht als Journalistin identifizieren“, und schlug vor, eine Anfrage im Büro vorbeizubringen.

    Von außen deutet nichts darauf hin, dass hier die Stiftung Gradislawa ansässig ist. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Von außen deutet nichts darauf hin, dass hier die Stiftung Gradislawa ansässig ist. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    An der Kotelnitscheskaja-Nabereshnaja 25, Gebäude 1, steht ein Bürohaus, aber es gibt kein Schild von Gradislawa. Die Security an der Pforte teilt mit, dass Iwan Igorewitsch Karabinski persönlich nicht hier sitze, sondern hier sitze Roman Kalistratowitsch Kostezki. Auf einen Anruf des Security-Mitarbeiters hin kommt der heraus, ein großer Mann im Jackett, das Haar graumeliert. Er stellt sich als stellvertretender Direktor vor und nimmt die Anfrage entgegen.

    Wir versuchten unsere Anfrage dem Büro zu übermitteln, und das lief ab wie bei Das Schloss von Franz Kafka

    Den Anruf der Novaya-Korrespondentin bei Sozgosprojekt nahm eine Frau entgegen. Auf die Frage, wo man die Rechnungslegung der Stiftung einsehen könne und ob es eine offizielle Website gebe, antwortete sie: „Nein, wir haben keine Website“, und legte auf. Also versuchten wir, unsere Anfrage dem Büro zu übermitteln, und das lief ab wie bei Das Schloss von Franz Kafka.

    Die Stiftung ist registriert unter der Adresse Uliza Rossolimo 17, Gebäude 2 – das ist das Business-Center Rossolimo. In der Eingangshalle hängt eine Liste der Organisationen, die dort ihren Sitz haben, auch Sozgosprojekt ist angegeben, mit Telefonnummer – dieselbe, die in den Gründungsunterlagen steht: 8 495 287-45-61. Als die Novaya-Korrespondentin jedoch dort anrief, sich vorstellte und um Entgegennahme ihrer Anfrage bat, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung: „Falsch verbunden“ … und legte auf.

    Dann versuchten unter derselben Nummer die Leute vom Sicherheitsdienst des Business-Centers zum Sozgosprojekt durchzukommen – vergeblich, niemand hob ab.

    Indessen waren aber die Stiftungsmitarbeiter offenbar sehr wohl an ihrem Platz: Die Korrespondentin der Novaya setzte sich mit der Administration von Rossolimo in Verbindung und erfuhr, dass man dort gerade während des Gesprächs einen Vertreter des Sozgosprojekt „in der Leitung“ habe. Trotzdem wollte man nach diesem Telefonat die „richtige“ Nummer nicht herausgeben, teilte mit, eine diesbezügliche Anfrage könne in den Briefkasten geworfen werden, und legte den Hörer auf. Wir folgten dem Rat – die Redaktion bekam trotzdem nie Antwort.

    Die Stiftung teilte mit, eine Anfrage könne in den Briefkasten geworfen werden, und legte den Hörer auf. Wir folgten dem Rat – die Redaktion bekam trotzdem nie Antwort

    Die Stiftung zur Unterstützung olympischer Wintersportarten hat ihren Sitz in einem Gebäude an der Kadaschewskaja-Uferstraße 6/1/2 (das Gebäude ist von zwei Straßen und der Uferpromenade aus zugänglich, daher die Adresse mit zwei Schrägstrichen). Der Eingang zu den Büros liegt im Hof, man muss ein Tor passieren, das der Wachmann auf ein Klingeln hin öffnet. Ein Schild gibt es nicht am Eingang.

    Als die Korrespondentin sagt, sie suche die Stiftung zur Unterstützung olympischer Wintersportarten, diskutieren die Wachmänner zuerst einmal lang und breit, ob es eine solche Stiftung hier überhaupt gibt. Auch der Chauffeur, der am Fuß der Außentreppe sein Auto warmlaufen lässt, hat noch nie davon gehört. Schließlich gibt es die Stiftung aber doch, und die Security-Mitarbeiter schlagen vor, die Anfrage bei ihnen zu deponieren.

    Ob es eine Stiftung zur Unterstützung olympischer Wintersportarten an deren offizieller Adresse gibt, wissen die Wachmänner nicht so genau. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Ob es eine Stiftung zur Unterstützung olympischer Wintersportarten an deren offizieller Adresse gibt, wissen die Wachmänner nicht so genau. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Unsere Anfragen haben wir am 20. und 21. März abgeschickt, wir warten auf Antwort. Bisher haben wir nur Briefe von FSKI, Gradislawa und Dar bekommen: Die Organisationen bedanken sich bei der Novaya Gazeta für das Interesse an ihrer Tätigkeit und geben sanft zu verstehen, dass sie ihre Jahresberichte nicht herausgeben.

    Die Organisationen bedanken sich bei der Novaya Gazeta für das Interesse an ihrer Tätigkeit und geben sanft zu verstehen, dass sie ihre Jahresberichte nicht herausgeben

    Zum Beispiel so: „Der Bericht zur Tätigkeit der Stiftung geht in gesetzlich vorgeschriebener Form an jene Behörden, die mit der Kontrolle der Tätigkeit gemeinnütziger Organisationen beauftragt sind. Wir wünschen der Redaktion der Zeitung neue kreative Erfolge, gute Nachrichten, zuverlässiges und objektives Material, ausgewogene Bewertung und, am wichtigsten – das Vertrauen der Leser!“ So heißt es in einem Brief von Dar. Deren Mitarbeiter ließen der Novaya Gazeta ihre Antwort per Email in einem Word-File ohne Briefkopf zukommen.

    Mit der Bitte, der Redaktion Einblick in die Jahresberichte der Stiftungen zu gewähren, wandten wir uns schließlich an das Justizministerium. Die Antwort: „Die Erfordernisse des Föderalen [Gesetzes] Über gemeinnützige Organisationen hinsichtlich der Vorlage der Rechnungslegung sind seitens der angegebenen gemeinnützigen Organisationen erfüllt. Bezüglich der Einsicht in die Rechnungslegung wenden Sie sich bitte direkt an die betreffenden Stiftungen.“

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  • Ist was faul an der Kurve?

    Ist was faul an der Kurve?

    „Wir glauben Gauß!“ – so und ähnlich lauteten Aufschriften auf Schildern, die während der Massenproteste nach der Dumawahl 2011 zu sehen waren. In abgewandelter Form taucht das Stichwort nun nach dieser Dumawahl wieder auf, nicht auf der Straße, aber in der Berichterstattung unabhängiger russischer Medien – und in den Sozialen Netzwerken.  

    Gemeint ist die Gaußsche Glockenkurve, die in der Statistik eine Normalverteilung anzeigt. Der Physiker Sergej Schpilkin machte diese Kurve unter Kritikern der Dumawahl besonders populär. Bereits 2011 und jetzt wieder nutzte er sie zur Analyse der Wahlbeteiligung und der abgegebenen Stimmen. In den erstellten Histogrammen fällt auf, dass die Machtpartei Einiges Russland in Wahlbezirken, in denen die Wahlbeteiligung auf 100 Prozent zugeht, auffällig viele Stimmen auf sich vereinigen konnte. Schpilkins Analyse wirft Fragen auf. Weisen seine berechneten Kurven auf Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe hin? Wie kommt regional eine unterschiedliche Wahlbeteiligung mit teils hohen Stimmenzuwächsen für Einiges Russland zustande? Für den Physiker selbst deutet das auf Manipulationen hin, Kritiker sehen einen klaren Beweis für Fälschungen.

    Die Ergebnisse der Dumawahl vom 18. September wurden unterdessen von der Zentralen Wahlkommission (ZIK) offiziell für gültig erklärt. ZIK-Vorsitzende Ella Pamfilowa sagte, das Komitee gehe aber noch ausstehenden Hinweisen zu möglichen Verstößen bei der Wahl nach. Die unabhängigen Wahlbeobachter der Bewegung Golos haben zahlreiche Verstöße – sowohl aus dem Wahlkampf als auch vom Tag der Stimmabgabe – registriert und fassen sie für die Regionen in Berichten zusammen.

    Was hat der Physiker Schpilkin, der derweil vielfach zitiert wird, genau ausgerechnet? Wie ist er vorgegangen? Im Interview mit der Novaya Gazeta erklärt Schpilkin seine Methode und wie seinen Berechnungen zufolge ein bereinigtes Wahlergebnis aussehen müsste.

    Der Physiker Sergej Schpilkin analysiert das Verhältnis von Wahlbeteiligung und abgegebenen Stimmen / Foto © Orgkomitet Premija „Proswetitel“
    Der Physiker Sergej Schpilkin analysiert das Verhältnis von Wahlbeteiligung und abgegebenen Stimmen / Foto © Orgkomitet Premija „Proswetitel“

    Anna Baidakowa: Inwiefern deuten Schwankungen in der Wahlbeteiligung auf mögliche Fälschungen hin?

    Sergej Schpilkin: Die russische Gesellschaft ist äußerst homogen: Sie hält sich in einem einheitlichen, vom Fernsehen geschaffenen Informationsraum auf und zeigt nur geringfügige Unterschiede, was Herkunft und Bildung angeht. Es gibt kaum eine Aufteilung in Gesellschaftsschichten, die sich politisch unterschiedlich verhalten würden.

    Eine Ausnahme bildet die sogenannte Moskauer Bildungsschicht – das ist ein recht überschaubarer Bevölkerungsanteil, der in Moskau, St. Petersburg und ein paar anderen Städten existiert und dort unterschiedlich groß ist. Ansonsten unterscheiden sich nicht einmal die ärmsten Stadtbezirke stark genug von den mittelreichen, als dass sich der Unterschied im Wahlverhalten niederschlagen würde – Ghettos gibt es hier nicht.

    Man kann nur einige wenige Wahlbezirke ausmachen, wo die Menschen ganz anders wählen. Zum Beispiel im Hauptgebäude der MGU oder im Wohnkomplex Grand Park an der Metro Poleshajewskaja, wo Prochorow [bei der Präsidentschaftswahl – dek] 2012 die meisten Stimmen bekam. Aus diesen Gründen schwankt auch die Wahlbeteiligung nur geringfügig. Sogar zwischen städtischen und ländlichen Gebieten einer Region gibt es kaum Unterschiede.

    Was passiert nun, wenn wir die Wahlen fälschen, das Ergebnis zugunsten eines bestimmten Kandidaten verschieben wollen? Ich könnte einfach seine Stimmenzahl erhöhen – zum Beispiel hole ich Menschen ran und sage ihnen, sie sollen ihn wählen. Allerdings lässt sich nur schwer überprüfen, was sie dann tatsächlich tun. Ich kann auch einfach von der Wahlkommission verlangen, die Zahlen zu fälschen: Einem Kandidaten die Stimmen wegnehmen und sie einem anderen zurechnen, doch das geschieht selten.

    Das allereinfachste ist, einen Stapel Stimmzettel in die Urne zu werfen, so steigt auch die Wahlbeteiligung: Je mehr Stimmzettel eingeworfen werden, desto höher wird sie. In diesen Wahlbezirk sehen wir dann eine hohe Stimmenzahl für einen Kandidaten und nur ein paar Stimmen für die Opposition. Ohne solch ein Auffüllen von Wahlzetteln ist das Stimmverhältnis in allen Wahlbezirken mehr oder weniger ähnlich, wenn wir aber zusätzliche Stimmzettel einwerfen, steigen die Zahlen von einer Partei. Im gegebenen Fall von Einiges Russland.

    Wie sah es denn mit der Wahlbeteiligung bei diesen Wahlen aus?

    Ich schlüssele alle Wahlbezirke nach Wahlbeteiligung auf, sehe mir an, wie viele Stimmen pro Intervall [pro Prozentpunkt Wahlbeteiligung – dek] für jeden Kandidaten abgegeben wurden und erstelle dann Histogramme.

     


    Quelle der Daten: ZIK / Sergej Schpilkin, grafische Umsetzung: dekoder (Falls die Grafiken nicht laden, bitte hier aktualisieren)

    Nimmt man alle Wahlbezirke zusammen, wurden insgesamt die meisten Stimmen in denjenigen abgegeben, in denen die Wahlbeteiligung bei durchschnittlich 36 Prozent lag, sprich,  immer so zwischen 25 und 40 Prozent. Wahrscheinlich war in diesen Wahlbezirken alles in Ordnung. Und alles, was über diese Grenzen hinausschießt, sieht exakt so aus, als hätte jemand einfach Stimmen für Einiges Russland hinzugefügt. Denn wenn Menschen abstimmen, ergeben sich eigentlich zufällige Zahlen, die Verteilungskurve verläuft fließend.

    Verschiebe ich nun die Zahlen in einzelnen Wahlbezirken, bekomme ich statt einer fließenden Verteilung eine sägezahnförmige Figur – 2011 wurde das Phänomen als Tschurow-Bart bezeichnet. Verdächtig sind vor allem Bezirke mit einer Wahlbeteiligung von 50, 60 oder 75 Prozent. Solch schöne Zahlen ergeben sich so gut wie nie zufällig.

    Wenn die Wahlbeteiligung in einem Wahlbezirk bei 95 Prozent liegt, ist das höchstwahrscheinlich eine Fälschung. So etwas kommt in Großstädten nicht vor. Die Fälschungen finden auf dem Weg von der Stimmabgabe bis zum Eintrag in das GAS-Wahlen-System statt.

    In welchen Regionen gab es denn die meisten Auffälligkeiten bei der Wahlbeteiligung?

    In Tatarstan, Baschkortostan, in den Republiken des Nordkaukasus, mit Ausnahme von Adygeja, in der von allen geliebten Oblast Saratow, in Belgorod und Brjansk. Dort gab es die meisten Bezirke mit einer auffällig hohen Wahlbeteiligung und hohen Ergebnissen für Einiges Russland.

     


    Quelle der Daten: ZIK / Sergej Schpilkin, grafische Umsetzung: dekoder (Falls die Grafiken nicht laden, bitte hier aktualisieren)

    Im Nordwesten und nördlich von Moskau passiert das in der Regel selten. In Sibirien stehen die Dinge nur in Jakutien, Kemerowo und Tjumen schlecht, teilweise auch in Omsk. Besonders auffällig war diesmal die Oblast Woronesh: Dort gab es eine riesige Anzahl von Wahlbezirken mit einer Beteiligung von 80 bis 100 Prozent.

    Insgesamt ähnelt diese Wahl stark den Wahlen von 2011, nur dass die Wahlbeteiligung niedriger und die Ergebnisse für Einiges Russland höher sind

    Auf der Krim und in Sewastopol wurde meines Erachtens fair ausgezählt. Dort war die Wahlbeteiligung hoch, doch die Verteilung folgt durchaus einem städtischen Muster und ähnelt sehr der von Moskau.

    Können Sprünge in den Zahlen nicht auch natürlich sein? Es sind einfach mehr Leute gekommen, um zu wählen?

    Dann würde sich die gesamte Grafik verschieben – so wie im Fall von der Oblast Kirow oder der Oblast Kursk – aber nicht einzelne Teile. Sie würde einfach insgesamt höher liegen.

    Ähnelt die Situation der von 2011?

    Auf der Website der Zentralen Wahlkommission gibt es Daten zu allen Wahlen seit 1999. Und je weiter wir zurückgehen, desto mehr ähnelt die Stimmverteilung einer glockenförmigen Kurve, die man auch die Gauß-Kurve nennt – also einer Normalverteilung.

    Von Anfang 1999 bis 2005 wich die Wahlbeteiligung in allen Moskauer Bezirken nie um mehr als 5 Prozent vom Durchschnittswert der Stadt ab.  

    2008 musste die Moskauer Regierung wohl unbedingt ihre Loyalität mit Dimitri Medwedew demonstrieren – da klaffte die Wahlbeteiligung weit auseinander, sogar in  benachbarten Bezirken. Das wiederholte sich 2009 bei den Wahlen zum Moskauer Stadtparlament, als es in dem Bezirk, wo Mitrochin selbst gewählt hat, keine einzige Stimme für Jabloko gab. Dann folgte der Skandal bei den Dumawahlen 2011: Als Einiges Russland beispielsweise im Moskauer Bezirk Ramenki in ein und demselben Wohnkomplex in der einen Hälfte 28 Prozent bekam und in der anderen 58 Prozent. Es kam zum Skandal, zu Protesten und so weiter und so fort, also hat man 2012 die Fälschungsmaschine in Moskau drastisch gedrosselt. Die Wahlbeteiligung lag wieder bei Normalwerten. Normalwerte gab es auch bei der Bürgermeisterwahl 2013.

     


    Für die Stadt Moskau hat Schpilkin in diesem Jahr keine extremen Unregelmäßigkeiten festgestellt. / Quelle der Daten: ZIK / Sergej Schpilkin, grafische Umsetzung: dekoder (Falls die Grafiken nicht laden, bitte hier aktualisieren)

    Ich habe im Vorfeld vermutet, dass diese Wahlen entweder dem Szenario von 2003 (den fairsten Wahlen, zu denen uns Daten vorliegen) oder dem Szenario der Wahlen von 2011 (den unfairsten) folgen würden.

    Von den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten wurde die schlechteste gewählt. Beziehungsweise wurde sie gar nicht gewählt – die Maschine ist längst in Gang und läuft von selbst. Um sie zu stoppen, müsste man ihr lange auf die Finger hauen.

    Insgesamt ähnelt diese Wahl stark den Wahlen von 2011, nur dass die Wahlbeteiligung niedriger und die Ergebnisse für Einiges Russland höher sind. Und im Gegensatz zu 2011 fehlen diesmal auf der Gewinnerliste neue Gesichter – seinerzeit war Gerechtes Russland auf der Bildfläche erschienen.

    Besonders niedrig war die Wahlbeteiligung in Moskau und in Sankt Petersburg (35,2 und 32,7 Prozent). Wie wichtig ist das?

    Vor zehn Jahren lag die Wahlbeteiligung in Moskau bei 56 Prozent. Das heißt, dass die Stimme eines Moskauers diesmal doppelt so viel zählte und sogar eine kleine Zahl von Anhängern der Demokraten hätte ihren Kandidaten in die Duma bringen können. Momentan beträgt der Anteil von Staatsangestellten und Rentnern zehn Prozent – was ausreicht, um einen beliebigen Kandidaten ins Amt zu bringen. Bei so einer Wahlbeteiligung entscheiden sie alles. Bekanntlich fehlten Nawalny für die zweite Runde 35.000 Stimmen. Wären mehr Menschen gekommen, hätte es eine zweite Runde gegeben. Es könnte also sein, dass die Großstädte gewisse Chancen ungenutzt gelassen haben.

    Wie würden Ihren Berechnungen zufolge die tatsächlichen Wahlergebnisse aussehen?

    Für Einiges Russland wurden 28 Millionen Stimmen abgegeben, davon wurden nach meinen Berechnungen 12 Millionen künstlich aufgestockt. Das bedeutet, dass 45 Prozent der Stimmen für Einiges Russland gefälscht sind, was einem Anteil von etwa 11 Prozent aller Wahlberechtigten entspricht. Das bedeutet, dass wir statt der offiziellen Wahlbeteiligung von 47,8 Prozent eine Beteiligung von 36,5 Prozent haben. Statt der 54 Prozent für Einiges Russland ergeben sich 40 Prozent. Aus politischer Sicht ist das ein ziemlich wichtiges Ergebnis: 15 Prozent aller Wahlberechtigten haben demnach die Partei unterstützt. Mit diesen realen 15 Prozent (und – wenn man mit den aufgestockten Stimmen rechnet – mit den offiziell ausgewiesenen 27 Prozent) werden sie nun irgendwie leben müssen.


    „Wir glauben Gauß!“ – Für Demonstranten im Jahr 2011 war es ein starkes Argument, auf die Straße zu gehen: die gezackte Statistik, die der Physiker Schpilkin aus den Daten gewann. Sie deutete auf Unregelmäßigkeiten bei den Wahlergebnissen hin / Foto © politonline.ru


    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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