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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Covid: Die Russland-Variante

    Covid: Die Russland-Variante

    Russland droht die vierte Welle der Corona-Pandemie – wenn sich das Land nicht schon mittendrin befindet. Die offiziellen Zahlen – die viele immer noch für geschönt halten – sind erschreckend: Die Anzahl der Neuinfektionen pro Tag liegt demnach bei mehr als 20.000, mit 669 Toten am Tag war die Sterberate Ende Juni so hoch wie nie zuvor. Besonders stark betroffen sind die Metropolen, dabei sind allein in Moskau laut Behördenangaben 90 Prozent der Neuinfektionen auf die Delta-Variante zurückzuführen. 

    So war es auch Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin, der vor rund zwei Wochen Alarm schlug. In Moskau dürfen seit Montag nur noch Geimpfte, Getestete oder Genesene die Restaurants und deren Außenbereiche besuchen, was über QR-Codes geprüft wird. Außerdem verhängte Moskau eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen, einzelne weitere russische Regionen in der Folge ebenfalls. Nichtsdestotrotz wird am morgigen Freitag ein Viertelfinalspiel der Fußball-EM in der Sankt Petersburger Gazprom-Arena stattfinden – 50 Prozent Auslastung sind zugelassen, das sind knapp 30.000 Menschen.

    Beim Direkten Draht mit Wladimir Putin am gestrigen Mittwoch war Corona eines der wichtigsten Themen. Putin betonte dabei die Notwendigkeit einer Impfung, schloss eine Impfpflicht jedoch aus und sagte, dass durch die neue Impfstrategie der Regionen ein Lockdown hoffentlich verhindert werden könne. 
    Immer wieder werden kritische Stimmen laut, dass eine einheitliche Coronastrategie fehle: Die Regierung habe vielmehr lange den Eindruck erweckt, als sei die Coronagefahr gebannt. Und auch jetzt überlasse sie die Verantwortung den Regionen – wohl aus Angst, vor der Dumawahl im Herbst unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen.

    Die Impfskepsis jedenfalls ist in Russland trotz der erschreckend hohen Zahlen nach wie vor groß: Laut John Hopkins University sind nur knapp 12 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft – und das, obwohl Russland mit Sputnik V als erstes Land einen Impfstoff zugelassen hatte. Laut Umfrageinstitut Lewada lehnen nach wie vor rund 60 Prozent der Menschen im Land eine Impfung ab. 

    In sozialen Medien entbrannte sogleich eine heftige Debatte über die teilweise geltende Impfpflicht. Die Linien verlaufen dabei jedoch nicht nur zwischen Corona-Leugnern, Impfgegnern und -befürwortern, vielmehr wird quer durch alle Milieus ein hohes Misstrauen gegenüber staatlich verordneten Maßnahmen deutlich. 

    Ein solches „Misstrauen auf allen Ebenen“ nimmt auch Journalist Andrej Sinizyn wahr und gibt auf Republic Einblick in ein zerrüttetes Gesundheits-und Vertrauenssystem.

    Impfmöglichkeit in einem Einkaufszentrum, Woronesh / Foto © Oleg Charsejew/Kommersant
    Impfmöglichkeit in einem Einkaufszentrum, Woronesh / Foto © Oleg Charsejew/Kommersant

    Letztes Jahr, als meine Zwillinge zwei Monate waren, fuhren wir in die Poliklinik, um sie vorschriftsgemäß impfen zu lassen. Wir gingen nacheinander ins Behandlungszimmer (die Mutter mit der Tochter und ich mit dem Sohn). Als wir fertig waren, wunderten wir uns, warum ein Kind eine Schluckimpfung gegen Rotaviren, das andere aber eine Spritze bekommen hatte. Doch auf unsere empörte Nachfrage entgegnete die Krankenschwester, das müsse so sein. Erst zu Hause sagte unsere wachsame Großmutter (eine Kinderärztin mit langjähriger Berufserfahrung), die gerade zu Besuch war, eine Rotaviren-Impfung würde niemals gespritzt. Wir fuhren sofort wieder hin und es stellte sich heraus, dass die Krankenschwester sich vertan und meinen Sohn gegen Hepatitis statt gegen Rotaviren geimpft hatte („Was ist schon dabei? Nächstes Mal machen wir es eben andersrum.“). 

    Falsche Impfung? „Was ist schon dabei?“

    Wir mussten ihn umgehend gegen Rotaviren und unsere Tochter gegen Hepatitis impfen lassen. Das war natürlich eine zusätzliche Belastung für den kleinen Körper (zuvor hatten beide auch noch „Prevenar“ bekommen), aber sonst wäre es noch gefährlicher geworden: Gegen Rotaviren gibt es eine Lebendimpfung, ein Kind könnte das andere anstecken, sie leben ja nicht nur zusammen, sie saugen auch noch an derselben Brust. 
    Selbstverständlich war der Papa schuld, weil er sich nicht im Voraus informiert hatte, welche Impfstoffe wie verabreicht werden. Anders gesagt, er hätte sich nicht blind auf die Pädiatrie verlassen dürfen, wo man offensichtlich Impfungen vertauscht, dies zunächst abstreitet und dann auch noch sagt: „Was ist schon dabei?“

    Gesundheitssystem am Boden – und dann bricht die Epidemie aus

    Der Papa ist ja nicht erst seit gestern auf der Welt, er hat schon seine Eltern zu Grabe getragen – verstorben an einem Infarkt und an Lungenkrebs, beides war im Bezirkskrankenhaus nicht diagnostiziert worden. Und auch er selbst hat schon bei Gesprächen mit Ärzten widersprüchliche Erfahrungen machen müssen. Ob Sowjetunion oder Russland, ob Kinder- oder Erwachsenenmedizin – die Qualitätsunterschiede sind nicht sonderlich groß. Alles hängt vom jeweiligen Krankenhaus, den jeweiligen Ärzten und jeweiligen Krankenschwestern ab, und die haben nicht wirklich viele Anreize, ihre Arbeit gut zu machen. Darüber wurde bereits hundertfach berichtet. Das Ausbildungsniveau, die technische Versorgung, die Gehälter, die Korruption, der Druck durch die Verwaltung (Buchhaltung und Schönung der Daten, damit das Ergebnis stimmt), der Druck durch die Behörden (Stichwort „Ärzteverschwörung“), die berüchtigte Optimierung des Gesundheitswesens – das alles sind Faktoren, weshalb die medizinische Versorgung in Russland in den letzten Jahren ins Bodenlose gestürzt ist.

    Und dann bricht in diesem Land eine Epidemie aus. Wir berichten über heldenhafte Ärzte, heldenhafte Krankenschwestern, heldenhafte Ehrenamtler – völlig zurecht. Sie sind Helden, sie retten Menschen, riskieren ihre Leben, sterben. Wir berichten von aus dem Nichts gestampften Covid-Krankenhäusern mit moderner Technik – auch zurecht, obwohl sich hier schon erste Fragen stellen: nach der medizinischen Versorgung jenseits von Covid und nach Korruption. 

    Korruption, Ineffizienz und schwindende Kompetenz

    Vergessen wir nicht, dass das russische Gesundheitssystem immer noch von Korruption, Ineffizienz und schwindender Kompetenz geprägt ist. Und wenn wirklich große Aufgaben wie die Impfung der gesamten Bevölkerung anstehen, wird das besonders deutlich.

    Die Novaya Gazeta berichtete davon, wie in Impfzentren Sputnik V gegen EpiVacCorona ausgetauscht wird (der Impfstoff hat zwar keine klinischen Studien durchlaufen, aber dafür hat der Leiter der Gesundheitsaufsichtsbehörde ihn mitentwickelt). Forscher haben ernsthafte Vorbehalte gegen EpiVac. Zudem wird einigen Patienten nach einer ersten Impfung mit Sputnik V als zweite Dosis EpiVac verabreicht, was prinzipiell nicht zulässig ist. Diese Fälle sind so häufig, dass sie sich nicht mehr mit Versehen oder Unwissenheit entschuldigen lassen – es scheint vielmehr, als bekämen die Kliniken entsprechende Anweisungen von oben. Zudem gibt es vermutlich Lieferengpässe bei Sputnik. Angenommen, Sputnik fehlt, die Logistik hinkt, aber, sieh an, EpiVac ist verfügbar – nehmen wir!

    Die Menschen, die der Novaya davon erzählt haben, werden vor Gericht ziehen. Aber wie viele Menschen, die wissen, dass sie betrogen wurden, ziehen nicht vor Gericht? Und wie viele wissen es nicht mal?

    Misstrauen auf allen Ebenen

    Wenn wir behaupten, der Unwille der russischen Bevölkerung, sich impfen zu lassen, käme vom Misstrauen gegenüber der Regierung, denken die meisten wohl an Putin, Mischustin, Sobjanin oder irgendwelche Minister und Bürgermeister. Aber Misstrauen herrscht auf allen Ebenen, auch auf der untersten: Misstrauen untereinander ist allen wohlbekannt.

    Gehört ein Arzt zum Machtapparat dazu? Für den Durchschnittsrussen absolut, und das seit Sowjetzeiten. Das Gesundheitswesen war ja staatlich (und ist es auch heute noch mehr oder weniger). Aber sogar, wenn es um konkrete Behandlungen geht, lehrt die Erfahrung mit diesem System einen Patienten, dass er ihm nur vertrauen soll, wenn es gar nicht anders geht. 60 Prozent der Lunge hin – na gut, dann rettet mich mal, wo wart ihr denn bislang? Aber mich impfen lassen? Nee, ich trink lieber einen Wodka, ein bewährtes Volksheilmittel. 

    Deswegen liegt Russland am 23. Juni mit einer Impfquote von 14,13 Prozent auch weltweit auf Platz 83. Während die Zahl der Infizierten unaufhaltsam steigt, Moskau und Petersburg brechen alle Rekorde bei der Corona-Sterberate.

    „Mich impfen lassen? Nee, ich trink lieber einen Wodka“

    In den sozialen Netzwerken wird hitzig diskutiert, ob das russische Volk gut oder böse sei, weil es sich trotz aller Gegebenheiten, trotz wirksamen Impfstoffs, nicht impfen lassen wolle und damit die Gesundheit anderer gefährde. Während die Regierung – endlich „aufgewacht“ – die Verantwortung für die Nicht-Impfung auf das Volk schiebt. 

    Aber eigentlich nehmen sich Volk und Regierung nicht viel. Das Problem ist nicht nur, dass ein Staat, der bisher gelogen hat, plötzlich die Wahrheit sagt und etwas Nützliches tut, während das Volk sein Glück nicht fassen kann und ihm nicht glaubt. Das Problem ist auch, dass der Staat das Nützliche mit seinen gewohnten Mitteln macht – sprich, einfach Mist –, indem er nur die halbe Wahrheit sagt, und auch die nur, wenn er davon einen Vorteil hat. Deswegen verliert nicht nur der Durchschnittsrusse den Überblick, sondern auch der Durchschnittsarzt, der zu diesem Russen sagt: „Der Impfstoff ist nicht ausreichend erforscht, lass dich lieber nicht impfen.“ 

    Aber die Beamten wären keine Beamten, wenn sie die Bürger nicht zur Impfung motivieren würden: durch strenge Regelungen in Restaurants, Druck auf Unternehmen, die Einführung einer 60-prozentigen Impfpflicht, Androhung von Diskriminierung und Kündigung. Sie übererfüllen die Norm und reproduzieren Sowjetpraktiken, denen die Bürger längst zu entgehen gelernt haben.

    Nicht alle natürlich. Die Impfpflicht („wie in der Sowjetunion“) kann die Quote anheben. Viele Bürger sind paternalistisch eingestellt; wenn eine „starke Hand“ uns zur Impfung zwingt – na dann machen wir’s halt. Aber irgendein „Impfkapital“ oben drauf, das wär doch fein? Natürlich mit der Verpflichtung, es in die Gesundheit zu investieren. Nur in die Gesundheit! Keine Auszahlung in bar, versteht sich … Na ja, höchstens für eine Reise in den Kaukasus. Oder für die Hypothek. Ein bisschen was für die Hypothek ist schon in Ordnung, oder Wladimir Wladimirowitsch? So kurz vor den Wahlen?

    Dann lassen wir uns auch impfen. Wenn wir dann noch leben.

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  • Spasibo, Herr Biden!

    Spasibo, Herr Biden!

    Massive Truppenverlegungen an die ukrainische Grenze haben in den vergangenen Tagen wiederholt Kriegsängste geschürt. Doch nun heißt es aufatmen, zumindest vorerst: Am Dienstag hat der US-Präsident Joe Biden Wladimir Putin angerufen und ihm ein Treffen in einem neutralen Land vorgeschlagen. 

    Bidens Angebot ist laut Andrej Sinizyn genau das, was der Kreml mit der Eskalation an der Grenze zur Ukraine angestrebt hat – ein Dialog „auf Augenhöhe“. Nachdem Biden den russischen Präsidenten als „Killer“ bezeichnet hat und zahlreiche westliche Politiker einen Tiefpunkt der Beziehungen zu Russland bescheinigt haben, bringt sich der Kreml offenbar zurück an den Verhandlungstisch. Gleichzeitig haben die USA am gestrigen Donnerstag, 15. April, neue Sanktionen gegen Russland verhängt – unter anderem wegen des SolarWinds-Cyberangriffs.
    Was kann bei so einem Gipfel also überhaupt rauskommen? Diese Frage stellt Sinizyn auf Republic.  

    Biden schlägt Putin ein Treffen vor – aber welche Ergebnisse sind von diesem Gipfel zu erwarten? / Foto © Matt Johnson/Flickr CC BY SA-2.0
    Biden schlägt Putin ein Treffen vor – aber welche Ergebnisse sind von diesem Gipfel zu erwarten? / Foto © Matt Johnson/Flickr CC BY SA-2.0

    Biden ist in diesem Spiel vorgeprescht – mit einem sehr guten Zug. Zumindest bis zu einem Gipfel wird es keinen Krieg geben, und der amerikanische Präsident ist in den Augen progressiver Kräfte ein Friedensstifter. 

    Völlig unklar ist, welche Ergebnisse von diesem Gipfel zu erwarten sind. Gemeinsame Themen außer Rüstungskontrolle gibt es zwischen den USA und Russland schon lange nicht mehr. Im Laufe der Vorbereitung wird der Kreml wahrscheinlich demonstrative Schritte Richtung „Entspannung“ (vielleicht die Entlassung von Alexej Nawalny?) einleiten. Aber natürlich wird er im Gegenzug verlangen, dass die Sanktionen gelockert werden, die technische Zusammenarbeit wieder aufgenommen wird et cetera. Washington wird darauf nicht eingehen, „nach allem, was war“.  

    Putin wird natürlich darauf bestehen, dass die Ukraine die Minsker Vereinbarungen umsetzt ohne jegliche Anpassungen (wie sie zuvor Wolodymyr Selensky vorgeschlagen hatte). Hier wird Putin wohl kaum mit der Unterstützung Bidens rechnen können, doch der Kreml wird bemüht sein, schon vor dem Gipfel Druck auf Selensky auszuüben – damit der „von sich aus um Verzeihung bittet“.

    Insgesamt wird es keinen Durchbruch geben, wie es ihn auch bei den Treffen von Putin mit Trump nicht gegeben hat. Die große Frage ist: Wie lange hält der Friedenseffekt von Bidens Anruf und dem geplanten Gipfel? Das traurige Fazit aus dem aktuellen Geschehen ist, dass Russland keine Hebel mehr hat, um sich in die Weltpolitik einzubringen und Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – außer durch Androhung eines Krieges.  

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  • Nawalny: Wer war’s und warum gerade jetzt?

    Nawalny: Wer war’s und warum gerade jetzt?

    Alexej Nawalny ist Opfer eines Verbrechens”, Bundeskanzlerin Angela Merkel fand deutliche Worte. Ein Speziallabor der Bundeswehr hat in einer toxikologischen Untersuchung nachgewiesen, dass Alexej Nawalny durch einen Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe vergiftet worden war. „Die russische Regierung ist dringlich aufgefordert, sich zu dem Vorgang zu erklären”, heißt es in einer offiziellen Mitteilung der Bundesregierung. Während die Bundesregierung erklärte, mit den Partnern EU und Nato „im Lichte der russischen Einlassungen“ über Reaktionen entscheiden zu wollen, wurden bereits Rufe nach harten Konsequenzen laut. CDU-Politiker Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, sagte in den Tagesthemen, man sei „erneut brutal mit der menschenverachtenden Realität des Regimes Putin konfrontiert worden“ und brachte unter anderem einen Stop von Nord Stream 2 ins Spiel. 

    Kremlsprecher Dimitri Peskow wies in einem ersten kurzen Statement darauf hin, dass man in Russland bei Nawalny keinen Hinweis auf eine Vergiftung gefunden habe. Der Duma-Abgeordnete Andrej Lugowoj behauptete laut Nachrichtenagentur Tass, falls Nawalny Nowitschok verabreicht worden sei, so sei dies erst in der Klinik in Deutschland, also der Charité, geschehen. Das russische Außenministerium kritisierte unterdessen, dass die deutschen Ärzte nur unzureichende Belege geliefert hätten.

    Liberale und oppositionelle Stimmen in Russland dagegen lassen meist keinen Zweifel aufkommen, wen sie für den Schuldigen halten: den Kreml. Was aber heißt „der Kreml“? Ist Putin persönlich verantwortlich zu machen, stecken Silowiki dahinter – darüber kann man nur mutmaßen. Wer ließ Nawalny vergiften – und warum gerade jetzt? Das sind die zwei Fragen, die derzeit derzeit die liberale russische Öffentlichkeit und unabhängige Medien beschäftigen. dekoder übersetzt vier Thesen aus der aktuellen Debatte.

    „Die politische Führung ist besorgt um die Ergebnisse bei den Regionalwahlen“

    Der Politologe und Kolumnist Fjodor Krascheninnikow steht Nawalny nahe. Er ist Co-Autor eines Buches von Leonid Wolkow, der wiederum den Regionalbüros des Nawalny-Teams vorsteht. Auf Republic verweist Kraschenninikow auf Nawalnys neues Enthüllungsvideo, das der Oppositionspolitiker und sein Team kurz vor der Vergiftung in Nowosibirsk gedreht hatten und das nun veröffentlicht wurde. Darin geht es um Korruption und mafiöse Strukturen bei Abgeordneten der Regierungspartei Einiges Russland, die zugleich wichtige Teile des lokalen Bau- und Bestattungsgewerbes kontrollieren.

    [bilingbox]Nawalnys Filme werden wirklich millionenfach geschaut. Dadurch entsteht die einmalige Möglichkeit, mit Recherchen zu lokalen Themen die Regionalwahlen zu sprengen – jedem dieser Filme ist eine virale Verbreitung sicher. […]

    Allen Anzeichen nach ist die politische Führung des Landes besorgt um die Ergebnisse am Einheitlichen Wahltag, dem 13. September. Wir reden hier von Regionalwahlen, die im Land nichts wesentlich verändern werden, wie auch immer sie ausfallen. Oder doch? Jedenfalls steigt die Nervosität und die Erwartungen sind wohl kaum besonders rosig. 

    ~~~

    Фильмы Навального действительно смотрят миллионы, и это создает уникальную возможность «взорвать» региональные выборные расклады публикацией расследований на местные темы, каждое из которых обречено на вирусное распространение. […]

    Судя по всему, итоги единого дня голосования 13 сентября тревожат политическое руководство страны – а ведь речь идет о выборах в регионах, любой исход которых ничего особо не поменяет в стране. Или поменяет? Во всяком случае, нервозность явно растет и едва ли ожидания слишком радужные.

    [/bilingbox]

     

    „Es ist sinnlos, zu rätseln, warum ausgerechnet jetzt”

    Das unabhängige Medium The Bell hat mehrere Politologen um eine kurze Einschätzung der Situation gebeten – hier die von Ekaterina Schulmann:

    [bilingbox]Es ist sinnlos zu rätseln, warum Nawalny ausgerechnet jetzt vergiftet wurde. Die Leute, die solche Entscheidungen treffen, leben in ihrer eigenen medialen Realität. Uns mag so etwas unlogisch erscheinen, nach den erfolgreich angenommenen Verfassungsänderungen, in Erwartung einer zweiten Pandemiewelle, vor der Präsidentschaftswahl in den USA und während der politischen Krise in Belarus. Doch diese Leute haben ihren eigenen Kalender, eine eigene Nachrichtenwelt, eigene Jahres- und Erinnerungstage. Und was auch wichtig ist: Sie haben ihre eigene Bezugsgruppe, deren Meinung ihnen wichtig ist.

    Ob Proteste möglich sind? Wenn es sie bislang nicht gab, dann wird auch die Nachricht darüber, dass Nawalny ausgerechnet mit Nowitschok vergiftet wurde, keine Proteste auslösen. Es ist eine wichtige Nachricht, was die internationalen Beziehungen betrifft, aber keine, die die Gefühle der breiten Massen erregt. Aber falls – was man nicht wünschen möchte – Nawalnys Gesundheit noch irgendetwas zustößt, dann könnte das zum Protest-Trigger werden. 

    Die aktuellen Informationen [über Nawalnys Vergiftung mit Nowitschok] haben kaum jemanden überrascht. Es gibt die, die auch ohne Erklärung der deutschen Bundesregierung wussten, was passiert ist. Und es gibt die, die denken, dass das eine Provokation des Westens ist und das Nowitschok kein „echtes“ Nowitschok ist, sondern ein speziell zur Provokation angefertigtes. Wenn es „echtes“ wäre, wäre er sofort tot gewesen … Mir sind solche geistreichen Versionen schon untergekommen.
     

    ~~~

    Бессмысленно гадать, почему Навального отравили именно сейчас. Люди, которые принимают такие решения, живут в собственном информационном пространстве. Это нам может показаться нелогичным устраивать такое после удачно принятых конституционных поправок, в ожидании второй волны пандемии, накануне президентских выборов в США, во время белорусского политического кризиса. А у этих людей свой календарь, своя новостная повестка, свои памятные даты и годовщины. Что еще важно, у этих людей своя референтная группа, мнение которой им важно.

    Возможны ли протесты? Если их не было до сих пор, то сама новость о том, что Навального отравили именно «Новичком», их не вызовет. Это важная новость для международных отношений, но не та [новость], которая может возбудить чувства широких масс. Вот если (чего не хотелось бы) что-то новое случится со здоровьем Навального, это может стать триггером.

    Нынешняя информация [об отравлении Навального именно «Новичком»] мало кого и удивила. Есть те, кто и без заявления немецких властей понимал, что произошло. Есть те, кто считает, что это западная провокация и «Новичок» не настоящий, а специально изготовленный провокационный. Уж настоящий-то сразу бы убил… Мне попадались такие остроумные версии.

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    „Der Staat nach der Nullsetzung der Amtszeiten – das ist Putin“

    Andrej Sinizyn, Chefredakteur des Meinungsressorts kommentiert auf Republic:

    [bilingbox]Die Vergiftung Nawalnys trägt einige wichtige Merkmale:
    Tatort war Russland. So kann man sich schwer damit herausreden, dass „das jeder gewesen sein kann“ (obwohl Abgeordnete der Duma sich ungefähr so ausdrücken) . 
    Verwendet wurde ein seltener chemischer Kampfstoff, der in einer staatlichen Institution entwickelt wurde. 
    Das Gift wurde mindestens zum zweiten Mal innerhalb von drei Jahren eingesetzt – nach einem heftigen Skandal und Sanktionen infolge der ersten Verwendung (im Fall Skripal); ebenso nach einigen anderen Vergiftungen, inklusive des Todes von Alexander Litwinenko. 
    Nawalny ist der wichtigste Nicht-System-Oppositionelle in Russland. 
    All das lässt den westlichen Politikern – nach den Untersuchungsergebnissen des Bundeswehr-Labors – keinerlei Rückszugsmöglichkeit. Und all das wusste der Kreml wahrscheinlich von vornherein. 
    Doch Russland macht weiter: „Wir haben euch Nawalny ohne Gift übergeben“, „Zeigt eure Beweise”, „Das Gift kann man in jedem Military-Shop kaufen“ und so weiter. Diese Rechtfertigungen stimmen vielleicht einen Teil des innerrussischen Publikums zufrieden, der jedoch weitaus kleiner ist als noch vor drei Jahren. Im Westen genießt der Kreml kein Ansehen mehr – und geglaubt wird den deutschen Ärzten, nicht denen aus Omsk.
    Es sieht so aus, als brauche es jegliche Rechtfertigungen ohnehin nicht. Als habe ein auf Null gesetzter Putin all das nicht mehr nötig. Diplomatie, Verhandlungen, Einhalten von Verträgen, Gipfeltreffen, Mitgliedschaft im Kreis der Anständigen. Wozu? Dort drüben [in den USA] schießt die Polizei einem Unbewaffneten sieben Kugeln in den Rücken. Außerdem ist die Pandemie da schlimmer als bei uns und sie haben keinen Impfstoff und eine Wirtschaftskrise. Es reicht, genug geredet und verhandelt. Jetzt heißt es: Jeder gegen jeden, wollen wir doch mal sehen, was ihr zu unseren Überschallraketen sagt.
    Der Staat nach der Nullsetzung der Amtszeiten – das ist er. Als Staat hat Putin die Verantwortung für die Vergiftung eines Bürgers in sich. Aber er hat sie nicht den anderen Staaten gegenüber, sondern nur vor Gott. Also stört ihn nicht bei der Arbeit.
    Nun – die Bürger müssen sich darauf einstellen, dass das Land ernsthaft und für lange Zeit die Tore schließt. Einige Bürger werden um der Stabilität willen vergiftet werden. Die Regierungs- und Führungselite wird weiter altern – und das Risiko für unzurechnungsfähige Befehle wird wachsen.

    ~~~

    Отравление Навального имеет ряд важных характеристик. Оно произошло в России – трудно оправдываться тем, что «это мог быть кто угодно» (хотя депутаты Госдумы говорят примерно так). Использован редкий военный яд, разработанный в государственном учреждении. Яд этот использован как минимум второй раз за три года, после громкого скандала и санкций вследствие первого раза (дело Скрипалей); а также после ряда других отравлений, включая смерть Александра Литвиненко. Навальный – главный несистемный оппозиционер в России.
    Все это не оставляет политикам Запада – после исследований в лаборатории Бундесвера – вообще никаких путей к отступлению. И все это, наверное, заранее понимали в Кремле.
    Но Россия продолжит говорить: «мы вам отдали Навального без яда», «покажите ваши доказательства», «этот яд можно купить в Военторге» и т.д. Эти оправдания, возможно, устроят часть внутренней аудитории – меньшую, чем три года назад. На Западе никакой репутации у Кремля не осталось, и верить будут немецким медикам, а не омским.
    Но похоже, что задача оправдаться вообще не стоит. Похоже, что обнуленному Путину все это уже не нужно. Дипломатия, переговоры, соблюдение договоров, саммит «пятерки», прием в приличном обществе. Зачем? У них там в спину безоружному семь пуль выпускают полицейские. Еще у них пандемия хуже нашей, а вакцины нет, и экономический кризис. Хватит, напереговаривались. Теперь все против всех, и еще посмотрим, что вы скажете на наши гиперзвуковые ракеты.
    После обнуления государство – это он. Как государство, он несет ответственность за отравление гражданина внутри себя. Но не перед другими государствами, а перед Богом. Поэтому не мешайте работать.
    Ну а гражданам надо приготовиться к тому, что страна закроется всерьез и надолго. […] Некоторые граждане могут быть отравлены в целях стабильности. Руководящая и направляющая элита продолжит стареть, а риск невменяемых приказов – расти.
    [/bilingbox]

     

    „Man darf nicht ausschließen, dass Putins nichts von der Vergiftung Nawalnys wusste. Und das ist wirklich beängstigend“

    Das unabhängige Medium The Bell hat mehrere Experten um eine kurze Einschätzung der Situation gebeten – hier die des als kremlnah geltenden Politologen Konstantin Kalatschow:

    [bilingbox]Die Machtvertikale, die angeblich zentral vom Kreml getroffenen Entscheidungen – das alles ist ein Mythos. Man darf nichts ausschließen. Unter anderem darf man nicht ausschließen, dass die Vergiftung Nawalnys unter Umgehung Putins und ohne Abstimmung mit ihm erfolgte. Er persönlich braucht das gerade gar nicht, darum könnte es einfach irgendjemandes Eigeninitiative sein. Aber falls das so gelaufen ist, verliert der Staat das Gewaltmonopol. Und das ist wirklich beängstigend.

    ~~~

    Вертикаль власти, централизованные решения, которые якобы принимает Кремль, это все миф. Ничего нельзя исключать. В том числе нельзя исключать, что отравление Навального произошло в обход Путина и без согласования с ним. Лично ему эта история сейчас не нужна, поэтому это может быть просто чья-то самодеятельность. И если это так, то государство теряет монополию на насилие. Вот это реально страшно. [/bilingbox]

     

    veröffentlicht am 03.09.2020
    dekoder-Redaktion

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    Wie Raketen den Protest antreiben können

    Regen und Einlasskontrollen hielten sie nicht auf: Zehntausende haben am Samstag an der genehmigten Demonstration im Moskauer Stadtzentrum teilgenommen. Die Polizei spricht von 20.000 Teilnehmern, die NGO OWD-Info berichtet von 60.000 Demonstranten, 256 seien allein in Moskau festgenommen worden. In Moskau traten auch bekannte russische Musiker wie IC3PEAK und Face auf, die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja trug ein Gedicht vor. Die Menschen in der Hauptstadt protestieren seit Mitte Juli: Auslöser war, dass oppositionelle Kandidaten unter fadenscheinigen Begründungen nicht zur Regionalwahl zugelassen worden waren.

    Gleichzeitig drangen am Wochenende immer mehr Einzelheiten über einen atomaren Unfall auf einem Militärstützpunkt am Weißen Meer ans Licht der Öffentlichkeit. Dieser hatte sich am Donnerstag ereignet. Die Behörden informierten die Bevölkerung jedoch nur spärlich darüber, viele Fragen sind immer noch offen.

    In seinem Meinungsstück auf Republic macht Andrej Sinizyn eine Art Tschernobyl-Effekt aus und beschreibt, wie das Verschweigen und Belügen Proteste nur anheizt.

    Am 1. März 2018 hat Wladimir Putin in seiner Botschaft an die Föderationsversammlung 45 Minuten lang über die Erfolge Russlands in der Entwicklung neuer Waffen berichtet (darunter auch Atomwaffen), begleitet wurde das alles mit durchaus aggressiven Animationsfilmen. Experten äußerten umgehend Zweifel an der Echtheit (und dem Sinn) der höchst fantastisch anmutenden Projekte, wie zum Beispiel nuklear betriebener Raketen oder einer Unterwasser-Atom-Drohne. Die Propaganda-Funktion der Präsentation indes war klar: Es galt, das westliche Publikum zu erschrecken und – ebenso – die eigene Bevölkerung.

    Nun sind fast anderthalb Jahre vergangen und wir werden Zeugen, dass die Trickfilme floppen. Die Atomstolz-Propaganda funktioniert nicht.

    Am 1. Juli 2019 hat es in der Barentssee während Testläufen mit einem geheimen Unterwasser-Gerät (inoffizieller Name: Loscharik) einen Unfall gegeben, bei dem 14 U-Boot-Offiziere, darunter sieben Kapitäne 1. Ranges und zwei Helden Russlands, ums Leben kamen. Beerdigt wurden sie unter strengster Geheimhaltung in Sankt Petersburg.

    Die Atomstolz-Propaganda funktioniert nicht

    Am 8. August kam es auf dem Raketen-Testgelände Njonoksa in der Nähe von Sewerodwinsk аm Weißen Meer zu einer Explosion, anschließend erschien (und verschwand nach 24 Stunden) auf der Website der Stadtverwaltung eine Mitteilung über einen kurzzeitigen,  sprunghaften Anstieg radioaktiver Strahlung. Der Telegram-Kanal Baza berichtete von sechs Verletzten eines Strahlungsunfalls. Das Verteidigungsministerium teilte mit, dass es auf dem Militärgelände während Versuchen mit einem Flüssigkeitsraketentriebwerk zu einer Explosion gekommen sei, bei dem zwei Menschen ums Leben gekommen und sechs weitere verletzt worden seien. Knapp 48 Stunden später veröffentlichte die Atombehörde Rosatom eine Pressemitteilung, wonach fünf Mitarbeiter ums Leben gekommen seien und drei weitere Verletzungen erlitten hätten: „Die Tragödie ereignete sich während der Arbeiten und steht in Zusammenhang mit ingenieurtechnischen Wartungen von Isotopenquellen am Flüssigkeitsantrieb.“

    Wiederum verläuft alles streng geheim, die Bewohner von Sewerodwinsk kaufen für alle Fälle die Jod-Vorräte in den Apotheken auf. Es gibt die Vermutung, dass der nuklearbetriebene Marschflugkörper namens Burewestnik (eine der von Putin präsentierten Wunderwaffen) explodiert sei. Doch mit Sicherheit kann bislang nur gesagt werden, dass es mit den neuen Waffen Probleme gibt und dass diese Probleme sogar das Leben und die Gesundheit friedlicher Menschen bedrohen.

    Natürlich passieren Unfälle immer und überall. Und selbstverständlich fallen militärische Tests unter Geheimhaltung. Die Einwohner von Sewerodwinsk fühlen sich aber nicht ohne Grund an Tschernobyl erinnert: Die Angewohnheit der Machthaber sogar dann zu schweigen oder zu lügen, wenn Gefahr für die Bürger besteht, gibt es nach wie vor (Sewerodwinsk war zu sowjetischen Zeiten eine geschlossene militärische Stadt; die Menschen dort wissen gut Bescheid über solche Verhaltensweisen der Machthaber). 

    Loyalität ist wichtiger als Kompetenz

    Geheimhaltung und Sicherheitsstrukturen gehen bekanntermaßen miteinander einher. Der Einfluss dieser Institutionen in Russland wächst, er ist nur durch interne Konkurrenz begrenzt. Die Gesellschaft kann hier praktisch nichts kontrollieren. Diese fehlende Kontrolle verstärkt die negative Selektion, die sowieso jeder Kaderpolitik eines jeden autoritären Staates eigen ist: Loyalität ist wichtiger als Kompetenz. Im Endeffekt werden wir von amoralischen Nichtsnutzen regiert, die zwar Studenten auf den Straßen niederzwingen können, aber nicht wissen, wie man einen funktionierenden Weltraumbahnhof oder eine Rakete baut.

    Deshalb sind die Vertrauenswerte für die  Machthaber niedrig und fallen weiter. Und die Machthaber selbst tun alles dafür, dass das so weitergeht. Die Wirtschaftskrise, das sinkende Realeinkommen, die Erhöhung des Rentenalters, die Steuererhöhung, eine Müllreform, fehlende politische Repräsentation und politische Repressionen – das sind die Themen, die die Menschen in Russland heute beschäftigen. Sie haben die Trickfilme mit den Wunderwaffen sowieso nicht ganz so ernst genommen (obwohl die anfangs ja doch ganz ansprechend wirkten, das kann man nicht leugnen). Und nun stellt sich heraus, dass die Wunderwaffe nicht geeignet ist, den Feind zu schlagen, dafür aber, um in der Nähe zu explodieren und die eigenen Leute zu töten und dabei  auch noch das heimische Territorium zu verseuchen.

    Wladimir Putin muss enttäuscht sein. Russland und die USA treten aus Abrüstungsverträgen aus, ein neues Wettrüsten hat begonnen – und bei uns gibt es einen Unfall nach dem anderen. Das Wichtigste daran ist – der Propagandaeffekt schwindet dahin. Die Bürger beginnen zu protestieren, in unterschiedlichen Regionen aus unterschiedlichen Gründen. Einige versuchen sogar, einen Regimewechsel zu erreichen.

    Was soll’s, es bleibt also nur, Urlaub auf der Krim zu machen und die anderen Silowiki zu beauftragen, auf den Straßen von Moskau die Bürger verprügeln. Wenn schon die eingangs erwähnten Silowiki [beim Militär] es nicht hinkriegen, die Wunderwaffe zu bauen.   

    PS
    Der Direktor sowie der wissenschaftliche Leiter des Russischen Föderalen Nuklearzentrums –  das Allrussische wissenschaftliche Forschungsinstitut für experimentelle Physik – haben berichtet, dass in der Nähe von Sewerodwinsk ein kleinformatiger Atomreaktor explodiert sei, der ein Teil des Motors eines Rüstungsguts ist. Mitarbeiter des Zentrums seien bei den laufenden Tests ums Leben gekommen. Die Forschung und Entwicklung im Auftrag des Verteidigungsministeriums läuft im Rahmen des wissenschaftlichen Programms des Zentrums.  

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  • Wann endet der Sieges-Wahn?

    Wann endet der Sieges-Wahn?

    Der 9. Mai, der Tag des Sieges über NS-Deutschland, ist der wichtigste Nationalfeiertag in Russland. Obwohl in der Roten Armee etwa auch ukrainische, belarussische oder kasachische Soldaten kämpften, wird der Tag des Sieges heute vor allem als Schlüsselereignis der russischen Geschichte thematisiert. Schon zu Sowjetzeiten diente der 9. Mai zur Selbstdarstellung auf internationaler Bühne – heute finden in jeder größeren russischen Stadt Militärparaden statt, die größte auf dem Roten Platz in Moskau. Im vergangenen Jahr waren der serbische Präsident Vucic und Israels Premier Netanjahu zu Gast. 

    Für den einzelnen Bürger allerdings bedeutet der 9. Mai nicht nur Paraden, sondern auch Gedenken an die eigenen Vorfahren, der Tag des Sieges ist auch ein Familienfest. 

    Auf Republic beschreibt Andrej Sinizyn, wie der offizielle 9. Mai mehr und mehr zum Propagandainstrument wird – und konstatiert, dass politisches und individuelles Gedenken immer weiter auseinanderdriften.

    Im Jahr 2000 oder 2001 gab es in Petersburg den schönsten Tag des Sieges, an den ich mich erinnern kann. Damals gab es, soweit ich weiß, noch nicht wieder die Morgenparade (oder zumindest ohne Waffenschau?), und am Abend fand ein Umzug der Veteranen über den Newski-Prospekt statt. Es waren auch noch deutlich mehr Veteranen als heute, und in ihrer Kolonne waren ganz unterschiedliche Militärorchester unterwegs (größtenteils russische, aber es gab auch Schotten mit Dudelsack). Man konnte sich einfach so der Kolonne anschließen und mit den Veteranen und den Orchestern zum Dworzowaja Ploschtschad vor der Eremitage ziehen.

    Auf dem Platz fand, so seltsam das heute klingen mag, keine offizielle Feier statt mit Tribünen, Festansprachen von Beamten oder Auftritten heimischer Popstars. Die Orchester verteilten sich auf dem Platz und spielten Märsche, Walzer aus der Sowjetzeit oder Wünsche aus dem Publikum. Und die Zuhörer, ob Veteranen oder nicht, tanzten um sie herum. Es gab auch kleinere Grüppchen mit Akkordeons in der Mitte, die die Veteranen selbst mitgebracht hatten. Und so ging es bis tief in die Nacht, weil niemand heimgehen wollte. Später habe ich mehrmals versucht, dieses Gefühl wiederzufinden – es ist mir nicht gelungen. Auf dem Dworzowaja Ploschtschad gab es nur noch kontrolliert-ausgewählte Konzerte und beim Umzug immer weniger Veteranen, dafür aber immer mehr seltsame Kolonnen irgendwelcher politischer Kräfte oder der Petersburger Bezirke. Und ab Mitte der 2000er nahm auch die bürokratisch-patriotische Begeisterung rapide zu. 

    Der Wahn um den Sieg

    Über den Sieges-Wahn ist schon viel gesprochen und geschrieben worden, verschwunden ist er trotzdem nicht. Beispielsweise hat dieses Jahr in Sewastopol eine Abteilung des Unsterblichen Regiments einer anderen 500 Veteranenportraits gestohlen. Was will man machen, die Region ist neu in der Russischen Föderation, es gibt genug patriotischen Enthusiasmus und entsprechendes Chaos, die Bürokratie hat sich noch nicht etabliert. 

    Aber es kann sich ja alles ändern. Drei, vier Jahre und der Krim-Rausch hat sich nahezu verflüchtigt. Natürlich heißen die Bürger die Angliederung nach wie vor gut, wollen diese aber nicht mehr mit schlechten Lebensbedingungen bezahlen und sehen immer weniger Grund, sie zu feiern.

    Oder nehmen wir den 1. Mai, diesen seltsamen Feiertag. Er hatte schon während der offiziellen Paraden zu Sowjetzeiten seinen Sinn eingebüßt. Je länger das offizielle Programm der  Feierlichkeiten wurde, desto leichter fiel es den Menschen, auf ihre Datscha zu fliehen oder einfach ein Picknick zu machen. Später privatisierten die Bürger den Feiertag vollends für ihre Frühlingsarbeiten auf der Datscha und die Politiker der 1990er verlängerten die Feiertage sogar, um die eigenen Beliebtheitswerte zu steigern.

    Den Arbeitnehmern lag nicht viel daran, für ihre Rechte zu kämpfen, aber ein zusätzlicher freier Tag ist immer gut. 

    Die Bedeutung des Maifeiertags ändert sich

    Heute ändert sich die Bedeutung des Feiertags wieder: Zum einen wurden die Arbeitnehmer vom Staat in letzter Zeit ziemlich gegängelt, zum anderen ist angesichts der eingeschränkten Versammlungsfreiheit der offizielle Tag des Frühlings und der Arbeit zu einer Möglichkeit des Protests geworden. Nach Angaben von OWD-Info wächst die Zahl der Verhaftungen jährlich: 2016 wurden in Moskau und Petersburg 27 Menschen festgenommen, 2017 waren es 37, 2018 bereits 53, 2019 dann 65 allein in Petersburg und 131 im ganzen Land. 

    Die diesjährigen Exzesse zeugen natürlich auch von der zunehmenden Gewalt der Polizei und der Nationalgarde. Es ist offenkundig, dass diese Organe die kleinste Regung von nicht-kontrollierten Aktionen verhindern sollen (vgl. die brutale Auflösung des Rap-Festivals im Olympiastadion Lushniki am selben Tag). Die Regierung jagt Demonstranten der neuen Art, um sie zusammenzuschlagen. Fragt sich, ob sie sie aufhalten wird. Vielleicht entwickeln sich die Feierlichkeiten am 1. Mai zu tatsächlichem Protest.

    Wird sich womöglich auch der 9. Mai verändern? Der Tag des Sieges war ja nicht immer ein offizieller staatlicher Feiertag, das private Begehen („Feier“ ist hier das falsche Wort) hatte für die Menschen der Nachkriegszeit, aber auch noch in den 1970ern, einen deutlich höheren Stellenwert.

    Fanfaren-Müdigkeit

    Neueste Umfragewerte des Lewada-Zentrums lassen den Schluss zu, dass es eine Entwicklungstendenz zu Individualisierung und zu menschlichem Mitgefühl gibt. Auf die Frage, wie man den Feiertag am besten verbringen sollte, antworteten 52 Prozent: „Indem man sich um die Kriegsveteranen kümmert“ (2015 waren es 49 Prozent , 2018  42 Prozent); 23 Prozent sagten: „mit Paraden, Umzügen, Feuerwerk und offiziellen Veranstaltungen“ (2015 waren es 29 Prozent, 2018 35 Prozent). 2015 war die Freude über den Sieg noch wesentlich größer und die Trauer um die Millionen Gefallener wesentlich kleiner als 2019. Vielleicht beobachten wir eine gewisse Fanfaren-Müdigkeit der Bürger in Anbetracht ständig sinkender Löhne

    Selbstverständlich hängt vieles davon ab, wie aufmerksam der Staat ist. Sobald das nachlässt, werden Veranstaltungen ungezwungener und volksnäher. Aber der Staat hat nicht vor, auf die strenge Kontrolle über den Tag des Sieges zu verzichten. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Es ist der einzige Feiertag, der alle Menschen eint, eine unhinterfragte historische Errungenschaft, die man sich unter den Nagel reißen muss, um die eigene Legitimität zu festigen und eine Quasiideologie darauf aufzubauen. 

    Doch Kontrolle schafft auch einen bürokratischen Überbau. Diese Bürokratisierung des Feiertages verdrängt allmählich seinen wahren Inhalt und die Möglichkeit, irgendetwas zu empfinden. Denn überbordende Euphorie ist als Dauerzustand nicht möglich.

    Mit dem Sieg von 1945 soll die Aggressionspolitik nach 2014 gerechtfertigt werden

    Bemerkenswert ist auch, dass die Regierung seit 2014 mit allen Mitteln versucht, im Massenbewusstsein den Großen Vaterländischen Krieg mit dem Krieg in der Ukraine und in Syrien gleichzusetzen. Der Militarismus, der Waffenkult und das Versprechen, es zu „wiederholen“ (und ins Paradies zu kommen) zielen darauf ab, diese Kriege in Synonyme zu verwandeln. Mit dem Sieg von 1945 soll die Aggressionspolitik nach 2014 gerechtfertigt werden. Gerade droht diese Strategie aber nach hinten loszugehen: Wenn die Menschen des heutigen Krieges müde werden, interessiert sie der historische Sieg nicht mehr besonders.

    Das Neueste im Rahmen der Krim-Propaganda – zumindest für die Massen, im Kleinen hatten Beamte schon früher Anstrengungen in dieser Richtung unternommen – ist die „Verteidigung unserer Geschichte“ vor den heimtückischen Plänen des Westens sie „umzuschreiben“.  

    Wir wissen allerdings, dass sich das Verhältnis zum Westen auch grundlegend ändern kann – alles hängt von der Politik des Kreml ab. Die „heimtückischen Pläne des Westens“ könnten verschwinden, wenn sich die russische Politik ändert oder die Personen, die sie definieren, ersetzt werden. Verschwinden könnten auch der Militarismus und die überschwängliche Feier des Sieges mit vollkommener Ignoranz für die Tragödie.

    Natürlich gibt es wenig Hoffnung, dass sich die russische Politik ändert. Deswegen wird sich der Tag des Sieges bei den heutigen Tendenzen wohl allmählich aufspalten: in einen immer wahnsinnigeren offiziellen und einen immer persönlicheren – oder protestlerischen? – im Untergrund. Dem Urgroßvater mit einem Gläschen auf der Datscha im Kreis der Familie zu gedenken wird zum Mainstream. Doch die offiziellen Veranstaltungen sucht man nur noch auf, wenn es unbedingt sein muss.

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  • Völlig losgelöst von der Wirtschaft

    Völlig losgelöst von der Wirtschaft

    Die Statistikbehörde Rosstat hat im Februar die BIP-Zahlen für 2018 bekanntgegeben: Demnach lag das Wirtschaftswachstum 2018 bei satten 2,3 Prozent. Ein Rekord, das höchste Wachstum seit 2012. 
    Schnell wurden Zweifel laut: Schließlich war Rosstat zuvor von niedrigeren Werten ausgegangen. Wirtschaftsexperten halten ein Wachstum von 1 bis 1,8 Prozent für realistischer. 
    Wie echt sind die offiziellen Zahlen? Andrej Sinizyn kommentiert das russische Wirtschaftswunder auf Republic.

    Das Wirtschaftswachstum von 2,3 Prozent ist der Rekord der vergangenen sechs Jahre. Es spricht für einen ernsten Erfolg der digitalen Wirtschaft. Damit meine ich nicht die IT-Wirtschaft, die die russische Autarkie vorantreiben soll, sondern die virtuellen Zahlen, die als einzige bedeutsam für die russische Politik sind und sich immer weiter von der realen Wirtschaft entfernen.

    Wirtschaftswunder

    Nachdem Rosstat die Zahlen aus unerfindlichen Gründen neu berechnet hatte, betrug das Wirtschaftswachstum plötzlich 2,3 Prozent. Das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung war in sehr optimistischen Prognosen von 2 Prozent ausgegangen, Experten hatten von 1 bis 1,8 Prozent gesprochen.

    Natürlich sehen viele hinter der Revision die Machenschaften des Ministeriums, dem die Statistikbehörde Rosstat seit geraumer Zeit untersteht. Just am Tag vor der Ankündigung des Superwachstums wurde der Chef der Behörde ausgetauscht. In einem Klima, wo das Vertrauen in den Staat völlig fehlt, und die Rechnungslegung undurchsichtig ist, gedeihen Verschwörungstheorien – und mit derartigen Aktionen nährt Rosstat das Misstrauen.

    Gewiss muss das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung das Wirtschaftswachstum vor dem Präsidenten und nicht vor dem Volk verantworten. Dem Auftrag des Präsidenten, ein bestimmtes Wachstum zu erreichen (wir müssen ein jährliches BIP-Wachstum von 3,0 bis 3,5 Prozent sicherstellen), muss entsprochen werden. Das heißt, zum ordentlichen Termin müssen Zahlen genannt werden, die zumindest eine positive Dynamik zeigen.

    Der Alltag bleibt der gleiche

    Die Zahlen, die der Präsident in seinen Ansprachen und Begegnungen mit dem Volk und mit Journalisten nennt, entfernen sich immer weiter von der Realität. Den Bürgern wird bei diesen Zahlen weder heiß noch kalt, drückt sich ihre wirtschaftliche Lage doch objektiv in sinkenden Einkünften aus. Welchen Unterschied macht es also, was der Präsident sagt? Spricht er von einem Wirtschaftswachstum von zehn Prozent, ändert sich im Alltag letztlich nichts. Die Bürger tippen sich an die Stirn und sind wieder bei ihren Alltagssorgen.

    Das Auseinanderdriften der offiziellen und realen Wirtschaft hat tiefere Gründe. Nach Meinung einer Mehrheit von Experten ist das Wirtschaftswachstum im Jahr 2018 im Wesentlichen auf die Exporte zurückzuführen. Die steigenden Erdölpreise und die Abwertung des Rubel haben zu diesem Erfolg beigetragen. 
    Im Gegensatz zu den 2000er Jahren sickern die Exportüberschüsse heute jedoch praktisch nicht in die übrige Wirtschaft durch, wie Kirill Tremassow, Direktor für Analysen bei Locko-Invest, feststellt. Die Haushaltsdisziplin ist viel strenger geworden, die Regierung macht in Erwartung lang andauernder Sanktionen große Sparanstrengungen. Und die Exporteure ihrerseits investieren viel weniger im Inland und schütten rekordhohe Dividenden aus.

    Abhängig von der Elite

    In ihrem  Buch Warum Nationen scheitern unterscheiden die Ökonomen Daron Acemoğlu und James Robinson zwischen extraktiven und inklusiven Staaten. In ersteren existieren die militärische Elite und die arbeitende Bevölkerung separat, jedoch voneinander abhängig. Die Elite beschützt das Volk und nimmt dafür Geld von ihm. In den letzteren, den inklusiven Staaten, gibt es keine ständischen Grenzen, die Elite formiert sich nach dem meritokratischen Prinzip, was das Wirtschaftswachstum günstig beeinflusst. 
    Der Historiker Alexander Etkind verwendet einen dritten Begriff und spricht bei Staaten mit großer Rohstoffabhängigkeit von superextraktiven Staaten. Dort beutet die Elite die Ressourcen praktisch ohne Beteiligung des Volkes aus und nimmt die politische Rente ein. Bei einem derartigen Modell wird die Bevölkerung überflüssig und ist nicht von ihren eigenen Anstrengungen abhängig, sondern von der Wohltätigkeit der Eliten.

    Das schrieb Etkind im Jahr 2013 und seine Theorie ließ sich schon damals auf die russische Situation anwenden. Heute beobachten wir eine Weiterentwicklung der Lage, sie wird augenfälliger: Für Wohltätigkeit hat die Elite kein Geld mehr und die Bevölkerung wird immer nutzloser. 
    Übrigens, so schreibt die Zeitung Kommersant, hat auch der Anstieg der Verbraucherkredite einen nicht unbedeutenden Anteil am Wirtschaftswachstum, obwohl die Nachfrage selbst stagniert. Das Wachstum des privaten Konsums hat sich verlangsamt, von 3 Prozent im Jahr 2017 auf 1,9 Prozent im Jahr 2018. Und der Anteil der privaten Konsumausgaben am BIP ist binnen eines Jahres um drei Prozentpunkte gesunken. Die Bürger geraten schleichend in Schuldknechtschaft, was sich positiv in der BIP-Statistik niederschlägt, jedoch die Finanzstabilität bedroht, so die Meinung der Zentralbank.

    Der sonderbar anmutende Optimismus mag mit Folgendem zu tun haben: Dass Rosstat die Daten unerwartet nachgerechnet hat, lässt sich neben Verschwörungstheorien auch mit der äußerst schlechten Qualität der Statistik erklären. Es ist längst bekannt, dass föderale und regionale Statistiken nicht übereinstimmen, dass das Zählsystem zuweilen sehr seltsame Formen annimmt und der Staat in letzter Zeit vermehrt die „richtige“ Statistik anfordert. 

    Das alles führt zu der Prämisse, dass die Modelle von Rosstat gewissermaßen eine andere Wirtschaft abbilden, die mit der realen nichts zu tun hat. Davon spricht Simon Kordonski, Professor an der Higher School of Economics und wissenschaftlicher Leiter der Chamowniki-Stiftung, oft in seinen Vorträgen: Wir wissen gar nicht, was in Russland vor sich geht, wie die Menschen leben, was sie arbeiten und wie viele es eigentlich sind.

    Könnte es sein, dass wir dermaßen wenig über Russland wissen, dass es überlebt und immer weiter überleben wird, ungeachtet der entschlossenen Versuche von oben, es unter die Erde zu bringen?

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  • Der Traum vom apolitischen Protest

    Der Traum vom apolitischen Protest

    Apolitisch sei das Volk, so heißt es oft über Russland. Der Kreml sorgt für Stabilität und wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein, so lautet der Gesellschaftsvertrag. Immer wieder stellt sich in den letzten Jahren auch die Frage, inwieweit dieser am Bröckeln sei.

    Mitte Mai gingen in Moskau nun mehrere tausend Menschen auf die Straße – um gegen den Abriss ihrer Wohnhäuser zu protestieren.

    Bis zu 8000 Moskauer Häuser, zumeist Plattenbauten aus den 1950er und 1960er Jahren, sollen abgerissen und ihre Bewohner umgesiedelt werden. Knapp 1,6 Millionen Menschen könnten betroffen sein. Einige davon werden jetzt von den Moskauer Behörden dazu aufgerufen, für oder gegen das Programm zu stimmen. Nichtwähler werden als Befürworter gezählt, der Abstimmungsprozess insgesamt wird von vielen als intransparent empfunden. Dies und die Angst um ihr Eigentum trieb auch Menschen auf die Straße, die sonst noch nie oder nur selten auf Protest­veranstaltungen waren. Es ist naheliegend, dass viele von ihnen generell mit der Staatsmacht zufrieden sind.

    Die Veranstalter bestanden darauf, dass dieser Protest nicht politisch sei. Warum? – das analysieren Nikolay Epplée und Andrej Sinizyn auf Vedomosti.

    Foto © Ilya Varlamov/varlamov.ru
    Foto © Ilya Varlamov/varlamov.ru

    Die Demonstration im Moskauer Stadtzentrum richtete sich gegen das Renovierungs­gesetz – die wichtigste politische Meldung der letzten Monate – und war als „unpolitisch“ angekündigt worden. Die Organisatoren hatten die Teilnehmer gebeten, keine Parteisymbole zu verwenden. Sie wollten auch nicht, dass auf der Bühne „Politiker“ sprechen.

    Diese abgesteckten Grenzen wurden schließlich überschritten, und der Ausschluss Alexej Nawalnys samt Familie aus den Reihen der gewöhnlichen Demonstrations­teilnehmer sorgte in den Sozialen Netzwerken für einen sinnlosen Skandal.

    Das Wort „Politik“ hat in Russland ein Eigenleben

    Das alles drängt die Frage auf, wo in Russland heute die Linie zwischen Politik und Nicht-Politik verläuft. Die Frage ist fast schon linguistisch. Das Wort „Politik“ hat in Russland ein Eigenleben. Fast könnte man damit Kinder erschrecken.

    Die Entwicklung des politischen Systems seit Beginn der 2000er Jahre hat allmählich dazu geführt, dass unter Politik entweder das legitime Ausüben der Macht oder ein illegitimer Kampf um Macht verstanden wird. Demnach liegt das Politik-Monopol beim Kreml; alle anderen sind entweder loyal, oder sie bekämpfen die bestehende staatliche Ordnung für eine Handvoll Dollars vom State Department (und gehören deswegen bestraft).

    Lösung von Problemen „ohne Ausweitung ins Politische“

    Also ist es durchaus verständlich, dass Menschen, die aus wirtschaftlichen oder sozialen Gründen demonstrieren, jeglichen politischen Anstrich fürchten.

    Jedes Mal wieder hoffen die vom Mautsystem Platon getriezten Fernfahrer oder die Ärzte, die ihr Gehalt nicht bekommen, oder die Bewohner der Pjatietashki, die um ihre Wohnungen bangen, dass es ihnen gelingt, sich ohne „Ausweitung ins Politische“ mit der Regierung zu einigen und ihr spezielles Problem zu lösen.

    Die Situation birgt ein strukturelles Scheitern: Es gibt in Russland keine normale politische Repräsentation, die Systemparteien vertreten niemanden, und die außersystemischen Parteien können in Machtfragen keinen Wettstreit antreten.

    Als Instrument zum Schutz von Bürgerinteressen bleibt nur die Straße. Und das Internet und die Medien.

    Es bleibt nur die Straße

    Übrigens sind einige Proteste, die mit anscheinend unpolitischen Parolen geführt wurden, sehr wohl erfolgreich gewesen: Auf Druck der Bürger wurde der Bau des Ochta-Zentrums in St. Petersburg abgeblasen, die Errichtung eines Denkmals für Fürst Wladimir auf den Moskauer Sperlingsbergen aufgegeben und die kommer­zielle Bebauung der Ländereien der Timirjasew-Akademie unterlassen. Allerdings ist die Zahl der Proteste, deren erklärte Ziele nicht erreicht wurden, sehr viel größer.

    Bedürfnis nach politischer Teilhabe

    Das Wichtigste aber ist, dass die Proteste in Wirklichkeit immer politisch waren und politisch sein werden. Eine Protestaktion könne nicht unpolitisch sein, sie sei eine politische Handlung, sagt die Politologin Ekaterina Schulmann. Die treibende Kraft dahinter sei das Bedürfnis nach politischer Teilhabe und danach, dass die Meinung der Bürger, die Interessen der Bürger berücksichtigt werden. Bei den Moskauer Demonstrationen gehe es um das Bedürfnis nach einer funktionierenden Verwaltung; in dem System, wie es sich derzeit darstellt, würden die Interessen der Bürger nicht vertreten.

    Die Geschichte mit der „Renovierung“ ist umso pikanter, als deren offizielle Ankündigung bei einem Treffen von Bürgermeister Sergej Sobjanin mit Wladimir Putin erfolgte. Der erfolgreiche Beginn des Programms soll (nach Ansicht vieler Experten) Teil des Moskauer Präsidentenwahlkampfes sein. Natürlich ließen Bürgermeister und Präsident das Politik-Monopol dabei unangetastet. Die Demonstranten aber könnten es antasten. Oh, bewahre!

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