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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Putin ohne Plan, Kreml ohne Logik

    Putin ohne Plan, Kreml ohne Logik

    Auch an den Neujahrsfeiertagen gehen russische Angriffe auf die Ukraine unvermindert weiter. Seine traditionelle Neujahrsansprache hat Wladimir Putin in diesem Jahr entgegen der Tradition nicht vor dem Kreml gehalten, sondern im Kreis von Soldatinnen und Soldaten der russischen Armee. Putin hatte sie im südlichen Militärbezirk in Rostow am Don besucht. In seiner Rede warf er dem Westen Lügen vor und auch, die Ukraine zu benutzen, um Russland zu schaden. 
    Der US-amerikanische Think Tank Institute for the Study of War (ISW) hält Putins Worte für einen Versuch, den kostspieligen Krieg zu rechtfertigen und sich selbst dabei als Kriegsführer darzustellen, der alles unter Kontrolle habe. Der Think Tank liest darin außerdem auch die Botschaft, dass der Kreml an einem Frieden nicht interessiert sei, es sei denn, er diktiere der Ukraine und dem Westen die Bedingungen dafür.

    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky indes erklärte in seiner Neujahrsansprache, den Ukrainern könne nichts mehr Angst machen – sie seien für 2023 auf alles gefasst. Das neue Jahr möge ein „Jahr der Heimkehr“ werden. Er sprach von einer Ukraine, die wieder 603.628 Quadratkilometer hat, „das Gebiet der unabhängigen Ukraine, wie es seit 1991 besteht“.

    Wie wichtig es ist, in Szenarien zu denken, und wie schwer, Prognosen zu treffen, da das Handeln des Kreml keiner Logik und keinem Plan mehr folgt – das thematisiert Meduza-Politikredakteur Andrej Perzew in Kit, einem Newsletter-Format von Meduza. Solche Mailinglisten sind mehr und mehr nach dem 24. Februar aufgekommen, als im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine mehr und mehr Websites unabhängiger Medien in Russland blockiert wurden und nicht mehr ohne Weiteres zugänglich waren.

    Wir haben sehr lange in einer Wirklichkeit gelebt, in der Putin eine Art Plan hatte. Wenn die Zeit reif war, erfuhren wir neue Einzelheiten dieses Plans, und die Ungeduldigen konnten sich den nächsten Schritt auch ausrechnen – mithilfe der „Kreml-Logik“. So eine Art „Lebensregeln“ der obersten Staatslenker, und wer die Logik dahinter kennt, der kann Russland verstehen – nicht nur den Kern dessen erkennen, was gerade geschieht, sondern auch die Zukunft vorhersagen. Unter anderem dank der Kreml-Logik florierte die politische Journalistik im Land – regierungsnahe Quellen erzählten den russischen Staatsbürgern, worüber man im Kreml nachdenkt und spricht. Die Kreml-Logik hat auch die anonymen Telegram-Kanäle populär gemacht, die im Netz Gerüchte und Analysen im Sinne der offiziellen Leitfäden verbreiteten.

    Mit „Putins Plan“ und „Kreml-Logik“ existierte das Land über 20 Jahre. Einerseits war es wenig erfreulich zu wissen, dass wir von dem Willen eines einzelnen Menschen abhängen. Andererseits half es dabei, relativ angstfrei in die Zukunft zu blicken – wo man Prognosen aufstellen kann, da entsteht ein Gefühl von Kontrolle, auch wenn man in Wirklichkeit keinerlei Kontrolle hat.

    Den Kreml-Bewohnern sind Plan und Logik abhandengekommen

    Der Krieg hat alles verändert. Ich bin mir sicher, dass jeder, der diese Zeilen liest, ihn nicht nur als globale, sondern auch als persönliche Tragödie empfindet. Die Rede ist von einem sehr egoistischen Gefühl: als würde einem der Boden unter den Füßen weggerissen. Es gibt keine Zukunft mehr, man kann weder über sie nachdenken noch etwas planen. Genau das Gleiche empfinden gerade auch die Kreml-Bewohner: Ihnen sind Plan und Logik abhandengekommen. 

    In den 2010er Jahren war beides im Vorgehen der russischen Machthaber noch irgendwie erkennbar. Im Inneren setzte das System auf die Verschärfung der Repressionen und die Verstaatlichung der Wirtschaft (das heißt, auf die Umverteilung von Aktiva zugunsten der engsten Umgebung des Präsidenten). Beim Unterdrücken und Umverteilen vergaß der Präsident allerdings nicht, dass ihn die völlige Willkür den Zugang zur Macht kosten könnte. Deshalb griff der Kreml selten zu unpopulären Mitteln, hielt die soziale Stabilität aktiv aufrecht und gab den Bürgern sogar die Möglichkeit, ihren Dampf bei sogenannten Wahlen abzulassen. Für diejenigen, die die Nase voll hatten, hielten die Wahlzettel stets etwas parat – einen oppositionellen Kandidaten oder eine Spoiler-Partei

    In den internationalen Beziehungen agierte Putin ganz ähnlich – er pflegte das Bad-Boy-Image, aber wusste zugleich, wann es genug war. Die „roten Linien“ des Westens überschritt er nicht: Putin war zum Beispiel schon 2014 klar, dass er noch härtere Sanktionen als bei der Krim riskiert, wenn er es im Donbass zu weit treibt. Das war es ihm nicht wert. Deshalb schickte er seine Truppen nicht offiziell in die Oblast Donezk oder Luhansk. Was das Regime sich auch in den Kopf setzte, der Nutzen im Sinne der „Realpolitik“ blieb immer das Wichtigste.

    Aber vier Jahre später, als Wladimir Putin 2018 zum wiederholten Male Präsident wurde, änderte er seine Herangehensweise und griff schließlich zu unpopulären Maßnahmen, von denen er bisher offenkundig Abstand gehalten hatte. So verkündete die Regierung 2018 beispielsweise die Rentenreform – und sackte in den Umfragen sofort drastisch ab.

    Putin macht nicht mehr das, was nötig ist, sondern das, was ihm gefällt

    Im Handeln des Kreml war immer weniger Kreml-Logik zu erkennen. Denken wir an einen weiteren Meilenstein der neuesten russischen Geschichte – das Referendum über die Verfassungsänderungen. Wo lag hier der Nutzen? Laut Gesetz war die Willensäußerung des Volkes nicht obligatorisch – obligatorisch sind Referenden nur bei Änderungen in den ersten beiden Kapitel des Grundgesetzes, und dort wollte Putin gar nichts ändern. Es hätte also gereicht, wenn sich die Abgeordneten der Staatsduma und die Mitglieder des Föderalen Rates abgestimmt hätten. Aber das Referendum wurde trotz allem durchgeführt, sogar trotz Pandemie. Die Russen stimmten in Kofferräumen, auf Steinen und Baumstümpfen ab (das sind alles reale Beispiele, falls es jemand vergessen hat), und zwar nicht aus pragmatischen Gründen, sondern einfach, weil es Wladimir Putin gefällt zu sehen, wie sein Volk ihn unterstützt. Er macht also nicht mehr das, was nötig ist, sondern das, was ihm gefällt.

    Aber selbst als das offensichtlich wurde, machten wir, die russischen Politikexperten, so weiter, als würde die Kreml-Logik immer noch funktionieren. Genau aus diesem Grund glaubten viele von uns nicht daran, dass der Krieg möglich wäre, quasi bis zum letzten Tag – denn ein Krieg gegen die Ukraine ist nicht nur monströs, sondern unpraktisch. Und Putin ist doch Pragmatiker, der würde doch niemals irrational handeln. Ja, ja, er droht vielleicht mit Manövern an der Grenze, aber er verfolgt damit auch klare Ziele – eine weitere Verhandlungsrunde mit den USA oder die Aufhebung von Sanktionen. Ein Jahr vor dem Krieg war es übrigens genauso: Damals fand vor dem Hintergrund der Manöver russischer Truppen an der ukrainischen Grenze ein Treffen zwischen Wladimir Putin und Joe Biden statt.

    Wir, die Politikexperten, machten so weiter, als würde die Kreml-Logik noch immer funktionieren

    Es ist immer noch schwer zu glauben, aber Putins manisches Verlangen, das Nachbarland zu erobern, hat alle rationalen Argumente übertrumpft. Ukrainische Städte werden bombardiert, nur weil Putin das so will. Und es tut ihm um niemanden leid – weder um Ukrainer noch um Russen.
    Wonach es ihm danach verlangen wird, wissen wir nicht und können es nicht wissen, und deshalb haben wir – das muss man sich endlich eingestehen – jede Möglichkeit verloren, das Vorgehen des Kreml vorauszusagen. Es folgt keiner Logik mehr, und deshalb fehlt diese auch für unsere Prognosen.

    Was bleibt dann noch?

    Ein simples Beispiel aus dem Alltag. Nehmen wir an, Sie haben beschlossen, nach der Arbeit zu entspannen und einen lustigen Film zu schauen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Sie Ihre Zeit genauso verbringen werden, wie Sie es sich vorgenommen haben, und nur höhere Gewalt würde Sie davon abhalten. Sie werden Ihre Entscheidung kaum selbst ändern: Sie sind zu Hause, wo Sie die Kontrolle haben, und das Internet wimmelt von Filmen für jeden Geschmack.

    Eine ganz andere Sache ist es, wenn Sie am Wochenende einen Ausflug ins Umland planen. Es ist Spätherbst, das Wetter ist sehr wechselhaft. Alles Mögliche kann schiefgehen. Zum Beispiel ein Temperatursturz. Oder es schüttet aus Eimern. Oder ein Sturm. Kurz gesagt, Sie sollten bereit sein, zu Hause zu bleiben und noch ein paar Filme zu schauen. Oder Sie gehen trotzdem los und werden nass bis auf die Knochen.

    Im Grunde hat der Kreml einen Ausflug ins Umland geplant, doch dann ist ein Sturm aufgezogen. Noch dazu ist Moskau Stürme nicht gewohnt — vor dem Krieg lebte man hier unter günstigsten Bedingungen, und niemals wurden Pläne durch äußere Einflüsse durchkreuzt. Dank der hohen Preise für Erdöl und Gas füllt sich die Staatskasse, die schweigende Mehrheit hatte sich an Wahlen ohne Auswahl gewöhnt, und den aktiven Protesten der vorlauten Minderheit hatte man durch verschärfte Gesetze erfolgreich Einhalt geboten. Das System hatte alles unter Kontrolle und war maximal stabil. Die Gesellschaft spürte das genau, und vielen war diese Gemengelage nicht unrecht – die Stabilität des Systems galt nicht nur der Regierung, sondern auch dem Volk als höchste politische Tugend.

    Außer Kontrolle

    Mit dem Beginn des Krieges begab sich der Kreml auf ein Territorium, das er nicht kontrollieren kann. Mit Territorium ist hier nicht einmal konkret das Staatsgebiet der Ukraine gemeint (obwohl natürlich auch das), sondern die Situation insgesamt. Plötzlich wurde der entscheidende politische Überlebensfaktor ein gewisser Anderer – ein ganzes Land, die Ukraine, sowie alle ihre Verbündeten –, der jederzeit reagieren kann, und zwar überraschend und heftig. Nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Sanktionen, von denen etliche wirklich schmerzhaft sind. All das erzeugt einen gewaltigen Unsicherheitsfaktor nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb des Systems. 

    Die Unsicherheit verdichtet sich in all diesen langen Monaten, und der Kreml gerät ins Schleudern. Im August und September, als den ukrainischen Truppen plötzlich eine Gegenoffensive in der Oblast Charkiw gelang, begann er also Referenden über die „Eingliederung“ der besetzten Gebiete mal chaotisch abzusagen, dann wieder eilig anzuberaumen. Sie hätten in feierlicher und ruhiger Atmosphäre stattfinden sollen, doch weder das eine noch das andere wurde erzielt: Die Referenden verliefen chaotisch und unschön, ohne Kampagne, unter vorgehaltenen Pistolen. Ein logischer Schritt wäre gewesen, sie zu verschieben, aber wir wissen ja bereits, dass es im Kreml keine Logik mehr gibt. Wenn noch irgendwo tief drinnen ein letztes Fünkchen existiert hat, so gehört es mittlerweile zusammen mit dem Gefühl, die Situation unter Kontrolle zu haben, endgültig der Vergangenheit an.

    Mobilmachung: Neue Unsicherheit im Inland

    Um auf dem Schlachtfeld Macht, Kontrolle und Initiative zurückzugewinnen, entschloss sich der Kreml zur Mobilmachung – und zog sich damit eine neue Unsicherheit im Inland zu. Damit trat ein weiterer Anderer auf den Plan, von dessen Vorgehen die Machthaber jetzt ebenfalls abhängig sind: der Russe, der nicht in den Schützengraben will. Noch ist schwer zu sagen, wie viele es sind – nicht nur die, die aus dem Land geflohen sind, sondern auch die, die sich in den Städten und Dörfern Russlands vor der Einberufung verstecken. Doch zusammen mit ihren empörten Verwandten bilden sie eine bedrohliche Unsicherheitswolke, mit der die Machthaber eindeutig ebenfalls nicht gerechnet haben. Wie der Zusammenprall zwischen dem Kreml und dieser Wolke ausgehen wird, ist schwer abzusehen, zumal wir ja noch nicht einmal die jüngste Vergangenheit verstanden haben. Zum Beispiel die Proteste gegen die Mobilmachung in der föderalen Regierung des sonst so loyalen Dagestan – was war das? Wird es das wieder geben? Noch vor ganz kurzer Zeit hatte man sich solche Proteste überhaupt nicht vorstellen können, aber sie sind passiert. Dafür reagierten traditionell „protestfreudige“ Städte wie Moskau und Sankt Petersburg auf die Mobilisierung und die Razzien eher kühl. Und wieder: Was war das? Wird es das nächste Mal auch so sein? Oder werden wir auf den Plätzen der Metropolen doch noch große Demonstrationen sehen?

    Was tun?

    Vielleicht hat der Kreml zum ersten Mal wirklich keine Ahnung — genauso wie wir. Angesichts des totalen Unwissens – der berühmte „Nebel des Krieges“ überzieht längst nicht nur das Schlachtfeld, sondern das ganze Land – ändern die Behörden nun ständig ihre Pläne. Wie soll man in einer Realität leben, in der der Hauptakteur – die Staatsmacht – jegliche Logik verloren, die Pragmatik vergessen, die Initiative verspielt hat und auf das Chaos zuläuft? Ich habe dazu drei Tipps.

    Erstens – gewöhnen Sie sich dran: Es gibt keine Prognosen, und es kann auch keine geben. Damit, dass Pläne schmieden im Privatleben sinnlos geworden ist, haben wir uns schon abgefunden. Pläne gibt es mittlerweile genauso wenig wie Logik, es gibt nur noch „Szenarien“. Für den Kreml gilt dasselbe: Meist gibt es mehrere Szenarien, an denen parallel gearbeitet wird, und jedes kann mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Wirklichkeit werden. Lesen Sie jede politische Analyse durch dieses Prisma.

    Viele politische Beobachter (mich eingeschlossen) berufen sich auf ihre Quellen in der Regierung. Auch hier hat sich etwas verschoben. Es gibt im Kreml keinen Beamten, der jetzt irgendetwas vorhersagen könnte, nicht einmal, wenn er sehr viel Einfluss hat. Alles hängt davon ab, wonach es den Präsidenten gelüstet, doch was ihm morgen in den Sinn kommt, kann niemand wissen. Nicht einmal ein russischer Militärangehöriger höchsten Ranges weiß Bescheid, welchen Befehl er als nächstes erhält, wie seine Leute an der Front diesen Befehl ausführen werden und wie die ukrainische Armee reagieren wird. 

    Niemand. Weiß. Etwas. 

    Daher klingt jede Antwort jeder Quelle in der Regierung auf jede meiner Fragen ungefähr so: „Wir bereiten uns auf dieses und jenes vor, aber was dabei herauskommt, hängt vom Präsidenten ab.“

    Das wird in der Führungsriege möglicherweise lange so gehen, aber das ist kein Grund, von vornherein keine politischen Analysen mehr zu lesen. Schließlich sind sogar Informationen wie diese ein Indikator für das aktuelle Geschehen. 

    Zweitens, denken Sie daran: Unsicherheit ist die Norm. Das Leben ist unvorhersehbar. Alles fließt, alles verändert sich. Niemand weiß, was morgen sein wird. Ja, das sind lauter abgedroschene Phrasen, aber das macht sie nicht weniger wahr. In den letzten gut zwanzig Jahren haben die Russen vergessen, dass im Grunde jede Situation – auch die politische – von vielen Faktoren und Akteuren abhängt und nicht nur von der Willkür da oben im Kremlturm. Es ist an der Zeit, uns das in Erinnerung zu rufen – und auch dem Kreml.

    Und schließlich drittens: Vergessen Sie nicht, dass das alles kein finales Urteil ist. Der Zusammenhalt der ukrainischen Gesellschaft und das Vorgehen ihrer Streitkräfte haben bewiesen, dass „Putins Pläne“ oder die „Kremllogik“ nichts Endgültiges sind, gegen das man nichts machen kann. Man kann Widerstand leisten gegen sie und versuchen, aus ihren „Plänen“ eigene „Szenarien“ zu machen. 
    Im Februar bezweifelte kaum jemand, dass die russische Armee in Kyjiw einmarschieren würde. Jetzt gibt es immer weniger Zweifel, dass die ukrainischen Gebiete, die jetzt von Russland kontrolliert werden, wieder zurück an die Ukraine gehen – mindestens in den Grenzen vor dem 24. Februar. 

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  • Leitfäden der Propaganda

    Leitfäden der Propaganda

    Der großflächige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine galt von Anfang an offiziell als eine „militärische Spezialoperation“, an der nur Berufs- und Zeitsoldaten teilnahmen. Der Pressesprecher des russischen Verteidigungsministeriums meldete seit dem 24. Februar einen Erfolg nach dem anderen. Anfang Oktober standen die staatlich kontrollierten Medien jedoch vor einer schwierigen Aufgabe: Wie kann man nach mehr als sechs angeblich erfolgreichen Monaten der „Spezialoperation“ die Notwendigkeit einer Mobilmachung erklären und zwar so, dass die einzelnen Medien sich nicht gegenseitig widersprechen? Für solche Fälle werden in der Präsidialadministration sogenannte metoditschki – Leitfäden – verfasst, die die Stoßrichtung der Berichterstattung vorgeben. 

    Russland kämpfe nicht gegen die Ukraine, sondern gegen die NATO – heißt es etwa in einem Leitfaden, der die Mobilmachung erklären soll. Gleichzeitig sollen die Medien laut dem Leitfaden betonen, Russland mache nur ein Prozent der Reservisten mobil, es gebe also keinen Grund zur Panik. Diese und andere Texte tauchen regelmäßig auf und werden von unabhängigen Journalistinnen und Journalisten analysiert und mit der tatsächlichen Berichterstattung verglichen. Andrej Perzew hat die Leitfäden des letzten halben Jahres angeschaut und erklärt in einem Text für Meduza, wie die Manipulation der Berichterstattung über den Krieg funktioniert.

    Wie Meduza bereits berichtete, erstellt die Präsidialadministration der Russischen Föderation für staatlich kontrollierte Medien regelmäßig spezielle Leitfäden, die vorgeben, wie diese Medien über den Krieg und die damit verbundenen Ereignisse berichten sollen. Solche „Empfehlungen“ bekommen die Propagandamacher fast täglich. Es wird darin im Detail beschrieben, wie diese oder jene Nachricht zu beleuchten ist und welche Emotionen bei den Zuschauern, Lesern oder Zuhörern erzeugt werden sollen.

    Fast täglich bekommen die Propagandamacher Empfehlungen aus dem Kreml

    Anfang Oktober erhielt Meduza Zugang zu mehr als zehn solcher Dokumente, die der Kreml zwischen April und Oktober 2022 erstellt hat. Die Echtheit der Texte bestätigte eine der Präsidialadministration nahestehende Quelle sowie ein Mitarbeiter der staatlichen Medien, dem die Leitfäden von seiner Arbeit her bekannt sind.

    Die Anweisungen sind klar strukturiert: Alle Texte enthalten ein „Hauptereignis“, über das berichtet werden soll. Im Leitfaden von Anfang Oktober war das beispielsweise eine Umfrage des WZIOM, wonach 75 Prozent der Befragten die Annexion der ukrainischen Gebiete angeblich „positiv“ bewerten und 83 Prozent finden, Russland müsse „die Interessen der Bevölkerung verteidigen, auch wenn sich das negativ auf die Beziehungen zu anderen Staaten auswirkt“.

    Das Fazit, das die Propagandisten verbreiten sollen, lautet folgendermaßen: „Die Bürger Russlands sind überzeugt von der Rechtmäßigkeit und Legitimität der Entscheidung der Bürger in der [annektierten] DNR, LNR sowie den Regionen Cherson und Saporishshja.“

    Darüber hinaus enthalten die Leitfäden zentrale Propaganda-„Linien“, die der russischen Bevölkerung vermittelt werden sollen. Im Dokument vom 4. Oktober lauten diese „Linien“: „Stärkung Russlands“, „Spezialoperation. Bild des Sieges“ und „Neue Weltordnung“.

    Die Linie „Stärkung Russlands“ besagt, das Land sei „offiziell um vier Regionen angewachsen“. Außerdem wird dort genau beschrieben, wie die Propagandisten über die Mobilmachung zu berichten haben: Der Bevölkerung soll vermittelt werden, dass „die Mehrheit der mobilisierten Soldaten ihre Aufgaben und Ziele bei der Verteidigung der Heimat verstehen“. Der Mobilisierungsprozess in Russland sieht demnach angeblich so aus:

    „Es entstehen kameradschaftliche Kollektive mit festem Zusammenhalt, die Männer sind bereit, sich untereinander zu helfen, sie erinnern sich gut an ihre militärischen Fertigkeiten und lernen schnell Neues. Es werden neue effektive Mechanismen entwickelt, um sicherzustellen, dass die, die ihre Pflicht gegenüber der Heimat erfüllen wollen, das ohne Schwierigkeiten können. Auf dem Portal für staatliche Dienstleitungen Gosuslugi sind seit der Freischaltung für die Registrierung von Freiwilligen bereits mehr als 70.000 Anfragen eingegangen. In einigen Regionen ist der Plan der Teilmobilmachung bereits erfüllt – unter anderem dank dem Einsatz der Freiwilligen.“

    Das Kapitel „Spezialoperation. Bild des Sieges“ kennt keinen Rückzug

    Das Kapitel „Spezialoperation. Bild des Sieges“ ist der Situation an der Front gewidmet. Obwohl sich die russischen Truppen seit Wochen in Wirklichkeit stetig auf dem Rückzug befinden, schlagen die Leitfäden des Kreml vor, über ihre „Siege“ zu sprechen – zum Beispiel zu unterstreichen, wie viel ukrainische Militärtechnik „die russische Armee bereits vernichtet“ habe.

    Dabei wird den Propagandisten „empfohlen“, darauf hinzuweisen, dass jeder Widerstand seitens der ukrainischen Armee nur zur „Selbstzerstörung der Ukraine“ führt (weiter wird diese These nicht ausgeführt).

    Laut dem Abschnitt „Neue Weltordnung“ sollen die Medien dem Publikum einen einfachen Gedanken vermitteln: Die Staaten der ehemaligen UdSSR sollten „eine Lehre aus dem Schicksal der Ukraine ziehen“ und nicht die Beziehungen zu Russland belasten. Als Negativbeispiel wird Moldau und die amtierende Präsidentin Maia Sandu angeführt (die moldauische Landesregierung hat den russischen Angriffskrieg wiederholt verurteilt und angekündigt, die Grenzkontrollen zu verschärfen; zuletzt gab es Berichte von russischen Staatsbürgern, dass man ihnen die Einreise verweigere).

    Ferner wird empfohlen, die These von der „Neuen Weltordnung“, für die Russland angeblich kämpft, mit der Information zu untermalen, dass der Export von russischem Öl nach Indien im September 2022 im Vergleich zum August desselben Jahres um 18 Prozent gestiegen sei. Diese Zahlen sollen die Entwicklung der Zusammenarbeit mit Staaten illustrieren, „die an einer gerechten und auf Gleichheit basierenden Weltordnung interessiert“ seien.

    „Zusammenstehen“ und „Vereinigung“ hervorrufen sollen die tragenden Gefühle sein

    Neben konkreten Propaganda-„Linien“ ist in den Leitfäden von „Gefühlen, Emotionen und Empfindungen“ die Rede, die nach Ansicht des Kreml bei der russischen Bevölkerung erzeugt werden sollen. Dieser Abschnitt trägt in den Dokumenten die Überschrift „Emotionale Basis“. So soll beispielsweise die Annexion der ukrainischen Gebiete bei den Russen das Gefühl von „Zusammenstehen“ und „Vereinigung“ hervorrufen. Ein Gefühl von „Zusammenstehen“ soll den Autoren zufolge auch die Explosion auf der Krim-Brücke erzeugt haben. Dabei ist an die Stelle von „Überzeugung“ und „Stolz“, von denen in den Monaten zuvor in diesem Abschnitt oft die Rede war, Anfang Oktober die „Hoffnung“ getreten – offenbar vor dem Hintergrund der erfolgreichen Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte.

    Laut Meduzas Quelle, die dem Kreml nahesteht, stammen diese Texte aus der Direktion für gesellschaftliche Projekte der Präsidialadministration, die auch Telegram-Kanäle, Blogger und diverse Massenmedien kuratiert. Unmittelbar verantwortlich für die Zusammenstellung der Leitfäden soll der Vizechef der Direktion Alexej Sharitsch sein, der Anfang der 2010er Jahre stellvertretender Direktor des Rüstungskonzerns Uralwagonsawod war (auf Anfragen von Meduza antwortete er nicht).

    „Deshalb erinnert die ganze Propaganda im Grunde an Uralwagonsawod“, kommentiert Meduzas Gesprächspartner ironisch, der für ein staatliches Medium arbeitet, das seine Instruktionen aus dem Kreml bekommt.

    Seit dem Einmarsch in die Ukraine hat man es nicht geschafft, sich etwas Neues für die mediale ,Bearbeitung‘ einfallen zu lassen 

    Er fügt hinzu, dass die Mitarbeiter der Präsidialadministration seit dem Einmarsch in die Ukraine es nicht geschafft hätten, sich etwas Neues für die mediale „Bearbeitung“ der Invasion einfallen zu lassen und sich deshalb auf die Erfahrung aus der Berichterstattung bei den Wahlen und anderen politischen Ereignissen in Russland stützen. So würden sie unter anderem für staatliche und loyale Medien immer noch diese Leitfäden verwenden.

    „Jetzt, während des Krieges, haben es die Jungs [aus dem Kreml] natürlich schwer. Wir können den ukrainischen Medien nichts entgegensetzen. Die entstellten Leichen russischer Soldaten lassen sich schwer schönreden“, meint Meduzas Interviewpartner.

    Auch andere Gesprächspartner von Meduza bezweifeln die Wirksamkeit dieser Methoden. Ein Politikberater, der für die Präsidialadministration tätig war, erklärte zum Beispiel, die Thesen aus den Leitfäden könnten nur das „loyale Publikum“ überzeugen, das sich nicht für alternative Informationsquellen interessiert.

    Wir können den ukrainischen Medien nichts entgegensetzen

    „Die Journalisten bei den Medien [die ihre Anweisungen aus dem Kreml bekommen] sind ohne die Leitfäden oft gar nicht in der Lage, selbst etwas zu schreiben, und wenn, dann nur völligen Unsinn … Und dann muss man auch noch die Konsequenzen ausbaden“, sagt er. „Im Internet gibt es auch eine loyale Leserschaft, und die anderen kann man sowieso nicht mehr überzeugen, erst recht nicht mit solchen Methoden.“

    Ein Interviewpartner, der der Parteispitze von Einiges Russland nahesteht, ist der Meinung, dass die Erstellung von Leitfäden generell „keine Methode ist, um die Stimmungen der Massen zu lenken, sondern lediglich das Tagesgeschäft“:

    „Die Medien, die Pressestellen, die Blogger – das ist ein riesiger, täglich rotierender Mechanismus, geschmiert von millionenschweren Budgets. Dieser Mechanismus muss allein aufgrund seiner Existenz funktionieren und ein Produkt erzeugen, denn das sichert den Beteiligten ihre Einkünfte. Die Kosten einer Unterbrechung, selbst eines längeren Stillstands sind viel zu hoch.“

     

    Diese Übersetzung wurde gefördert von: 

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  • Corona-Kreuzzug in der Kirche

    Corona-Kreuzzug in der Kirche

    Zum orthodoxen Osterfest am kommenden Sonntag hat Patriarch Kirill die russischen Gläubigen dazu aufgefordert, nicht in die Kirche zu gehen, sondern zu Hause zu bleiben. Ostern ist das höchste Fest in der Orthodoxen Kirche, es ist mit zahlreichen, auch öffentlichen, Ritualen und Traditionen verbunden. 
    Meduza hat versucht herauszufinden, warum es manchen Gläubigen und auch Würdenträgern so schwer fällt, sich an das Kirchgang-Verbot zu halten.

    Segnung am Karsamstag in Kaliningrad, 2019. Dieses Jahr wird es solche Bilder nicht geben / Foto © Westpress Kaliningrad archive, image #/CC-BY-SA 4.0
    Segnung am Karsamstag in Kaliningrad, 2019. Dieses Jahr wird es solche Bilder nicht geben / Foto © Westpress Kaliningrad archive, image #/CC-BY-SA 4.0

    Der Gottesdienst am Palmsonntag – einem der wichtigsten orthodoxen Feiertage – war nun der letzte, bevor alle Kirchen über die Karwoche und Ostern schließen [in der Orthodoxen Kirche wird das Osterfest in diesem Jahr am 19. April gefeiert – dek]. Das erfuhren viele Moskauer Kirchgänger erst aus einem Text, den die Priester vergangenen Sonntag im Anschluss an ihre Predigt verlasen.

    In dieser Botschaft werden die Gläubigen im Namen von Patriarch Kirill „schweren Herzens“ aufgefordert, die Anweisungen der Gesundheitsbehörden zu befolgen und zu Hause zu bleiben – an den Ostergottesdiensten solle man per Videoübertragung teilnehmen. 

    Zu diesem Zeitpunkt galten in den Moskauer Gemeinden bereits noch nie dagewesene Sicherheitsvorkehrungen, die sich nach den Empfehlungen der Heiligen Synode der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) vom 17. März 2020 richteten. So wurde beispielsweise der Fußboden der Spiridon-Trimifuntski-Kirche im Bezirk Koptewo im Moskauer Norden im Abstand von anderthalb Metern mit weißen Punkten markiert, auf die sich die Gläubigen während der Messe stellen sollten. Sobald alle Markierungen besetzt waren, wurden die Türen geschlossen. Die Gläubigen mussten außerdem einen Mundschutz tragen, und das Abendmahl wurde unter maximal sterilen Bedingungen abgehalten – soweit dies überhaupt möglich ist. 

    In der Kirchenverfassung steht nichts von einem Mundschutz. Aber auch von einem Coronavirus steht da nichts!

    Schon bei ihrer Einführung hatten diese Maßnahmen für rege Auseinandersetzungen gesorgt, sowohl unter der orthodoxen Priesterschaft als auch unter den Gläubigen. Bei dem Versuch, der ratlosen Gemeinde die Ernsthaftigkeit der Situation zu vermitteln, rief der Vorsteher der Spiridon-Trimifuntski-Kirche, Sergij: „Viele von euch waren unzufrieden, als sie die Kirche nur mit Mundschutz betreten durften – in der Kirchenverfassung stehe ja nichts von einem Mundschutz. Aber auch von einem Coronavirus steht da nichts!“

    Sie müssten die Entscheidungen der weltlichen Behörden akzeptieren und den Kirchen fernbleiben, erklärte Vater Sergij den Gläubigen und sagte, das sei eine einmalige Gelegenheit, sich auf die wahre Bedeutung des Osterfestes als Auferstehung Christi zu konzentrieren – frei von äußeren, weltlichen Attributen wie Kulitschi und Ostereiern.

    Manche Amtsträger der Russisch-Othodoxen Kirche widersetzten sich jedoch offen den behördlichen Empfehlungen sowie Patriarch Kirills Aussagen zu den Hygienemaßnahmen angesichts der Corona-Pandemie – die Positionen reichen dabei von der Leugnung der Pandemie als solches bis hin zu Aufrufen, die Entscheidungen der weltlichen Regierung zu sabotieren.

    So erklärte Erzbischof Pitirim von Syktywkar und Komi-Syrjansk auf seiner Vkontakte-Seite, die Anordnung des Rospotrebnadsor sei verfassungswidrig, und kündigte an, die orthodoxe Öffentlichkeit der Region werde gerichtlich dagegen vorgehen. Ähnlich äußerte sich Erzpriester Andrej Tkatschow in seiner Sendung Vater Andrej. Antworten im TV-Kanal Zargrad: „Wir sind weder Aufständische noch Revolutionäre, wir wollen keinen Krieg in der Kirche, und die Kirchenleitung muss respektiert werden. Doch es gibt andere Dinge, eine weltliche Macht, die uns einfach schließen will, und es gibt Christus, der auferstanden ist. Es ist schwer vorstellbar, wie man das zu Hause feiern soll.“ 

    Zugleich bezweifelte Tkatschow, dass die Bedrohung überhaupt real sei: „Den Zahlen nach ist das doch keine Pandemie!“, echauffierte sich der Erzpriester, der Ende März Berühmtheit erlangt hatte, weil er in Gasmaske zum Gottesdienst erschien und erklärte, man müsse nur den Fernseher ausschalten und schon gebe es keinen Coronavirus mehr.

    Mit Gasmaske zum Gottesdienst

    Während die Behörden in anderen orthodoxen Ländern unmittelbar nach den ersten bekannt gewordenen Corona-Fällen die Kirchen geschlossen hatten (so hatte Zypern bereits Anfang März Massenveranstaltungen untersagt, einschließlich öffentlicher Gottesdienste), zögerte die Führung der ROK zunächst, derart drastische Maßnahmen zu ergreifen. Die ersten Aufrufe, den Kirchen fernzubleiben und stattdessen in den eigenen vier Wänden zu beten, kamen von staatlicher Seite – und stießen prompt auf aktiven Widerstand bei der orthodoxen Gemeinde und der geistlichen Führung. Erst am 29. März forderte schließlich auch Patriarch Kirill die Gläubigen dazu auf, zu Hause zu beten. 

    Das System bröckelt sichtlich

    Den Worten von Diakon Andrej Kurajew zufolge, ist einer der Hauptgründe, warum die Episkopen und Priester zum Kirchgang aufrufen, ihre „schlechte Bildung“. Der Priester ist heutzutage „ein Psychotherapeut für die Armen – ein paar gängige Zitate aus der Heiligen Schrift dienen der Antwort auf die meisten Fragen. Wir haben es mit Verstand auf Ammenmärchen-Niveau zu tun, wo die höchste Bekundung des Glaubens darin besteht, in die Kirche zu gehen, eine Kerze anzuzünden und eine kleine Spende dazulassen“, erklärt der Geistliche.

    Andrej Desnizki, Philologe, Bibelwissenschaftler und Professor an der Russischen Akademie der Wissenschaften, erklärte gegenüber Meduza, dass der Kirchgang für viele Vertreter der Geistlichkeit und Gläubige „einer der zentralen Werte“ sei. „Das wurde [den Gläubigen] über Jahrzehnte hinweg eingetrichtert. In die Kirche zu gehen war die Antwort auf alle Fragen: ‚Stimmt etwas nicht? Dann geh in die Kirche! Du verstehst kein Kirchenslawisch? Dann geh in die Kirche!‘ Und jetzt bekommen sie plötzlich zu hören: ‚Geh nicht in die Kirche!‘ Das klingt für sie wie ‚Es gibt keinen Gott!‘ Man kann das finden, wie man will, aber für die meisten hat der Kirchgang höchsten Wert“, erklärt der Fachmann.

    Andrej Kurajew dagegen lehnt diese Sichtweise als „kirchenzentriert“ ab: „Gott wohnt nicht in den Holzbalken, sondern in uns; es gibt andere Wege, seine Identität als Christ unter Beweis zu stellen.“ Dabei bezeichnet er die „Starrheit des Denkens“ als das „höhere Motiv“, das von einem „niederen“, praktischeren, begleitet werde: Mit den finanziellen Einnahmen aus dem Massenzustrom der Gläubigen an den Feiertagen müssen alle Kirchen die Diözesanbeiträge bestreiten, aus denen sich das Gesamtkirchenbudget zusammensetzt.

    Kurajew rechnet nicht damit, dass den Geistlichen, die trotz der Pandemie zum Kirchgang aufrufen, Strafen von kirchlicher Seite drohen – denkbar wäre das nur, wenn die weltlichen Behörden unzufrieden sind, meint der Würdenträger. Andrej Desnizki schließt wiederum nicht aus, dass Bischöfen und Priestern, die sich der gemeinsamen Linie des Patriarchats widersetzen, Konsequenzen drohen. „Aber das hängt von der konkreten Person und ihrem Verhältnis zur Obrigkeit ab. Das System bröckelt sichtlich, und diese Entwicklung wird zunehmen, die Priesterschaft in den Regionen wird die Anordnungen des Patriarchats immer öfter ignorieren“, prognostiziert Andrej Desnizki.

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  • Kampf der Patrioten

    Kampf der Patrioten

    Bislang galten sie als Brüder im Geiste, nun bekämpfen sie sich öffentlich: Dimitri Kisseljow, Chef der staatlichen Medienagentur Rossija Sewodnja, und der erzkonservative Dumaabgeordnete Jewgeni Fjodorow. Kisseljow wird von Kritikern gerne als „Chefpropagandist des Kreml“ bezeichnet, Fjodorow sitzt der Nationalen Befreiungsbewegung vor. Ausgerechnet die wirft Kisseljow nun „Trumpophilie“ vor.

    Was der Konflikt vor allem mit Putin, der Krim und dem Donbass zu tun hat – und nur am Rande mit Trump – das analysieren Andrej Perzew und Gleb Tscherkassow im Kommersant-Vlast.

    In der Sendung vom 19.02. holte Kisseljow zum Gegenschlag gegen Jewgeni Fjodorow und die „Nationale Befreiungsbewegung“ aus / Foto © Screenshot aus der Sendung „Westi Nedeli“ vom 19.02.2017
    In der Sendung vom 19.02. holte Kisseljow zum Gegenschlag gegen Jewgeni Fjodorow und die „Nationale Befreiungsbewegung“ aus / Foto © Screenshot aus der Sendung „Westi Nedeli“ vom 19.02.2017

    Bis vor Kurzem schienen Dimitri Kisseljow und Jewgeni Fjodorow noch auf der gleichen Seite der Barrikaden zu stehen. Kisseljow ist Fernsehmoderator und Generaldirektor von Rossija Sewodnja, Fjodorow sitzt für die Regierungspartei Einiges Russland in der Staatsduma und ist außerdem Vorsitzender der Nationalen Befreiungsbewegung (NOD). Sei es die bedingungslose Unterstützung des Präsidenten Wladimir Putin und all seiner Vorhaben, sei es die harte Kritik an den USA und der Außenpolitik des Weißen Hauses, die klare Ablehnung der derzeitigen ukrainischen Führung – in vielerlei Hinsicht wirkten die beiden wie Brüder im Geiste.

    In seiner Sendung Westi Nedeli [dt. Nachrichten der Wochedek] behauptete Dimitri Kisseljow unter anderem, dass Russland die USA in „radioaktive Asche verwandeln“ könne, er prangerte nicht-systemische Oppositionelle und auch den durch und durch verdorbenen Westen an. „Schwule für Homosexuellen-Propaganda unter Minderjährigen zu bestrafen, ist nicht genug. Ihnen muss es verboten werden, Blut oder Sperma zu spenden und im Falle eines Autounfalls müssen ihre Herzen tief in der Erde vergraben oder verbrannt werden.“ Das ist eines der bekanntesten Zitate des Fernsehmoderators.

    Jewgeni Fjodorows Äußerungen wirkten wie eine logische Fortsetzung dieser Position, und seine Sympathisanten von der Nationalen Befreiungsbewegung setzten diese Ideen in die Praxis um, indem sie Kundgebungen Oppositioneller überfielen und Protestaktionen vor Medienbüros und Botschaften der „feindlichen westlichen Staaten“ abhielten. Auf der Homepage der Gruppe für das Swerdlowsker Gebiet, einer der aktivsten der NOD, wurden sogar regelmäßig Videoaufzeichnungen von Westi Nedeli verlinkt.

    Wie gewohnt haben nun Vertreter der Bewegung mit Plakaten vor einem Medienhaus protestiert. Doch diesmal war es nicht etwa das Medienunternehmen RBC – sondern die internationale Nachrichtenagentur Rossija Sewodnja. Die Anhänger von Jewgeni Fjodorow beschuldigen die Agentur und ihren Direktor der „Trumpophilie“.

    Die Anhänger von Jewgeni Fjodorow beschuldigten Kisseljow der „Trumpophilie“. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, und Kisseljow holte zum harten Gegenschlag aus

    Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. In der Sendung vom 19. Februar holte Dimitri Kisseljow zum harten Gegenschlag aus – gegen Jewgeni Fjodorow, gegen die Nationale Befreiungsbewegung, gegen Witali Milonow, den ultrakonservativen Dumaabgeordneten der Partei Einiges Russland, und gegen die Organisation Offiziere Russlands, die nach ihrem Angriff auf die Fotoausstellung von Jock Sturges Ruhm erlangt hatten – gegen alle radikal konservativen Kräfte also.

    Kisseljow sprach vor einer Fotocollage verschiedener Politiker mit der Bildaufschrift Die Spinnerten. Neben Milonow und Fjodorow waren darunter auch die in die Ukraine emigrierte ehemalige Dumaabgeordnete für Einiges Russland Maria Maksakowa und der St. Petersburger Jabloko-Politiker Boris Wischnewski.

    „Eigentlich gehen wir in Russland milde und nachsichtig mit spinnerten Politikern um, die uns in Erstaunen versetzen, zu irgendetwas aufrufen, oder irgendwohin abkommandieren wollen. Überraschenderweise schleichen sich diese Spinnerten in die Strukturen ein und erlangen, wenn auch nur kurzzeitig, Geltung. Mit schlauer Miene zwingen sie uns ihre dummen Diskussionen auf. Derzeit wird derart viel Blödsinn in den Äther geblasen, dass man in diesem Informationslärm untergehen könnte“, empörte sich Kisseljow. Die Nationale Befreiungsbewegung bezeichnete er dabei als einen „Wanderzirkus“, der „in Moskau umherzieht“. 

    „Besonders traurig ist, dass der Abgeordnete Fjodorow diese armen Menschen zusammengeschart hat und sie mit überdimensional großen, geradezu grotesken Georgsbändern als Fahnen ausgerüstet hat. Das stolze Symbol der russischen Wehr und der Schlacht gegen den Faschismus – das Symbol des Sieges – hat Fjodorow mit dem Namen seiner Pseudobewegung besetzt und aus dem Ganzen ein Tingeltangel unter Mitwirkung irgendwelcher Trachtenträger oder Wandersänger gemacht. Was für ein Frevel! Überhaupt ist diese Manier der Spinnerten, edle Symbole für inszenierte Skandale und leere Parolen zu vereinnahmen, wenig sympathisch“, rügte der Fernsehjournalist den NOD.

    Das stolze Symbol der Schlacht gegen den Faschismus – das Symbol des Sieges – hat Fjodorow mit dem Namen seiner Pseudobewegung besetzt und aus dem Ganzen ein Tingeltangel unter Mitwirkung irgendwelcher Trachtenträger oder Wandersänger gemacht

    Dimitri Kisseljow erinnerte auch an die Organisation Offiziere Russlands, wie sie im Herbst versucht hatte, eine Fotoausstellung von Jock Sturges, dem sie Pädophilie vorwarf, zu verwüsten. Und er brandmarkte sie dafür, sich vom Staat finanzieren zu lassen.

    Auch der größte Hüter der traditionellen Werte, Witali Milonow aus der Partei Einiges Russland, bekam sein Fett weg: „Im Sticharion – dem geistlichen Gewand für den Kirchendienst – verteidigte er die Übergabe der Isaakskathedrale, und da schickt er sich an, antisemitische Äußerungen von sich zu geben.“

    Allerdings klang auch ein Seitenhieb auf die liberalen Verteidiger der Isaakskathedrale an. Dabei sah der Moderator jedoch von persönlichen Angriffen ab und beklagte lediglich, dass die damit verbundene Diskussion den „gesunden Menschenverstand abtöten“ würde. 

    Die Antwort Jewgeni Fjodorows folgte schnell: Er drohte Dimitri Kisseljow mit einem Gerichtsverfahren und Anzeigen tausender gekränkter NOD-Anhänger, unterstellte ihm eine „Verschwörung gegen den Präsidenten“ und dass er auf Staatskosten eine Kampagne führe für den Präsidenten eines anderen Staates: Donald Trump.

    Die Haltung zum US-Präsidenten war der formale Auslöser des Konflikts: Der Pressesprecher des Weißen Hauses Sean Spicer hatte erklärt, dass Trump von Russland erwarte, in der Ukraine für Deeskalation zu sorgen und die Krim „zurückzugeben“. Bis dahin hatte das russische Fernsehen mit Donald Trump sympathisiert, nun aber fast komplett aufgehört, über ihn zu berichten. Doch auch die Kritik, die zuvor unter anderem von Kisseljow gegen Barack Obama vorgebracht worden war, blieb gegenüber dem neuen Staatsoberhaupt der USA aus. Das nahmen die NOD-Aktivisten zum Anlass für ihre Empörung. Die wahren Gründe aber liegen viel tiefer.

    Die Kritik, die unter anderem von Kisseljow gegen Barack Obama vorgebracht worden war, blieb gegenüber dem neuen Staatsoberhaupt der USA aus. Das nahmen die NOD-Aktivisten zum Anlass für ihre Empörung. Die wahren Gründe aber liegen viel tiefer

    Der Krim-Konsens von 2014 hatte nicht nur dazu geführt, dass 86 Prozent der Bevölkerung den politischen Kurs des Präsidenten unterstützen, sondern es hat sich auch eine recht bunte gesellschaftliche Koalition herausgebildet: von solchen, die dienstlich zum Patriotismus verpflichtet sind, bis hin zu radikalen Fürsprechern eines Konflikts mit dem Westen und Russlands „Erhebung von den Knien“. Die Frage, inwiefern die Mitglieder dieser Koalition solche Überzeugungen aufrichtig vertreten, bleibt nach wie vor offen: Der Fall von Denis Woronenkow und Maria Maksakowa hat gezeigt, dass bereits bei den ersten Anzeichen von Ärger glühende Verfechter eines gesamtnationalen Konsens bereit sind, sich als eingefleischte Dissidenten erkennen zu geben.

    Die Heterogenität dieser Koalition war auch in ihrer besten Zeit zu spüren: Die radikalen Kräfte forderten die sofortige Anerkennung der Volksrepubliken Luhansk und Donezk, eine härtere Linie gegenüber den USA sowie grundlegende Umwälzungen im Land. Gemäßigte und radikale Positionen unterschieden sich beispielsweise beim Verhältnis zum finanzwirtschaftlichen Block der Regierung. Die Radikalen sahen in ihm geradezu eine fünfte Kolonne, die das Land daran hindern würde, „sich von den Knien zu erheben“.

    Ein klarer Sieg dieser „Krim-Koalition“ war das Resultat der Dumawahl 2016. Kein einziger oppositionell eingestellter Abgeordneter schaffte es ins Unterhaus und gleichzeitig ging ein Teil der Mandate an Bewerber, die noch vor wenigen Jahren als absolute Randfiguren in der Politik galten. Diese Glanzleistung ist zum entscheidenden Wendepunkt geworden: Radikale sahen, dass ihre Kräfte gefragt waren und fingen an, nach mehr zu streben. Die Machthaber wiederum wollten sich im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2018 und vor dem Revolutionsjubiläum 2017 von radikalen Gesinnungen distanzieren.

    Dabei war die Regierung bereits vor den Parlamentswahlen dem radikalen Aktionismus etwas überdrüssig geworden. Fragen nach den Übergriffen auf Ausstellungen wurden auch schon bei Wladimir Putins letztjähriger Pressekonferenz gestellt. Der Präsident verurteilte sie, merkte jedoch an, dass es unter den Kulturschaffenden trotzdem Selbstbeschränkungen geben müsse.

    Die Dumawahlen waren der Wendepunkt: Radikale sahen, dass ihre Kräfte gefragt waren und strebten nach mehr

    Bereits zu diesem Zeitpunkt hatte Dimitri Kisseljow den versöhnlichen Ton herausgehört. „In den Westi Nedeli vom vergangenen Sonntag haben wir das Thema [die Proteste gegen die Ausstellung von Jock Sturges und die Schließung der Fotoschau – dek] gleich zu Beginn gebracht, sogar noch vor den Wahlergebnissen (der Dumawahl im September 2016, Anm. d. Red. Vlast). Darin haben wir erklärt, dass wir gegen Vandalismus sind und gegen gesellschaftliche Organisationen, die Ausstellungen schließen oder eröffnen können“, erläuterte er im Radio Westi FM.

    Der Regierung vorzuwerfen, dass sie von den formulierten Werten abweiche, das geht den radikalen Kräften zu weit, zumindest fürs Erste. Sie haben sich unter Putins Fahne versammelt und es ist klar, dass es unmöglich ist, direkte Kritik am Präsidenten zu üben. Deshalb ist die Strategie, ehemaligen Bündnispartnern vorzuwerfen, sie würden den Präsidenten dabei hindern, die richtige Politik umzusetzen, sowohl aus systemischer als auch aus ideologischer Sicht durchaus verständlich.

    Das ist im Grunde klassisch für jede Revolution. Früher oder später machen sich unter den Siegern diejenigen bemerkbar, die nicht gänzlich einverstanden damit sind, dass dies schon der ganze und endgültige Erfolg ist. Die Radikalen – sie hatten viele Namen – bestehen darauf, dass es weiter gehen muss. Die entscheidende Frage ist, ob sie dafür die nötigen Mittel haben.

    Der Leiter des Lewada-Zentrums Lew Gudkow ist sicher, dass der Großteil der Gesellschaft sich nicht weiter radikalisieren wird und die Regierung vorhat, Druck aus dem Kessel zu lassen. „Die Norm ist in diesem Fall nicht Jewgeni Fjodorow, sondern Dimitri Kisseljow. Fjodorow ist ein Provokateur, er lotet die Grenzen des Zulässigen aus. Kisseljow hingegen wird oft als Kreml-Stimme wahrgenommen, obwohl er zu Formulierungen greifen darf, die härter sind als die offiziellen. Dieser Konflikt deutet darauf hin, dass der Kreml und die Präsidialverwaltung den radikalen Kräften vor den Wahlen und dem Revolutionsjubiläum Einhalt gebieten möchten“, meint der Soziologe.

    Dieser Konflikt deutet darauf hin, dass der Kreml den radikalen Kräften vor den Wahlen und dem Revolutionsjubiläum Einhalt gebieten möchte

    Laut des führenden wissenschaftlichen Mitarbeiters des Instituts für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften Leonti Bysow spüren die radikalen Kräfte diese Tendenz und werden nervös: „Ihnen ist klar, dass sie nicht mehr gebraucht werden, dass die Machthaber nicht viel auf sie halten und über sie hinweggehen können.“

    Zudem besteht das Problem auch darin, dass die ideologische und politische Wende von 2014 die Lage nicht nur in der Gesellschaft sondern auch auf der Straße verändert hat.

    „Vor 2014 (vor der Angliederung der Krim und dem Beginn des Konfliktes im Donbass – Anm. d. Red. Vlast) haben ein bis zwei Prozent der Bevölkerung radikale rechte Ansichten geteilt, vergleichbar mit denen von Fjodorow. Bewegungen wie NOD hätten nie genügend Menschen für eine Großkundgebung sammeln können. Die Regierung machte sich diese radikalen rechten Ideen jedoch zu eigen und bekam Zuspruch von einem Großteil der konformistisch eingestellten Wähler, die diese Überzeugungen ansonsten nicht geteilt hätten. Auch Dimitri Kisseljow hat seinen Teil dazu beigetragen“, erklärt Leonti Bysow.

    Wenn es um den Zuspruch für die Ideen der Russischen Welt und um eine „antiwestliche Einstellung“ geht, bemerkt er folgende Besonderheit: Der harte Kern der Befürworter sei gleich geblieben und nach wie vor übersichtlich, aber um ihn herum habe sich eine „riesige Peripherie“ gebildet.

    „Wenn die Gesellschaft einer derart aggressiven und suggestiven Propaganda ausgesetzt ist, fängt ein Teil davon an, sich zu radikalisieren. Früher haben die radikalen Kräfte die Opposition angegriffen, heute greifen sie Gruppen und ihre öffentlichen Vertreter an, die der Regierung gegenüber loyal eingestellt sind“, so Bysow.

    Wenn die Gesellschaft einer derart aggressiven und suggestiven Propaganda ausgesetzt ist, fängt ein Teil davon an, sich zu radikalisieren

    Gudkow ist im Übrigen der Meinung, dass das Fernsehen durchaus in der Lage wäre, die öffentliche Meinung von radikalem Gedankengut zu befreien: „Fjodorow ist kaum bekannt, in den Umfrage-Ranglisten der Politiker taucht sein Name nicht auf. Kisseljow ist ein Prominenter, der beliebteste Fernsehmoderator nach Wladimir Solowjow. Jewgeni Fjodorow wurde als spinnert bezeichnet, als solchen wird man ihn jetzt auch wahrnehmen“, resümiert der Soziologe.

    Allerdings ist eine derartige Abspaltung der radikalen Kräfte von den gemäßigten ein viel zu langwieriger Prozess, um schon jetzt mit absoluter Sicherheit sagen zu können, wer letzten Endes gewinnt und wessen Beitrag zum gemeinsamen Erfolg mehr wert sein wird. Dies wird sich bestenfalls zum Ende des Präsidentschaftswahlkampfs herauskristallisieren.

    Da die Innenpolitik derzeit so abhängig ist von äußeren Faktoren, könnte eine negative Konjunkturentwicklung jedoch bewirken, dass die „Krim-Koalition“ erneut zusammenrückt. Nicht zufällig war ja der Auslöser des Streits ausgerechnet der US-Präsident mit seinen Tweets.

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  • Banja, Jagd und Angeln …

    Banja, Jagd und Angeln …

    In der russischen Provinz finden sich immer noch archaische Erwerbsarten, die es bereits in der Zarenzeit gab: Subsistenzwirtschaft, Abwanderung in Großstädte, Schwarzarbeit. Die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen sind nach wie vor die Banja, das Angeln, Jagen und die Gaststätte, wo Staatsvertreter, Volk und Unternehmer die Möglichkeit haben, sich freundlich auszutauschen. Das ist das Ergebnis einer Studie der Moskauer Higher School of Economics zu Sozialstrukturen in der Provinz.

    Der soziale Status von Bewohnern der Provinzstädte und Dörfer lässt sich nur schwer bestimmen. Weder wurde hier das westliche Klassensystem übernommen, in dem die Einteilung nach Einkommensniveau erfolgt, noch die Ständeordnung mit ihrer Einteilung in Staatsdiener und Angestellte, die ihnen der Staat offeriert. Zu dieser Erkenntnis gelangten Soziologen im Zuge des Projekts Sozialstrukturen der russischen Provinzgesellschaft der Chamowniki-Stiftung.

    Dabei wurde die arbeitsfähige Bevölkerung Russlands in zwei Gruppen eingeteilt – die erste bezieht in irgendeiner Form Einkünfte aus dem Staatshaushalt (insgesamt 71 Prozent), die andere ist als Unternehmer und Freiberufler selbständig (15 Prozent). In diese Kategorie fallen Geschäftsleute, aber auch Wanderarbeiter (Personen, die auf der Suche nach Verdienstmöglichkeiten vorübergehend von Zuhause weggehen). „Wir haben eine Ressourcenwirtschaft und keine Marktwirtschaft, daher gibt es auch keine Klassenunterteilung [im europäischen Sinne]“, erklärt Simon Kordonski, Vorsitzender des Sachverständigenrats der Chamowniki-Stiftung und Professor an der Moskauer Higher School of Economics. „Stände“ ließen sich vier ausmachen: Staatsvertreter (5 Prozent), Volk (66 Prozent), Unternehmerschaft (15 Prozent) und Randgruppen (13 Prozent). Der Staat, so die Meinung der Experten, orientiere sich sich an jener Gruppe, deren Einkommen aus öffentlicher Quelle stamme, während sich „aktive Staatsbürger außerhalb seines Blickfelds“ befänden. Laut Kordonski neutralisiert jeder Stand eine bestimmte Bedrohung, wobei  immer jene Sparte die meiste Unterstützung erfährt, die die akuteste Bedrohung bekämpft. „Im Moment ist das zum Beispiel die Gefahr eines Krieges, also bekommt die Armee am meisten“, schlussfolgert der Soziologe. 

    Der legale privatwirtschaftliche Sektor bietet in der Provinz nicht allen Arbeitswilligen Platz, daher werden sie zu Wanderarbeitern und suchen Arbeit in Großstädten. Aufgeführt wurden außerdem Sonderformen der Beschäftigung: Stufen-Manufakturbetriebe, in denen mehreren Familien je eine Produktionsstufe zugeteilt ist, und die Garagenwirtschaft, bei der man den Garagennachbarn seine Dienste erweist. Beides sind Schattensektoren (laut dem Statistikamt Rosstat macht die Schattenwirtschaft möglicherweise 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus). Die Experten weisen darauf hin, dass die Garagenwirtschaft und Manufakturbetriebe nichts Neues sind: „Das sind historisch bekannte und in der Zarenzeit weit verbreitete Lebenserhaltungsmethoden der Provinzbevölkerung gewesen. Einerseits ist das archaisch, andererseits – was heißt archaisch, wenn wir heutzutage so leben“, überlegt Simon Kordonski.

    Archaisch ist in der Provinz auch das Empfinden für den Status eines Menschen: Es hängt vor allem von seinem Einfluss ab (seinem gesellschaftlichen Status, der bei weitem nicht immer dem offiziellen entspricht), von seiner Zugehörigkeit zu einem bestimmten Klan. Die Zugehörigkeit zum Staatsapparat oder das reale Einkommen stehen als Status-Messer erst an dritter und vierter Stelle. Kordonski führte schließlich auch noch jene Institutionen der Zivilgesellschaft an, die es Staat, Volk und Unternehmern ermöglichen, sich zu treffen und ihre Standpunkte zu verhandeln: „Das sind die Banja, das Jagen, das Angeln und die Gaststätte.“

    „Die Menschen warten auf die Zukunft als Wiederholung einer guten Vergangenheit“, erklärte Simon Kordonski. Und Forschungsleiter Juri Pljusnin, Professor an der Hochschule für Wirtschaftswissenschaften, präzisierte: „Die gute Vergangenheit stellt sich allerdings jeder anders vor.“

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