дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Großmächte brauchen einen Großfeind“

    „Großmächte brauchen einen Großfeind“

    Joe Biden ist designierter US-Präsident – was ändert sich für Russland? Als US-Präsident Trump vor vier Jahren ins Amt kam, fürchteten viele, er könne eine Marionette Russlands werden. US-Sicherheitsdienste berichteten über russische Einmischung im Wahlkampf. Joe Biden dagegen gilt als sehr kritisch gegenüber dem Kreml, bezeichnete Trump im Wahlkampf als „Putin's puppy“, „Putins Schoßhündchen“.
    Putin versicherte kürzlich, Russland werde mit jedem US-Präsidenten zusammenarbeiten, kritisierte aber Bidens „antirussische Rhetorik“.

    Was ist aus der erwarteten Annäherung zwischen den USA und Russland unter Trump tatsächlich geworden? Und was bedeutet ein US-Präsident Joe Biden für Russland? Diese Fragen stellt Meduza drei russischen Experten für die russisch-amerikanischen Beziehungen: Andrej Kortunow, Ivan Kurilla und Dimitri Trenin.
    dekoder stellt eine weitere Analyse der Politologin Nina Chruschtschowa dazu, die Projekt veröffentlichte.

    „In Russland selbst hat sich nichts zum Guten geändert“

    Ivan Kurilla, Historiker, Professor an der Europäischen Universität Sankt Petersburg

    Die Regierungszeit Trumps wurde zu einer Enttäuschung, da die russische Seite etwas anderes erwartet hatte. Man hatte auf warmherzige Beziehungen zwischen den USA und Russland gesetzt – oder zumindest auf eine Verbesserung im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren unter Präsident Obama.

    Doch besser wurde es nicht, aus zwei Gründen: In Russland selbst hat sich in dieser Zeit nichts zum Guten geändert, es blieb alles beim Alten. In den USA war das „russische Thema“ während der Präsidenschaft Trumps äußerst heiß. Die ersten zwei Jahre beschuldigte man ihn, ein russischer Agent zu sein. In den Beziehungen zu Russland etwas in Bewegung zu bringen, wurde für ihn unmöglich. Bestraft wurde so im Endeffekt nicht Russland, sondern Trump.

    Die Sanktionen gegen Russland liefen über den Kongress. Das ist viel schlimmer, als wenn sie über die Regierung laufen – die kann Sanktionen schnell erlassen, aber auch aufheben. Damit der Kongress auch nur zur Prüfung der Aufhebung von Sanktionen schreitet, braucht es großen Druck, was äußerst unwahrscheinlich ist.    

    Auch der Druck der USA auf Europa bedeutete großen Druck auf Russland. Der Baustopp von Nord Stream 2, weil die USA Sanktionen gegen die Firmen androhten, die daran beteiligt sind, war ein noch größerer Hieb als die direkten Sanktionen. Dieser indirekte Einfluss über Europa versetzte der russischen Wirtschaft einen herben Schlag. 

    Der Druck der USA auf Europa bedeutete auch großen Druck auf Russland

    Die künftigen Beziehungen zwischen den USA und Russland werden von den Beratern abhängen, die der neue Präsident auswählt. Biden wird im Unterschied zu Trump bei wichtigen Fragen auf kollektive Entscheidungen setzen. Mit Sicherheit wird es eine aktivere Außenpolitik geben als bei Trump. Trump hatte im Gegensatz dazu Amerika aus verschiedenen Regionen der Welt abgezogen und war aus internationalen Abkommen ausgetreten. Die Demokraten werden wiederkommen. 
    Der Präsidentenwechsel bedeutet ein kleines Fenster neuer Möglichkeiten. Vielleicht wird Russland innerhalb der USA nicht mehr als Schreckgespenst benutzt. Die Sackgassen, in die unsere Beziehungen geraten sind, könnten durchbrochen werden. Aber große Hoffnungen habe ich da nicht, weil sich auf russischer Seite nichts geändert hat, und das würde jeder US-Präsident zur Voraussetzung machen.


    „Es wird auch neue Möglichkeiten geben“

    Andrej Kortunow, Leiter des Russischen Rats für internationale Angelegenheiten

    Russlands Hoffnungen in Bezug auf die USA, die vor vier Jahren aufkamen, wurden nicht erfüllt. Unsere Beziehungen mit den USA haben sich in dieser Zeit vielmehr verschlechtert, quantitativ wie qualitativ. Unter Trump wurden die russisch-amerikanischen Summits quasi abgeschafft. Wenn früher ein neuer US-Präsident gewählt wurde, gelang es schnell, ein Treffen auf höchster Ebene zu organisieren. Das war nötig, damit die Räder der schwerfälligen Staatsmaschinen in Gang kamen. In Trumps Fall gab es gerade mal ein Treffen in Helsinki 2018, das die Beziehungen nur verschlechtert hat. Gleich darauf folgten Sanktionen und Kritik an Trump dafür, dass er sich angeblich Putin ergeben habe.

    Der Hauptpfeiler in den Beziehungen zwischen den USA und Russland war immer die Rüstungskontrolle. Auch wenn sich beide Seiten über alles Mögliche stritten, auch wenn sich die Beziehungen verschlechterten, die USA und Russland waren stets der Meinung, dass die Kontrolle strategischer Waffen das ist, was ihre Beziehung so einzigartig macht auf der ganzen Welt und dass man das bewahren müsse. Unter Trump wurde all das zerstört. Die US-Administration ist aus dem INF-Vertrag ausgestiegen und hat praktisch jegliche Versuche abgelehnt, den New-Start-Vertrag zu verlängern. Das heißt: Der Grundpfeiler unserer Beziehungen ist zerstört.

    Die Rhetorik gegenüber Russland wird sich erheblich verändern

    Biden wird nun Präsident, und dies wird die Rhetorik gegenüber Russland erheblich verändern. Sie wird hart und kritisch sein, im Gegensatz zu Trump wird Biden Putin keine Komplimente machen. In einigen Bereichen wird Biden ein schwierigerer Partner sein als Trump. Er wird einen Akzent auf Menschenrechte in Russland setzen, vielleicht wird die Magnitski-Liste erweitert oder Neues beschlossen, wie zum Beispiel eine Nawalny-Liste. Intensiviert wird die Unterstützung für die Ukraine, Georgien – Staaten, die mit Russland in Konflikt stehen. Biden wird sich bereit zeigen, die Opposition in Belarus zu unterstützen und die Mittel für oppositionelle Menschenrechtsbewegungen im postsowjetischen Raum aufzustocken. Bidens Politik wird darauf abzielen, das transatlantische Bündnis wiederherzustellen und den Spielraum für russische Manöver einzuschränken. Er wird versuchen, die ruinierten Beziehungen zu den europäischen Partnern wiederherzustellen. 

    Es wird aber auch neue Möglichkeiten geben: Biden wird mehr Interesse an Rüstungskontrolle zeigen, da er die Entscheidung von Trump, sich aus dem INF-Vertrag zurückzuziehen, nicht unterstützt hat. Die wichtige Frage ist: Inwieweit ist Biden bereit, die Sanktionen gegen Russland auf ein qualitativ anderes Niveau zu heben? 


    „Unter Biden wird die Konfrontation nicht aufhören“

    Dimitri Trenin, Politikwissenschaftler, Leiter des Moskauer Carnegie-Zentrums

    Unter Trump haben die Beziehungen zwischen den USA und Russland einen neuen Negativ-Rekord erreicht. Seit der ersten Hälfte der 1980er Jahre war das Niveau nie so schlecht wie heute. Doch die Grenze oder der Tiefpunkt sind noch nicht erreicht, wir bewegen uns weiter in diese Richtung. Präsident Putin bezeichnet den Handel als ein Plus, doch der findet in beiden Richtungen nur noch minimal statt. Außerdem haben die US-amerikanischen Sanktionen den Handel russischer Firmen mit ihren wichtigsten Partnern behindert.

    Dafür sind wir in keine direkte Auseinandersetzung mit amerikanischen Streitkräften geraten, obwohl das nicht unwahrscheinlich war. 
    Sehr unerfreulich war für Russland, dass es während der vergangenen vier Jahre zum Objekt der amerikanischen Innenpolitik wurde. Wer Verbindungen zu Russland unterhielt, wurde zum Prügelknaben – vor allem die Republikaner mussten dafür einstecken. Aber auch sie verhielten sich hart gegenüber Russland, um mit den Kollegen mitzuhalten.

    Unter Biden wird die Konfrontation nicht aufhören und noch heftiger werden.

    Das Unangenehmste für Russland, was unter Biden geschehen könnte: Durch ihren Ausstieg aus dem INF-Vertrag könnten die USA in Europa riesige Raketen aufstellen, die auf die Zerstörung strategischer Zentren und Objekte in Russland zielen. Wichtige Stützpunkte und das russische Atomwaffenarsenal selbst wären dann drei bis fünf Flugminuten von Polen entfernt. Auf US-amerikanische Raketen zu reagieren wäre praktisch unmöglich. Das kann gefährlich sein und könnte dazu führen, dass Russland zur Ausarbeitung eines Präventivschlags übergeht. Im Ernstfall wird Russland nicht warten, bis eine Rakete fliegt, sondern wird als erstes zuschlagen, was die Situation auf der ganzen Welt angespannt macht. Das ist die größte militärische Gefahr. 

    Das Gute ist, dass die Rhetorik von der russischen Einmischung verstummen könnte. Sie wird nicht ganz verschwinden, aber sie wird nicht mehr so im Vordergrund stehen. 


    „Beide Länder verstehen sich als Imperien – für dieses Problem gibt es keine einfache Lösung“

    Nina Chruschtschowa, Politikwissenschaftlerin, New School, New York, Original

    Die Probleme in den russisch-amerikanischen Beziehungen sind deutlich gravierender als die Beziehungskrise zwischen den Länderchefs, unabhängig von ihrer persönlichen Politik. Beide Länder verstehen sich als Imperien, die im Zentrum des Weltgeschehens stehen – für dieses Problem gibt es keine einfache Lösung.

    Amerika – die strahlende „City upon a Hill“, die „große Demokratie“ und so weiter (Trumps Verkünden der amerikanischen Überlegenheit war keineswegs etwas Neues) – braucht es, dass alle die USA als überlegen anerkennen und so werden wollen wie sie. Russland besteht seit Jahrhunderten darauf, dass es eine Weltmacht und keine Regionalmacht ist (Obama hat Putin mit dieser Bezeichnung nach der Krim-Annexion schwer verletzt), und wird hinter niemandem herlaufen. Kopieren ja, wenn es um politische Formeln, Kino, Food Courts und so weiter geht. Aber die amerikanische Überlegenheit anerkennen – auf keinen Fall.

    Alle „Großmächte“ brauchen einen „Großfeind“. Für Russland ist das Amerika – und umgekehrt genau so.

    Ich habe viele Jahre als wissenschaftliche Assistentin für George Kennan gearbeitet, den berühmten amerikanischen Diplomaten, der US-Botschafter in der UdSSR und Philosoph des Kalten Kriegs war. Der hat gesagt, dass Russland und die USA Spiegelbilder seien. Beide Länder leiden unter einem Größen- und Heilsbringer-Komplex.

    In seiner Siegesansprache hat Biden gesagt, dass er die „Seele Amerikas heilen“ will. Diese Seele war unter jeder Administration die eines Messias. Der mit fast 78 Jahren gewählte Präsident Biden wird wohl kaum seine außenpolitischen Ansichten ändern, die sich in Zeiten der Konfrontation zwischen der UdSSR und den USA geformt haben. Und Putin ist selbst genug Messias, mit ebensolchen internationalen Ambitionen.

    Weitere Themen

    Trump ein Agent Putins?

    Russland – plötzlich im Spiegel der USA

    Infografik: Russlands Verhältnis zu den USA

    Petersburger Trolle im US-Wahlkampf

    Die Honigdachs-Doktrin

    Infografik: Wer ist Freund, wer Feind?

  • Panel #1: Gelten in Russland andere Werte als im Westen?

    Panel #1: Gelten in Russland andere Werte als im Westen?

    Haben Russland und Westeuropa wirklich unterschiedliche Werte? Haben Begriffe wie „Toleranz“ oder „Demokratie“ hier wie dort eine andere Bedeutung? Gibt es „spezifisch russische Werte“? Und lohnt es sich überhaupt, über Werte zu streiten?

    dekoder hat drei Experten dazu befragt – acht Fragen und je drei unterschiedliche Meinungen:

    Andrej Kortunow, Politikwissenschaftler, Generaldirektor des Russischen Rates für Internationale Angelegenheiten, Präsident der Stiftung Nowaja Jewrasija (dt. „Neues Eurasien“)

     

     

     

    Evgeniya Sayko, Kulturwissenschaftlerin, Kollegiatin am Hertie-Innovationskolleg, Berlin, arbeitet an dem Projekt „Wertediskurs mit Russland: klären, formulieren, vermitteln“. (Foto © Wolfgang Frank/Hertie-Stiftung)

     

     

     

    Gasan Gusejnov, Kulturhistoriker und Philologe, Professor an der Higher School of Economics, Moskau.

     

     

     


    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    1. 1. Alle sprechen über unterschiedliche Werte in Russland und im Westen: Gibt es überhaupt so einen großen Unterschied?

      Andrej Kortunow: Werte – das ist ein sehr breiter Begriff. Wenn über das Auseinanderklaffen der Werte in Russland und dem Westen gesprochen wird, ist damit meistens der russische Sozialkonservatismus gemeint. Zum Beispiel zieht sich durch, dass der Familie und der Religion in Russland eine größere Bedeutung zukommt als im Westen. Bei der Zahl der Scheidungen allerdings unterscheidet sich Russland nicht signifikant von anderen europäischen Ländern.
      Die Religiosität ist in Russland stärker ausgeprägt als in Großbritannien oder Spanien, aber schwächer als in Polen oder sogar in Deutschland. Zwischen Russland und dem Westen klafft etwas anderes auseinander, und zwar die Narrative und, allgemeiner, die Mentalität der politischen Eliten – sofern der Begriff einer politischen Elite auf Russland überhaupt anwendbar ist.


      Evegniya Sayko: Die größten Unterschiede gibt es vor allem auf der rhetorischen Ebene. Während sich die europäische Gemeinschaft über einen gemeinsamen „Wertekanon“ definiert, werden in Russland Stimmen lauter, dass das Land eigene Werte besitze. Eine Auseinandersetzung mit den genauen Unterschieden und ihre Benennung findet aber dabei kaum statt. 
      Betrachtet man aber unterschiedliche Werte-Studien, so sieht man, dass die Russen „westlicher“ eingestellt sind, als es dem Selbstbild nach beabsichtigt ist und als es dem Fremdbild nach scheint. 
      Wertestudien wie die von World Values Survey zeigen, dass zumindest die gesellschaftlich-politischen Werte der Russen gar nicht so weit entfernt sind von denen der anderen Europäer: Sie lehnen Korruption ab und meinen, dass Demokratie die beste Regierungsform ist. Wertedifferenzen gibt es dennoch in Bezug auf Sexualität und Moral: So lehnen viele Russen Homosexualität ab, und es gibt eine unterschiedliche Wahrnehmung der Geschlechterrollen.

      Gasan Gusejnov: Der grundlegende Unterschied liegt im Wertesystem, nicht in den Unterschieden einzelner, jeweils für sich genommener Werte. Im Wertesystem Russlands wird der Staat als Subjekt begriffen, das Priorität hat vor jedem einzelnen Bürger und vor der Zivilgesellschaft als ganzer. Das ist der kardinale Unterschied zwischen europäischen und russischen Werten. Ein Beispiel: In Russland wundert man sich ob des Aufhebens, das in Großbritannien um den Anschlag auf das Leben des Agenten Skripal und seine Tochter gemacht wird. „Was soll’s, da wird ein Verräter aus dem Weg geräumt! Worüber soll man sich da wundern?“

    2. 2. Ist die Wertehierarchie in Russland und im Westen eine andere?

      Andrej Kortunow: Eine Besonderheit war in Russland schon immer die deutliche Ausrichtung auf den sozialen Paternalismus. In Russland gibt es größere Erwartungen an den Staat oder an den Arbeitgeber als in vielen anderen westlichen Ländern. Aber gleichzeitig ist man bereit, vom Staat oder dem Arbeitgeber mehr hinzunehmen als das im Westen durchschnittlich der Fall ist. 
      Der soziale Paternalismus ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal der russischen Gesellschaft: Er existiert in unterschiedlichen Formen unter anderem auch in den Ländern Süd- und Mitteleuropas sowie in Ostasien
      Die russischen Werte stehen in diesem Sinne den allgemein-westlichen Werten gar nicht so sehr entgegen, als vielmehr der angelsächsischen Variante; Russland ist dem katholischen Westen näher als dem protestantischen. Aber die Distanz zwischen dem orthodoxen Russland und dem protestantischen Westen ist immer noch weitaus kleiner, als jene zwischen Russland und beispielsweise dem buddhistischen Osten.

      Evgeniya Sayko: Es wird oft angenommen, dass die Russen eine andere Wertehierarchie hätten als zum Beispiel die Deutschen; dass sie etwa „traditioneller“ seien. Damit ist gemeint, dass für die Russen Kollektivismus, Patriotismus oder Religiosität eine deutlich größere Bedeutung haben. 
      Bei genauer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es sich dabei oft um Mythen handelt. Zum Beispiel wird die besondere Religiosität der Russen immer wieder hinterfragt, auch von den Gläubigen selbst. Denn nur ein paar Prozent der Bevölkerung führen ein wirklich religiöses Leben, halten also zum Beispiel die Fastenzeiten der Russisch-Orthodoxen Kirche ein oder nehmen regelmäßig an der Eucharistie teil.

      Gasan Gusejnov: Ja, die Wertehierarchie unterscheidet sich durchaus. Der Staat ist in Russland keine Maschine, die das würdige Leben der Bürger gewährleisten möge, sondern ein spezielles Mega-Subjekt, das sich über die Gesellschaft erhebt. Mit dieser Vorgabe kann jeder Bürger oder jede Gruppe, die Persönlichkeitsrechte verteidigt, beinahe automatisch zum Staatsfeind erklärt werden. Genau deswegen empfinden viele beispielsweise die Rache des Staates an einer Privatperson als etwas ganz Normales.


    3. 3. Bedeuten Wörter wie Menschenrechte, Freiheit, Toleranz, Diversität oder Gerechtigkeit im Russischen etwas anderes? Gibt es eine Kluft zwischen der russischen und der deutschen Bedeutung dieser Wörter?

      Andrej Kortunow: Natürlich gibt es einen Unterschied, der verbunden ist mit historischen, kulturellen, ja, sogar linguistischen Besonderheiten Russlands und anderer Länder. Beispielsweise der Begriff „Gerechtigkeit“ – er ist ein ganz zentraler für den russischen kulturellen Code und äußerst wichtig für das Verständnis der gesamten Geschichte des Landes. 
      Traditionell hat die russische Gesellschaft von den Machthabern eben jene „Gerechtigkeit“ gefordert und nicht „Freiheit“. Der Begriff „Toleranz“ wurde erst vor recht kurzer Zeit aus dem Westen übernommen, und ist schon sehr schnell mit einer negativen Konnotation belegt gewesen: Toleranz als Synonym für Indifferenz und Gleichgültigkeit.

      Evgeniya Sayko: Die Konfrontation mit dem sogenannten Westen und seinen Werten spiegelt sich auch in der Sprache wieder. Die inhaltliche Diskussion über „europäische Werte“ und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Bedeutung der damit verbundenen Begriffe findet im öffentlichen Diskurs Russlands kaum statt. Stattdessen ist eine sehr emotionale Positionierung Russlands als Gegensatz zum Westen zu beobachten, teilweise mit abwehrender bis beleidigender Lexik. Da entstehen Wortspiele und neue Wörter wie „Gayropa“.  
      Da es keine ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung mit diesen Werte-Begriffen gibt, werden solche Wörter zum großen Teil zu leeren Worthülsen. Einige Begriffe, wie Toleranz oder Menschenrechte, bekommen in Russland auch eine ironische oder sogar ablehnende Konnotation. Mit einer solch negativen Konnotation wurden etwa die Begriffe „Toleranz“ und „Diversität“ in der Flüchtlingsdebatte belegt.

      Gasan Gusejnov: Ich würde nicht von der russischen Sprache als solcher sprechen wollen, sondern nur über die Sprache moderner Politiker und über die öffentliche Alltagssprache. Wenn man in Russland über europäische Werte spricht, dann spricht man über eine Reihe heuchlerischer Einstellungen, an die sich in Wirklichkeit niemand halte: „Menschenrechte? Aber die gelten doch gar nicht für alle.“ „Demokratie? Die gibt es doch nicht mal im Westen überall.“ „Rechtsstaat? Aber selbst der hält doch dem Druck des großen Geldes nicht stand!“
      In der modernen russischen Sprache werden alle genannten Wörter entweder in Anführungsstrichen verwendet oder ironisch, in Kombination mit Wörtern wie „sogenannte“ oder „hochgelobte“, oder im Wortsinn, dann aber als Druckmittel auf Russland, als Instrument, um Russland seiner vorgeblichen Eigenart zu berauben.

    4. 4. Gibt es Werte, die man als „spezifisch russisch“ bezeichnen kann? 

      Andrej Kortunow: Man muss sehr vorsichtig sein, wenn es um Begründungen von Einzigartigkeit der russischen Gesellschaft geht. Wir haben es mit einer komplexen Gesellschaft mit unterschiedlichen Schichten zu tun, in der man ganz unterschiedliche Wertvorstellungen findet. 
      Doch wenn ich mir eine ganz freimütige Äußerung erlauben darf, würde ich sagen, dass  individueller Erfolg in Russland weniger als Wert wahrgenommen wird als im Westen. Und größerer Wert wird der persönlichen Opferbereitschaft beigemessen. Wobei hier natürlich die historischen und religiösen Besonderheiten berücksichtigt werden müssen.

      Evgeniya Sayko: Es gibt zumindest Versuche, einige Werte als „spezifisch russisch“ zu bezeichnen. Im Gegensatz zu westlichen oder europäischen Werten wird oft das Konzept von traditionellen Werten oder vom „Sonderweg“ Russlands dargestellt. Die Hauptbotschaft lautet: Wir sind nicht so wie ihr. 
      Der Soziologe Lew Gudkow erklärt, dass dieser Mechanismus als Kompensation der negativen Identität dient. Das neutralisiert die tiefe Frustration und das Gefühl einer unbefriedigenden Situation im Land. Außerdem basiert die Konsolidierung der eigenen Gesellschaft auf der Konfrontation mit „dem Westen“.

      Gasan Gusejnov: Hier findet sich ein grausames Paradox. Nach mehreren Jahrzehnten aufgezwungenen Kollektivismus (im sowjetischen Sozialismus) halten sich in Russland viele von Natur aus für Kollektivwesen, obwohl die russische Gesellschaft in Wirklichkeit atomisiert ist. Die Bevölkerung Russlands hält sich für friedliebend, als wichtigste Einimpfung der Friedensliebe gilt der Große Vaterländische Krieg. Und neuere oder noch laufende eigene blutreiche Kriege (von Afghanistan bis Tschetschenien und Syrien) gelten nicht als aggressiv und martialisch.
      In Russland wird „Gerechtigkeit“ höher gewertet als formales „Recht“, gleichzeitig toleriert es massenweise Korruption auf allen Ebenen des gesellschaftlich-staatlichen Lebens. Die Menschen halten sich für „lieb und gut“ und „barmherzig mit den Sündern“ (A. S. Puschkin), sind in Wirklichkeit aber unduldsam und der Nächstenliebe abgeneigt.

    5. 5. In Russland wird Demokratie oft als Dermokratie (vom Wort dermo – Scheiße) bezeichnet. Heißt das, dass Demokratie in Russland kein Wert ist?

      Andrej Kortunow: Demokratie wird in Russland oft stark vereinfacht betrachtet: als freie Wahlen oder eine im politischen Exkurs anwesende Opposition. Im Grunde läuft also alles auf eine direkte, plebiszitäre Demokratie hinaus. 
      Weit weniger Aufmerksamkeit liegt auf den demokratischen Institutionen und Mechanismen, die nicht nur die Rechte der Mehrheit, sondern auch die der Minderheit garantieren. Ein derart reduziertes Verständnis lässt den Wert der Demokratie in den Augen der Gesellschaft sinken. 
      Nichtsdestotrotz wäre es übertrieben zu sagen, die Demokratie würde überhaupt keinen Wert darstellen – ihre Bedeutung zeigt zumindest die traditionell hohe Wahlbeteiligung.

      Evgeniya Sayko: Der Begriff „Demokratie“ wurde tatsächlich durch die sozialen Transformationen der 1990er Jahre in der Wahrnehmung der Bevölkerung ziemlich diskreditiert. Zumindest die „russische Version“ dieses politischen Modells. Denn für viele sind die Vorteile des demokratischen Systems und ihre Effizienz nicht deutlich geworden. Viele Russen assoziieren damit Armut und Kriminalität der 1990er Jahre und nehmen das Wort „Demokratie” als Fiktion, Mythos oder Parodie wahr.
      Allerdings erklärt sich Russland offiziell auch in seiner Verfassung als demokratisches Land. Übrigens hat das auch die Sowjetunion schon in den 1970er Jahren gemacht und sich als „echte Demokratie“ im Gegensatz zur „vermeintlich“ westlichen (hauptsächlich US-amerikanischen) Demokratie dargestellt. 
      Das alles zeigt, dass die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes „Demokratie“ immer noch nicht ausreichend geklärt ist, der Begriff aber durchaus einen Wert darstellt und eine Anziehungskraft hat.

      Gasan Gusejnov: Es gibt einige abwertende Deformationen des Wortes Demokratie (dermokratija, dt. in etwa „Scheißokratie“, demokradija, dt. in etwa „Demo-Kleptokratie“). 
      Unter Demokratie wird in der Regel die Mehrheitsherrschaft verstanden, oder auch das ultimative Recht der Mehrheit, die Minderheit zu unterdrücken. Diese Sichtweise ist in vielfacher Hinsicht geleitet von der Vorstellung, dass Stabilität und die Unerwünschtheit jedweden Risikos einen Wert darstellt. Genau daher rührt die Vorstellung, dass Stabilität möglich ist, indem eine politische Kraft (die Mehrheit) endgültig über andere (die Minderheit) siegt.

    6. 6. Wie bewertet man in Russland das, was in Europa als „europäische Werte“ bezeichnet wird?

      Andrej Kortunow: Wir müssen festlegen, welche europäischen Werte hier gemeint sind. Präsident Putin beispielsweise betont sehr oft, dass gerade Russland die rechtmäßige Erbin wahrer europäischer Werte ist, die Europa heute immer öfter ablehnt. Das sind zum Beispiel christliche Werte, Werte der traditionellen Familie, des Patriotismus und so weiter. 
      Aber wenn wir von Europa sprechen, beziehen sich russische Politiker praktisch nie auf Werte, die in der Epoche der europäischen Aufklärung vorangebracht wurden. Die Haltung gegenüber europäischen Werten ist, was die Politik betrifft, höchst selektiv.
      Was die Bevölkerung als Ganzes betrifft, so sehe ich – abgesehen von einigen Ausnahmen (zum Beispiel sind in Russland Homophobie und Gender-Chauvinismus weiter verbreitet als in vielen europäischen Ländern) – keine prinzipiellen Unterschiede zwischen Russland und Europa.

      Evgeniya Sayko: Es gibt zwei gegensätzliche Interpretationsschemata: Einerseits versteht man unter europäischen Werten demokratische Grundprinzipien wie Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sowie ihre Umsetzung nach europäischen Muster als Vorbild auch für Russland. Laut dem Lewada-Zentrum, halten 35 Prozent der Befragten diese politischen europäischen Werte für bedeutsam für Russland. Auch der russische Präsident Wladimir Putin nannte sie im Jahr 2005 „maßgebliche Wertorientierungen“ für die russische Gesellschaft. 
      Andererseits änderte sich in den letzten Jahren aber der Blickwinkel: Jetzt ist im öffentlichen Diskurs Russlands immer mehr die Rede vom Verfall Europas und seiner Werte, gerade im Zusammenhang mit Toleranz und Homosexualität. Es ist von einer Krise der Moral sowie von der Abkehr von christlichen abendländischen Werten die Rede. In diesem Zusammenhang wird Russland auch als Bewahrer der ursprünglichen europäischen Werte dargestellt.

      Gasan Gusejnov: Die Hauptaspekte der „europäischen Werte“ (Demokratie, Menschenrechte, friedliche politische Beilegung von Konflikten, Vermeidung von Gewalt, Gender-Gleichberechtigung und so weiter) halten in Russland sehr viele für Schwäche, Heuchelei, Korruption, Hörigkeit gegenüber den USA („Yankee-Huren“), Dominanz der LGBT-Community in der Politik („Gayropa“), Verleugnung eigener Werte (der „nationalen Identität”) um eines „kosmopolitischen Liberalismus“ willen. Unter „Menschenrechten“ versteht man in Russland oft die Verteidigung der Rechte von Minderheiten und die Vernachlässigung der Rechte der Bevölkerungsmehrheit.

    7. 7. Kann man russischen Politikern vertrauen, wenn sie ihre Handlungen mit dem Hinweis auf Werte bekräftigen?

      Andrej Kortunow: Politikern zu vertrauen, ob nun in Russland oder in Europa, ist sowieso ein Risiko, unabhängig davon, worüber sie sprechen und worauf sie sich beziehen. Aber ich glaube nicht, dass alle Bezugnahmen auf Werte per se heuchlerisch sind. Ohne Werte kann man nicht leben, das Bedürfnis nach Werten gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen, genau wie die Politik. 
      Aber die Grenze zwischen aufrichtigen Überzeugungen und politischem Zynismus, wenn nämlich Werte als ein politisches Instrument benutzt werden, ist sehr schmal und nicht immer auszumachen.

      Evgeniya Sayko: Im russischen politischen Diskurs wird auf zweierlei Art von Werten gesprochen: Zum einen geht es um „unsere Werte“. Diese Überzeugung, dass es „besondere russische Werte“ gibt, hält der Politphilosoph Grigori Judin für einen der gefährlichsten Mythen der heutigen Staatspropaganda. 
      Zum anderen werfen russische Politiker ihren „westlichen Partnern“ immer wieder vor, dass die sich in Wertedebatten moralisierend und überlegen zeigten, den Russen würden bestimmte Werte „aufgedrängt“, während dem Westen gegenüber oft andere Maßstäbe gelten („doppelte Standards“). Tatsächlich ist „eine globale Mission des westlichen Werte-Denkens“ in vielerlei Hinsicht gescheitert. 
      In diesem Zusammenhang ist die Frage nach dem Vertrauen weniger relevant als die, welche Ziele und Botschaften hinter einer solchen Rhetorik stecken.

      Gasan Gusejnov: Ich glaube, dass man in der derzeitigen Situation offiziellen russischen Politikern nicht vertrauen kann, weil ihnen der Weg in die Politik nur wegen ihrer Loyalität zu Putin freigemacht wurde. Das kann man an denen sehen, die „Gayropa“ zum Trotz „russische Werte“ verfechten, während ihre Kinder im Westen leben und keineswegs anstreben nach Russland zurückzukehren. Aber es gibt auch andere Beispiele.

    8. 8. Warum ist es so schwierig, Wertedebatten zu führen? Muss man das überhaupt tun?

      Andrej Kortunow: Werte sind keine Atomsprengköpfe und keine Kubikmeter Gas. Man kann sie schwer messen, und über Werte lässt sich schwer streiten. Im Streit um Werte kann ein und dasselbe Wort für verschiedene Teilnehmer völlig unterschiedliches, ja sogar genau das Gegenteil bedeuten. 
      Manchmal heißt es, kommt, lasst uns nicht über Werte streiten, konzentrieren wir uns lieber auf Interessen. Aber der Witz ist, dass unsere Interessen im Großteil der Fälle durch unsere Werte bestimmt werden, und keineswegs andersrum. Deswegen müssten wir über Werte sprechen, obwohl es nicht das einfachste Gespräch ist.

      Evgeniya Sayko: Wertedebatten bergen das Risiko in ein bekanntes Schema abzugleiten: Entweder „wir haben gemeinsame, also richtige, Werte“ (dann gibt es auch kein Problem) oder „wir haben unterschiedliche Werte“, womit oft gemeint ist, dass einer die „richtigen“ und der andere eben die „falschen“ Werte hat. Aus diesem Konflikt entstehen dann Vorwürfe wie „Ihr haltet euch nicht an unsere Werte“, beziehungsweise „Ihr drängt uns Werte auf, die uns nicht entsprechen“. 
      Trotzdem kann man diese Debatte führen, aber unter zwei Bedingungen: 
      Erstens muss man zuerst die Begriffe klären, beginnend mit dem eigenen Verständnis von europäischen, westlichen, universellen und traditionellen Werten. 
      Zweitens, muss man die so ermittelten Unterschiede genau betrachten und sie gemeinsam aufschlüsseln. Dieser Diskurs fordert von beiden Seiten eine ehrliche Auseinandersetzung – auch mit der eigenen Sichtweise. Und das darf auch anstrengend sein.

      Gasan Gusejnov: Man muss über Werte sprechen. Aber man muss sich darauf vorbereiten. Schließlich haben sich die „europäischen Werte“ in der heutigen Form erst nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet. Diese Werte als eine Art ewiges geistiges Eigentum Europas anzusehen, ist gefährlich. Wichtig ist, wie sich diese Werte herausgebildet haben und wie sie neu interpretiert wurden. Außerdem muss man Werte im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Normen diskutieren, die es den Menschen erlauben, nach ihren Werten zu leben.
      In Russland wird es so lange Widerstand gegen die Werte-Diskussion geben, bis die Gesellschaft als ganze anfängt, „Lenin aus dem Mausoleum zu tragen“ und sich von der sowjetischen Vergangenheit verabschiedet, von der kriminellen Erfahrung und den letzten Jahrzehnten.

    erschienen am 20.04.2018

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Weitere Themen

    Ab in die Wanne: Lenins Schönheitskur

    „Agentengesetz“

    „Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen“

    Wörterbuch der wilden 1990er

    Podcast #3: (Kein) Vertrauen in die Demokratie

    Besondere russische Werte?!