дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Unmoral als System

    Unmoral als System

    Der Mensch sei von Natur aus schlecht, alle Ideale per se utopisch und Wahrheiten manipuliert – viele halten solche Aussagen auch heute noch für Grundprinzipien des Menschseins. Aus dieser Sicht erscheint jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft sinnlos, argumentiert Andrej Archangelski. Die Zukunft als solche wird zum Feind, die Ablehnung progressiver Werte, der Amoralismus werden zum eigenen Wertesystem. Dies macht für Archangelski die Ideologie des Putinismus aus und die zynischen Grundlagen eines Totalitarismus 2.0. Auf Carnegie politika fragt er, wie eine Rückkehr zur Moral möglich sein kann.

    Anfang der 2000er Jahre tauchte im öffentlichen Diskurs in Russland ein bemerkenswerter Begriff auf – nepolschiwzy, frei übersetzt „die Nichtlügner“. Der Begriff ging auf Alexander Solschenizyns 1974 erschienenen Essay Schit ne po lschi (dt. Nicht nach der Lüge leben) zurück und war in erster Linie eine abwertende Bezeichnung für Menschen, die antisowjetisch eingestellt waren. Aber er hatte auch einen tieferen Sinn: Der Begriff verhöhnte nicht nur die sowjetische Hölle, sondern bestritt selbst die Möglichkeit, nicht nach der Lüge zu leben.

    Die Aufforderung, ohne Lüge zu leben, war der ideelle Kern der Perestroika

    Dabei war die Aufforderung, ohne Lüge zu leben, der ideelle Kern von Gorbatschows Perestroika: Damals glaubte die Gesellschaft, dass man aufhören müsse, sich gegenseitig anzulügen, um die angestauten Probleme zu lösen. Und genau das wurde in den 2000er Jahren plötzlich wieder absurd und utopisch. „Erzähl ihr mal, wie man ohne Lüge lebt“, sang [der Sänger der bekannten Band Leningrad] Schnur über eine Petersburger Prostituierte, mit der er natürlich Mitgefühl hatte.

    Hier liegt auch die Wurzel der Putinschen Ideologie: Im Unterschied zum offiziellen Patriotismus und den traditionellen Klammern wurde sie zwar nie öffentlich verkündet, aber dennoch wurde den Menschen konsequent und unermüdlich eingeimpft: Ohne Lüge zu leben, ist eine Utopie. Alle lügen. Der Mensch ist in seinem Kern ein niederes Wesen, das sich niemals bessern wird; jegliche „große Umwälzungen“ werden nichts in ihm ändern; er wird, wo auch immer sich ihm die Gelegenheit bietet, stehlen und lügen. Niemand bleibt sauber, unter keinen Umständen.

    Dieses Konzept hielt auch Einzug ins Propagandafernsehen, wo es jedes Mal herangezogen wird, wenn die russische Staatsmacht sonst nichts mehr zu bieten hat. Zum Beispiel, als sich nicht länger verheimlichen ließ, dass unsere Sportler gedoped waren. „Das machen doch alle“, war von der Propaganda schließlich abfällig zu vernehmen, nachdem sie sich wochenlang darüber ausgelassen hatte, dass Feinde ihnen das Zeug „untergejubelt und in den Tee gemischt“ hätten.

    „Das machen doch alle“

    „Das machen alle.“ Das heißt mit anderen Worten: „Es gibt keine Heiligen“, keiner ist besser als der andere. Niemand ist rein. Genau darauf baut Putins gesamte Ideologie auf, und sie ist in diesem Sinne sehr praktisch. Wenn niemand besser ist als der andere, wenn alle gleich schlecht sind (die im Westen sowieso) – was wollen die dann von uns?

    Das ist Putins Moral, denn es regiert sich leichter, wenn es grundsätzlich nichts gibt, was man menschliches Ideal nennen könnte. Wenn es kein Ideal gibt, dann eröffnet sich ein grenzenloser Raum für Interpretationen, dann kann es gar keine Wahrheit geben – denn alles ist Manipulation. Damit wird auch der politische Handlungsspielraum extrem groß. „Es gibt keine Heiligen“ – dieses oberste Gebot des Zynismus hat uns die Propaganda in den letzten 20 Jahren unterschwellig eingetrichtert, parallel zu offiziösen Auslassungen über unsere moralische Überlegenheit.

    Der Krieg fügt sich in diesem Sinne sehr gut in Putins Ideologie, und zwar mit seiner totalen Amoralität. Alle sollen mit in den Dreck gezogen werden, auch die, die vielleicht noch sauber waren („Ihr werdet euch nicht reinwaschen können“): die Befürworter, die Gegner, die Neutralen. Mit der Entfesselung dieses Krieges hat das Putin-Regime mit einem Schlag alle früheren moralischen Grundfesten weggefegt; man kann heute unmöglich eine weiße Weste tragen – es sei denn, man lässt sich freiwillig vom System missbrauchen.

    Alle Politiker sind Lügner, Lügen ist ihr Beruf

    „Das ganze Leben gründet auf Betrug, alle Politiker sind Lügner, Lügen ist ihr Beruf.“ Diese Vorstellung von der immanenten Amoralität des bourgeoisen Lebens (natürlich im Gegensatz zum sowjetischen) stammt aus der Hauptquelle des sowjetischen Wissens über den Westen: der Zeitschrift Krokodil und ähnlichen Publikationen. In den 2000er Jahren diente sie als Basis für die stillschweigende Legitimierung der Ideologie in Putins Russland. Das gilt auch für die Vorstellung, dass der Kapitalismus von Natur aus unmoralisch ist.

    Der Amoralismus, der sich in den 2000er Jahren in Russland etablierte, war zunächst nur eine Lücke, eine weltanschauliche Leerstelle, die sich nach dem Zerfall der UdSSR auftat. Die „Suche nach einer nationalen Idee“ war damals die wohl letzte freie öffentliche Debatte in Putins Russland, und sie führte zu nichts. Doch irgendwann stellte sich zur allgemeinen Verwunderung heraus, dass alles auch einfach so funktioniert.

    Ideelle Leere bietet mehr Raum als jedes Dogma 

    Dieser Hohlraum anstelle der einstigen Sowjetideologie war zunächst ungewohnt, aber dann wurde er für den Kreml gewissermaßen zu einer postmodernen Entdeckung. Das Wertevakuum, die Ungewissheit, die ideologische Schwammigkeit des 21. Jahrhunderts entpuppte sich als etwas, das besser funktioniert als sämtliche Dogmen oder Deklarationen. Die ideelle Leere bietet per Definition mehr Raum als jedes Dogma. In der Politik ist Amoralität überaus praktisch, weil sie einen extrem breiten Korridor an Möglichkeiten eröffnet.

    Der Amoralismus eignet sich zwar nicht als offizielle Doktrin, aber als implizite Lebenspraxis, als etwas, „über das man nicht spricht, aber das alle wissen“. Der Amoralismus hat jedoch nicht nur einen praktischen Nutzen, er ist auch das beste Mittel gegen die Zukunft – Russlands Hauptproblem am Anfang des 21. Jahrhunderts.

    Amoralismus eignet sich nicht als offizielle Doktrin, aber als implizite Lebenspraxis

    Die totalitären Regime des 21. Jahrhunderts erschaffen im Gegensatz zu denen des 20. Jahrhunderts keine neuen Utopien – sie speisen sich aus den Utopien der Vergangenheit. Der Hauptfeind des Totalitarismus 2.0 ist die Zukunft als solches. Hier eignet sich der Amoralismus hervorragend als Ideologie. Im Unterschied zu progressiven Postulaten („Der Mensch kann mit der Zeit besser werden“) basiert der Amoralismus auf dem Gegenteil: Die menschliche Natur kann grundsätzlich nicht verändert werden, der Mensch wird immer so und so bleiben. Folglich ist auch jede Hoffnung auf die Zukunft sinnlos.

    Die autoritären Regime des neuen Typs gründen bewusst auf der Angst der Bevölkerung vor der Zukunft. Gleichzeitig flüstern sie ihren Bürgern ein, dass „alles Gute längst geschafft ist“, dass die Menschheit ihr Potenzial bereits ausgeschöpft habe. Weiter geht es nicht; man kann nur in der Ewigkeit verharren oder die Stufen in die Vergangenheit hinabsteigen und versuchen, die Geschichte von neuem durchzuspielen. Im Amoralismus bleibt die Zeit quasi stehen.

    Ein weiterer Aspekt des Amoralismus als Ideologie ist der Kampf gegen das Ideal. Grundsätzlich und gegen jedes. Ja, dieses Wort darf es gar nicht geben. Nicht umsonst wurde die Intelligenzija (die in Russland als die einzige Hüterin von humanistischen Idealen gilt) die letzten 20 Jahre sorgfältig und zielgerichtet verlacht.

    Wie befreit man sich aus dem Fangeisen des Amoralismus? 

    Wie aber befreit man sich aus diesem Fangeisen des Amoralismus? Wie durchbricht man den Abwärtsstrudel, den Teufelskreis? Alle denkenden Russen – sowohl die, die gegangen, als auch die, die geblieben sind – befinden sich heute in Geiselhaft dieses Postulats: Eine Zukunft zu erschaffen ist nicht mehr möglich. Und tatsächlich ist es jetzt so gut wie unmöglich, sich eine bessere Zukunft vorzustellen, weil man zuerst den Albtraum der Gegenwart überwinden muss. Jeder Versuch, unter diesen Umständen nach Idealen zu suchen, ist utopisch. Im besten Fall wird man zum Gespött der Leute.

    Über die Zukunft zu sprechen ist jetzt eine riskante Sache. Selbst die russische Sprache scheint nicht besonders geeignet für Variantenreichtum, für Wahrscheinliches und Relatives. Sie eignet sich nur für das Ewige und Unveränderliche. Über die Zukunft nachzudenken ist per Definition eine unsichere, wackelige Angelegenheit. Doch wir werden es wieder lernen müssen. Man kann dem Amoralismus heute nur auf Augenhöhe begegnen, indem man über die Zukunft nachdenkt, diskutiert und reflektiert – egal, wie utopisch und unwahrscheinlich das auch erscheinen mag.

    Über die Zukunft zu sprechen ist jetzt eine riskante Sache

    Die Rückkehr zur Moral ist zudem unmöglich ohne die Rückkehr zur Politik im europäischen Sinne – als Raum von konkurrierenden Ideen und Wettbewerb. Denn freie Politik ist heute die praktische Umsetzung der Moralität, die das Gegenteil von Amoralismus ist. Moral wird im gesellschaftlichen Diskurs ausgehandelt und formuliert. Politik ist die kollektive Verkörperung der Moral im 21. Jahrhundert, aber natürlich nur die echte Politik und nicht ihr Surrogat. Genau dort, in der Politik und den damit verbundenen Prozessen (in erster Linie Wahlen), werden in einem ganz praktischen Sinne die Grenzen zwischen Gut und Böse verhandelt.

    Weitere Themen

    Thomas Mann, russische Lesart

    Die Rache der verdrängten Geschichte

    Totale Aufarbeitung?

    Entfesselte Gewalt als Norm

    Panel #1: Gelten in Russland andere Werte als im Westen?

    Demokratija

  • Unbetreutes Gedenken

    Unbetreutes Gedenken

    Den 75. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland mussten die meisten Russen im Stillen begehen: Die große Parade in Moskau am 9. Mai war wegen der Corona-Ausgangssperren abgesagt, die landesweit gezündeten Feuerwerke konnten die meisten Menschen nur aus dem Fenster sehen.  

    Das stille Feiern im Privaten steht im krassen Kontrast zu den sorgsam orchestrierten Massenveranstaltungen der vergangenen Jahre, die den Tag des Sieges eigentlich begleiten. Dieser Tag ist der wichtigste Nationalfeiertag Russlands und gilt immer mehr als der zentrale Baustein der offiziellen Geschichtspolitik. 

    Auf Republic fragt Andrej Archangelski, was es für die Erinnerungskultur Russlands bedeutet und was man aus der Stille des 9. Mai 2020 heraushören kann.

    Sozialarbeiter gratulieren Weltkriegsveteran Alexander Primak auf seinem Balkon zum 75. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland / Foto ©  Alexandr Kryazhev/Sputnik
    Sozialarbeiter gratulieren Weltkriegsveteran Alexander Primak auf seinem Balkon zum 75. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland / Foto © Alexandr Kryazhev/Sputnik

    Entspricht die derzeitige Stille nicht auf merkwürdige Art dem Wichtigsten an diesem Tag des Sieges, der Erinnerungsarbeit?

    Was hörst du, wenn du den Kriegserinnerungen allein gegenüberstehst, wenn dir niemand vorsagt, was du zu tun hast? Im Grunde stehen wir schon lange in diesem Sinne allein da – seit dem Tod unserer Vorfahren. 

    Erinnerungen aus zweiter Hand

    Die Erinnerungen von uns, den Enkeln derer, die gekämpft haben, ist in vielem eine Erinnerung aus zweiter Hand, es sind Film- und Fernseherinnerungen. Der Philosoph Vitali Kurennoi nennt das, was uns heute umgibt, all diese Kopien von Helmen, Feldgeschirr und Zeltponchos, eine „Touristenkultur“.

    Anfangs war da ein gewisses „Sortiment a là Arbat” – mit Matrjoschkas und Wodkaflaschen in Form von Kalaschnikows, die in den 1980er und 1990er Jahren den Touristen zum Kauf vorbehalten waren. Erst in den 2000er Jahren wurden sie Teil unserer Kultur. 

    Das was wir anfangs anderen als unsere Identität verkauft haben, haben wir uns erst später zugelegt. Diese Touristenkultur strotzt vor Plattheit und Geschmacklosigkeit. Doch sie bedeutet, dass wir zu diesem Krieg kein eigenes Verhältnis mehr haben, sondern mit der Distanz von Touristen daraufschauen.

    Wir leben nicht mehr „im Krieg” wie unsere Vorfahren, sondern außerhalb. All dieser Siegeswahn bedeutet einzig Folgendes: Je frenetischer die Rufe über die Großväter, desto offensichtlicher verlassen und verdrängen unsere Zeitgenossen die wahren Kriegserlebnisse.

    Wer die Vergangenheit zensiert, schafft im Endeffekt ganze Keller von verdrängten Erinnerungen

    Andererseits ist unsere Vorstellung vom Krieg heute ungleich vollständiger als die der drei vorangegangenen Generationen zusammen. Wer will, kann heute selbstverständlich ein Bild vom Krieg „ohne Stalin“ sehen – also ohne Propagandahülsen, die die Menschen jahrzehntelang vor gefährlichen Fragen bewahrt haben. Es scheint, das widerspricht dem gesunden Menschenverstand: Je weiter der Krieg zurückliegt, je weniger Zeitzeugen es gibt, desto weniger Wissen. Aber nein. Hier ist das Paradox des totalitären Regimes: Wer die Vergangenheit zensiert (mit den Worten: „Es ist noch nicht an der Zeit“), der schafft im Endeffekt ganze Keller und Lagerstätten voll von verdrängten Erinnerungen – die heute unter dem eigenen Gewicht zusammenbrechen. Und sogar die teilweise Veröffentlichung von Unterlagen über den Krieg verändert unsere Vorstellung grundlegend. 

    Das fängt beim Einfachsten an – bei der Sprache, mit der über den Krieg gesprochen wird. Damals in den 1980er Jahren, als die Veteranen in die Schule kamen, war man erstaunt, wie sie über den Krieg sprachen: als hätte man ihnen fremde Worte in den Mund gelegt. Diese offizielle Kriegs-Sprache, der auch heute reproduzierte „Kanon“, gekünstelt und aufgeblasen, wurde in den frühen 1970er Jahren erfunden. Doch warum haben sich die Veteranen selbst damals mit dieser Verfälschung arrangiert, warum haben sie sich bereit erklärt, auf diese Weise darüber zu sprechen? 

    Wahrscheinlich waren die Erfahrungen aus dem Krieg in keiner Sprache ausdrückbar

    Der Soziologe Boris Dubin glaubte, dass in den 1970er Jahren eine Art stillschweigende Übereinkunft zwischen den Veteranen und dem Staat getroffen wurde: Die Veteranen gaben freiwillig die allzu persönlichen Erinnerungen auf – und bekamen im Gegenzug gesellschaftliche Anerkennung und staatliche Zuwendungen (gerade damals hat man nämlich angefangen, Veteranen auf staatlicher Ebene zu ehren). Wahrscheinlich jedoch waren die Erfahrungen, die sie im Krieg gemacht haben, in keiner der verfügbaren menschlichen Sprachen ausdrückbar: Es war viel bequemer für die Psyche, sich hinter den staatlich vorgegebenen Worthülsen zu verstecken.

    Persönliches, digitales Gedenken

    Es schien, uns könnte nichts die authentischen Erfahrungen und Überlieferungen zurückbringen – doch es geschah ein Wunder: Immer noch tauchen bislang unbekannte Memoiren auf. 

    So wird die Erinnerung an den Krieg ständig genauer, gleichsam von innen heraus. Die tragische Dimension des Sprechens über den Krieg kehrt trotz Zensur zurück. Und schließlich können wir dank elektronischer Ressourcen (OBD-Memorial und Podwig Naroda) Unglaubliches tun: Die Schicksale von fast allen nachvollziehen, die gekämpft haben, gestorben sind oder gefangen genommen wurden. Wie erstaunlich es doch ist: Nach 60 bis 70 Jahren war es gerade die seelenlose digitale Welt, die es schaffte, das Bild des Krieges minutiös wiederherzustellen – nicht im metaphorischen Sinne, sondern buchstäblich. So wird der Krieg des 20. Jahrhunderts dank der Erfindung des 21. allmählich zu einer privaten, persönlichen Angelegenheit eines jeden.

    Aber wie man den Tag des Sieges unter den neuen Umständen begehen soll, versteht nach wie vor niemand. Jeder Versuch von Graswurzel-Initiativen schafft neue Monster, in Form skurriler Slogans oder Fotos wie in den vergangenen Jahren oder in Form von „Georgs-Masken“ in diesem Jahr. Natürlich sind das Geschmacklosigkeiten, aber sie sind auch eine Folge der unterdrückten persönlichen Verantwortung der Bürger. Wenn der Staat den Menschen wenigstens bei den Feiertagen vertrauen und nicht nach Kontrolle der Emotionen streben würde, dann müsste niemand quälend nach einer Antwort suchen auf die Frage, wie man das Fest in Zeiten der Pandemie begehen soll.

    Im Grunde eine gute Idee – aber warum wirkt sie so erzwungen?

    Die Organisatoren des Unsterblichen Regiments haben in diesem Jahr vorgeschlagen, nach einer landesweiten Schweigeminute am 9. Mai um 19 Uhr mit Porträts der Veteranen auf die Balkone zu treten und Den Pobedy (dt. Tag des Sieges) anzustimmen. Im Grunde eine gute Idee – aber warum wirkt sie so erzwungen? Es ist eine Nachahmung der neuen europäischen Tradition des Balkonklatschens, um Ärzte und das Leben selbst zu loben. Doch dieses Ritual lebt von seiner Spontaneität, vom persönlichen Elan der Menschen. Und wenn selbst das Repertoire vorab vereinbart ist, wenn alle dasselbe singen müssen (wieder im Chor!), dann nimmt das jeder Aktion die Aufrichtigkeit und Natürlichkeit. 

    Wie nun können wir den Geist des Festes während der Pandemie wahren? Dafür muss man, so seltsam das klingen mag, Gemeinsamkeiten finden – zwischen dem Sieg von 1945 und der Erfahrung unserer Tage. Der Philosoph Alain Badiou schreibt von einer eigenartigen Doppelnatur der französischen Résistance: Es war ein Kampf gegen die Nazis, aber gleichzeitig auch ein Kampf darum, „man selbst, ein Mensch zu bleiben“. So klingt heute auch die Antwort auf die Frage, wofür unsere Soldaten gekämpft haben, zusammen mit den amerikanischen, britischen, französischen, polnischen, kanadischen, neuseeländischen und anderen Waffenbrüdern: Für eine Welt der Zukunft, eine Welt der Moderne – gegen die Finsternis, gegen die dunklen Geister.

    Mensch bleiben

    Das Wesen der heutigen Selbstisolation liegt komischerweise genau darin: Wir wollen nicht bloß das „Unheil überleben“, sondern Mensch bleiben, an die Zukunft glauben und nicht an Michalkows Märchen. Die Antwort auf die Frage, wie Fest und Pandemie zusammen gehen, ist einfach: Es soll ein Ehrentag der Menschlichkeit sein, des Sieges über die Umstände, der Bereitschaft „noch zwei Wochen durchzuhalten“ für das Allgemeinwohl (was für unsere Leute, wie sich zeigt, unerträglich ist). Doch für einen solchen gedanklichen Sprung braucht es vor allem freies Denken und nicht blinde Treue gegenüber dem Ritual. Man sollte meinen, die Pandemie hätte uns vieles lehren müssen, doch selbst sie ist anscheinend nicht imstande, uns zu verändern. 

    Weitere Themen

    Disneyland für Patrioten

    Sturm auf den Reichstag

    „Weißt du, da war Krieg“

    Geschichte als Rummelplatz

    Sprache und das Trauma der Befreiung

  • Chernobyl-Serie: Der fremde Spiegel

    Chernobyl-Serie: Der fremde Spiegel

    Chernobyl ist eine neue Fernsehserie, auf der Internet Movie Database ist sie die bislang am besten bewertete Serie ever. Es ist eine US-amerikanisch-britische und keine russische Produktion. In Russland sei eine solch kritische und ernste Auseinandersetzung mit der Reaktorkatastrophe derzeit einfach nicht möglich, meint Andrej Archangelski auf Republic. Ein Hohelied auf das therapeutische und das versöhnende Potential des Serien-Genres plus eine Abrechnung mit dem aktuellen russischen Fernsehen.

    Die Serie Chernobyl – eine Produktion von HBO und dem britischen Sky TV – steht im Ranking der Internet Movie Database (IMDb) auf Platz 1. In Russland wird sie, wie nicht anders zu erwarten, von regierungstreuen Medien kritisiert. Das ist eine Art sowjetischer Instinkt – man muss, und sei es im Nachhinein, die Sache grundlegend bewerten. 
    Worin genau die ideologische Sabotage der Serie besteht, ist zwar schwer zu sagen, aber der parteihörige Spürsinn (auch so ein Wort aus dem sowjetischen Lexikon) souffliert fehlerfrei: Irgendwas Aufrührerisches verbirgt sich in Chernobyl, unsichtbar, aber nicht ungefährlich. Man geht dabei allerdings nicht wirklich in die Tiefe und bezeichnet den Film als „einwandfreie Propaganda“ und Teil einer Verschwörung gegen die Atomenergiebehörde Rosatom.   
    Diesmal, so bizarr das auch sein mag, irrt der Spürsinn der Medien nicht – für die russische Ideologie, die sich weitgehend auf Fernsehen und Filme stützt, ist dieser Film tatsächlich gefährlich.

    Für die russische Ideologie ist dieser Film gefährlich 

    Mit regierungsfreundlichen Filmen und ebensolchem Fernsehen ist es in den letzten zehn Jahren gelungen, das Land in einen hermetischen Kokon zu wickeln und das Bewusstsein des Großteils seiner Bewohner zu verändern. Mit Serien und Filmen über die Vergangenheit wurde auf dem Bildschirm das Idyll einer himmlischen Sowjetunion geschaffen – in der es keine Probleme mit Lebensmitteln, Kleidung und Freiheit gab. Und in der der geheimnisvolle Tod von Skiwanderern am Djatlow-Pass ein Riesenereignis darstellte. 

    Das Idyll der himmlischen Sowjetunion

    Eine solche Sowjetunion hat es in Wirklichkeit nie gegeben, und die Fernsehzuschauer wissen das genau, aber trotzdem gucken sie es. Psychologisch ist das leicht zu erklären. All diese Serien sagen dem ehemaligen Sowjetmenschen quasi: Mit der Vergangenheit ist alles in Ordnung, es gibt keinen Grund sich aufzuregen, man hat sich auch nichts vorzuwerfen. So ist es mit Hilfe des Fernsehens gelungen, das kollektive Gedächtnis mehrerer Generationen zu beeinflussen. 

    Die Formel „es gab Repressionen, aber es gab auch Gutes“ ist nicht aus der Luft gegriffen, sie ist das Ergebnis genau dieser Serienpropaganda. Anstatt das sowjetische Trauma zu behandeln, macht man Unterhaltung daraus. Dieser Sieg über die Vernunft schien eine Universalwaffe zu sein. Doch auf einmal zeigt sich, dass ein anderer Blick auf unsere Geschichte diesen Kokon binnen Augenblicken kaputtmachen kann.  

    Spricht man über das Sowjetische, ist es vorrangig ein Gespräch über die Lüge

    Die Serie Chernobyl beginnt mit den Worten „Was ist der Preis der Lüge?“. Wenn man über das Sowjetische spricht, ist es vorrangig ein Gespräch über die Lüge, die vom Mechanismus zu einem Wert wurde, der über allem steht. „Die ganze Welt weiß es“, sagt der sowjetische Politiker Boris Schtscherbina entsetzt, als Meldungen über den Super-GAU im Atomkraftwerk Tschernobyl in der westlichen Presse auftauchen. Das erscheint noch schlimmer als die Bedrohung durch radioaktive Strahlung, als der drohende Tod von hunderttausenden Menschen. Die Welt weiß die Wahrheit – das ist das Allerschlimmste. Die Strahlung durchdringt alles, aber noch mächtiger ist die staatliche Lüge: Sie hat alles um sich herum verseucht. Für die Lüge sind Menschen bereit, sich selbst zu opfern. Und natürlich auch andere.   

    Der russische Film macht jede Tragödie zur Banalität

    Es kommt einem nur so vor, dass in unserem Fernsehen „lauter Sowjetunion“ läuft. Wenn man Chernobyl sieht, wird einem klar, dass es unsere historischen Serien in zehn bis fünfzehn Jahren fertiggebracht haben, fast nichts auszusagen. Lässt man sich auf Chernobyl ein, dann sieht man, dass der russische Film sich nur die leichten, ungefährlichen Themen auswählt; dass er fähig ist, jede Tragödie zur Banalität werden zu lassen, zum Kostümdrama, großzügig aufgepeppt mit Liebesgeschichten. Abgesehen davon erzählt unsere Fernsehmaschine niemals von der Wirklichkeit. Sie packt lieber selbstgemachten Irrsinn auf die Wirklichkeit obendrauf und vermeidet dabei jede Thematisierung tatsächlicher Schlüsselereignisse der Sowjetzeit, zu denen auch der Unfall in Tschernobyl zählt.    

    Gorbatschow im Kino darzustellen ist in Russland ein Tabu

    Der globale Markt, hier vertreten durch den Fernsehsender HBO, hat dieses Defizit rechtzeitig bemerkt; aber wie viele solche Themen gibt es noch, die für das russische Fernsehen tabu sind? Die Revolution von 1917, das Jahr 1937, die Jahre 1941 und 1942, Stalins Tod, die Perestroika, die 1990er … 

    Das Erfolgsgeheimnis der Serie ist nicht, dass ihre Macher mehr Geld haben, sondern dass es keine Zensur gibt. Die Autoren müssen sich nicht überlegen, was man sagen kann und was nicht, um es dem obersten Chef rechtzumachen. Die Autoren von Chernobyl schrecken nicht davor zurück, Gorbatschow darzustellen – bei uns war er jahrzehntelang (!) kein einziges Mal im Kino zu sehen, es ist ein Tabu.

    Die Macher trauen sich, mit den Zuschauern wie mit Erwachsenen zu sprechen – über den Tod. Sie betrachten die Sowjetzeit nicht als Museum oder staatliche Schatzkammer, sondern als universelle Geschichte der Opposition von Individuum und Staat, als Geschichte menschlichen Widerstands gegen äußere Verhältnisse – und stoßen plötzlich auf abgründigen, existenziellen Stoff. In diesem Sinne kann die sowjetische Geschichte als eine Art Game of Thrones verstanden werden, das ist gar nicht so unpassend. 

    Die Macher trauen sich, mit den Zuschauern über den Tod zu sprechen  

    Außerdem wurzelt das Interesse der Welt an der Sowjetunion nicht in Nostalgie, sondern in dem Versuch zu verstehen, was denn heute nicht stimmt mit uns, woher dieser kollektive Todestrieb kommt. Chernobyl erzählt natürlich vor allem eine Geschichte über uns, wie wir heute sind, auf welcher Stufe der Reflexion und Moral unsere Gesellschaft heute steht. 

    Das erste und stärkste Gefühl, das Chernobyl auslöst, ist Mitleid mit den Opfern der Tragödie. Die Szene im Krankenhaus, in der sich die Frau eines Feuerwehrmanns von diesem verabschiedet, ist unendlich schwer. Gleichzeitig wird einem klar, dass in unseren Serien nie etwas Vergleichbares zu erleben war. Ein Meer von Blut, Tod, Mord, aber sie erzeugen kein Mitgefühl. Der Tod ist in russischen Serien nur ein Handlungsmotor – unser Kino weicht jeder ernsthaften Beschäftigung mit dem Menschsein ängstlich aus, wagt keine geistige Herausforderung, keinen Diskurs über wichtige Angelegenheiten.  

    Der Tod ist in russischen Serien nur ein Handlungsmotor

    So hat unser Fernsehen mit seinem unerträglichen Pathos den Menschen das abtrainiert, was man seelische Arbeit nennt. Hat ihnen im Grunde normale menschliche Gefühle abtrainiert. Hat jede Tragödie zur Unterhaltung gemacht, bei deren Konsum man dasselbe perverse Vergnügen empfindet wie bei Propagandashows. Tragödien sind für uns nur dazu da, um uns nach der Arbeit auf der Fernsehcouch berieseln zu lassen. 
    Das Genre der Serien leistet heute enorme therapeutische Arbeit, dient als Bildungsprogramm für die Menschen, führt ihnen die Komplexität des Lebens vor Augen. Unsere Serien gewöhnen den Menschen das Fühlen ab. Bringen ihnen bei, mit halber Kraft, mit halbem Hirn, wie Kleinkinder zu leben. 

    Dabei schafft es diese Serie, vom Heldentum des Sowjetmenschen zu erzählen. In russischen Filmen ist der Mensch allzeit bereit für große Taten und vollbringt sie, ohne mit der Wimper zu zucken, im Namen des Staates. Glaubwürdig ist das natürlich keineswegs. 

    In Chernobyl vollbringt der Mensch seine Großtaten trotz des Systems, als würde er dessen Unmenschlichkeit kompensieren. Doch genau an diesem Punkt wächst er über sich selbst hinaus, setzt sich über die Ideologie hinweg. Der Sowjetmensch wird einfach zum Menschen. Die Serie versucht, universelle Motive im Verhalten der sowjetischen Menschen aufzuspüren und uns davon zu überzeugen, dass auch in einem totalitären System alles von der Persönlichkeit abhängt. Entgegen ihrem Selbsterhaltungstrieb hören zwei sowjetische Physiker auf ihr Gewissen und erzählen die Wahrheit über Tschernobyl – um das Land und die Welt vor neuerlichen Katastrophen zu bewahren. 

    Im sowjetischen Heroismus hat der Mensch keine Wahl

    Die Besonderheit des sowjetischen Heroismus besteht darin, dass der Mensch in der Regel keine Wahl hat. Soldaten, Feuerwehrleute, Ärzte gehen hier dem fast sicheren Tod entgegen; das vermindert ihre Leistung nicht, sondern verleiht ihr zusätzlich eine tragische Dimension. Genau wegen dieser verdoppelten Tragik erreichen die Autoren der Serie einen Effekt, den auch das russische Kino erreichen will, aber nicht kann: eine Versöhnung mit der Vergangenheit. Nicht durch Gleichmacherei, Vertuschung, Banalisierung oder Karnevalisierung, sondern durch eine Tragödisierung des sowjetischen Alltags, in dem jeder ein potenzielles Opfer ist und allein schon dadurch Mitgefühl verdient. 

    Viele sind jetzt damit beschäftigt, die Patzer in der Serie aufzuzählen – aber man kann nur staunen, wie psychologisch präzise hier viele Details sind. Wie das alte Parteimitglied im Namen der sowjetischen Ideale empfiehlt, „alles zu verheimlichen“ – ein absolut Pelewinsches Bild, aus Omon hinterm Mond. „Die guten Messgeräte sind im Safe“ ist ein Satz, den nur Sowjetmenschen verstehen (alles, was funktioniert, wird für alle Fälle sicher verwahrt und versteckt). Die routinierte Geste, mit der die kleine Aufmerksamkeit in Form eines Zehnrubelscheins in der Kitteltasche der Krankenschwester verschwindet. Die Geheimsprache, in der sich die Mitarbeiterinnen der Physikinstitute in Moskau und Minsk austauschen. Und die sie perfekt beherrschen, wie jeder Sowjetbürger, weil sie wissen, dass die Telefone abgehört werden können.  

    Und natürlich die Symbolik. Alles, was jahrzehntelang vorbereitet und angehäuft wurde, um den Westen, Amerika zu besiegen, ihm Paroli zu bieten, es einzuholen und zu überholen; Heerscharen von Autos und Panzern, sogar Mondautos, müssen im Endeffekt herhalten, den eigenen Brand zu löschen. Chernobyl erzählt davon, wie die Sowjetunion konstruiert war – und warum sie zerfallen ist. 

    Die Antwort auf die wichtigste Frage zur Serie (warum wurde sie nicht bei uns gedreht?) ist leider sehr einfach: Angesichts des aktuell verfügbaren Maßes an Wahrheit und künstlerischer Freiheit ist das Erscheinen eines derart kritischen und ernsthaften Werks in Russland einfach nicht möglich. Daher bleibt uns nichts anderes übrig, als in einen fremden Spiegel zu schauen.

     

    Die Serie „Chernobyl“ läuft derzeit auch auf Deutsch auf Sky HD

    Weitere Themen

    Fernseher gegen Kühlschrank

    Die Fragen der Enkel

    Der Mann, der den Atomkrieg verhinderte

    Alles wäre gut, wären da nicht diese Amis

    Monumentale Propaganda

    Sprache und das Trauma der Befreiung

  • Absage an die Moderne

    Absage an die Moderne

    „Archaisierung“ – so nennen viele russische Liberale die Epoche Putins, vor allem die Zeit nach der Krim-Angliederung. Der Begriff geht auf den russischen Philosophen Alexander Achijeser zurück – einer der Begründer der Kulturwissenschaft in Russland, der 2007 ruhmlos und weitgehend vergessen verstarb. In den 1970er Jahren verfasste er sein (erst in den 1990er Jahren erschienenes) Hauptwerk: Russland: Kritik der historischen Erfahrung. Darin sagte er sowohl die Perestroika voraus als auch deren Scheitern. Dieses Scheitern, so Achijeser, würde auch eine „Archaisierung“ nach sich ziehen – eine Abkehr von den Werten der Moderne.
    Heute begründet die russische Propaganda diese Abkehr auch mit einem Scheitern der Moderne überhaupt. So sieht Wladislaw Surkow, angeblicher Chefideologe des Kreml, das liberal-demokratische Modell quasi am Ende. Dabei erklärt er das mutmaßliche Interesse am „russischen politischen Algorithmus“ damit, dass es im Westen keine „Propheten“ gebe.
    Warum geben sich Millionen von Menschen im Russland des 21. Jahrhunderts freiwillig mit einem einseitigen und aufgezwungenen Weltbild zufrieden, fragt Andrej Archangelski auf Republic. Und versucht eine Antwort.

    Die russische Propaganda, wie wir sie kennen, hat vor fünf Jahren begonnen und sie verfolgte ein praktisches Ziel: dem Einfluss des ukrainischen Maidan etwas entgegenzusetzen. Die Rhetorik bediente sich zunächst propagandistischer Elemente aus den Zeiten des Zweiten Weltkriegs (karateli und so weiter) und ging dann zur Sprache des Kalten Krieges über (die Trennung in „wir“ und „sie“, der „Westen“ als pauschalisierte Gefahr). 

    Zwei Dinge verblüffen dabei immer noch: 
    Erstens, dass dieses Schema akzeptiert wurde von einem Großteil der russischen Gesellschaft (der die Propaganda in ihrer sowjetischen Variante vor nicht allzu langer Zeit noch abzulehnen schien). 
    Und zweitens: die Ausführenden. Wir können annehmen, dass ein Teil der Propagandisten „einfach seine Arbeit tut“, dass er „Familien ernähren und Kredite abstottern“ muss. Aber wir müssen auch berücksichtigen, dass die Hauptakteure – Experten, Politologen, Fernsehmoderatoren – im vorgegebenen ideologischen Rahmen etwas finden, das ihnen nahe ist und sie inspiriert, etwas, worin sie sogar eine eigentümliche „Freiheit“ sehen.

    Propaganda – das ist in erster Linie eine Vereinfachung des Weltbildes

    Propaganda – das ist in erster Linie eine Vereinfachung des Weltbildes, sie nimmt den Menschen die Last einer existenziellen Verantwortung ab. 
    Das Wort Geopolitik bedeutet, den Menschen von der Pflicht zu befreien, eigene Entscheidungen, eine ethische Wahl zu treffen. Die Geopolitik sagt dem Menschen, dass alle grundlegenden Entscheidungen bereits für ihn gefällt wurden – automatisch und ein für allemal – und zwar von der Geschichte, der Geographie und dem Schicksal.

    Aber auch das liefert noch keine Antwort auf die Frage, warum sich Millionen von Menschen im Russland des 21. Jahrhunderts freiwillig mit einem einseitigen und aufgezwungenen Weltbild zufriedengeben („wir sind die Guten, alle anderen die Bösen“). Vielleicht besteht die Wirkmacht der Propaganda ja darin, dass sie eine viel fundamentalere, nicht ausgesprochene, aber implizite „tiefere“ Idee enthält, die obendrein mit globalen Prozessen zusammenfällt.

    Diese Idee lässt sich kurz als eine Absage an die Moderne, den Fortschritt, an die moderne Gesellschaft an sich beschreiben.

    Magische Praktiken

    Während man den endlosen propagandistischen Gesprächen lauscht, fragt man sich unwillkürlich: Welchem mündlichen Genre kommen sie am nächsten? Sie erinnern an magische Praktiken: Beschwörungen, Zauberformeln, Versuche, das Gewünschte mithilfe von Worten Wirklichkeit werden zu lassen. 
    Dutzende von Menschen wiederholen tagein tagaus, Jahr für Jahr ein und dieselben Verwünschungen, in der Hoffnung, dass sie wahr werden mögen. In erster Linie betreffen sie nach wie vor die Ukraine: „Kiewer Sackgasse“, gescheiterter Staat, die Parodie eines Landes und so weiter.

    Wladimir Paperny beschreibt in seinem bekannten Buch [Kultura Dwa (Kultur-2), dek] ein wichtiges Merkmal dieser „Kultur-2“, indem er sie als mythologisches Denken bezeichnet: als „das Zusammenfallen von Bezeichnung und Bezeichnetem, von Bild und Abgebildetem, von Wort und Bedeutung. Kultur-2 glaubt gleichsam, dass etwas, wenn man es laut ausspricht, wahr wird“.

    Ablehnung des Fortschritts

    Heute sind im Propaganda-Äther alle Verschwörungen und Phobien der Welt vereint; alles unter der Erde, in den Katakomben, in Dostojewski’schen Kellerlöchern der Menschheit scheint sich an einem Ort versammelt zu haben und krakeelt jetzt um die Wette. All das trifft sich nur in einem Punkt – in der Ablehnung der Idee der Moderne, des menschlichen Fortschritts. Sogar die Verherrlichung der sowjetischen Vergangenheit ist in Wirklichkeit ihre verkappte Bekämpfung. 

    Natürlich war die sowjetische Gesellschaft totalitär, doch formal war sie modernistisch. Sie bestand auf dem universellen und globalen Charakter ihrer Ideologie, und sie war in die Zukunft gerichtet („unser Ziel ist der Kommunismus“). Die Grundzüge der sowjetischen Ethik überschnitten sich mit universalistischen Werten. Heute betreibt die Propaganda einen konsequenten Exorzismus gegen jene modernistischen Pfeiler der sowjetischen Ideologie: Wörter wie „Internationalismus“, „Humanismus“, „Kampf für den Frieden“ oder „Völkerfreundschaft“  werden sie heute von keinem Sowjet-Liebhaber mehr hören – derlei Postulate werden als Schwäche der Sowjetmacht verlacht. Selbst der Feminismus bleibt nicht verschont (auch wenn vorher definitiv der Zusatz kommt, dass die UdSSR seine Heimat gewesen sei).

    Ein gewaltiges, allumfassendes Kippen der Gesellschaft zurück in archaische Zeiten – genau das ist die generelle Stoßrichtung der heutigen Propaganda.

    Lustpunkt getroffen

    Anfangs gab es für dieses „Einfrieren“ übrigens rein praktische Beweggründe. Wie wir uns alle erinnern, hießen die Reformen unter Medwedew Modernisierung und endeten 2012 mit Massenprotesten, die die Mächtigen in Angst und Schrecken versetzten. Ihr wichtigstes Symbol war weniger die Masse oder die Aktivität der Menschen, als vielmehr die „Sprache der Bolotnaja“, die Sprache auf jenen funkensprühenden und unzähligen selbstgebastelten Plakaten. In der Sprache dieser Plakate begann die gerade geborene russische Gesellschaft der Moderne zu sprechen. Genau darin erkannten die Machthaber die Hauptgefahr: Die neue Sprache bedeutete die Entstehung eines neuen Bewusstseins – eines säkularen, universellen – die Renaissance von sozialer Verantwortung und Teilnahme. 
    Als Gegengewicht zur Sprache der Bolotnaja war bald die Sprache der Antimoderne à la UralWagonSawod gefunden, bei der es sich natürlich großenteils um ein künstliches Konstrukt handelt. Doch die Erfindung funktionierte. Die Sprache der Propaganda erwuchs im Grunde aus dieser Verdichtung, nur der Stil wurde 2014 perfektioniert.

    Sprache der symbolischen Gewalt

    Das zentrale Moment der Propaganda ist bis heute die Sprache der symbolischen Gewalt – das Phänomen der schmutzigen Hasssprache. Ein weiteres wichtiges Element der Propaganda ist das höhnische Lachen, das Lachen von Dostojewskis Menschen aus dem Kellerloch.

    Dabei wird der Gegner, meist ein westlicher Politiker, auf jede erdenkliche Art erniedrigt. „Blogger verhöhnen“ Poroschenko, Merkel, Macron: Innerhalb von fünf Jahren ist in Russland ein völlig neues Genre entstanden. Aber sowohl die Sprache der Gewalt als auch die des Hohns haben etwas noch viel Größeres hervorgebracht: ein Weltbild, eine Kommunikationsweise, ja sogar eine Art Philosophie der Abkehr von der Welt.

    Das Geheimnis der Propaganda ist, dass sie einen Lustpunkt getroffen hat: Es verschafft dem Menschen Erleichterung, sich von den hemmenden Mechanismen der Kultur zu befreien, das steht schon bei Freud. Darum wiederholen Propagandisten auch so gern immer wieder ein und dasselbe, stunden-, tage-, jahrelang. Übrigens spricht die Propaganda das Wichtigste nicht direkt aus, sondern nur in Andeutungen. 

    Das Ende der Welt

    Das Konzept vom „Scheitern der westlichen Welt“ – noch so ein Imperativ der Propaganda – ist etwas komplizierter: Es ist eine bemerkenswerte Verschmelzung von Marxismus und Eschatologie. Die sowjetische Ideologie postulierte, unter Berufung auf die „eisernen Gesetze der historischen Entwicklung“, das unweigerliche Scheitern des Kapitalismus. Doch stattdessen scheiterte das sowjetische Projekt. Das von der heutigen Propaganda versprochene „Scheitern des Westens“  erinnert formal an sowjetische Dogmen, die nun eschatologisch untermauert werden (den „Gesetzen der Geschichte“ zufolge werden Zivilisationen, die vorangeprescht sind, „bestraft“ und bei der Gelegenheit wird auch gleich der „Zerfall der UdSSR“ gerächt). 
    Ab einem gewissen Punkt dominierten die archaischen Motive der Propaganda. Sie sind anscheinend außer Kontrolle geraten und haben eine Eigendynamik entwickelt. Die Absage an die Moderne zog auch in allen anderen Bereichen eine Archaisierung nach sich. So klingt die These vom „Scheitern der Aufklärung“ gar nicht mehr so abwegig und ist immer öfter in den Reden der Ideologen zu hören. 
    Die Propaganda ist zu einer globalen Predigt über den verlorenen Glauben an den Menschen und die Enttäuschung über die Menschheit geworden, sie wurde zu einem Geschäker mit den niederen Instinkten des Menschen. 
    „Die Menschen leben kein echtes Leben mehr“, behaupten diejenigen, die Tag für Tag ein falsches Leben auf Bildschirmen kreieren. Als Beispiele für echtes Sein werden dann Kriege oder anderes menschliches Leid angeführt. 

    Der Masochismus der Propaganda offenbart sich auch in ihrem penetranten Streben nach Selbstauslöschung – jedes Mal redet sie davon, wenn sie auf die „radioaktive Asche“ zu sprechen kommt.
    Schnell hat die Absage an die Zivilisation auch im Alltag Einzug gehalten. Es ist keine Seltenheit, dass ein propagandistischer Radiosender verkündet, technischer Fortschritt sei nicht notwendig und gar schädlich (die größte Sorge wecken dabei Gadgets aller Art: sie „stehlen“ unsere Lebenszeit). 
    Die panische Angst vor dem Internet, das den „Menschen verdorben hat“, und das Verlachen wissenschaftlicher Erkenntnisse (die berühmten „britischen Forscher“) münden in eine Verhöhnung der Wissenschaft an sich. 

    Natürlich hat die Propaganda auch den wirtschaftlichen Geschmack der Massen geprägt: Unter „Realwirtschaft“ versteht man bei uns „Werke und Fabriken“ und nicht die „virtuelle Ökonomie“ des Westens.  

    Die letztgültige Wahrheit

    Es fällt auf, dass all diese Postulate gleichzeitig mit einem weltweiten Trend zum Konservativismus aufkommen. Allerdings gilt dieser im Westen als eine von vielen Möglichkeiten, keineswegs als „unausweichlich“. Selbst wenn wir annehmen, Russland hätte das Zeug zum Anführer der konservativen Wende, macht der Stil der Propaganda das unmöglich: jenes schroffe und alternativlose Aufdrängen der eigenen „letztgültigen“ Wahrheit. Deswegen betrachtet man Propaganda im Westen heute nicht nur als einen Angriff auf liberale Ideen, sondern auf die universale Ethik. Ihr Hauptziel ist es, „die Grenzen zwischen Gut und Böse zu verwischen“. Damit wären wir beim erstaunlichsten Widerspruch der Propaganda: Sie erklärt sich selbst für das absolut Gute und beharrt gleichzeitig auf der Relativität der Begriffe von Gut und Böse (post-truth). Wie sich das dialektisch vereinbaren lässt, ist ein Rätsel. Mit Paperny gesprochen vielleicht so: In der Welt des absolut Guten, wo die Kultur-2 herrscht, existiert kein Böses. Es wurde ausgelagert in eine eigene, andere Welt, die sich „der Westen“ nennt – dort, im Revier des Bösen, ist „alles erlaubt“, denn dort ist sowieso von vornherein alles falsch (und sündig). 


    Die Propaganda gab der Welt einen Anstoß zur Diskussion ethischer Fragen

    Der Versuch, die Grenzen zwischen Gut und Böse zu verwischen, hatte allerdings paradoxe Konsequenzen: Er brachte Europa und Amerika dazu, sich an die Ethik zu erinnern und sie wieder ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit zu rücken. Jeder zweite Hollywoodfilm – egal ob Thriller oder Komödie – verhandelt heute eine ethische Frage. #MeToo ist eine eindeutige Debatte über Ethik. Die Wertedebatte wurde zum wesentlichen Bestandteil des westlichen Diskurses. Hier zeigt sich eine verblüffende Parallele: So wie das sowjetische Projekt den Arbeitnehmerschutz im Westen befeuert hatte, gab die Propaganda der Welt einen Anstoß zur Diskussion ethischer Fragen. Heutzutage wird die Propaganda vor allem als eine ethische Herausforderung erforscht, womit sie letztlich die Suche nach einer neuen Ethik initiiert. Diese wird natürlich komplexer sein, aber es lässt sich erahnen, dass Gut und Böse darin ihren Platz haben werden. 

    Die Propaganda, die nach außen gerichtet war, traf vor allem Russland selbst. Indem sie dem Schlechteren nacheiferte, hat sie eine Millionen-Gesellschaft in eine vormoderne, archaische Welt zurückgeworfen und damit abermals ein „tiefes“ Volk konstruiert. Letzten Endes bedeutet das: Wir treten auf der Stelle und erteilen der Moderne, dem Fortschritt, der Welt eine Absage – wohlbemerkt nicht zum ersten Mal. Für Jahre, oder gar Jahrzehnte? So oder so wird es tiefgreifende und traurige Konsequenzen haben, die eine Gesellschaft nicht so schnell überwindet. 

    Weitere Themen

    Dimitri Kisseljow

    Die Geburt des Politischen aus dem Geist der Propaganda

    Die antiwestliche Propaganda ist gescheitert

    Moskau. Kreml. Putin.

    Video #28: Kein Kant in Kaliningrad

    Surkow: „Der langwährende Staat Putins“

  • WM: Potemkinsche Städte

    WM: Potemkinsche Städte

    Alles dreht sich im Kreis und nicht um den Fußball: Die WM-Gäste werden natürlich nichts davon erfahren, wie ganz Moskau drei Jahre lang brav im Stau gestanden hat, während die Innenstadt und die Ausfallstraßen einmal komplett für die WM umgegraben wurden. Und auch über andere Dinge wird geschwiegen. Aber Andrej Archangelski hat’s aufgeschrieben und so erfahren sie’s nun doch.

    „Ein Deutscher“, sagte sich Berlioz. „Ein Engländer“, dachte Besdomny. „Boah, dass dem nicht zu heiß wird mit seinen Handschuhen!“

    Es war Frühling, eine ungewöhnlich heiße Dämmerstunde am Patriarchenteich … und Bulgakow betrachtet Moskau, wie wir uns erinnern, durch die Augen eines ausländischen Konsultanten – eines Ausländers. Diese Projektion kommt nicht von ungefähr: So sieht man Moskau besser.

    Auch jetzt, kurz vor der Weltmeisterschaft, ist die Stadt, wenn man sie durch die Augen eines ausländischen Besuchers betrachtet, ungewöhnlich schön. Ohne die jahrelang aufgerissenen Straßen, die dann ganz plötzlich, innerhalb von nur zwei Wochen nigelnagelneu aussahen, wie von Zauberhand … Die Gäste werden natürlich nichts davon erfahren, wie ganz Moskau drei Jahre lang brav im Stau gestanden hat, während die Innenstadt und die Ausfallstraßen einmal komplett umgegraben wurden – „wir bitten um Geduld für die WM“. Wie es in all den anderen Städten ausgesehen hat, in denen die Fußballsause ausgetragen wird, kann man nur erahnen.

    Wir bitten um Geduld für die WM

    Eine der Absonderlichkeiten an jenem Frühlingsabend, mit dessen Schilderung Meister und Margarita beginnt, ist die folgende: „Nicht nur am Büdchen, nein, auf der gesamten Allee […] war nicht ein einziger Mensch zu sehen.“ Und auch jetzt wirkt Moskau halbleer – nur dass diesmal niemandes teuflischer Plan dahintersteckt. Ja, stimmt, laut Gerüchten gab es in manchen Ecken der Hauptstadt hier und da Säuberungsaktionen gegen Migranten, aber wesentlich für die Leere Moskaus ist heute etwas ganz anderes: seine städtebauliche Struktur.

    Die Stadt, in der wir heute leben und wie wir sie kennen, wurde noch unter Stalin erdacht. Aus dieser Zeit stammen ihre Hochhäuser und Prospekte, damals wurde ihr die totalitäre Logik aufgeprägt. Eine solche Stadt entsprach, wie man heute sagen würde, dem Geist der totalen Repräsentation: Alles war ausgerichtet auf die Durchführung von Fest- und Arbeiterkundgebungen, Ehrenformationen und Pionierparaden – all das sollte der Welt den Sieg des Sozialismus demonstrieren. Der Sozialismus ist längst Geschichte, aber das Schaufenster, zu dem die ganze Stadt gemacht wurde, ist noch da. Nur dass man sie jetzt Podium nennt.

    Moskauer Menschenleere

    Der Abriss der Verkaufspavillons, aber auch die Verbreiterung der Gehwege waren Teil einer „Vermenschlichungsstrategie“, die die Stadt den Menschen zurückgeben sollte, doch sie brachte den entgegengesetzten Effekt. In ihrem Alltag brauchen die Leute keine derart breiten Gehwege mehr; der moderne Städter flaniert und lustwandelt nicht mehr wie im 19. Jahrhundert. Vor allem abends wird das allzu deutlich – die breiten Trottoirs unterstreichen nur die Moskauer Menschenleere.

    Im Endeffekt hat Sobjanin nur die Idee des stalinistischen Moskaus, die einer anderen Gesellschaft galt, verewigt und neu verputzt. Leuchtende Beispiele sind der Gorki-Park oder das WDNCh, die zum Denkmal des Stalinismus, seiner Geometrie und Totalität geworden sind. Die totalitäre Infrastruktur zwingt den heutigen Stadtbewohner, entgegen seinen Bedürfnissen, Gewohnheiten und Wünschen zu leben, sie nimmt ihm die Alternative, zwingt ihn wieder und wieder, sich im Kreis zu bewegen. Die Menschen stimmen unbewusst mit ihren Füßen ab – gegen diese Logik; und weil die Weltmeisterschaft mit zusätzlichen Einschränkungen droht, halten sie sich naturgemäß ganz von selbst aus der Stadt fern.

    Moskau ist nun zugeschnitten für den Blick aus dem Busfenster

    Das ist das paradoxe Ergebnis der Umgestaltung: Moskau ist nun zugeschnitten für den Blick aus dem Busfenster – und der fällt genau auf diese Leere, die Menschenlosigkeit, dem unkontrollierbaren, aber bestimmenden Merkmal der Stadt. Genau so wird sich die Stadt den WM-Besuchern präsentieren. Und das offenbart die unbewusste Aufgabe, die mit dem Umbau einhergeht: Das ganze Land in die Vergangenheit zurückzuversetzen, sagen wir, in die 1980er Jahre, um dann die Zeit für immer anzuhalten.

    1980 reloaded

    Moskau wird sich genauso präsentieren, wie es 1980 war. Die Gäste der Hauptstadt bekommen die einmalige Gelegenheit zu einer Reise in die fortgesetzte Vergangenheit. Das äußere Beiwerk ändert dabei nichts am Grundprinzip der Existenz: Was zählt, sind die Wünsche des Staates, nicht die der Menschen.
    Wie es der Zufall will, kommt ausgerechnet in diesen Tagen Kirill Serebrennikows neuer Film Sommer in die Kinos – während der Regisseur selbst seit einem Jahr unter Hausarrest steht.

    Sein Film spielt ebenfalls in den 1980ern. Auch dort herrscht eben jenes Gefühl von Endlosigkeit – es scheint, als würde alles für immer so bleiben; nur die Rockmusik überschwemmt von Zeit zu Zeit das von allen Seiten abgedichtete Gebäude namens UdSSR. Schließlich beschließt der Staat, dies zu kanalisieren – in Form des Leningrader Rock-Klubs. Die Freiheit des Menschen, seine Emotionen, sein Tatendrang gepaart mit staatlicher Kontrolle – das ist noch ein Geheimrezept der späten Sowjetunion.

    Auch heute wird jede menschliche Regung, jedes Verlangen kontrolliert. Du kannst zum Beispiel dein Fußballteam anfeuern, aber halte deine Gefühle bitte im Zaum, denn die Rostower Kosaken werden „alle Männer, die sich während der WM 2018 küssen, der Polizei melden“.

    Das Grundprinzip der Existenz ist und bleibt: Jeder, der leben will, muss eine Erlaubnis für dieses Leben einholen. 

    Freiwillig unfrei

    Den Zustand freiwilliger Unfreiheit können Ausländer nur schwer nachvollziehen. Allein die Existenz dieser menschlichen Maschine ist auf ihre Art einzigartig – es braucht dafür gleichzeitig millionenfache Selbstzensur. Nur eine Minderheit empfindet die Abwesenheit von Freiheit als Problem; die Erfahrung der individuellen Freiheit hat es nicht bis in den kollektiven Erfahrungsschatz geschafft, Freiheit ist nie zu einem Wert geworden.

    „Im Sport sind alle Länder vereint!“ verkündet fröhlich ein Werbespot im Propagandaradio, das noch gestern fast Funken sprühte vor antiwestlicher Rhetorik. Und auch das spiegelt nur einen Wunsch der obersten Führung wider: Solange wir das Sportfest zelebrieren, sollen „alle alles vergessen“ – weil es ihr, der Führung, gerade so passt. Genau das ist das totalitäre Bewusstsein, von dem Orwell schreibt: Es will alles vergessen, wenn es gerade bequem ist, und erwartet von allen, dass sie dasselbe tun.

    Aber die Welt funktioniert anders, und dort wird man nichts vergessen, auch nicht für die Dauer der Weltmeisterschaft: Weder die Ukraine, noch Senzow, noch Serebrennikow. Und dann, wenn die WM vorbei ist, wird alles wieder von vorne beginnen – immer im Kreis, immer im Kreis.

    Weitere Themen

    Die verlorenen Siege

    August: Olympia 1980

    Plattentausch in Moskau

    Was war da los? #1

    Fußball-Quiz: Teste dein Russland-Wissen!

    Es stinkt zum Himmel

  • Tanz der freien Bürger

    Tanz der freien Bürger

    In Unterhosen, sonst gerade mal mit Pilotenmütze, einer Krawatte oder Hosenträgern bekleidet – so lassen die Pilotenschüler aus Uljanowsk die Hüften kreisen, zu den Klängen von Satisfaction des italienisches DJs Benny Benassis. Das Video stellten die Kadetten im Netzwerk Vkontakte ein. Was sie sicher nicht ahnten: Ihre Parodie auf das Musikvideo Satisfaction ging viral.

    Ähnliches hatten britische Soldaten bereits 2013 gemacht. Doch in Russland löste das Video einen Sturm der Entrüstung aus, Politiker, Medienschaffende, alle mischten sich ein: Sergej Krasnow, Rektor der Hochschule für zivile Luftfahrt in Uljanowsk, drohte zunächst gar, die beteiligten Kadetten (deren Gesichter man im Video nur schwer erkennt) von der Schule zu schmeißen. Von einer „Schande“ sprachen manche, andere stuften die Aktion als „pervers“ ein.

    Doch mit der Empörung kam auch eine Welle der Solidarität: Das Katastrophenschutzministerium, die russischen Biathletinnen, Rentnerinnen aus St. Petersburg … es ist eine lange Liste von Namen, die sich am virtuellen Flashmob beteiligten und ebenfalls Satisfaction-Parodien ins Netz stellten, die mitunter ebenfalls viral gingen.

    Warum ein harmloses Vergnügen von Jugendlichen dem Staat Angst macht, das analysiert Andrej Archangelski auf The Insider.

     

     


    Pilotenschüler aus Uljanowsk lassen zu Satisfaction die Hüften kreisen – das Video ging viral

    Die vorliegende Geschichte hat mich als Autor rund eine halbe Stunde Recherche im Netz gekostet – für einen Journalisten ein ganz gewöhnlicher Aufwand. Doch diesen Aufwand muss, wie es aussieht, mittlerweile jeder Mensch leisten. Das Internet ist eine Parallelwelt, außerdem ist es eine Welt der Postmoderne – und um die Zitate, Parodien und Parodien der Parodien dieser neuen Welt zu verstehen, muss man ihre Sprache lernen.

    Es ist allerdings nur schwer vorstellbar, dass die folgenden Personen sich die Mühe gemacht haben zu recherchieren: 1) Sergej Krasnow, Rektor der Hochschule für zivile Luftfahrt. Er verglich die Studenten mit „Pussy Riot, die in der Kathedrale ihren Spott getrieben hatten“ und versicherte, dass „diese jungen Männer keinen Platz in der zivilen Luftfahrt finden werden“, erst recht diejenigen nicht, die „Fünfen haben und im Rückstand sind“. 2) Andrej Beljakow, der stellvertretende Vorsitzende der Rosawiazija [Föderale Agentur für Lufttransport dek], der die Prüfung des Instituts eingeleitet hat. Seine Behörde sprach im Zusammenhang mit dem Ereignis von „empörenden Filmaufnahmen“, einem „hässlichen Vorfall“, „frivolen Tänzen“ und einer „Beleidigung aller Mitarbeiter der zivilen Luftfahrt“. 3) Sergej Morosow, Gouverneur der Region Uljanowsk. Er stufte das Ganze als „äußerst pervers“ ein und sandte eine weitere Kommission in die Hochschule; er hatte befunden, das Video beleidige nicht nur die Region, sondern auch die Veteranen.

    Das Fernsehen spricht von „schwulem Feuerchen“

    Es ist nicht mal sicher, dass jene diesen Rechercheaufwand betrieben haben, die den Tanz zu einem Ereignis von nationaler Bedeutung aufbauschten – die Mitarbeiter des staatlichen Senders Rossija 24, wo das Video als „schwules Feuerchen“ bezeichnet und wo behauptet wurde, die „Jungsparty in Lack und Leder“ habe mit der Exmatrikulation aller geendet, die mit Vorliebe andere Körperteile in die Kamera strecken als ihre winkende Hand. Was die Exmatrikulation betrifft, war der Sender zum Glück etwas voreilig.

    Der Satz „Das Video sorgte bei den Nutzern der Sozialen Netzwerke für Empörung“ ist ein Paradebeispiel für Propaganda. Diese Floskel wird später sicher mal im Unterricht beim Thema „Geschichte der russischen Propaganda“ durchgenommen. Wenn die Propaganda Präsident Poroschenko oder die Regierungschefs Frankreichs, Deutschlands, der USA oder anderer Feinde Russlands verspotten will und keinen triftigen Grund dazu hat, hält die „Meinung der Nutzer Sozialer Medien“ als Informationsquelle her. Es ist ein Versuch im Namen einer nicht existenten sozialen Gruppe zu sprechen, die nicht einmal gemeinsame Merkmale aufweist. Dieser „Empörung der Nutzer Sozialer Netzwerke“ liegt eine Sowjetformel zugrunde, die so alt ist wie die Welt: „Empörung des arbeitenden Volkes“. Unter Bezugnahme darauf war beispielsweise 1937 möglich.

    Doch mir geht es nicht um die banale Tatsache, dass es überhaupt keine einheitliche „Meinung der Netzwerke“ geben kann. Sondern darum, dass jedes unschuldige virtuelle Ereignis in Russland erschreckende reale Konsequenzen nach sich zieht und Anlass für alle erdenklichen Kontrollen, Kommissionen und Exmatrikulationen bietet – und das noch im besten Fall.

    Eine Kluft zwischen den Generationen

    Am meisten verblüfft natürlich die gesellschaftliche Kluft zwischen zwei Generationen, die, wie man meinen könnte, gar nicht so weit auseinanderliegen: den 17-jährigen Studenten und den 30-,40-, und 50-jährigen Leitungspersonen. Da prallen zwei Welten aufeinander, die in unterschiedlichen Dimensionen existieren und einander absolut nicht verstehen.

    Auf der einen Seite ist da die Satisfaction-Welt, eine Welt sich kreuzender Parodien und Zitate mit all ihren ästhetischen Kontexten und Subtexten; auf der anderen die Welt der Kommissionen, Behörden und verletzten Gefühle. Das ist ein echter Konflikt zwischen Moderne und Archaismus, ein Konflikt der Kulturen – zwischen der Welt der Freiheit und des Drills.

     

     


    Am virtuellen Flashmob beteiligten sich auch die russischen Biathletinnen

    Wenn staatliche Kommissionen extra losfahren, um einen Tanz junger Männer zu untersuchen (!), dann sieht das Ganze selbst wie eine noch bösere Parodie des Musikvideos Satisfaction aus.

    Was hat ein staatlicher Sender – und somit auch der Staat – mit dieser Geschichte am Hut?

    Regierungsfreundliche Sender benutzen solche Dinge gern für Verallgemeinerungen wie: „Wir haben die Jugend nicht im Griff“ sowie für obligatorische Aufrufe, „zu bewährten sowjetischen Erziehungsmethoden zurückzukehren“, denn „damals hätte es so etwas nicht gegeben“. Letzten Endes liegt der Schluss nahe, dass all diese Skandale aus dem Nichts wohl nötig sind, um Emotionen anzuheizen mit dem Ziel, die Gesellschaft  durch „abschreckende Beispiele“ zu einen und so eine neue Verhaltensnorm für alle zu etablieren.

    Jedes Mal, wenn sich die Propagandisten auf ein Thema stürzen, das angeblich alle Gemüter erhitzt, müssen sie feststellen, dass sich überhaupt kein Konsens schaffen lässt

    Das Verblüffende daran: Jedes Mal, wenn sich die Propagandisten auf ein Thema stürzen, das angeblich alle Gemüter erhitzt, müssen sie feststellen, dass sich überhaupt kein Konsens bezüglich Verhaltensnormen schaffen lässt, nicht einmal bei echt skandalträchtigen Fällen. Also müssen sie vom Gas gehen und etwas Versöhnliches sagen. Jeder dieser Versuche endet in der Sackgasse, zugegebenermaßen dann, wenn das Publikum – so loyal es auch sein mag – seine Meinung einigermaßen frei äußern kann. Denn es kann keine „einheitliche Anstandsnorm“ in einem Land geben, dass formal immer noch ein demokratischer Staat ist. Es wird auch keine gesamtgesellschaftliche Verurteilung nach sowjetischem Vorbild geben, denn die Sowjetzeit ist nun mal vorbei, das Land ist kein einheitlicher Körper mehr, der sich synchron zum Staat bewegt und atmet.

    Im Grunde genommen sind all diese Versuche, den Tanz zu verurteilen, ein unbewusstes Aufbegehren gegen das Selbst, gegen Individualität. Versuche, den Menschen zu verbieten, sie selbst zu sein und das zu haben, was man Persönlichkeit nennt. Im weitesten Sinne betrifft das jede kollektive oder individuelle Feier – sei es der Sieg, der Schulabschluss oder einfach der Spaß an der Freude. Im Jahr 2016 waren zwei Gruppen solchen Angriffen ausgesetzt: Die Absolventen der Akademie des Föderalen Sicherheitsdienstes, die einen Autokorso in Geländewagen veranstalteten, und die Fußballspieler der russischen Nationalmannschaft, die ungeachtet ihrer Niederlage Sekt tranken und draußen in der Natur Spaß hatten. Auch an diesen beiden Fällen war nichts Kriminelles, und auch hier gab es keine Argumente außer der „Ehre der Uniform“.

    „Ehre der Uniform“: Menschen als Staatseigentum

    Hinter all den Versuchen, einen universellen Anlass zur Empörung zu finden, steht nur eines: eine archaische, nicht einmal sowjetische, sondern imperiale Vorstellung von allen Menschen, die wie auch immer, Hauptsache irgendwie, mit dem Staat in Verbindung stehen, als Soldaten, Hörige, Knechte, Leibeigene. Als Menschen ohne Persönlichkeitsrechte und somit ohne Recht auf Ausdruck ihrer Individualität. Dann wird davon ausgegangen, dass jeder, der eine Uniform anlegt, a priori Staatseigentum ist. Wenn er also tanzt, dann nur kollektiv und authentisch volkstümlich.

    Die Tatsache, dass sogar angehende Piloten und Offiziere ein Privatleben, Hobbies und allgemein Spaß haben, jenseits ihrer Staatspflicht, geht den Bewachern im Fernsehen, die sich selbst als Staatsdiener begreifen, schwer gegen den Strich. Dabei sind die angehenden Piloten einfach nur jung. Sie haben dieselben Interessen wie ihre Altersgenossen weltweit, wie der Flashmob zu ihrer Unterstützung beweist. Darin liegt kein Widerspruch mehr: Auch wenn du im öffentlichen Dienst arbeitest, hast du ein Recht auf Privatleben, dieses Recht ist durch die Verfassung verbürgt.

    Wenn er also tanzt, dann nur kollektiv

    Genau das ruft bei den Hütern der staatlichen Moral unkontrollierbaren Zorn hervor. So handelt es sich also jedes Mal um einen Angriff gegen die Individualität und im weitesten Sinne gegen die Persönlichkeit. Der Staat möchte nicht, dass Menschen zu Persönlichkeiten werden, er reagiert energisch auf jeden solchen Versuch, doch er findet keine hinreichenden Argumente für ein Verbot. Diese Inkongruenz zwischen den erklärten fundamentalen Werten und dem praktischen Leben ist Russlands Hauptproblem.

     

     


    Auch Petersburger Rentnerinnen parodieren Satisfaction

    Auch im 27. Jahr des Bestehens eines formal demokratischen Staates sind die demokratischen Lebensnormen nicht in eine zugängliche, allen verständliche Sprache übersetzt. Ein Rädchen der totalitären Gesellschaft hat nur ein Recht auf Leben, wenn es jederzeit bereit ist, fürs Vaterland zu sterben. In einer Demokratie ist es erlaubt, für sein eigenes, individuelles Glück zu leben – das scheint sehr einfach. Solange ein Mensch sein individuelles Glück sucht, ohne gegen die Gesetze zu verstoßen, hat niemand das Recht ihn daran zu hindern. Im Grunde ist das auch die normale nationale Idee: für sein eigenes Glück zu leben. Würde dieses Konzept als legitim anerkannt und laut ausgesprochen, würde es auch zum nationalen Konsens und zum perfekten Mittel, um derartige Konflikte zu lösen.

    Menschen freuen sich? Haben Spaß? Feiern? Ohne jemandem zu schaden? Das ist ihr gutes Recht. Doch diese simple Idee gilt heutzutage wahrscheinlich auch schon als Beleidigung von Heiligtümern. Der wichtigste offizielle Maßstab für moralisches Verhalten ist nach wie vor die Kriegserfahrung. Aber das Leben in Friedenszeiten sollte sich nicht auf Kriegserfahrung stützen, und sei dieser Krieg noch so gerecht. In Friedenszeiten sollte man nach Gesetzen des Friedens leben, nicht nach denen des Krieges oder Arbeitslagers. Eben dieser Widerspruch führt zu einer Spaltung der Gesellschaft, wo der eine Teil zu Satisfaction tanzt und der andere zu den Worten: Kommission, Behörde, Kontrolle.   

    Weitere Themen

    „Alles abgerooft“

    „Patrioten gibt’s bei euch also keine?“

    Wer geht da demonstrieren?

    Gopniki

    Lieder auf den Leader

    „Die Menschen wollen Veränderung“

  • (K)ein Abgesang auf Europa

    (K)ein Abgesang auf Europa

    Abgesang auf Europa: Nach dem illegalen Referendum in Katalonien kündeten einige Kommentatoren in staatlichen russischen Medien vom nahenden Ende der EU – sie zerfalle bald, wie auch einst die UdSSR zerfallen sei.

    Derartiges Medien-Echo hält Andrej Archangelski für „Propaganda unterm Deckmantel des Journalismus“. Auf Republic argumentiert er gegen solche Vergleiche und Untergangsszenarien – und für Europa.

    Das Referendum in Katalonien – wie eigentlich jede Krise in Europa, den USA oder der Ukraine – gibt der russischen Propaganda so etwas wie ihren Lebenssinn. Die Intonation der Staatsmedien wird in den letzten Jahren mehr und mehr Teil des Know-how: Man hat gelernt, jede Wunde aufzukratzen, aufzureißen und die Einzelheiten des fremden Fehltritts, der fremden Tragödie auszukosten. Und das alles unter dem Deckmantel der „objektiven Berichterstattung“ oder gar des „Mitgefühls“ .

    Mitte August brachte der Moderator einer Radiosendung bei Vesti FM einen Mitschnitt vom grauenerregenden Geschrei der Menschen, die während des Terroranschlags von Barcelona in Panik auseinanderstoben, und kommentierte sie mit den Worten: „Hört her, so klingt das wundervolle Europa.“
    Am 3. Oktober fragte eine andere Moderatorin des Senders den Sportkommentator: „Sagen Sie, wenn sich Katalonien abspaltet, unter welcher Flagge nimmt es dann an der Fußball-WM teil?“ Die Unschuld und das Alltägliche dieser Phrase vermittelt einzig die Botschaft: „Wir hätten gern, dass es so ist.“ 
    So war es schon beim Referendum in Schottland, während der Wahlen in den USA, in Frankreich und den Niederlanden und erst recht während der Flüchtlingskrise.

    Propaganda unterm Deckmantel des Journalismus

    Das ist Propaganda auf niedrigstem Niveau, unter dem Deckmantel des Journalismus. Ihr Überbau ist die „Analytik“, die dem Gefühlsausbruch den Anschein von Argumentation und Tiefsinn verleihen soll. Eine ihrer grundlegenden Thesen sieht heutzutage so aus: „Die EU wiederholt das Schicksal der UdSSR.“ Auf diesem Vergleich gründen alle möglichen „Beweise“ für einen „Zerfall der Europäischen Union“ und das Referendum in Katalonien als seinen ersten Vorboten.

    Der Politikexperte Fjodor Lukjanow zum Beispiel sagte in einem Radiokommentar zu den Ereignissen, das Geschehen in Katalonien erinnere an die „Zeiten der späten Sowjetunion mit seinen Souveränitätsparaden“. Ein anderer Fernsehkopf und Dauergast in analytischen Talkshows, Vitali Tretjakow, beruft sich auf Zahlenmagie als Argument: „Sie [die Staatenbündnisse] haben eine Lebenserwartung von 50 bis 70 Jahren, das zeigt die Geschichte, doch genauer ausführen will ich das jetzt nicht. […] Beobachten können wir das anhand der Europäischen Union, deren letztes Jahrzehnt jetzt läuft.“

    Vermeintliches „Naturgesetz“: Imperien zerfallen

    „Imperien zerfallen“, so schlussfolgern die Propagandisten nach dem katalanischen Referendum und wollen uns damit weismachen, das seien „Naturgesetze“ und „erst der Anfang“. „Die UdSSR war ein Imperium, und alle Imperien zerfallen, also wird auch die EU auseinanderfallen.“

    Der Vergleich der EU mit einem Imperium gründet auf dem Prinzip der äußeren Ähnlichkeit: Das Wort „Imperium“ assoziiert man schlicht mit etwas, das größer ist als ein Staat. Die EU besteht, wie einst die UdSSR, aus vielen Nationen; Entscheidungen werden zentral getroffen (Brüssel); sie umfasst ein Territorium, das durch wirtschaftliche Verbindungen und eine gemeinsame Idee geeint ist – scheint alles logisch, doch die Analogie bröckelt schon beim ersten kritischen Blick. Allein die Größe der Union bedeutet noch lange nicht, dass es keine Alternative zu einem Beziehungstyp des Imperiums gibt.

    Ein Imperium ist in erster Linie ein System von Beziehungen zwischen Souverän und Vasallen, zwischen Metropole und Peripherie – etwas, das auf Europa so gar nicht zutrifft, allein, wenn man bedenkt, wie sehr sich die politischen Prozesse in Polen von denen in Griechenland oder eben Spanien unterscheiden. Die „Souverän-Vasallen-Beziehungen in Europa“ existieren nur in den Köpfen der Propagandisten, die sich sicher sind, dass die EU „nach deutsch-französischer Pfeife tanzt und Deutschland und Frankreich nach der US-amerikanischen“.

    UdSSR war „Kompromiss auf Zeit“

    Vielmehr ist der Gebrauch des Wortes „Imperium“ auch in Bezug auf die Sowjetunion nicht korrekt. Nur ihre Gegner verwendeten diese Bezeichnung, und das metaphorisch (so bezeichnete zum Beispiel Reagan die UdSSR als „Imperium des Bösen“). Die Sowjet-Ideologen selbst wären angesichts dieser Formulierung höchst erstaunt gewesen.

    Das sowjetische Projekt war von Grund auf ein überweltliches, internationales Projekt, über allen Grenzen und vor allem über allen Ideen des „Nationalen“ stehend – genau das war das Universelle an der kommunistischen Idee; in dieser Logik war die UdSSR nur ein „Kompromiss auf Zeit“ bis zum endgültigen Sieg des Kommunismus.

    Zu all dem schweigt man im heutigen Russland lieber; sogar wenn über das hundertjährige Jubiläum der Revolution gesprochen wird, spricht man über alles, nur nicht über die damalige Ideologie. Das ist kein Zufall. Im Russland von 2017 gilt die UdSSR fast schon offiziell als „Reinkarnation des Tausendjährigen Reiches“, und wenn man von ihrem Zerfall redet (der sich schlecht leugnen lässt), setzt man den Akzent auf den Zerfall des Territoriums und nicht auf den Zusammenbruch der Ideologie.

    1991 zerbrach eine Utopie, nicht nur eine Union

    Und das ist die hauptsächliche Verfälschung. 1991 zerfiel nicht einfach nur eine Union, sondern es zerbrach eine Jahrhunderte währende Utopie der gesamten Menschheit – der Traum von der Errichtung des Paradieses auf Erden, von einer gerechten Gesellschaft. Das grandiose Experiment endete mit einem Zusammenbruch, die Utopie entpuppte sich als historische Sackgasse (dabei hatte sie lange Zeit viele Menschen auf der Welt inspiriert).

    Die Utopie war gescheitert, weil ihr wichtigstes Werkzeug – der Zwang, gegenüber dem Individuum und gegenüber den Gesetzen der Wirtschaft – sich schließlich als ineffektivste Art der Steuerung erwies. Heute ist dieser Erinnerungsblock zuverlässig gelöscht – sowohl aus dem Gedächtnis der Massen als auch aus dem der Fachleute, und zwar mit Hilfe von eben jenem Fernsehen und jener Propaganda. Dabei wäre noch in den 1990er Jahren niemand auf die Idee gekommen zu fragen, warum die UdSSR auseinandergebrochen war – die Menschen hatten einfach keinen Sinn mehr gesehen in den übermenschlichen Anstrengungen zugunsten eines mythischen Morgen.

    Selbst Brexit hebt EU-Prinzipien nicht auf

    Nichts von dem sehen wir heute in der Europäischen Union, weder einen Zusammenbruch der Wirtschaft noch der Ideologie (soweit sie im Falle der EU überhaupt existiert). Natürlich gibt es Probleme und sogar Krisen; aber selbst ein hypothetischer Zerfall hebt, wie der Brexit gezeigt hat, nicht die zugrundeliegenden ethischen und politischen Prinzipien der Mitgliedsstaaten auf – die Achtung der Persönlichkeitsrechte und Freiheiten der Bürger.

    Die als Analytik getarnte Propaganda übermittelt dem Kreml genau das, was er gerne hören möchte: „Europa steht kurz vor dem Kollaps.“ Das Problem dabei ist, dass der Kreml beginnt, selbst an diese Utopie zu glauben, und danach seine Berechnungen anstellt. Die Fehlerhaftigkeit dieser „geopolitischen Analyse“ hat sich bereits mehr als einmal erwiesen: im Falle der Ukraine (mit der angenommenen Spaltung in einen pro-westlichen Westen und pro-russischen Osten) oder im Falle der USA (Trump wird schon aufräumen). Der zentrale Irrtum der kremlnahen „Analytiker“ ist der, dass die Ereignisse in Katalonien oder die „rechte Revanche“ in Europa in Wahrheit keine Rückkehr zur alten Weltordnung darstellen, sondern eine Spiegelung völlig neuer Prozesse, deren Kern die Suche nach einer neuen Identität ist.

    EU auf der Suche nach einer neuen Identität

    Eine neue globale Existenzkrise nach dem Zusammenbruch von Ideologien kann, wie schon Samuel Huntington im Kampf der Kulturen schrieb, verschiedenste Formen annehmen; um sich zu schützen, krallt sich der Mensch alles, was gerade zur Hand ist – Nationalität, Rasse, Religion, Territorium.

    Aber diese Konzepte spielen jetzt eine ganz andere Rolle – sie stellen den Menschen in den Vordergrund, arbeiten seiner eigenen Identität zu. Das bedeutet keine Rückkehr zur alten Ordnung und den einstigen Konzepten, sondern, im Gegenteil, die Suche nach einer neuen Sprache und Lebensform, die durch die alten Formen hindurch aufkeimt.

    Die Welt verändert sich tatsächlich vor unseren Augen, und die Ereignisse in Europa bestätigen das. Aber ihre Konsequenz wird die – zuweilen beschwerliche – Herausbildung einer neuen Identität sein, die die gegnerischen Parteien versöhnen und unter neuen Voraussetzungen alle Akteure der heutigen politischen und weltanschaulichen Kämpfe mit einschließen wird.

    Allerdings, wenn in Europa am Ende eine solche neue Identität gefunden wird, dann sicher nicht mittels einer Rekonstruktion der Vergangenheit. Sondern mit Hilfe einer ehrlichen und gleichberechtigten Diskussion zwischen allen Teilnehmern am Drama.

    Weitere Themen

    Presseschau № 34: Brexit

    Trump ein Agent Putins?

    Presseschau № 44: Trumps Wahlsieg

    „Russland war Vorreiter dessen, was heute in der Welt passiert“

    „Heimat! Freiheit! Putin!“

    Die Wilden 1990er

  • „Nur ein Idiot versteht den Ernst der Lage nicht“

    „Nur ein Idiot versteht den Ernst der Lage nicht“

    Da kopulieren ein Stalin-Klon und Chruschtschow, ein Bojar wird hingerichtet, es folgt die Gruppenvergewaltigung seiner Witwe, auch die Sprache ist voller Gewalt und Sex: Vladimir Sorokin verstößt in seinen Werken gezielt gegen Tabus und gilt als enfant terrible der russischen Literatur. Seine umstrittenen Werke sind zu lesen als Parabeln auf das post-sowjetische Russland und seine imperialen Vorläufer. Während die kremlnahe Jugendorganisation Iduschtschije Wmeste 2002 Sorokins Werke öffentlichkeitswirksam in einer Toilettenattrappe versenkte, feiern Sorokins Anhänger seine Bücher als geradezu prophetische Meisterwerke.

    Seine Werke erschienen erst nach der Perestroika auch in Russland, heute lebt Sorokin in der Nähe von Moskau und in Berlin. Zu seinem 60. Geburtstag im Jahr 2015 hatte ihn Andrej Archangelski, bekannter Feuilletonist und Kultur-Redakteur bei Kommersant-Ogonjok, getroffen. Im Interview nimmt Sorokin die zeitgenössische russische Literatur, Politik und Gesellschaft auseinander. Es bleibt nicht viel übrig. Zu Sorokins 62. Geburtstag im August 2017 veröffentlichte Ogonjok das Interview erneut.

    Vladimir Sorokin gilt als enfant terrible der russischen Literatur / Foto © Jewgeni Gurko/Kommersant
    Vladimir Sorokin gilt als enfant terrible der russischen Literatur / Foto © Jewgeni Gurko/Kommersant

    Kommersant-Ogonjok: Wenn die Leute hören, wie alt der Schriftsteller Vladimir Sorokin ist, ist die Verwunderung groß: „Wie ist das möglich?!“ Wundern Sie sich auch selbst?


    Vladimir Sorokin: Nein. Ganz ehrlich, auch wenn das ein wenig anstößig klingt, ich bin innerlich in meiner Studentenzeit steckengeblieben. Hoffnungslos. Im Inneren bin ich ein ewiger Student. Da kann ich gar nichts gegen tun. Ich bin einfach nie erwachsen geworden.


    Sie gelten noch immer, sagen wir mal, schon die letzten 30 Jahre als das wichtigste literarische Ereignis Russlands. Ich möchte Ihnen damit jetzt gar nicht unbedingt ein Kompliment machen – das ist ja eher ein Problem. Sie sind nicht mal ein Produkt der 1990er, sondern der unzensierten Kunst der Sowjetunion. Das heißt, seitdem gab es in der russischen Literatur nichts grundsätzlich Neues. Da stimmt was nicht.


    Andrej, kein Kommentar … Reden wir lieber über andere Autoren. Ich frage meine Bekannten in verschiedenen europäischen Ländern: Was lest ihr von der zeitgenössischen russischen Literatur? Diese Frage habe ich auch einem alten Freund gestellt, dem deutschen Slawisten Igor Smirnow – ein knallharter Fachmann. Er sagte lakonisch: „Ich kann die postsowjetische Prosa nicht lesen. Sie ist einfallslos.“ Dem kann ich mich nur anschließen. Denn die postsowjetische Prosa ist gleichsam aus den Scherben vorheriger Errungenschaften zusammengesetzt. Und das ist ein Problem.

    Ich kann die postsowjetische Prosa nicht lesen. Sie ist einfallslos

    Mir geht es genauso, ich schlage einen neuen Roman auf, lese fünf Seiten und lege ihn weg. Völlig überraschungsfrei. Gibt es also keine Schriftsteller? Aber die Leute schreiben doch, veröffentlichen, werden gelesen. 

    Ich habe dem legendären Verleger Sascha Iwanow, der den Finger immer am literarischen Puls der Zeit hat, dieselbe Frage gestellt: „Wo sind die neuen Sterne am Literaturhimmel?“ Er sagt: „Weißt du, Volodja, da geht es nicht um einzelne Sterne, sondern um den Sternenhimmel.“ 

    Er liegt damit tatsächlich absolut richtig: Von der Literatur erwartet niemand mehr existenzielle Offenbarungen, Erschütterungen. Man erwartet von ihr entweder Behaglichkeit oder euphorisches Vergessen. Was im Prinzip ein und dasselbe ist.

    Wollen Sie damit sagen, dass die Literatur am Ende ist? … Dass es keine objektiven Umstände für ihr Entstehen gibt? Ist es das Ende der Literatur an sich? Oder ist gerade einfach nicht die Zeit dafür? … 

    Hm, was das Ende angeht, weiß ich nicht – solange es noch einen einzigen Leser gibt, ist die Literatur nicht tot. Man möchte glauben, dass das nur eine Phase ist … Aber was danach kommt, weiß niemand. Weil die Welt der digitalen und visuellen Technologien den Menschen immer wieder auf seine Robustheit hin testet. Der Mensch ist so ein formbares Tier – der zerbricht nicht, sondern verbiegt sich. Bis er schließlich in diesem gekrümmten Zustand sich selbst zuwiderhandeln kann. Wenn das Visuelle dann alle wieder langweilt, dann ist vielleicht wieder Platz für wortgebundene Phantasie. Wenn der Mensch zu sich zurückkehren will. Oder klingt das utopisch?

    Was vor 50 oder 40 Jahren noch Merkmal einer bestimmten literarischen Strömung war, des Konzeptualismus, ist jetzt zur Regel geworden. Nun hat sich aber das System der schriftstellerischen Tätigkeit insgesamt sehr wohl verändert. Der Autor setzt sich wieder unter’n Apfelbaum und denkt, jetzt schreib ich wie Turgenjew. Oder wie Schukschin. 

    Da haben Sie recht. Aber was meiner Ansicht nach den meisten zeitgenössischen Autoren fehlt, sind eigene Welten. Sie benutzen quasi fremde Möbel, wollen keine eigenen erfinden, drechseln, zusammenbauen. Du schlägst ein Buch von Prilepin auf und merkst sofort, diese Eichenholzstühle kennst du schon aus der sowjetischen Prosa, nur hat er sie so modisch glänzend lackiert und bunt gepolstert. Aber wir suchen in der Literatur doch das Einmalige. Platonow, Charms, Bulgakow, Schalamow, Sascha Sokolow, Mamlejew, die waren einmalig. 

    Zeitgenössische Autoren benutzen fremde Möbel, wollen keine eigenen erfinden, drechseln, zusammenbauen

    Obwohl es Leute gibt, die gern immer die gleichen Romane lesen. Aber das ist schon eine Art literarisches Fitnesstraining. Jedes Jahr lässt der Autor einen erwarteten und vorhersagbaren Roman vom Fließband plumpsen. Das Fließband der Pop-Literatur läuft ohne Unterlass. Nein, ich bin bei der Literatur für die Einzelanfertigung.

    Auch wenn das im Hinblick auf Ihre Prosa absurd klingt, aber früher hat Sie doch eigentlich der Mensch interessiert. Alles drehte sich um das Individuum, auch wenn es ein grauenhaftes Ungeheuer war. Sie haben versucht, damit zu arbeiten. Und dann haben Sie den Menschen irgendwie fallengelassen. Ich würde sagen, Sie sind enttäuscht vom Individuum.

    Ich kann dazu wenig sagen. Ich verlasse mich schon mein Leben lang auf meine Intuition und wenn ich arbeite, dann funktioniere ich im Grunde wie ein Medium. Deswegen analysiere ich nie während der Arbeit. Ich löse einfach gewisse Konstruktionsaufgaben. Das ist ein komplexer Prozess, den man schwer erklären, formulieren kann.

    Aber wenn Sie schon so eine Frage stellen, (lacht) so eine anthropologische! Ja, ich würde sagen, dass ich vom postsowjetischen Menschen mehr enttäuscht bin als vom sowjetischen. Weil im sowjetischen Menschen eine gewisse Hoffnung lag – dass er früher oder später Sowjetisches, Allzusowjetisches in sich überwinden kann, dass das zusammen mit der Struktur verschwindet. 

    Der postsowjetische Mensch ist nicht fähig, um sich herum eine normale Gesellschaft aufzubauen. Er erzeugt absurdes Theater

    Jetzt ist klar geworden, dass es im 20. Jahrhundert zu derartigen Mutationen kam, begleitet vom Massenterror, dass das genetische Opfer dieser furchtbaren Selektion eigentlich darin besteht, dass der postsowjetische Mensch nicht nur nicht gewillt ist, den sowjetischen Eiter aus sich herauszudrücken, sondern ihn, im Gegenteil, auch noch als frisches Blut wahrnimmt. Aber mit solchem Blut wird er zum Zombie. Er ist nicht fähig, um sich herum eine normale Gesellschaft aufzubauen. Er erzeugt absurdes Theater.

    Es ist mittlerweile banal zu sagen, dass wir seit ein paar Jahren in der von Ihnen im Roman Telluria erdachten Welt leben: Wir haben von protosowjetischen, irgendwie rekonstruierten „Volksrepubliken“ gelesen, in denen Touristen Extremurlaub suchen – ein Wochenendtrip in die alte UdSSR. Das las sich alles als Utopie – genau bis 2014. Und dann wurde das, genauso wie alles andere, was Sie erfunden, was Sie, wie sich herausstellte vorhergesehen haben, zum Gemeinplatz. Macht Ihnen das nicht Angst, dass Sie das alles erfunden haben?

    Diese letzte Frage, Andrej, ist mittlerweile auch schon banal, sorry. Nein, Angst macht mir das nicht … Das Leben ist härter als die Literatur. Ja, tellurische Züge sind in den aktuellen Entwicklungen bereits offensichtlich. 

    Mir kommt es vor, als führen wir mit einem riesigen Schiff, dessen Deck ins Wanken kommt

    Mir kommt es vor, als führen wir mit einem riesigen Schiff, dessen Deck ins Wanken kommt und in Schieflage gerät. Und damit meine ich nicht nur das Schiff Russland. Auf der Europa fangen die Möbel genauso an zu rutschen, auch wenn die Leute hübsch an Deck flanieren, tanzen und an der Bar sitzen.

    Alle Ihre Bücher der 1980er und 1990er handeln, wenn ich das richtig verstehe, von der Grausamkeit, die jeder von uns in sich trägt. Die Lektüre Ihrer Werke hat dann den richtigen Effekt, wenn man beginnt, vor sich selbst auf der Hut zu sein. In jedem von uns schläft die Hölle, die muss man niederhalten. 
    Seit 2014 ist so ein gesellschaftliches Phänomen aufgetaucht, das alles verschlungen hat – eine völlig unmotivierte Grausamkeit ist zum Vorschein gekommen. Die nicht einmal physisch ist, sondern moralisch.

    Sie ist ontologisch. Die russische Grausamkeit hat eine lange Geschichte, über viele Jahrhunderte. Die aktuelle, postsowjetische, ist eine Variation auf dasselbe Thema. Das spüren wir alle auf energetischer Ebene, da geht es gar nicht mal um Fernsehen, Politik oder Kriegshandlungen. Sondern darum, wie sich die Menschen auf der Straße verhalten, in der Metro, am Steuer … Und ich finde, das ist auch ein Symptom dessen, dass die Gesellschaft nicht einfach die Stabilität verliert, sondern den Glauben an die Zukunft. 

    Es herrscht ein Gefühl, dass da etwas auf uns zu kommt. Das habe nicht nur ich

    Das hat nichts zu tun mit der neuen Reichsidee von wegen „wir sind die Besten“, wir sind von Feinden umzingelt, das geht tiefer. Das hängt eben mit der Schieflage des Decks zusammen. Wenn ein Erdbeben losgeht, versetzt das alle Tiere in Angst und Schrecken. Die einen jaulen verzweifelt, die anderen schnappen zu. Insofern … herrscht ein Gefühl, dass da etwas auf uns zu kommt. Das habe nicht nur ich.    

    In Telluria gibt es viele Typen von Zukunft, aber es gibt keinen, der uns die Realität beschert hätte und den ich als Katastrophentyp bezeichnen würde: Ein Mensch, der der ganzen Welt den Zusammenbruch wünscht – als Strafe für irgendwelche Sünden. 
    Woher kommt eine solche Reaktion nach Jahren voller neuer, nie dagewesener Möglichkeiten – in denen sich der Bewohner Russlands so viel leisten konnte wie nie zuvor?

    Nochmal, die Menschen haben nicht das Gefühl, dass uns glückliche Zeiten bevorstehen. Man muss schon ein Idiot sein, um den Ernst der Lage nicht zu erkennen, in die Russland nach der Krim geraten ist. Von jungen Leuten höre ich ständig: „Ich habe hier keine Zukunft.“ Gespräche über Emigration sind zur Normalität geworden. Die Gesellschaft zittert in unheilvoller Vorahnung. 

    Man muss schon ein Idiot sein, um den Ernst der Lage nicht zu erkennen, in die Russland nach der Krim geraten ist

    Wofür kann sich der postsowjetische Mensch verachten? Dafür, dass er es nicht geschafft hat, frei zu werden, das Prinzip der Staatsmacht zu verändern. Die Staatsmacht war schon immer ein Vampir, und sie ist es auch geblieben. 

    Reden wir darüber, was diesem Bösen entgegentreten soll. Es hat sich gezeigt, dass wir überhaupt keine Friedensethik haben, keine friedliche Tradition, kein Konzept des friedlichen Zusammenlebens. Nach all den Sowjet-Plakaten mit Tauben und durchgestrichenen Atombomben drauf hat sich herausgestellt, dass dieses Friedensprogramm komplett hohl und inhaltsleer war. 

    So wie es auch keine Freundschaft gab, im Grunde. Ich meine dieses sowjetische Seit an Seit … Das war ein grandioser, von der Staatsmacht geförderter Selbstbetrug. In der Kommunalka ist die Freundschaft immer eine erzwungene. Ich glaube, wir haben noch immer eine der am meisten atomisierten und isolierten Gesellschaften. Im Grunde, Andrej, je weiter ich mich zeitlich von der Sowjetzeit entferne, desto hässlicher und fürchterlicher erscheint sie mir. Das war wirklich ein Reich des Bösen. Was war das für ein Weltfrieden, wenn der Krieg der Staatsmacht gegen das Volk unaufhörlich im Gang war – verstecke sich wer kann. 

    Die sowjetische Vergangenheit wurde nicht begraben, und so ist sie in mutierter und gleichzeitig halbverwester Form wieder auferstanden. Und wir müssen jetzt mit diesem Monster leben

    Viele Dinge, die heute passieren, sind nicht verarbeitete Komplexe aus der sowjetischen Vergangenheit, und da schlage ich wieder in meine Lieblingskerbe: Die sowjetische Vergangenheit wurde nicht zur rechten Zeit begraben, also in den 1990er Jahren. Sie wurde nicht begraben, und so ist sie in mutierter und gleichzeitig halbverwester Form wieder auferstanden. Und wir müssen jetzt mit diesem Monster leben. Das diejenigen sehr geschickt erweckt haben, die ganz genau wussten, wie es aussah, wo seine Nervenzentren liegen. Dort haben sie die jeweiligen Nadeln gesetzt. So ist das mit dem vaterländischen Voodoo. Ich fürchte, die Folgen dieses Experiments werden katastrophal sein.

    Und diese neue Sprache des Hasses – erforschen Sie die? Das ist doch Ihr Element.

    Was die Sprache des Hasses angeht, war unser Land schon immer reich. Es genügte schon, in der Stoßzeit im sowjetischen Bus zu fahren. Eine Fundgrube! Da braucht es eigentlich keine besondere Aufmerksamkeit, ich habe feine Ohren. Doch der heutige, neoimperiale, sozusagen offizielle Hass … in dieser Sprache liegt trotz all ihrer Grimmigkeit und Vulgarität etwas Hysterisches, eine gewisse Schwachheit. Man kriegt so ein Gefühl, die Leute würden kapieren, dass sie das jetzt hinausschreien müssen, weil es morgen vielleicht nichts mehr zu schreien und niemanden mehr anzuschreien gibt.Man spürt in alldem eine gewisse Agonie. Wenn man das mit der Rhetorik des alten totalitären Regimes vergleicht, dann wurde damals mit großem Vertrauen in den morgigen Tag gesprochen. Der Massenterror half dabei. Sie wussten, solange es den Eisernen Vorhang gibt, gehört die Zukunft ihnen. Und das spürte man in jeder Zeile der Prawda

    Aber wenn jetzt der Fernsehmoderator sagt: „Wir können die USA jederzeit in radioaktive Asche verwandeln“, dann glaub ich ihm das nicht. Der glaubt sich ja selbst nicht.

    Im Grunde leben wir in einer üüüberaus spannenden Zeit! Das ist schon lange nicht mehr Gogol, sondern Charms … 

    Ist so etwas wie Reue möglich, ein Eingeständnis eigener Fehler, eigener Schuld – als Form der endgültigen Einschläferung dieses Zombies, dieses Monsters? 

    Reue kann es erst nach der Katastrophe geben. Das ist keine Arznei, die man verabreichen kann. Ich glaube, freiwillig wird es hier keine Reue geben. Um zu bereuen, muss man erst ordentlich hinfallen, sich den Kopf anschlagen und, während man sich die Beule reibt, fragen: Was hab ich falsch gemacht? Für die Reue muss man sich selbst von der Seite sehen, als Ganzes und ohne Beschönigung.

    Die Geschichte insgesamt hat auch die absolute Schwäche der zeitgenössischen Kultur aufgezeigt. Ist das nicht ihr grandioses Scheitern?

    Die Kultur ist eine zarte Dame, keine Junge Frau mit Ruder. Für sie war das Déjà-vu mit dem Sowok zu viel des Guten. Sie braucht Zeit, um wieder zu sich zu kommen. Setzt sich erstmal ein Weilchen auf die Chaiselongue und verschnauft.

    Weitere Themen

    Wie Russland lernte, die Bombe zu lieben

    Entlaufene Zukunft

    „Sorokin wird plötzlich zum Spiegel unserer Polit-Phrasen“

    Geschichte als Rummelplatz

    Auflösung der Sowjetunion

    Sprache und das Trauma der Befreiung

  • Die Geburt des Politischen aus dem Geist der Propaganda

    Die Geburt des Politischen aus dem Geist der Propaganda

    Oppositionspolitiker Alexej Nawalny hat gerufen und Tausende sind ihm auf die Straßen gefolgt, landesweit, am vergangenen Montag bereits zum zweiten Mal. Es ist dabei nicht nur der Unmut über Korruption, der die Leute auf die Straßen treibt. Sondern es sind ganz unterschiedliche Motive, von der Forderung nach mehr Demokratie und Menschenrechten bis hin zum regime change

    In Moskau wiederum protestieren viele Bewohner seit Monaten gegen den geplanten Abriss ihrer Wohnhäuser, zumeist Chruschtschowki aus den 1950er Jahren, die die Stadt in einem gigantischen Bauprojekt abreißen und durch Neubauten ersetzen will. Unlängst brach eine Debatte darüber aus, ob es einen unpolitischen Protest überhaupt geben kann – auf den allerdings viele der Demonstrationsteilnehmer bestehen.

    Ein politisches Empowerment in der russischen Gesellschaft jedenfalls diagnostiziert Andrej Archangelski auf Carnegie.ru – und sieht die Ursachen dafür, ausgerechnet, in der Propaganda.

    Die Ukrainer sagen gerne, Russland habe mit seinem Handeln im Jahr 2014 mehr zur Herausbildung einer ukrainischen Identität beigetragen als die ukrainischen Institutionen in 25 Jahren Unabhängigkeit. Das Gleiche kann man nun in Russland auch von der eigenen Regierung behaupten.

    Massenpropaganda ist von der Taktik her berechenbar (Aggressivität, Befeuerung des Irrationalen, Neurotisierung der Gesellschaft), aber strategisch vorhersagbar sind die Auswirkungen nicht. 

    Wer hätte 2014 gedacht, dass drei Jahre später auch diejenigen zu Massenprotesten gegen Korruption auf die Straße gehen würden, die ihr ganzes Leben unter Putin gelebt haben, jene Generation, von der man annahm, sie bestünde aus lauter Loyalisten des Post-Krim-Konsens?

    Da ist Nawalny mit seinen Nachforschungen, ja; aber viel wichtiger ist, dass eine psychologische Schwelle überschritten scheint. Und paradoxerweise wurde die politische Sprache im „Kisseljow-TV“ vermittelt.

    Nachdenken über Politik – dank Propaganda

    Es waren nämlich die Propaganda-Figuren und Klischees in den Medien, die geholfen haben, dass sich eine politische Massensprache in Russland herausbildete. Genauer gesagt hat die Propaganda – und das ist einer der unvorhergesehenen Effekte – das Nachdenken über Politik zu einem Teil des täglichen Lebens gemacht.

    Unsere Propaganda ist darauf angewiesen, die Zuschauer mit den Einzelheiten des amerikanischen, ukrainischen oder französischen Systems bekannt zu machen; die Konzentration auf die politischen Antagonisten und verschiedenen Einflussgruppen enthüllte vor dem russischen Durchschnittsbürger plötzlich die ganze Komplexität des politischen Lebens.

    Aufgerufen, Geschichte zu schreiben

    2014 wurde der Bürger dazu aufgerufen, Geschichte zu schreiben – das heißt, zum handelnden Subjekt der Geschichte zu werden. Aber man kann nicht an den außenpolitischen Grenzziehungen ein Subjekt sein und gleichzeitig passives Objekt im Hinblick auf die inneren Angelegenheiten bleiben. 

    Der Sowjetmensch konnte nicht politisch über sich selbst bestimmen, die Möglichkeit einer solchen Selbstermächtigung bestand für ihn nicht – er war nur möglich als „Teil eines Ganzen“, „die Eins ist Null”, wie es damals hieß. 

    Heute, so stellt sich plötzlich heraus, wird man zum Subjekt am einfachsten über die Politik. Wobei man politische Identität und Subjekthaftigkeit erlangen kann, indem man eine fremdbestimmte, aufgezwungene Sprache ablehnt (siehe den Konflikt zwischen Schülern und Lehrern), oder indem man sich selbst plötzlich als Eigentümer begreift (siehe die Reaktion der Moskauer [auf den geplanten Abriss ihrer Häuser]), oder auch in Form einer Reaktion auf „große Ereignisse“, wie die von 2014.

    Die Vertuschung des Politischen

    Die Regierenden haben mit diesem Effekt nicht gerechnet; ihr Ideal ist das einer gleichgültigen und indifferenten Bevölkerung. Aber die „Konsolidierung der Nation“ im Jahr 2014 war nicht möglich ohne eine Aktivierung des politischen Instinkts, und einmal aktiviert, ist dieser Instinkt schwer zurückzunehmen.

    Das war tatsächlich ein schwerwiegendes Zugeständnis seitens der Putin-Administration. Denn die gesamte Geschichte der Putin-Periode ist der Versuch, die Politik vor dem Volk zu vertuschen.

    Erstens ist da die Ebene des Begriffsaustauschs: In Russland wurde „Politik“ durch das Wort „Macht“, bzw. „Regierung“ ersetzt, wie Gleb Pawlowski feststellt. „Politik ist der Kampf um die Macht“, das sagt Ihnen, eine pseudo-objektive Position einnehmend, jeder Kreml-Politologe. 
    Aber auch das ist eine Finte: Die Opposition in Russland kämpft nicht um die Macht, sondern um die Politik, um das bloße Recht auf eine andere Meinung.

    Patriotismus – kein Ruf des Herzens

    Auch das Konzept des Patriotismus (du bist „für unsere Leute“, ganz gleich, was sie anstellen) sollte dazu dienen zu verbergen, dass die Unterstützung der Regierung weder ein Instinkt noch ein Ruf des Herzens ist, sondern im Rahmen des normalen politischen Verhaltens stattfindet (Loyalität).

    Sogar der Begriff der Geopolitik, der nach 2014 besonders aktiv eingesetzt wurde, verfolgte dasselbe Ziel: den Menschen nicht als politisches Subjekt gelten zu lassen.
    „Wir sind die Geiseln unserer geografischen Position und haben deshalb keine Wahl; das ist unser Schicksal, man kann ihm nicht entfliehen und deshalb muss man sich ihm fügen …“ 
    Roland Barthes bemerkte zu Zeiten des Algerienkrieges: Wenn die Zeitungen schreiben, „das Schicksal will es so“, heiße das übersetzt, „so will es die französische Regierung“.

    Die Sowjets 2.0

    Und zum grandiosesten Mittel, die Politik zu vertuschen, wurde der Sowjetsprech. Aber die Bestäubung mit Sowjetnostalgie hatte einen weiteren unvorhergesehenen Effekt: Diese Propaganda erschuf einen neuen Sowjetmenschen.
    Er ist zu unterscheiden von dem, der der UdSSR passiv nachtrauert. Die Aktiven – nennen wir sie Reanimatoren – sind die, die heute die Abschaffung des Kapitalismus, die Rückkehr zur UdSSR und einen Wechsel des Wirtschaftsmodells fordern. 

    Gepäppelt von Fernsehen und Regierung, wandeln sich die Sowjets 2.0 im Grunde von Loyalisten in eine konservative Opposition. Das Sowjetische ist mittlerweile Teil der eigenen politischen Identität. Was dem Sinn des Terminus widerspricht, denn das Sowjetische bedeutet eigentlich die Abwesenheit von eigenen Ansichten. 

    Das heutige Sowjetische ist zum Label geworden, zu einer Marke, die bloß noch – aber immerhin – auf eine politische Position verweist.

    Der Zwischenraum 

    Ein totalitäres System sieht keine Opponenten vor. Ein solches System verweist dich bei Widerspruch automatisch auf eine Position außerhalb des Legitimen, macht dich zum Feind. Die russische Propaganda allerdings ist gezwungen, rein formal demokratische Prinzipien zu wahren. Das ist ein wesentlicher Unterschied – und er erzeugt einen interessanten Zwischenraum. Einen Zwischenraum zwischen den Kauleisten des Leviathan, sozusagen. 

    Die heutige Propaganda appelliert, und sei es nur formal, an einen freien Menschen. Deshalb muss sie so tun, als verfüge sie über ein stabiles System von Argumenten und Beweisen. Es geht gar nicht darum, wie (wenig) überzeugend usw. diese sind. Es ist ein Meta-Paradox: Die bloße Notwendigkeit, dass es überzeugt werden muss, verwandelt das totalitäre Schräubchen in ein Subjekt. 

    Am Ende hat das, was auf die Totalisierung des Bewusstseins gezielt hatte, den umgekehrten Effekt bewirkt: Es hat den Durchschnittsbürger in seinem Status als politisches Subjekt gefestigt. Dieser wird ja als Person angesprochen, eine Person mit Rechten, Entscheidungsmöglichkeiten, einem freien Willen – da wächst ungewollt die Selbstachtung. Das Subjekt reckt seine Schultern.

    Zwischen den Kauleisten des Leviathan

    Weshalb stärkt der Kreml ständig das, was er zu bekämpfen versucht? Hier kommt wieder jener Zwischenraum ins Spiel – der Widerspruch zwischen den heutigen realen Praktiken in Russland, den autoritären Instrumenten, und dem formal demokratischen Gesellschaftsaufbau gemäß der Verfassung. Dieser Zwischenraum ist der wahre Quell des Politischen im heutigen Russland.

    Die offiziellen demokratischen Institutionen sind zwar zu einer Formalität verkommen, aber Politik gibt es trotzdem, und zwar in diesen Zwischenräumen und Rissen. Die Entpolitisierung einer weiteren Nische führt sofort zu einem Ausbruch von politischer Aktivität an einer anderen Stelle.

    Das Streben nach dem Politischen

    Wir können eine Hypothese aufstellen: Das endgültige Ziel des hybriden Organismus (Ekaterina Schulmann) ist das – im Freudschen Sinne – unbewusste Streben nach dem Politischen. Das, was tabuisiert und ausgetrieben wird, wird unbewusst zum sehnlichsten Verlangen des hybriden Wesens.

    Möglicherweise ist die Politisierung tatsächlich im Kern unseres heutigen Systems angelegt, es muss sich dessen nicht einmal bewusst sein, es kann versuchen, mit aller Gewalt dagegen anzukämpfen. Aber das würde bedeuten, dass es gegen die eigene Natur ankämpft. Deshalb erscheint es uns, als wäre die Hauptquelle der Politisierung die Macht selbst.

    Bonus für die Wähler

    Die Hauptaufgabe des Kreml für das kommende Jahr 2018 wird vermutlich sein, die Аmtszeit des derzeitigen russischen Präsidenten um weitere sechs Jahre zu verlängern, möglichst unter Einhaltung aller Normen und mit maximaler Legitimierung. Alle Aktivitäten werden sich darauf richten, dieses Ziel zu erreichen.

    Was wird die Regierung im Zuge der Wahlen als Bonus verkaufen? Eine Möglichkeit wäre die Politisierung selbst. Der Wähler bekommt als Bonus angeboten, ein eigenständiges politisches Subjekt zu sein. Sie wählen nun nicht mehr als Schräubchen, sondern Sie wählen als vollwertige Subjekte der Geschichte – und das in einer Situation der geopolitischen Konfrontation mit dem Westen.

    Der postsowjetische Mensch als politisch Handelnder 

    Man wird nicht auf Passivität, sondern auf Aktivität setzen – natürlich auf eine kontrollierte. Aber wie wir uns bereits überzeugen konnten, gerät die Sache, sobald es um Werte geht – und Politik ist eben auch ein Wert –, schnell außer Kontrolle.

    Man kann behaupten, dass der Klientelismus das System immer noch besser absichert als alle offiziellen Mechanismen, und dass es in den Regionen keinerlei Voraussetzungen für politische Aktivität gibt. Aber das ist, wenn man so will, nur die äußere Gestalt. Was im Massenbewusstsein passiert, kann keine Meinungsumfrage einfangen. Wir können nur annehmen, dass ganze Massen zu politischen Subjekten werden, dass der postsowjetische Mensch sich als Spieler und sogar als politisch Handelnder bewusst wird.

    Ein völlig anderes Land mit völlig anderen Menschen

    Ändert sich dadurch etwas Grundlegendes? Ja. Das ändert absolut alles. 

    Den sowjetischen „Massenmenschen“ gibt es nicht mehr, er ist in Millionen von Subjekten mit Interessen zerfallen, auch politischen, was immer man jeweils unter diesem Wort versteht. Die Regierung hat das selbst angerichtet, entgegen ihrem eigenen Willen, oder vielleicht kraft ihrer eigenen momentanen Natur. 

    Wir haben es mit politischen Subjekten zu tun – und das ist bereits ein völlig anderes Land, mit völlig anderen Menschen. Die Politisierung Russlands ist unausweichlich. Und genau das ist es, was die nächste historische Zukunft grundlegend und entscheidend bestimmen wird.

    Weitere Themen

    Aus der Filmfabrik

    Wie Russland lernte, die Bombe zu lieben

    Lenta.ru

    Die Propagandamacher (Teil 1)

    Alles Propaganda? Russlands Medienlandschaft

    Erster Kanal

  • „Schau mich gefälligst an!“

    „Schau mich gefälligst an!“

    „Schau mich gefälligst an!“ Rüde und duzend fuhr der russische stellvertretende UN-Botschafter Wladimir Safronkow seinen britischen Kollegen Mitte April an, als es im UN-Sicherheitsrat um den Giftgasangriff auf die syrische Stadt Chan Scheichun ging.

    Andrej Archangelski nimmt diese jüngste Verbalattacke zum Anlass, um auf Colta.ru den Umgangston mit dem Westen genauer anzuschauen. 

     
    „Wage nicht, Russland weiter zu beleidigen! // Ihr tut alles dafür, dass ein Zusammenwirken (zwischen Russland und den USA) // untergraben wird. Grade deshalb … Schau mich gefälligst an! // Was fällt dir ein, einfach wegzuschauen! // … Genau deswegen hast du heute nichts gesagt über den politischen // Prozess. Hast absichtlich beim Vortrag von Mistura nicht hingehört … “ (0:17 bis 0:52)

    „Schau mich gefälligst an! Was fällt dir ein, einfach wegzuschauen!“ Das ist also die besagte „neue Aufrichtigkeit“, die Russland der internationalen Gemeinschaft anbietet. Bei der Übersetzung ins Englische oder Deutsche geht die Intonation verloren – übrig bleibt nur ein „Wir haben recht und ihr unrecht, weil ihr immer unrecht habt“.

    Das Argumentationsschema ist auch schon lange bekannt: „Wenn ihr dürft – dann dürfen wir erst recht.“ Und deswegen war das externe Publikum (internationale Agenturen und Medien) nicht sonderlich erstaunt über diesen Auftritt, der eigentlich nur eine Wiederholung aller vorangegangenen ist.

    Warum reden die so?

    In Russland wird Safronkows Rede von der Mehrheit aufgefasst als „er hat’s ihnen gezeigt“, „hat ihnen eins reingedrückt“, sie „bestraft“.
    Russland putzt alle runter und macht sich über alle lustig, herrlich! Dass das der Intelligenzija aufstößt, umso besser: Dann kriegen die auch gleich eins rein.
    Nun denn, diese Ausdrucksweise zeigt in verschiedenen Milieus unterschiedliche Wirkung – und erzielt überall den gewünschten Effekt. 

    Die Antwort auf die Frage „Warum reden die so?“ ist: Weil es sich lohnt und leicht geht. Kulturelle Normen – was soll’s, man wird’s überleben, und der Kreml gibt mit seinem Lob für Safronkow zu verstehen, Normen seien jetzt nicht so wichtig, es gehe vor allem darum, „die Interessen Russlands zu behaupten“. Bleibt nur die Frage: Warum gefällt das ihnen, den Diplomaten? Wie rechtfertigen sie das vor sich selbst, außer dass es „fürs Vaterland“ ist? Was für eine „neue Denkart“ steht dahinter? Was für ein Weltbild?

    Ein solches Gebaren ist heute die Norm, die sozialen Erfolg garantiert

    Oleg Kaschin hat die Psychologie der neuen Eliten wohl am besten beschrieben – nämlich, dass weder eine Maria Sacharowa noch, sagen wir, der Abgeordnete Degtjarjow schon immer so waren. Sie haben nur begriffen, dass ein solches Gebaren heute die Norm ist, die sozialen Erfolg garantiert. Du fällst sofort auf und wirst als ranghoch vermerkt.   

    Diese neue Stilistik entspringt aber weder einem Gossenjargon noch einer „Verhörsprache“, wie viele annehmen. Der Autor geht vielmehr davon aus, dass das eine relativ junge Sprache ist, entstanden an den sonnigen Stränden der 2000er Jahre – damals hatten Reisen von Russen in den Westen Hochkonjunktur. Und da entwickelte sich auch eine seltsame Tradition: Nach der Rückkehr wurde über alles geschimpft. Es ist dreckig, die Leute sind bösartig, zu viele Migranten, da fahren wir nicht mehr hin, und das soll euer hochgelobter Westen sein.

    Ablehnung dieses „überzogenen Lächelns“

    Leute, die zehn bis 15 Jahre davor von so einem Urlaub nicht mal hatten träumen können, taten so, als hätten sie ihre ganze Kindheit in Miami Beach verbracht – warum? Meine Hypothese: Die Leute nahmen viel Geld mit – der Ölpreis war gerade am Zenit – und dachten, wie es in der sowjetischen Zeitschrift Krokodil hieß, „im Westen kann man für Geld alles kaufen“. Und waren auf einmal damit konfrontiert, dass man, um sich wohl zu fühlen, noch etwas anderes mitbringen muss als Geld. Diese oftmals verlachte westliche „Fähigkeit zu lächeln“ bedeutet in Wirklichkeit einfach, für Kommunikation und eine freundliche Atmosphäre zu sorgen.

    Damit diese Kommunikation gelingt, muss man andere Menschen und Verschiedenheit an sich wenigstens ein bisschen mögen. Das gehörte aber erstens nicht in die Psychologie der neuen Herren, und zweitens galt es als demütigend, sich „anzupassen“. 

    Aus diesem Schock heraus entstand ein Abwehrmechanismus: das aggressive Auslachen und eine Ablehnung dieses „überzogenen Lächelns“. Zur Selbstberuhigung braucht man diese Welt nur als scheinheilig und verlogen zu bezeichnen: Die sind deshalb höflich, weil sie Weicheier und Gauner sind. Diese Erklärung macht aus der eigenen Grobheit eine spezielle Art Anstand.   

    Wir haben recht, weil wir recht haben

    Dann bekam diese Position einen existenziellen Stützpfeiler in Form von Stolz auf die Siege Russlands. Die patriotische Propaganda prägte uns schnell ein, wir seien die Besten, die ganze Welt sei uns verpflichtet. Dadurch erlangen wir das eigentümliche Recht, im Namen absoluter Legitimität zu sprechen.

    Die Strandphilosophie hatte plötzlich eine moralische Grundlage, und jeder Kampf um eine freie Liege wurde zum Kampf um die Wahrheit auf Erden. Als psychologischen Schutz legte man sich diese verächtlich-spöttische Intonation zu, die sich dann endgültig im propagandistischen Diskurs etablierte. 

    Ein Sprechen im Namen absoluter Legitimität bedarf keiner Beweise: Wir haben recht, weil wir recht haben. Diese Idee wurde schon in den Filmen Brat und Brat-2 formuliert, mit der Formel „in der Wahrheit liegt die Macht“, bei der unklar bleibt, was zuerst da ist: Die Wahrheit oder die Macht? Und genau diese Unklarheit birgt die versteckte Drohung „Wir können das wiederholen“ in sich, die eben allen recht ist. 

    Wichtig ist, dass diese Sprache jegliche Komplexität leugnet und die Welt ignoriert. Das Gegenteil dieser gewaltsamen Sprache ist der Dialog.  

    Bei den Begriffen „Dialog“ und „Kommunikation“ denkt der gebildete Mensch sofort an das Zauberwort „Habermas“.

    In den frühen 2000er Jahren war der deutsche Philosoph bei uns vorübergehend ein Star. Bezeichnend ist, dass im Endeffekt nur ein verdrehtes, unanständiges Sprichwort über sexuelle Orientierung im kollektiven Gedächtnis hängengeblieben ist. Das Hauptwerk von Habermas, die Theorie des kommunikativen Handelns, ist bis dato nicht ins Russische übersetzt. 

    Reden muss man, selbst wenn man sich auf nichts einigen kann

    Sehr vereinfacht besagt diese Theorie: Der Dialog ist nicht das Reden, nicht das Mund-Aufmachen, sondern vor allem die Bereitschaft, den anderen wahrzunehmen, oder sich auf den anderen einzulassen, wie der Philosoph Paul Ricœur meinte. 

    Die Bereitschaft zum Dialog selbst ist wichtiger als das Sprechen; es geht darum, „die Welt anzunehmen“, sich auf die Welt einzustellen.
    Genau das ist Kommunikation: Der einzige Weg, den unvermeidbaren kulturellen Graben zwischen den Menschen wenigstens irgendwie zu überbrücken.

    Reden muss man, selbst wenn man sich auf nichts einigen kann; man soll nicht darauf fokussieren, den Streit zu gewinnen, sondern darauf, das Gespräch selbst zu erhalten, die Gesprächspartner.

    Die Dialogverweigerung ist unser Glaubensbekenntnis

    Unser Dialog ist die Abkehr vom anderen, und dass man ihm diese Abkehr auf jede erdenkliche Art und Weise vorführt, vor allem im Unterton. „Ich hör dich nicht, ich huste dir was, du bist ein Niemand“, das ist die Kurzform unserer Antwort auf Habermas.

    Die Dialogverweigerung ist unser Glaubensbekenntnis. Wir werden uns wehren bis zum Letzten, aber geben dem anderen nicht die geringste Chance. Dieses „Schau mich gefälligst an!“ ist eine symbolische Ausformung dieser „Kultur der Dialogverweigerung“. 

    Im Gefolge ihres Obersten Befehlshabers verweigern sie (unsere Diplomaten) bewusst die Sprache des Dialogs. Das bedeutet zugleich eine Lossagung von menschlicher Selbstbeherrschung, von der gesamten modernen Kultur, ein Ausscheiden aus der Welt. Diese Lossagung wird sofort über die Kapillaren auf die ganze Gesellschaft übertragen – und von ihr als Norm verinnerlicht.

    Wir beobachten das bereits am Beispiel skurriler Dialoge zwischen Lehrern und Schülern, die nach dem 26. März im Netz auftauchten – so etwas kann man schon als umfassenden „Disconnect“ bezeichnen. Abwärts geht immer leichter als aufwärts, und wundern muss einen dieser beschleunigte Fall nicht.

    Der wunde Punkt: die Moral  

    Aber es gibt bei dieser Begebenheit am 12. April vor der UNO noch einen Aspekt. Was hatte Großbritanniens UN-Vertreter, Matthew Rycroft, denn eigentlich gesagt, was hat unserem Vertreter so zugesetzt? Er hatte das Gespräch auf eine universelle Ebene gebracht, es in die Sprache der Ethik übersetzt – die Handlungen Assads moralisch bewertet und den Gegenüber dazu aufgefordert, sich auf dieselbe Ebene zu begeben. Das ist unerträglich, hier hat Rycroft einen wunden Punkt getroffen.  

    Im aktuellen Russland wurde die Moral nicht erdacht, nicht durchdacht, nicht durchformt. Jedes Mal, wenn du unsere Vertreter hörst, willst du fragen: Welche universellen Werte vertreten Sie? Aus welcher menschlichen Position heraus? Wie auch immer man die sowjetische Diplomatie dreht und wendet, sie appellierte an universelle Werte – an Ideen des Internationalismus oder die Solidarität der Werktätigen. Doch der aktuellen Ideologie Russlands fehlt dafür der Begriffsapparat; für die Artikulation einer moralischen Position gibt es dort schlicht keine Wörter.    

    Als letztes Argument fliegt dann nur noch Porzellan

    Und deswegen kommt die Phrase „vom moralischen Standpunkt aus sprechen“ als Beleidigung an, als Schlag in die Magengrube. Zwecks Abwehr greift man dann zu dem Postulat, Moral sei bloß Druckmittel, Spekulation, PR. „In der Welt betrügt jeder jeden, und Moral ist nur ein Wort.“ Diese negative Ethik ist uns auch wohlbekannt.

    „Guck her! Schau mich gefälligst an!“, ist auch eine Sprache der Moral, aber auf einem anderen Niveau. Das ist die Position einer apriorischen Schuld des Gegenübers.

    Als letztes Argument fliegt dann nur noch Porzellan – aber so weit wird es hoffentlich nicht kommen.

    Weitere Themen

    Presseschau № 42: Russland und die USA

    Exportgut Angst

    Die Wegbereiter des Putinismus

    Kino #3: Brat

    Russland und der Krieg in Syrien

    Vorbild Feind