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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Russland und China

    Russland und China

    Wie tief geht die bromance zwischen Putin und dem chinesischen Staatschef Xi? Diese Frage stellte die BBC 2015,1 rund ein Jahr nach der Krim-Annexion. Als Reaktion auf westliche Sanktionen forcierte Russland damals den 2012 eingeleiteten „Schwenk nach Asien“. Mit diesem Schwenk wollte Russland laut Beobachtern vom Westen unabhängiger werden und seine Wirtschaftsbeziehungen zu China intensivieren. 2014 kam eine neue Dimension hinzu: Die Hinwendung nach China sollte die sanktionsbedingten Einbußen ausgleichen. So jedenfalls das Kalkül des Kreml.

    Tatsächlich trafen sich die beiden Präsidenten nun öfter, unterzeichneten viele bilaterale Verträge und setzten Großprojekte wie die Gaspipeline Sila Sibiri in Gang. Putin und Xi sollen sich auch persönlich gut verstehen.

    Doch wie tief sind die russisch-chinesischen Beziehungen nach der Annexion der Krim tatsächlich?

     

    Putin und Xi – Wie tief geht die bromance? / Foto: kremlin.ru
    Putin und Xi – Wie tief geht die bromance? / Foto: kremlin.ru

    Die ersten bilateralen Beziehungen zwischen dem russischen Zarenreich und China wurden wohl im 17. Jahrhundert angebahnt.2 1689 unterzeichneten beide den Vertrag von Nertschinsk, der zum ersten (aber bei weitem nicht zum letzten) Mal die Grenze zwischen beiden Reichen definierte. Während Russland sich nach den Reformen von Alexander II. sehr dynamisch entwickelte, war das chinesische Imperium am Schwächeln – sowohl geopolitisch als auch wirtschaftlich. Diese Schwäche ermöglichte Russland damals, große Stücke Land von China zu pachten – die das russische Imperium im Zuge des Russisch-Japanischen Kriegs 1904-1905 allerdings wieder verlor.

    Engste Freunde – beste Feinde?

    Nach Gründung der Volksrepublik 1949 entwickelten die beiden sozialistischen Länder eine enge Beziehung. Die Sowjetunion unterstützte die Volksrepublik China (VRC) beim Wiederaufbau des Landes nach dem Bürgerkrieg und der japanischen Besatzung: Es gab eine enge militärische Kooperation, sowjetische Ingenieure halfen beim Bau von Kernkraftwerken und Atomwaffen.

    Doch nach dem Tod Stalins 1953 war es vorbei mit der sowjetisch-chinesischen Freundschaft: Mao verstand sich als Nachfolger Stalins, während sich Chruschtschow ab dem XX. Parteitag der KPdSU gegen den Personenkult um den Diktator wandte. In den 1960er Jahren kam es sogar zu militärischen Zusammenstößen an der sowjetisch-chinesischen Grenze. Ende der 1970er Jahre sanken die Beziehungen auf einen neuerlichen Tiefpunkt: Nachdem der sowjetische Verbündete Vietnam zur Beendigung des Terrorregimes der Roten Khmer 1978 in Kambodscha einfiel, wandte sich China gegen Vietnam und erklärte dessen Verbündeten, die Sowjetunion, zum „Feind Nummer 1“.

    Diese Feindschaft währte jedoch nicht lange: Seit der Mitte der 1980er Jahre verbesserten sich die Beziehungen wieder allmählich. 1991 besuchte Generalsekretär und Präsident Jiang Zemin die UdSSR und unterzeichnete mit Michail Gorbatschow einen Vertrag, der die Grenze zwar weitgehend festlegte, einige Stücke jedoch weiterhin als strittig festhielt. Endgültig wurde die Grenzfrage von Wladimir Putin und Hu Jintao in einem Vertrag von 2005 geklärt. Dabei übergab Russland an China einige Inseln im Grenzfluss Amur, insgesamt rund 337 Quadratkilometer Land.  

    Der Zerfall der Sowjetunion war für die chinesischen Eliten ein Schock. Russland wandte sich ab vom Sozialismus und hin zum Westen, dabei vernachlässigte es den östlichen Nachbarn. Erst als Jewgeni Primakow 1996 Außenminister wurde, brachte er die östliche Dimension der russischen Außenpolitik zurück auf die Agenda.

    2001 gründeten China, Russland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO). Gleichzeitig wurde die Annäherung zwischen China und Russland 2001 in dem Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit festgehalten. Der Schwerpunkt russischer Außenpolitik lag dabei allerdings immer noch auf der Zusammenarbeit mit dem Westen.

    „Schwenk nach Asien“

    Jäh gestoppt wurde diese Zusammenarbeit nach der Krim-Annexion: Russland intensivierte den 2012 proklamierten „Schwenk nach Asien“ und suchte damit, die wirtschaftlichen Einbußen durch die westlichen Sanktionen auszugleichen.

    Bereits 2013 hatte Xi Jinping seine Seidenstraßen-Initiative präsentiert: ein großes Infrastrukturprojekt, das vor allem schnellere und sicherere Handelsrouten zwischen China und Europa zum Ziel hat. Die neue Seidenstraße soll – wie schon die alte – durch Zentralasien führen: Eine Region, die der Kreml dezidiert als eigene geopolitische Interessensphäre begreift. Doch obwohl die Initiative unter anderem auch größeren Einfluss Chinas in Zentralasien vorsieht, macht man sich darüber im Kreml demonstrativ keine Sorgen3. Laut Beobachtern soll der Kreml dabei keine bittere Pille geschluckt, sondern folgendermaßen kalkuliert haben: China konzentriert sich auf wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung der Region, während Russland Garantiemacht bleibt und seinen politischen Einfluss behält.

    Außerdem versprach man sich in Russland von der Seidenstraße vor allem chinesische Investitionen. So unterzeichneten Gazprom und der chinesische Energiekonzern CNPC 2014 einen Vertrag über russische Gaslieferungen nach China. Beim Baustart am 1. September 2014 nannte Putin das Pipeline-Vorhaben Sila Sibiri „das größte Bauprojekt der Welt“. China stieg auch bei Jamal SP ein – ein Unternehmen, das Erdgas auf der Jamal-Halbinsel fördern und verflüssigen soll.  

    Viele Verträge in Milliardenhöhe, große Worte über die neue russisch-chinesische Freundschaft, neue Männerfreundschaft zwischen Xi und Putin, Xis Teilnahme an der Siegesparade am 9. Mai 2015 in Moskau – 2014 und 2015 sah es aus, als ob ein neues Tandem der Weltpolitik geboren wäre.

    Vertane Chancen

    Doch ist in der Sache seitdem nicht viel passiert. Sila Sibiri wurde zwar tatsächlich umgesetzt, ein erstes Teilstück ging im Dezember 2019 in Betrieb. Auch bei Jamal kam chinesisches Geld an, wenn auch erst 2016. Jedoch ist die russisch-chinesische Partnerschaft weder allumfassend, noch nachhaltig. So machen zwar die chinesischen Staatsbanken gelegentlich Geld für Großprojekte locker, doch private chinesische Firmen vermeiden es angesichts der US-Sanktionen mit den russischen Staatskonzernen zusammenzuarbeiten. Die Rentabilität von Sila Sibiri ist fraglich: Manche Kritiker glauben, dass die Pipeline 30 Jahre brauchen wird, um sich zu amortisieren. Der bilaterale Handel ist seit 2014 zwar offiziell um rund 54 Prozent gewachsen, seine Struktur ist für Russland allerdings nicht gerade schmeichelhaft: 71 Prozent russischer Exporte machen fossile Energieträger aus, umgekehrt sind 50 Prozent der Importe aus China Maschinen.4 Russlands Anteil an Chinas Außenhandel beträgt offiziell etwa 2,4 Prozent,5 China deckt aber rund 17 Prozent des russischen Außenhandels ab. Das Handelsvolumen zwischen den USA und China ist etwa fünfmal höher als das russisch-chinesische.

    Auch auf symbolischer Ebene tun sich Asymmetrien auf: So hat der Bau einer Brücke über den Grenzfluss Amur wegen Problemen auf russischer Seite viel länger gebraucht, als ursprünglich geplant. Monatelang endete die chinesische Seite der Brücke mitten über dem Fluss, das Bild dieser abrupt endenden Brücke ging durch die Zeitungen in der ganzen Welt und schien Sinnbild für die Unfähigkeit Russlands, das chinesische Wachstum anzuzapfen.6

    Auch bei dem wichtigsten Element der Seidenstraße – dem Ausbau der Eisenbahnschiene – war Russland außen vor. Seine ursprüngliche Erwartung, dass der Ausbau der Belt and Road Initiative (BRI) die russische Transsib zur Grundlage nehmen würde, wurde von China enttäuscht: Die meisten chinesischen Züge fahren nun durch Westchina und Kasachstan, auf die russische Schiene kommen sie erst relativ weit im Westen, in der Oblast Kurgan. Der östliche Teil der Transsib, der ohnehin am wenigsten ausgelastet ist, geht leer aus.7

    Unter dem BRI-Label sollten auch innerrussische Projekte umgesetzt werden. Doch auch diese stocken und werden mitunter ad acta gelegt: So soll es jetzt unter anderem doch keine Schnellzugverbindung zwischen Moskau und Kasan geben.

    Russland ist nur Juniorpartner

    Und auch in der militärischen und Sicherheitszusammenarbeit setzt sich die Asymmetrie fort. Seit den 1990er Jahren ist China zwar einer der wichtigsten Absatzmärkte russischer Waffen. Doch durch den (nicht immer legalen) Technologietransfer stellt es immer mehr Waffen selber her, sodass es unklar ist, wie lange China noch auf russische Waffensysteme angewiesen sein wird.

    Auch mit der Gründung der SCO intensivierten die Länder ihre militärische Zusammenarbeit. Bei den Militärübungen Wostok 2018 waren chinesische Militärs dabei, für einige Experten war es „noch keine Allianz, aber engere Zusammenarbeit.“8

    Eigentlich ist China aber kaum an einer nachhaltigen militärischen Zusammenarbeit mit Russland interessiert9, und die sicherheitspolitische Zusammenarbeit im Rahmen der SCO wurde durch deren Erweiterung um Indien und Pakistan massiv erschwert. Hinzu kommt auch, dass Indien und Vietnam, beides wichtige Absatzmärkte für russische Waffen, für China als Feinde gelten. Außerdem hat China auch seine militärische Präsenz in denjenigen Regionen ausgebaut, die Russland als eigene Interessensphäre begreift: So wurde im Februar 2019 bestätigt, dass China eine Militärbasis in Tadschikistan betreibt, von der aus es Patrouillen in Afghanistan durchführt. Die neue Seidenstraße, so könnte man aus chinesischer Perspektive meinen, braucht keinen russischen Schutz.

    „Gelbe Gefahr“

    Neben wirtschaftlichen, militärischen und symbolischen Asymmetrien erschwert auch der innerrussische Diskurs die Zusammenarbeit. Spätestens seit 2005 ist er vermehrt durch Begriffe wie „gelbe Gefahr“ oder „chinesische Bedrohung“ geprägt.10 In Medien sowie sozialen Netzwerken gibt es regelmäßig Berichte von zehntausenden illegalen chinesischen Einwanderern im fernen Osten Russlands, die den Russen ihre Jobs wegnehmen würden. Auch Berichte über die chinesische Abholzung der Taiga und die dramatische Verschmutzung der Böden durch eingewanderte chinesische Bauern sind verbreitet.

    Ebenso mangelt es in der russischen Elite an Kenntnissen um Chancen und Risiken einer Zusammenarbeit mit China: Die Optimisten sehen darin eine Möglichkeit, russische Außenpolitik und Wirtschaft vom Westen unabhängiger zu machen. Die Pessimisten warnen davor, dass Russland sich in volle Abhängigkeit Chinas begäbe und dies noch teuer zu stehen komme, da China vor allem eigene, nicht russische Interessen durchsetze.11

    Aktualisiert am 02.02.2022


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  • Zentrale Wahlkommission der Russischen Föderation (ZIK)

    Zentrale Wahlkommission der Russischen Föderation (ZIK)

    Die Zentrale Wahlkommission der Russischen Föderation (russisch: Zentralnaja Isbiratelnaja Komissija Rossiskoi Federazii, kurz: ZIK) sollte eigentlich ein ziemlich unauffälliges Verwaltungsorgan sein, das sich mit der Organisation und Durchführung der Wahlen in Russland befasst. Nachdem Präsident Medwedew den ZIK-Vorsitzenden Wladimir Tschurow für die Genauigkeit seiner Prognosen als „Zauberer“ bezeichnet hatte, wurde die ZIK im Jahr 2011 jedoch schlagartig berühmt. Für die Opposition repräsentierte sie im Zuge der damaligen Dumawahl ein System organisierter Wahlfälschung. Tschurow wurde zum Gesicht der ZIK und galt als jemand, der die vorab bestellten Ergebnisse „herbeizaubert“. Obgleich organisierte Wahlfälschungen der ZIK selbst nicht nachgewiesen wurden, kann die Kommission  insofern zur Verantwortung gezogen werden, weil sie kein ernsthaftes Ermittlungsverfahren zur Untersuchung von Wahlfälschungsvorwürfen einleitete.

    Im März 2016 jedoch zeichnete sich plötzlich eine Weichenstellung ab: Überraschend wechselte die bisherige Menschenrechtsbeauftragte Ella Pamfilowa an die Spitze der ZIK. Sie führte im Vorfeld der Dumawahl 2016 einzelne Reformen durch, die mehr politische Konkurrenz ermöglichen könnten.

    Das organisatorische Prinzip der ZIK ist simpel: von den fünfzehn Mitgliedern werden jeweils fünf von den beiden Parlamentskammern und dem Präsidenten benannt, dann wählen diese unter sich einen Vorsitzenden für fünf Jahre. Laut Statut bereitet die ZIK Wahlen auf  Bundesebene vor, sie leitet und koordiniert die Arbeit der regionalen Wahlkommissionen, führt in Zusammenarbeit mit ihnen Wahlen durch und kontrolliert diese gemäß Verfassung auf Unregelmäßigkeiten1.

    Anders als oft suggeriert, hat die Kommission selbst keinen Einfluss auf die Wahlergebnisse, sie kann weder fälschen noch Fälschungen vorbeugen. Was sie aber tun kann, ist ein Verfahren gegen gemeldete Unregelmäßigkeiten einzuleiten, an dessen Ende auch die Annullierung der Wahlergebnisse stehen kann. Eigentlich.

    Politisierte Bürokratie

    Die Wahlkommission wurde in den vergangenen Jahren immer wieder kritisiert: Die oppositionellen Kräfte verwiesen auf die Politisierung des Verwaltungsorgans, das Wahlprozesse gestalte und sie auf angestrebte Ergebnisse zuschneide. Sogar die Kommunistische Partei der Russischen Föderation nannte sie bereits 2004 „Ministerium für Wahlen“.2 Die Kritik kulminierte dann aber vor dem Hintergrund der Dumawahl 2011 und der Präsidentschaftswahl 2012. Sie konzentrierte sich vor allem auf das Gesicht der ZIK: ihren Vorsitzenden Wladimir Tschurow. Tschurow, der als ein Vertrauter von Wladimir Putin gilt und die Wahlkommission zwischen 2007 und 2016 leitete, wurde zum Inbegriff der Wahlfälschung.

    Der Zauberer von ZIK

    „Sie sind ja fast ein Zauberer“, lobte Präsident Dimitri Medwedew den ZIK-Vorsitzenden Tschurow für seine Prognose zur Dumawahl 2011, nachdem dieser bemerkt hatte, dass sie näher am Endergebnis lag, als die Prognosen von zehn Meinungsforschungsinstituten.3 Aus dem Zusammenhang gerissen wurde das Lob zum Spott, denn geblieben ist nur der „Zauberer“, der die gewünschten Wahlergebnisse „herbeizaubert“.

    „Sie sind ja fast ein Zauberer“, lobte Dimitri Medwedew 2011 den damaligen Leiter der Wahlkommission Wladimir Tschurow / Bild über rosbalt.ru
    „Sie sind ja fast ein Zauberer“, lobte Dimitri Medwedew 2011 den damaligen Leiter der Wahlkommission Wladimir Tschurow / Bild über rosbalt.ru

    So wurde Tschurow zu einer Zielscheibe der anschließenden Proteste, bei denen eine Untersuchung der Wahlfälschungsvorwürfe gefordert wurde. Tschurows politische Nähe zu Wladimir Putin, die er einstmals mit „Putin hat immer Recht“ bekundet hatte4, befeuerte den Hohn. Genauso wie auch eine  Infografik des TV-Senders Rossija 24, die sich auf die Daten der ZIK berief, als sie die Wahlbeteiligung in der Rostow-Region auf 146 Prozent bezifferte. Tschurow meinte, wer auch immer die Infografik vorbereitet habe, sei  „aus Übersee“ gut entlohnt worden.5 Gemeint waren wohl die USA.

    Nur ein Sündenbock?

    Tschurow bot der Opposition also eine ideale Angriffsfläche, die sprachliche Neuprägung Tschurowschina wurde alsbald zum Synonym für Wahlfälschungen – und die ZIK selbst zum Inbegriff für die Erosion der politischen Konkurrenz.

    Organisierte Wahlfälschungen wurden der ZIK selbst nicht nachgewiesen, sie erfolgten indes vor allem auf der Ebene der Wahlbezirke und -kreise – und hier hauptsächlich in Form sogenannter Karusselle oder Kreuzfahrten. Allerdings ist die ZIK solchen Hinweisen nur halbherzig nachgegangen, eine ernsthafte Untersuchung der Vorwürfe fand nicht statt. Tschurow, der selbst offenbar keine Wahlen fälschte, konnte also nur deshalb als „oberster Wahlfälscher des Landes“6 bezeichnet werden, weil er vordergründig ein System repräsentierte, das politische Konkurrenz zu verhindern suchte.  

    Eine Wahlbeteiligung von sagenhaften 146 Prozent – Rossija 24 zeigt Zahlen der ZIK / Bild über You Tube
    Eine Wahlbeteiligung von sagenhaften 146 Prozent – Rossija 24 zeigt Zahlen der ZIK / Bild über You Tube

    Nur ein Feigenblatt?

    Eine Reformbestrebung konnte man die einzelnen zaghaften Versuche seit 2012, etwas mehr politische Konkurrenz zuzulassen, noch nicht nennen. Diese hat sich erst durch den überraschenden Abgang Tschurows abgezeichnet – fünfeinhalb Monate vor der Dumawahl 2016.

    Zur neuen Vorsitzenden wurde auf Vorschlag des Präsidenten Ella Pamfilowa gewählt. Die bisherige Menschenrechtsbeauftragte gilt als lautstarke Kritikerin der politischen Ordnung Russlands. In den ersten Monaten ihrer Tätigkeit hat Pamfilowa drei – mutmaßlich in Fälschungen verwickelte – Vorsitzende untergeordneter Wahlkommissionen zum Rücktritt bewegt.7 Sie brachte die Chuzpe auf, einflussreiche Gouverneure zu kritisieren und riet allen Oberhäuptern der Föderationssubjekte, auf den Einsatz der Administrativen Ressource zu verzichten.8 Pamfilowa arbeitet eng mit Golos zusammen – einer NGO, die Wahlbeobachtungen durchführt und als ausländischer Agent Diffamierungskampagnen seitens staatsnaher Medien ausgesetzt ist.9 

    Trotz aller Reformbestrebungen ist es im Vorfeld der Dumawahl 2016 noch allzu verfrüht, von echter politischer Konkurrenz zu sprechen. Als Zauberkiste des Kreml allerdings kann die ZIK schon nicht mehr herhalten.



    1. zikrf.ru: Organizacionnye osnovy dejatel’nosti Central’noj izbiratel’noj komissii Rossijskoj Federacii ↩︎
    2. rosbalt.ru: Zakon ‘O Referendume’ podtverždaet prevraščenie CIK v ministerstvo vyborov, sčitajut v KPRF ↩︎
    3. kremlin.ru: Vstreča s Predsedatelem Central’noj izbiratel’noj komissii Vladimirom Čurovym ↩︎
    4. Kommersant: „Razve Putin možet byt’ ne prav?“ ↩︎
    5. Ria Novosti: „Čurov: istorija s javkoj v 146% na vyborach byla provokatsiej iz-za okeana“ ↩︎
    6. Die Zeit: Porträt: Wahlleiter Wladimir Tschurow ↩︎
    7. rbc.ru: CIK predložil glave novgorodskogo regional’nogo izbirkoma ujti v otstavku ↩︎
    8. rbc.ru: CIK protiv gubernatora und Vedomosti: Centrizbirkom vernul „Jabloko“ na novgorodskie vybory ↩︎
    9. NTV: Kto i začem finansiruet „Golos“: rassledovanie NTV ↩︎


    Diese Gnose wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • Donezker Volksrepublik

    Donezker Volksrepublik

    Die Donezker Volksrepublik (DNR, Donezkaja Narodnaja Respublika) ist eine der zwei separatistischen Regionen im Osten der Ukraine, die im Zuge des Machtwechsels in Kiew nach dem Euromaidan entstanden. Die DNR wurde am 7. April 2014 ausgerufen und umfasst einen großen Teil des Donezker Gebietes im Osten der Ukraine. Die Führung der selbsternannten Republik besteht auf ihren Anspruch auf Unabhängigkeit, der durch ein international nicht anerkanntes Referendum am 11. Mai 2014 nachträglich legitimiert werden sollte.1 Glaubt man den Umfragen, die in einer solchen Situation nur schwer methodisch sauber durchzuführen sind, wird dies von etwa 38 Prozent der Bevölkerung der Separatistengebiete unterstützt.2

    Die selbsternannte Regierung der DNR, die der Republik eine eigene Flagge und Hymne gegeben hat, erkennt den gewählten ukrainischen Präsidenten Poroschenko und die Regierung in Kiew nicht an. Am 02.11.2014 hat sich die Regierung der DNR mit Parlaments- und Präsidentschaftswahlen um Legitimation bemüht. Die Wahlen wurden allerdings von der internationalen Gemeinschaft und ihren Institutionen wie der OSZE, der UNO oder der EU ebenso wenig anerkannt, wie die Souveränität der DNR. Diese wird selbst von Russland nicht anerkannt.

    Mit der Verkündung der Republik brach ein Krieg zwischen ukrainischen und separatistischen Truppen in der Ostukraine aus, der trotz zahlreicher Friedensbemühungen, wie den Minsker Gesprächen, andauert. Die Ukraine bezeichnet die DNR als eine terroristische Organisation, und die EU hat mehrere separatistische Anführer und Minister auf ihre Sanktionsliste gesetzt.

    Die DNR rechtfertigt ihre Unabhängigkeitserklärung und die darauffolgende militärische Auseinandersetzung damit, dass die lokale Bevölkerung sich von der neuen Regierung in Kiew bedroht fühlte. Laut dieser Begründung sind in Kiew Faschisten an die Macht gelangt, die die kulturellen und politischen Rechte der russischsprachigen Bevölkerung im Osten des Landes einschränken wollen. Die ukrainische Seite hingegen bezichtigt wiederum Russland, die DNR unterstützt und gegründet zu haben. Diese Sicht wird teilweise dadurch bestätigt, dass erstens die DNR von vielen russischen Politikern als Teil der Russischen Welt (russki mir) gesehen wird, die Russland zu verteidigen habe und zweitens viele zentrale Akteure der DNR-Administration selbst aus Russland stammen. Igor Strelkow, der ehemalige Verteidigungsminister der Republik, sagte im Interview mit einer russischen Zeitschrift:

    „Den Krieg habe doch ich ausgelöst. Wenn unser Trupp nicht über die Grenze gegangen wäre, hätte das alles so geendet, wie in Odessa oder Charkiw. Es hätte ein paar Tote, Verbrannte, Verhaftete gegeben. Und das wäre es gewesen. Die jetzige Größenordnung hat der Krieg dank uns erreicht.“3

    Aufgrund der andauernden Kampfhandlungen verschieben sich die Frontlinien ständig, und es ist schwer, das Gebiet der DNR genau zu bestimmen. Schätzungen zufolge leben in der Republik etwa zwei Millionen Menschen, hunderttausende sind jedoch aus der Region geflohen. In einem Bericht des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte werden auf dem Gebiet der DNR grundlegende politische und soziale Rechte zum Teil drastisch eingeschränkt. Es gibt einige Berichte von Folter und Erschießungen von Gefangenen, die Gefängnisse können von Menschenrechtsschützern jedoch nicht eingesehen werden. Presse- und Versammlungsfreiheit sind erheblich eingeschränkt, politisch aktive Organisationen wurden ausgewiesen.4 Gleichzeitig ist die Versorgungslage der Menschen besser als zu Beginn des Konflikts: Die Ukraine zahlt Renten und Sozialleistungen aus, der Unternehmer Rinat Achmetow hat mit seiner Stiftung Wir helfen ein große humanitäre Hilfsaktion gestartet, und auch Russland liefert weiterhin Lebensmittel und Treibstoff in die Region.

    Im Mai 2014 unterzeichneten die Vertreter der Donezker und Luhansker Volksrepubliken ein Memorandum über die Vereinigung beider Republiken zu Neurussland (Noworossija).5 Das Projekt wurde jedoch nicht weitergeführt, und so erheben beide Regionen weiterhin jede für sich Anspruch auf Unabhängigkeit.

    Zu Beginn der Auseinandersetzungen vermuteten einige Experten, dass sich die Auseinandersetzung um die DNR zu einem Frozen Conflict, wie etwa in Abchasien, Südossetien oder Transnistrien entwickeln würde, falls der ukrainischen Regierung weder eine politische Lösung noch eine militärische Übernahme der Region gelingen sollte.6  In der Tat hat ein weitgehender Waffenstillstand die Lage seit dem 1. September 2015 beruhigt – wenngleich immer wieder Gefechte mit Todesopfern gemeldet werden. Der politische Prozess, den die Minsker Vereinbarungen anstoßen sollten, ist zudem bisher kaum vom Fleck gekommen. Die vorgesehenen Lokalwahlen sind bisher nicht durchgeführt worden – auch weil die Ukraine noch kein adäquates Wahlgesetz verabschiedet hat –, die Ukraine hat weiterhin keine Kontrolle über die Grenze zwischen DNR und Russland und es halten sich noch immer zahlreiche ausländische (sprich: russische) Kämpfer auf dem Gebiet der DNR auf. 

    Mitte Februar 2022 verabschiedete die Staatsduma eine Initiative der KPRF, die beiden abtrünnigen Regionen DNR sowie die LNR als unabhängig anzuerkennen. Die Entscheidung darüber liegt nun bei Präsident Wladimir Putin. Der ukrainische Außenminister Kuleba erklärte, dass Russland mit einer Anerkennung „de facto und de jure aus den Minsker Vereinbarungen mit allen Begleiterscheinungen“ austrete. Diese sehen eine Wiedereingliederung der Gebiete in die Ukraine mit weitgehenden Autonomierechten vor. Auch kremlnahe Experten wie Fjodor Lukjanow sehen keinen Vorteil für Russland, gegen die Minsker Vereinbarungen zu verstoßen. So wird der Vorstoß mitunter als Nebelkerze oder Druckmittel gegenüber der Ukraine und dem Westen interpretiert: „Ein Hinweis darauf, dass, wenn die Minsker Vereinbarungen nicht erfüllt werden und der ganze Prozess wieder ins Stocken gerät, es diese Option als letzten Ausweg gibt“, so Lukjanow im Gespräch mit Meduza


    1. Es sollen sich bei einer Wahlbeteiligung von 75 % nach Angaben der Separatisten 89 % für die Unabhängigkeit ausgesprochen haben. Siehe Pleines, Heiko (2014): Die Referenden in Donezk und Luhansk, in: Ukraine-Analysen Nr. 132, S. 23 ↩︎
    2. Basis ist eine Umfrage des Jaremenko-Instituts für Sozialforschung (UISR) in Zusammenarbeit mit dem Zentrum Soziales Monitoring (SMC), durchgeführt vom 13. bis zum 20. März 2015, einzusehen in den Ukraine-Analysen Nr. 154, S. 12 ↩︎
    3. Das ganze Interview in russischer Sprache auf Zavtra: «Kto ty, «Strelok»?» ↩︎
    4. Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine 16 August to 15 November 2015 Die OSZE kommt in einer Analyse zu dem Schluss, dass parallele Justizstrukturen, die in der DNR aufgebaut wurden, oft nicht ausreichend ausgestattet sind, um geordnete Verfahren zu gewährlseisten. Oft funktioniert die Justiz überhaupt nicht. ↩︎
    5. Über den Begriff Neurussland und seine geschichtliche und heutige international-politische Bedeutung siehe: Laruelle, M. (2015): The three colours of Novorossiya, or the Russian nationalist mythmaking of the Ukrainian crisis, in: Post-Soviet Affairs 2015 (2), London ↩︎
    6. Mögliche Szenarien der weiteren Entwicklung des Ukraine-Konfliktes sind in dem Paper von Liik & Wilson für den European Council on Foreign Relations aus Dezember 2014 aufgelistet. ↩︎

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  • Igor Strelkow

    Igor Strelkow

    Igor Strelkow diente bei der russischen Armee und im Geheimdienst und war einer der Anführer der ostukrainischen Separatisten im Sommer 2014. Seit August 2014 nimmt er nicht mehr aktiv an den Kampfhandlungen teil, ist jedoch Berater der Separatisten und gilt als ideologischer Verfechter ihrer Interessen in Russland. Der Name Strelkow ist ein Pseudonym, sein wirklicher Name lautet Igor Girkin.

    Der Moskauer Igor Girkin (geb. 1970) wuchs in einer Militärfamilie auf. Diese Prägung führte zu einer großen Begeisterung für Armee und Militärgeschichte: Auch Kriegs-Reenactment – die Nachstellung historischer Schlachten – gehört zu seinen Hobbies.1 Girkin ist unter dem Kampfnamen Strelkow bekannt geworden, was im Russischen „Schütze“ bedeutet. Er hat in Moskau Geschichte studiert und wurde in Kreisen der russischen weißen (neo-zaristischen) Bewegung bekannt. Er nahm als Freiwilliger an den Kämpfen in Transnistrien (Juni – August 1992) und Bosnien (November 1992 – März 1993) teil. Von 1993 bis 1998 diente Girkin in der russischen Armee, dann wechselte er zu den Spezialtruppen des russischen Nachrichtendienstes FSB und arbeitete dort bis 2013. Nachdem er den FSB verlassen hatte, war er als Sicherheitschef eines Investmentfonds tätig, wo er zusammen mit seinem alten Freund, dem späteren „Premierminister“ der Donezker Volksrepublik, Alexander Borodaj zusammenarbeitete.

    Nach eigenen Angaben kam Girkin Anfang März 2014 freiwillig auf die Krim, wo er zunächst als Militär- und Sicherheitsberater des Ministerpräsidenten der autonomen Republik Krim Sergej Aksenow tätig war. Im April 2014 ging er an die russisch-ukrainische Grenze, führte die Separatisten bei mehreren Gefechten gegen die ukrainische Armee an und wurde im Mai 2014 zum Verteidigungsminister der selbsternannten Donezker Volksrepublik ernannt. Wenige Minuten nach dem Absturz des Flugs MH17 der Malaysian Airlines am 17. Juli 2014 schrieb er in den sozialen Netzwerken, dass die Separatisten einen weiteren „Vogel“ abgeschossen hätten und die Ukrainer endlich verstehen sollten, dass sie im Luftraum der Donezker Volksrepublik nicht fliegen dürften2. Der Eintrag verschwand wenige Stunden später, gilt aber als ein Hinweis darauf, dass das Flugzeug von den Separatisten abgeschossen wurde3. Girkin trat im August 2014 von seinem Posten als Verteidigungsminister zurück und ging zurück nach Russland, wo er seitdem die gesellschaftliche Bewegung Noworossija leitet. Diese sammelt Geld für die Ausrüstung der Volksmilizen der nicht anerkannten Republiken. Ukrainische und europäische Nachrichtendienste äußerten mehrfach den Verdacht, dass Girkin auf der Krim und in Donezk für den russischen Außennachrichtendienst GRU tätig war, weswegen er auch auf der EU-Sanktionsliste steht.          

    Foto © Dom kobb unter CC BY-SA 4.0
    Foto © Dom kobb unter CC BY-SA 4.0

    Igor Girkin hat sich erfolgreich als Held von Noworossija inszeniert, seine tatsächliche Rolle in der separatistischen Bewegung sowie die Umstände seines Rücktrittes bleiben umstritten. Eine Zeit lang war er in den russischen Medien sehr präsent; dass er aus ihnen inzwischen fast verschwunden ist, wird als ein Zeichen dafür gesehen, dass das Projekt Noworossija von russischer Seite aufgegeben wurde. Der ehemalige Premierminister der Donezker Volksrepublik Alexander Borodaj warf seinerseits Girkin vor, für mehrere militärische Verluste der selbsternannten Republik verantwortlich zu sein.4 Nach seinem Rücktritt kritisierte Strelkow seinerseits heftig die Führung der beiden selbsternannten Volksrepubliken und behauptete im Interview mit der Zeitung Sawtra, dass es ohne ihn keine separatistische Bewegung in der Ostukraine gegeben hätte.5 Er kritisierte darin außerdem das Minsker Abkommen und die russische Regierung –  letztere, da sie seiner Meinung nach Noworossija nicht genügend unterstützt und gar aufgegeben habe – dabei nahm er Präsident Putin jedoch aus.

    Die Gründung der Allrussischen Nationalen Bewegung im Mai 2016, an der Strelkow beteiligt war, glich vor diesem Hintergrund einem Eingeständnis, dass das Projekt Noworossija nun tatsächlich fallengelassen wurde. Damit wich auch die konziliante Haltung Strelkows gegenüber Putin: In einem Interview mit Znak sah Strelkow den Präsidenten, dessen Portrait nun verstaubt hinter dem Schrank in seinem Büro liege, als „Kapitulanten”, der sich „auf dem Weg Miloševićs” befinde.

    Im Juli 2023 wurde Girkin in Moskau festgenommen. Er soll zu extremistischen Aktivitäten aufgerufen haben, ihm drohen bis zu fünf Jahre Haft. Die von Strelkow gegründete Organisation Klub der zornigen Patrioten arbeitet daran, ihren verhafteten Anführer als einen Gewissensgefangenen zu stilisieren und Strelkows Sichtbarkeit durch Social Media Kampagnen zu steigern. 


    1. Openuni.io: Rekonstruktory: Meždu proshlym i nastojaščim ↩︎
    2. The Guardian: Three pro-Russia rebel leaders at the centre of suspicions over downed MH17 ↩︎
    3. BBC: Ukraine crisis: Key players in eastern unrest ↩︎
    4. Expert.ru: Borodaj: «Strelkov po faktu uže vojuet na storone protivnika» ↩︎
    5. Donezki.org: Ėkskljuzivnoe intervʼju I. Strelkova: Sražajasʼ za Novorossiju, my sražaemsja za Rossiju ↩︎

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  • Volksmilizen (Opoltschenzy)

    Volksmilizen (Opoltschenzy)

    Das Wort opoltschenzy kann mit Volkswehr oder Volksmiliz übersetzt werden. Es wird vor allem von den bewaffneten Milizen der selbsternannten Luhansker und Donezker Republiken sowie von einzelnen bewaffneten Gruppen im Osten der Ukraine verwendet, die gegen die ukrainische Armee kämpfen. Der Begriff, den auch die russischen Staatsmedien verwenden, ist eine Anspielung auf die russische Volksarmee, die 1612 polnische und schwedische Besatzer aus Russland vertrieb. Im russischen kollektiven Gedächtnis ist er somit stark positiv konnotiert. In den deutschen Medien werden die Volksmilizen hingegen als Rebellen oder prorussische Separatisten bezeichnet; die ukrainische Seite spricht von „Terroristen”.

    Es ist schwer einzuschätzen, wie viele Personen zu den Luhansker und Donezker Volksmilizen gezählt werden können. An ihrer Seite kämpfen sowohl beteiligte aus der Lokalbevölkerung („Bergbauer und Traktorenführer“, wie Präsident Putin es formulierte1) als auch viele Freiwillige aus anderen Ländern, vor allem Russland. Im russischsprachigen Internet wird aktiv um Freiwillige geworben. Dabei wird der Krieg im Osten der Ukraine oft als die Frontlinie eines Krieges des Westens gegen Russland geschildert, in dem die russische Welt (russki mir) verteidigt werden muss, um das historische Neurussland wiederherzustellen – einige Rebellen sehen sich daher auch als die „Volksmilizen Neurusslands” an.

    Augenzeugen berichten, dass z. B. das Bataillon Smert (Tod) komplett mit tschetschenischen Kämpfern ausgestattet ist, die die Ortssprache kaum sprechen.2 Laut dem ehemaligen Anführer der Donezker Volksmiliz, Igor Strelkow, schließen sich viele russische Soldaten freiwillig den Milizen an, um dort „statt am Meer ihren Urlaub zu verbringen“.3 Aber auch russische Soldaten und Offiziere kämpfen für die Volksmilizen4, obwohl dies von offizieller russischer Seite bestritten wird. Oft heißt es, die russischen Soldaten und Offiziere würden erst kündigen, bevor sie in die Ostukraine gehen. Es gibt aber auch Berichte, dass sie unter Druck in die Region entsandt werden.

    Kämpften die einzelnen Milizen anfangs noch recht unkoordiniert und unabhängig voneinander, wird etwa seit Juli 2014 eine Volksarmee der Donezker Republik aufgebaut. Die Anführer der einzelnen Volksmilizen sitzen häufig gleichzeitig in politischen Schlüsselpositionen der selbsternannten Volksrepubliken. So war der Moskauer Igor Strelkow im Sommer 2014 Verteidigungsminister der Donezker Republik und leitete gleichzeitig die in der Region kämpfende Russische Orthodoxe Armee. Alexander Sachartschenko, das Staatsoberhaupt der Donezker Volksrepublik, leitet die Miliz Oplot. Die Offiziere der Volksarmeen haben weitreichende politische Befugnisse und können z. B. Bürgermeister absetzen, wie es in Donezk und Slowjansk geschah.

    Obwohl sie das Interesse teilen, gegen den Kiewer Staat anzugehen, stimmen die Anführer der Milizen nicht in allen Fragen miteinander überein. Interne Streitigkeiten werden hin und wieder in den russischen Medien ausgetragen. Die verschiedenen Ansichten und Vorstellungen bezüglich der Zukunft der Volksrepubliken Donezk und Luhansk könnten auch eine Erklärung dafür sein, warum der Waffenstillstand in der Region trotz der Minsker Abkommen nicht eingehalten und von den Volksmilizen häufig gebrochen wird.5


    1. Deutschsprachiges Zitat in: Faz.de: Russlands diplomatische Offensive ↩︎
    2. Sueddeutsche.de: Der Mann hinter der Schreckensherrschaft ↩︎
    3. Eine englische Version findet sich auf The Moscow Times: Russia’s Igor Strelkov: I Am Responsible for War in Eastern Ukraine. Das gesamte Interview auf Russisch gibt es auf Zavtra.ru nachzulesen: Kto ty, strelok ↩︎
    4. Über die russische Beteiligung am Krieg in der Ukraine siehe: Mitrokhin, Nikolay (2014): Infiltration, Instruktion, Invasion. Russlands Krieg in der Ukraine, in: Osteuropa 2014 (8), Berlin, S. 3-16 ↩︎
    5. Detaillierte Berichterstattung zu dem militärischen Geschehen vor Ort liefert die „Special Monitoring Mission“ der OSCE ↩︎

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