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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Afghanistan-Krieg

    Afghanistan-Krieg

    Das militärische Eingreifen der Sowjetunion in Afghanistan dauerte von 1979 bis 1989 an. In der sowjetischen Armee dienten neben den Eliteeinheiten vor allem junge Wehrpflichtige. Auf der sowjetischen Seite wurden 15.000 Soldaten getötet und 54.000 verwundet. Der Krieg führte bei der Bevölkerung zu einem Trauma, das bis heute nachwirkt und die Deutung des aktuellen Einsatzes der russischen Luftwaffe in Syrien nicht unerheblich beeinflusst.

    Bevor die sowjetischen Truppen Ende 1979 in Afghanistan einmarschierten, sprach nichts dafür, dass dieser entlegene Landstrich für die nächsten Jahrzehnte die internationale Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Für die USA war das Land weder wirtschaftlich noch geostrategisch von besonderem Interesse. Und es gehörte in der Topographie des Kalten Krieges als direkter Nachbar unangefochten in die Einflusssphäre der Sowjetunion.1

    Enge Beziehungen

    Die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Afghanistan waren seit den 1950er Jahren entsprechend eng: die UdSSR leistete Wirtschaftshilfe, sowjetische Experten arbeiteten in Afghanistan und auch im Bildungssektor gab es enge Kooperationen. Diese stabile Konstellation zerbrach mit dem Sturz des Königs und der Machtergreifung der Demokratischen Volkspartei (DVPA) im Jahre 1978. Die Partei, die 1965 gegründet und von Nur Mohammad Taraki geführt wurde, pflegte bis zu ihrer Machtergreifung enge Kontakte zu Moskau. Von den Umsturzplänen war die Sowjetunion jedoch nicht unterrichtet gewesen.

    Laut den Protokollen der Politbürositzungen beobachtete die sowjetische Führung mit großer Sorge die brutalen Reformen, die den Anspruch hegten, das Land nach sowjetischem Vorbild umzustrukturieren.2 Bezeichnend ist die Bewertung des Landes, die der KGB-Chef Juri Andropow im März 1979 in einer Sitzung des Politbüros geäußert hat: „Dass in Afghanistan heute der Sozialismus noch nicht die Antwort auf alle Probleme des Landes sein kann, steht außer Frage. Die Wirtschaft ist rückständig, fast die gesamte Landbevölkerung kann weder lesen noch schreiben, und die islamische Religion besitzt entscheidenden Einfluss.“3 Auch in der afghanischen Bevölkerung stieß das neue Terrorregime auf starken Widerstand; zudem war es durch Auseinandersetzungen innerhalb der Führungsspitze gespalten. In diesen bürgerkriegsähnlichen Zuständen folgte im Herbst 1979 ein weiterer Putsch, bei dem Taraki von seinem Stellvertreter Hafizullah Amin ermordet wurde.4

    Verbreitung des Kommunismus vs. Grenzsicherung

    Die sowjetischen Truppen überschritten am 25. Dezember 1979 die Grenze zu Afghanistan und brachten das Regime unter ihre vollständige Kontrolle.5Dabei wurde Amin von Spezialkräften getötet und eine neue Regierung unter Babrak Karmal installiert. Diese Aktion war die größte Militäroperation der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg. Die sowjetischen Truppen sicherten schnell die Städte und strategischen Punkte, aber die Intervention rief auf der afghanischen Seite einen „Heiligen Krieg“ (Dschihad) hervor. Die aus unterschiedlichsten Gruppierungen zusammengesetzten Mudschaheddin6 führten den Krieg aus den unzugänglichen Gebirgsregionen Afghanistans und des angrenzenden Pakistans. Sie verfügten weder über eine zentrale Führung noch über moderne Waffen, trotzdem waren sie durch ihre enorme Ortskenntnis den sowjetischen Einheiten überlegen. Ab 1986 bekamen sie tragbare Luftabwehrsysteme vom Typ „Stringer“ von den USA geliefert, was als Wendepunkt des Krieges gilt. Es gelang den Mudschaheddin, immer mehr ländliche Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen.

    Die neueste Forschung geht immer mehr davon aus, dass es der sowjetischen Führung in diesem Konflikt weniger um die vor allem von den Zeitgenossen unterstellte Verbreitung des Kommunismus gegangen sei, sondern um die Sicherung ihrer südlichen Grenzen. Die zehnjährige Besetzung Afghanistans erfolgte in einer Phase der Verschärfung des Kalten Krieges, in die auch der Nato-Doppelbeschluss fiel, was die Lösung des Konflikts erschwerte. Erst ab 1985 unter den Vorzeichen der Glasnost durften die sowjetischen Medien über den Einsatz berichten. Gorbatschow bemühte sich um eine politische Lösung, aber erst am 14. April 1988 wurde das Genfer Abkommen unterzeichnet. Darin verpflichtete sich die Sowjetunion, bis zum 15. Februar 1989 die Truppen abzuziehen.

    Tiefes Trauma

    Der Krieg führte zu einer Massenflucht der afghanischen Bevölkerung, zur Zerstörung des Landes und, nach dem Abzug der sowjetischen Truppen, zum Bürgerkrieg. Auf der sowjetischen Seite hinterließ der Krieg ein tiefes Trauma, symbolisiert durch zurückkehrende Särge mit getöteten Soldaten, die unter der militärischen Bezeichnung Fracht 200 bekannt sind.
    Die fehlende Berichterstattung und die unklaren Ziele des Krieges, der mit sehr hohen Verlusten und aus Sicht der Bevölkerung „irgendwo am Ende der Welt“ geführt wurde, verdeutlichte, dass das System im Kern marode war und führte zu einer Delegitimierung der staatlichen Führung.
    Die große Zahl der durch die Kampfhandlungen traumatisierten und nach ihrem Ausscheiden nicht weiter betreuten ehemaligen Kriegsteilnehmer stellte ein soziales Problem dar. Viele von ihnen ließen sich von Kampftruppen anwerben oder gerieten ins Räderwerk der organisierten Kriminalität.

    Kulturelle Aufarbeitung fand das Thema unter anderem in bekannten Filmen wie 9 Rota (Die Neunte Kompanie, 2005) von Fjodor Bondartschuk oder Grus 200 (Fracht 200, 2007) von Alexej Balabanow sowie im Buch Zinkjungen von Swetlana Alexijewitsch (erschienen 1992). Auch in der Popmusik wurde der Krieg häufig thematisiert, unter anderem von den Bands Kino, DDT, Alisa und Nautilus Pompilius. Bis heute wird der Krieg in Afghanistan offiziell lediglich als „Entsendung eines begrenzten Kontingents“ bezeichnet.


    1. Gibbs, David N. (2006): Die Hintergründe der sowjetischen Invasion in Afghanistan 1979, in: Greiner, Bernd / Müller, Christian Th. (Hrsg.): Heiße Kriege im Kalten Krieg, Hamburg, S. 291-314 ↩︎
    2. Schattenberg, Susanne (2014): Der Militäreinsatz in Afghanistan 1979, in: dies. (Hrsg.): Sowjetunion II – 1953–1991: Informationen zur politischen Bildung 323, S. 39 ↩︎
    3. Wilson Center Digital Archive: Sitzung des Politbüros am 17. März 1979 ↩︎
    4. Dorronsoro, Gilles (2005): Revolution Unending: Afghanistan: 1979 to the Present, London ↩︎
    5. 1000dokumente.de: Der Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan: Beschluss des CK der KPSS, Nr. P 176/125, 12. Dezember 1979 ↩︎
    6. Das Wort Mudschaheddin bezeichnet jemanden, der für den „Heiligen Krieg“ kämpft, um damit den Islam zu schützen. Eine breite Verwendung fand der Begriff während der sowjetischen Besatzung Afghanistans. Seitdem verwenden die Angehörigen islamischer Guerilla-Gruppen den Begriff als Eigenbezeichnung. ↩︎

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    Leonid Breshnew

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    Auflösung der Sowjetunion

    Erinnerung an den Afghanistan-Krieg

    Afghanistan-Bilder

  • Ära der Stagnation

    Ära der Stagnation

    Der Begriff sastoi, zu Deutsch Stagnation, meint die Periode zwischen der Absetzung des Parteichefs Nikita Chruschtschow im Jahre 1964 bis zum Beginn der Reformpolitik unter Gorbatschow im Jahre 1985. Diese Phase zeichnete sich durch fehlende politische und wirtschaftliche Dynamik aus. In der engeren Deutung wird die Bezeichnung sastoi auf die Amtszeit von Leonid Breshnew (1964–1982) angewandt.

    Die Ära der Stagnation war eine Zeit des ökonomischen, politischen und sozialen Stillstands, in dem sich die wirtschaftlichen Probleme der Sowjetunion immer mehr verstärkten, dies sich aber vor dem Kontext bescheidenen Wohlstands und Stabilität für breite Bevölkerungsschichten abspielte. Der ungarische Historiker und Schriftsteller György Dalos beschrieb diese Ära folgendermaßen: Es war „[…] die ruhigste, besser gesagt die einzig relativ ruhige Zeitspanne in der Geschichte der Sowjetunion. Die Menschen erhielten mehr Freiräume und Konsummöglichkeiten als früher, während die ideologische Mobilisierung immer lascher wurde. Gleichzeitig kostete es das System enorme Summen und Anstrengungen, diese heute nostalgisch betrachtete Stabilität aufrechtzuerhalten.“1

    In der Forschung bezeichnet man mit dem Begriff Stagnation allgemein eine Konjunkturphase mit stillstehenden oder rückläufigen wirtschaftlichen Wachstumsraten. Als Schlagwort für die Beschreibung der Breshnew-Ära hat Gorbatschow diesen Ausdruck in seiner berühmten Rede im Februar 1986 eingeführt. Um seinem neuen Reformprogramm – der Perestroika schärfere Konturen zu verleihen, hob Gorbatschow besonders die negativen Entwicklungen hervor, die in der sowjetischen Gesellschaft durch die „stagnativen Erscheinungen“ zu Tage traten.

    Durch die Chiffre Stagnation gerät die Breshnew-Zeit geschichtlich in den Schatten zweier dynamischerer Perioden – des Stalinismus und des Untergangs der Sowjetunion. Bezeichnend ist allerdings, dass ein Großteil dessen, wofür die Sowjetunion als eine Fürsorgediktatur in der kollektiven Erinnerung heute steht, ein Produkt dieser Periode gewesen ist. Auch die Frage, wie aus einer Gewaltdiktatur ein Regime werden konnte, das seine Legitimität aus der Versorgung der Bevölkerung bezogen hat und sich so vorgeblich hin zu einem „sozialistischen Wohlfahrtsstaat“ entwickeln konnte, wird durch das Schlagwort Stagnation eher verschleiert, denn erklärt.

    In der Forschung, die für diese Ära noch am Anfang steht, wird betont, dass diese Zeit keineswegs homogen stagnierend gewesen sei.2 Es vollzog sich ein fundamentaler Wandel in der Beziehung zwischen den Herrschern und der Bevölkerung. Unter Stalin waren Angst und Schrecken, welche durch den unablässigen Terror erzeugt wurden, die Grundlage der Herrschaft. Aber, so der Historiker Stefan Plaggenborg „kein Staat, auch kein diktatorischer, kann auf Dauer ohne Rücksicht auf die Bewohner existieren.“3 Vor allem dann nicht, als sich die Herrschenden mit der Entstalinisierung von der Gewalt verabschiedeten und diese so keine Grundlage der Kommunikation mehr war. Zum neuen Schlagwort des von manchen Forschern als „little deal“ bezeichneten informellen Sozialpakts zwischen der Bevölkerung und der Führung wurde Konsum.4

    Der (Wohlfahrts-)Staat, wie er sich während der Zeit der Stagnation herausbildete, garantierte das Recht auf Arbeit und hielt an der Vollbeschäftigung fest, obwohl die Wirtschaft unter einer sehr niedrigen Arbeitsproduktivität und dem Verfall der Arbeitsdisziplin litt. Das Lohnwachstum überholte das Produktionswachstum, sodass die Bevölkerung sich zwar immer mehr hätte leisten können – dies aufgrund zu langsamer Produktion und dadurch mangelnder Waren jedoch nicht möglich war. Mehr und mehr wurde  das Schlangestehen zu einem selbstverständlichen Teil des Tagesablaufs,  Diebstähle am Arbeitsplatz nahmen zu und private Netzwerke zur „Beschaffung“ defizitärer Waren (s. a.  Blat) verbreiteten sich mehr und mehr. Außerdem zeigte sich immer deutlicher die Abhängigkeit der sowjetischen Wirtschaft von Gold- und Ölexporten. Auf die Devisen aus diesen Exporten war die sowjetische Führung immer stärker angewiesen, um Lebensmittel und neue Technik im Westen zu kaufen. Den Staat kostete es enorme Summen, den Status als Supermacht im Wettrüsten mit den USA aufrechtzuerhalten.5

    Für die Bevölkerung bot diese Zeit im hohen Maße eine Erwartungs- und Verhaltenssicherheit. Man konnte sich mit dem System gut arrangieren und es sich im wörtlichen Sinne „in ihm einrichten“, da auch immer mehr Menschen eigenen Wohnraum erhielten. Der Rückzug ins Private – dafür steht symbolisch vor allem die Küche – fand massenhaft statt.6 Der sowjetische Staat verteilte soziale Leistungen und versorgte die Bevölkerung. In vielen Bereichen verwaltete er aber lediglich den Mangel, ohne die durchaus wahrgenommenen Probleme beseitigen zu können.7

    In der heutigen Zeit wird der Vergleich zwischen der „Putinschen Stabilität“ und der Zeit der Stagnation unter Breshnew immer häufiger gezogen. Dies ist durchaus berechtigt, da die Wirtschaft sich von vielen Erscheinungen der sowjetischen Periode immer noch nicht befreit hat, wie zum Beispiel die enorme Abhängigkeit der russischen Wirtschaft von Erdöl- und Gasexporten zeigt.8


    1. Dalos, György (2011): Lebt wohl Genossen! Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München, S. 11 ↩︎
    2. vgl. dazu Belge, Boris / Deuerlein, Martin (2014): Einführung: Ein goldenes Zeitalter der Stagnation? Neue Perspektiven auf die Brežnev-Ära, in: ders. (Hrsg.): Perspektiven auf die sowjetische Ordnung der Brežnev-Ära, Tübingen, S. 1-33 ↩︎
    3. Plaggenborg, Stefan (2006): Experiment Moderne: Der sowjetische Weg, Frankfurt am Main, S. 222 ↩︎
    4. vgl. zum Begriff „little deal“ Miller, James R. (1985): The Little Deal: Brezhnev’s Contribution to Acqusitive Socialism, in: Slavic Review 1985 (44), S. 694-706; Folgen für das sozialistische Wirtschaftssystem: Merl, Stephan (2008): Die Korruption in Rusland heute – ein Vermächtnis Stalins?, in: Söller, Carola / Wünsch, Thomas (Hrsg.): Korruption in Ost und West: Eine Debatte, Passau, S. 33-78 ↩︎
    5. vgl. Gestwa, Klaus (2014): Von der Stagnation zur Perestrojka: Der Wandel der Bedrohungskommunikation und das Ende der Sowjetunion, in: Belge, Boris / Deuerlein, Martin (Hrsg.): Perspektiven auf die sowjetische Ordnung der Brežnev-Ära, Tübingen, S. 253-311 und Kotkin, Stephen (2008): Armageddon averted: The Soviet collapse: 1970-2000, Oxford und Baberowski, Jörg (2012): Kritik als Krise oder warum die Sowjetunion trotzdem unterging, in: Mergel, Thomas (Hrsg.): Krisen verstehen: Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Frankfurt am Main, S. 177–196 ↩︎
    6. vgl. Alexijewitsch, Swetlana (2013): Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus, München ↩︎
    7. über die Wahrnehmung der Probleme in der Führungselite siehe die Erinnerungen eines der Vordenker der Perestrojka: Arbatow, Georgi (1993): Das System: Das Leben im Zentrum der Sowjetpolitik, Frankfurt am Main ↩︎
    8. siehe beispielhaft dazu Expert.ru: Zastoj: što ėto bylo ↩︎

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    Anti-Krisen-Marsch „Frühling“

    Larissa Bogoras

    Genrich Jagoda

    Großer Vaterländischer Krieg

    Dimitri Peskow

    Leonid Breshnew

    Alexander Solschenizyn

    Boris Nemzow

  • Wolgograd (Stalingrad)

    Wolgograd (Stalingrad)

    Die südrussische Stadt Wolgograd ist als Stalingrad durch das Inferno im Zweiten Weltkrieg in die Weltgeschichte eingegangen, hatte jedoch im Zarenreich einen anderen Namen tatarischen Ursprungs. Heute wird versucht, wieder stärker an die sowjetische Vergangenheit der Stadt anzuknüpfen, vor allem dadurch, dass die Stadt zu bestimmten Feiertagen wieder Stalingrad heißen darf.

    Der Name Stalingrad ist zu einem Synonym für den Zweiten Weltkrieg geworden. Allerdings wird man auf heutigen Landkarten vergeblich nach der „Stadt Stalins“ (grad ist ein altrussisches Wort für Stadt) suchen, da sie 1961 in Wolgograd umbenannt wurde. Stalingrad war aber nicht der ursprüngliche Name der Industriestadt an der unteren Wolga: In der ersten urkundlichen Erwähnung wurde die Siedlung 1589 als Zarizyn bezeichnet. Der Name Zarizyn hatte nichts mit den Zaren zu tun, sondern leitete sich aus dem tatarischen Namen eines Nebenflusses der Wolga ab.

    Im Zuge landesweiter topographischer Umbenennungen bekam die Stadt zu Ehren Stalins, der hier im Bürgerkrieg als Armeekomissar gedient hatte, 1925 den Namen Stalingrad. In die Weltgeschichte ist die Stadt vor allem durch die Vernichtung der deutschen 6. Armee im Zweiten Weltkrieg eingegangen, was nach gängigen Deutungen als ein historischer Wendepunkt gilt. Während der Schlacht 1943 wurde die Stadt fast vollständig zerstört.1

    Nach dem Tod Stalins begann mit dem Tauwetter eine neue Periode in der sowjetischen Geschichte. Die stalinistischen Verbrechen wurden von Chruschtschow angesprochen, die Lager wurden geöffnet und kritische Meinungen zum Erbe des Stalinismus konnten geäußert werden.2 Im Zuge der Ent-Stalinisierung wurde auch Stalingrad umbenannt. Allerdings entschied man sich nicht für den historischen Namen, sondern für eine Neuschöpfung, die die Bedeutung der Lage an der Wolga unterstreichen sollte. Seit 1961 heißt die Stadt deshalb Wolgograd.

    In jüngster Zeit wird im Zuge eines zunehmenden Patriotisierungskurses versucht, auf die sowjetische Vergangenheit der Heldenstadt Bezug zu nehmen. So wurde die Stadt zum 70. Jubiläum des Tags des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg auf Beschluss der städtischen Duma für einen Tag in Stalingrad umbenannt. Diese Aktion soll nun zu den kriegsbezogenen Feiertagen wiederholt werden. Eine Petition, die Stadt wieder nach Stalin zu benennen, wurde von mehr als 50.000 Personen unterzeichnet, jedoch wird diese Idee von den lokalen Behörden und Präsident Putin derzeit nicht unterstützt.3

    Die Statue Mutter-Heimat vor der Kulisse Wolgograds. Foto – Mamaev kurgan (ОКН) © volganet.ru unter CC BY 3.0

    1. vgl. von Scheliha, Wolfram (2003): „Stalingrad“ in der sowjetischen Erinnerung, in: Jahn, Peter (Hrsg.): Stalingrad Erinnern: Stalingrad im deutschen und im russischen Gedächtnis [Ausstellung 15. November 2003 – 29. Februar 2004], Berlin, S. 24–32; zu der Schlacht um Stalingrad siehe Ueberschär, Gerd R. (1993): Stalingrad – eine Schlacht im Zweiten Weltkrieg, in: Wette, Wolfram (Hrsg.): Stalingrad: Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, Frankfurt am Main, S. 18–41 ↩︎
    2. vgl. zum Beispiel Kozlov, Denis (2006): Naming the Social Evil: The Readers of Novyi mir and Vladimir Dudintscev’s Not By Bread Alone: 1956–1959 and beyond, in: Jones, Polly (Hrsg.): The Dilemmas of De-Stalinization: Negotiating cultural and social change in the Khrushchev Era, London, S. 80–98 ↩︎
    3. The Guardian: Stalingrad name may return to city in wave of second world war patriotism ↩︎

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    Tag des Sieges

    Poklonnaja-Hügel

    Präsidialadministration

    Genrich Jagoda

    Großer Vaterländischer Krieg

    Leonid Breshnew

    Alexander Solschenizyn

  • Genrich Jagoda

    Genrich Jagoda

    Der Name Genrich Jagoda ist untrennbar mit den stalinistischen Repressionen, dem Aufbau des Straflagersystems Gulag, der Organisation der ersten sowjetischen Schauprozesse und dem sowjetischen Innenministerium NKWD verbunden, das er von 1934 bis 1936 leitete.

    Genrich Jagoda (1891–1938) wurde in Rybinsk in einer jüdischen Handwerkerfamilie geboren. Aufgewachsen ist Jagoda in Nishni Nowgorod, wo er auch acht Jahre das Gymnasium besuchte. Bei der anschließenden Arbeit in der Druckerei seines Vaters kam es zu ersten Berührungen mit den Anarchisten. In den 1910er Jahren wurde er mehrfach verhaftet und für einige Jahre verbannt. 1915 wurde Jagoda in die zaristische Armee eingezogen, wo er bis zu seiner Verwundung und seinem anschließenden Ausscheiden aus den Streitkräften den Grad des Unteroffiziers erreichte.1

    Karriere in der russischen Geheimpolizei

    Vor der Oktoberrevolution 1917 verlief das Leben von Jagoda nicht anders als das vieler Gleichgesinnter. Zwischen Februar– und Oktoberrevolution 1917 trat Jagoda den Bolschewiki bei, wobei später sein Eintritt um zehn Jahre zurückdatiert wurde. Ab diesem Zeitpunkt begann seine steile Karriere innerhalb der russischen Geheimpolizei. Er hatte unterschiedliche Posten inne, baute seine Kontakte zu Felix Dserschinski und Stalin aus und wurde bereits 1926 zum stellvertretenden Vorsitzenden der OGPU, der damaligen Geheimpolizei.

    Ganz egal, welche Projekte Jagoda in seiner 20-jährigen Dienstzeit verwirklichte – ob es um Deportationen, Entkulakisierung, Prozesse gegen Staatsfeinde und Verschwörer oder um den Ausbau des Lagersystems ging – Jagoda war stets ein Helfer Stalins, der nie ohne das Wissen und die Zustimmung des Diktators handelte. Sein rasanter Aufstieg fiel in die Zeit, als die junge Sowjetrepublik sich noch mitten im Bürgerkrieg befand und nach dem Tod Lenins 1924 der Aufbau der stalinistischen Gewaltdiktatur begann. Zu den größten Projekten, die Jagoda verantwortete, zählten der Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals (1931–1933) und der Bau des Moskau-Wolga-Kanals (1931–1934) durch Lagerhäftlinge, von denen zehntausende aufgrund der unmenschlichen Arbeitsbedingungen ums Leben kamen.

    Beflissener Helfer Stalins

    Der Historiker Jörg Baberowski schrieb über Jagoda: „Was immer die Helfer des Diktators sich auch ausdachten – sie selbst wussten, dass auch ihr Leben an einem seidenen Faden hing, wenn sie versagten. Denn die Maßnahmen, die gegen die Feinde ergriffen wurden, mussten dem Ausmaß der Bedrohung entsprechen. Jagoda arbeitete an der Aufdeckung neuer Verschwörungen, belieferte Stalin mit neuen Informationen über Feinde und Verräter, aber er machte Fehler, die das Misstrauen des Diktators weckten.“2 Im September 1936 beschloss Stalin die Absetzung Jagodas, weil er sich unter anderem als unfähig erwiesen habe, die trotzkistischen Verschwörungsnetzwerke vollständig aufzudecken. Jagoda wurde durch Nikolaj Jeshow ersetzt, einen noch gefälligeren und schnelleren Handlanger Stalins, der in den Jahren 1937 und 1938 für den Großen Terror verantwortlich war.3

    Misstrauen des Diktaktors

    Der Massenterror wütete nicht nur innerhalb der Partei und des Staatsapparates, sondern betraf alle Schichten der sowjetischen Gesellschaft. Die innere Logik dieser Gewaltwelle wird meistens als der letzte „Akkord in der stalinistischen Revolution von oben“4 gedeutet, der dazu dienen sollte, mit Angst und Schrecken alle Widersacher des Systems zu vernichten. „Die Bedrohung durch Feinde war eine plausible Erklärung für das Versagen des Regimes […]“, schrieb Jörg Baberowski.5 Und weil Genrich Jagoda in den Augen Stalins bei dem Kampf für die hohen Ziele der Bolschewiki versagt hatte, musste er bestraft werden. Einige Monate nach seiner Entlassung aus den Reihen des NKWD wurde Jagoda verhaftet und mit anderen bekannten Personen wie Nikolaj Bucharin und Alexej Rykow im dritten Schauprozess im Frühjahr 1938 verurteilt.6 Damit wurde Jagoda zum Opfer des Systems, das er selbst aufgebaut hat. Kurz nach seiner Verurteilung wurde er vermutlich in der Lubjanka, dem Hauptquartier des NKWD in Moskau, erschossen.   


    1. vgl. Rayfield, Donald (2004): Stalin und seine Henker, München; Petrov, N./Skorkin, K. (Hrsg.) (1999): Kto rukovodil NKVD 1934-1941: Spravočnik, Moskau; Zalesskij, K. A. (2000): Imperia Stalina: Biografičeskij enciklopedičeskij slovar‘, Moskau ↩︎
    2. Baberowski, Jörg (2012): Verbrannte Erde: Stalins Herrschaft der Gewalt, München, S. 260 ↩︎
    3. vgl. Baberowski, Jörg (2012): Verbrannte Erde: Stalins Herrschaft der Gewalt, München, S. 278-285. Oder: Chlevnjuk, Oleg V. (1996): Politbjuro: Mechanizmy političeskoj vlasti v 30-e gody, Moskau, S. 164f [in deutscher Übersetzung: Chlewnjuk, Oleg (1998): Das Politbüro: Mechanismen der politischen Macht in der Sowjetunion der dreißiger Jahre, Hamburg]. Zur Inventarliste, die während der Verhaftung in der Wohnung Jagodas erstellt wurde, siehe: Schlögel, Karl (2008): Terror und Traum: Moskau 1937, Bonn, S. 479–481 ↩︎
    4. Chlevnjuk, Oleg V. (1991): 1937 god: Protivostojanie, Moskau, S. 4 ↩︎
    5. vgl. Baberowski, Jörg/Kindler, Robert (Hrsg.) (2014): Macht ohne Grenzen: Herrschaft und Terror im Stalinismus, Frankfurt am Main, S. 9 ↩︎
    6. zu dem Prozess innerhalb des Februar-März-Plenums des Zentralkomitees siehe: Schlögel, Karl (2008): Terror und Traum: Moskau 1937, Bonn, S. 239–266 ↩︎

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    Tag des Sieges

    Juri Tschaika

    Alexander Bastrykin

    Sergej Iwanow

    Haus der Regierung

  • Lubok

    Lubok

    Die heutige Bildübersättigung lässt uns oft vergessen, wie selten und für den normalen alltäglichen Gebrauch unzugänglich Bilder vor dem 16. Jahrhundert waren. Die „Revolution des Bildes“ setzte erst mit der Entstehung von Reproduktionstechniken wie Holzstichen, Kupferstichen und Radierungen ein.1 Ebenfalls in die Reihe dieser Techniken gehört die russische Tradition des Volksbilderbogens, der unter der Bezeichnung Lubok bekannt ist.

    Die Hexe Baba-Jaga, auf einem Schwein reitend, kämpft mit einem Krokodil. Lubok aus dem 17. Jahrhundert
    Die Hexe Baba-Jaga, auf einem Schwein reitend, kämpft mit einem Krokodil. Lubok aus dem 17. Jahrhundert

    Der Einblattdruck, der meistens von Hand koloriert wurde, bekam seinen Namen vermutlich von den Tragekörben aus Lindenrinde, Lubok, in denen die Verkäufer die Bilderbögen transportierten. Eine weitere Theorie führt den Namen auf die Herstellungsmethode zurück: Früher wurde in Russland Lindenbast, die etwas weichere und nachgiebigere Schicht unter der Rinde, zum Schreiben und wohl auch zur Anfertigung der Bilderbögen verwendet.2  Im übertragenen alltäglichen Sinne kann der Begriff Lubok oder das Adjektiv lubotschny heute auch für Dinge benutzt werden, die als plump, vulgär oder unbeholfen gelten.

    Die genaue Entstehung des russischen Volksbilderbogens liegt für die Forscher im Dunkeln. Die frühesten Blätter werden auf das 17. Jahrhundert datiert. Die ersten Motive waren religiöser Natur, so dass man sie auch häufig „Papierikonen“ nannte. Die Ursprünge des Luboks liegen in der ausländischen und höfischen Kultur, da die meist anonymen Lubok-Künstler sich an ausländischen Vorbildern orientierten. Die Forscher weisen hier zum Beispiel auf die Vorbildfunktionen der Illustrationen aus der Lutherbibel oder Illustrationen und Bilderbögen aus Deutschland, den Niederlanden und Skandinavien hin. Somit ist die Geschichte des russischen Volksbilderbogens auch eine Geschichte der Transformationen, der Synthese und des kulturellen Austauschs.3

    Im 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der Lubok als Holzschnitt gefertigt. Ab den 1860er Jahren verbreitete sich die schnellere und genauere Technik der Metallgravur (Stich und Radierung). Die Motive veränderten sich im Laufe der Zeit, und infolge der günstigeren Herstellungstechnik wurden die Lubki im 19. Jahrhundert zunehmend auch auf dem Land verkauft. Sie wurden häufig an den Wänden der Hütten aufgehängt. Zu jedem Zeitpunkt handelte es sich aber um ein Produkt, das alle Verbraucherschichten vom Bauern bis zu den Provinzadligen erreichte.4

    Die Mäuse beerdigen die Katze. 18. Jahrhundert.
    Die Mäuse beerdigen die Katze. 18. Jahrhundert.

    Die Themenvielfalt war enorm, sie bewegte sich zwischen Witz und Satire, Ikonen, Lehre und Romanen, Sagen und Heldenlegenden, Tugenden und Lastern.5 Einen großen Aufschwung erfuhren die Bilderbögen 1812 während des Krieges gegen Napoleon und während des Russisch-Japanischen Krieges 1905. Die humoristische Darstellung des Feindes auf zahlreichen Lubki hatte eine große propagandistische und mobilisierende Wirkung.6

    Was ist aber das Besondere an dieser Kunstgattung? Erstens liegt die Besonderheit der Lubki, so der berühmte russische Theoretiker Juri Lotman, in ihrer Nähe zum Theatralischen. Ein Lubok bewegt sich zwischen mündlicher und schriftlicher Kultur. Beim Betrachten entsteht eine dynamische, beinahe spielend-nachempfindende Komponente, ähnlich der eines Kindes beim Spielen mit Bildern oder Spielzeug. Zweitens besteht in einem Lubok ein spezifisches Verhältnis zwischen Bild und Text. Die Texte sind keine bloßen Beschreibungen oder Überschriften, sondern sind häufig schwer verständlich oder stehen sogar im deutlichen Gegensatz zu den dargestellten Szenen. Der Text dient, so Lotman, als eine szenische Vertiefung des eigentlichen Bildes.7

    Die Kunstform des Lubok hat vor allem die russischen Künstler der Avantgarde wie zum Beispiel Malewitsch und Maler wie Kandinsky und Chagall beeinflusst. Auch heute ist die Verbindung zu den Volksbilderbögen im kulturellen Gedächtnis und im künstlerischen Schaffen Russlands ungebrochen, wie unter anderem die Bilder des satirischen Malers und Grafikers Wasja Loshkin zeigen8.

    Zeichnung des satirischen Künstlers Wasja Loshkin mit stilistischen Anleihen beim Lubok
    Zeichnung des satirischen Künstlers Wasja Loshkin mit stilistischen Anleihen beim Lubok

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