Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine haben sich zahlreiche liberale Stimmen in Russland entsetzt gezeigt, gerade in Sozialen Netzwerken Schock und Scham geäußert, darunter auch viele Kulturschaffende und Künstler. Laut OWD-Info sind bis Donnerstagnacht in 52 russischen Städten mehr als 1742 Menschen bei Protestaktionen gegen den Krieg festgenommen worden [Stand: 23:57 Ortszeit (MSK)].
Aber wie steht die breite Masse zu diesem Krieg: Glauben die Menschen in Russland, es sei legitim, in die Ukraine einzumarschieren? Hat Putin mit seinem Krieg Unterstützung in der Gesellschaft? Gibt es gar eine ähnliche Euphorie wie 2014? Diese Fragen hat Meduza wenige Tage vor Kriegsbeginn dem Soziologen Denis Wolkow, Direktor des unabhängigen Meinungsforschungszentrums Lewada, gestellt.
Dazu muss man wissen: Tatsächlich erschienen vielen Menschen in Russland solche Probleme wie Armut und Inflation bislang drängender als geopolitische Themen, die für die Gesellschaft ganz unten auf der Prioritätenliste rangierten. Hinzu kommt, dass Meinungsumfragen in Russland nur eine begrenzte Aussagekraft haben: Da Menschen in autoritären Systemen Angst haben, eine sozial nicht erwünschte Meinung kundzutun, würden sie häufig das wiedergeben, was sie aus den Abendnachrichten vom Vortag behalten haben, so der Soziologe Grigori Judin: „Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen.“
Demgegenüber liefert die Soziologie aber handfeste Hinweise, dass Meinungsumfragen die öffentliche Meinung in Russland abbilden können: Wenn Menschen ihre Informationen etwa jahrelang nur aus Propaganda-Medien beziehen, dann ist es naheliegend, dass sie diesen Informationen irgendwann glauben, dann verfestigt sich bei ihnen auch die Meinung, die ihnen schon seit Jahren vorgesetzt wird: Dass die Ukraine etwa vom Westen gesteuert, dass sie eigentlich kein richtiger Staat sei, oder eben dass die „Ukro-Faschisten“ Russen in der Ukraine töten würden – und die Ukraine deshalb, wie Putin es in seiner TV-Rede vor dem Marschbefehl sagte, „entnazifiziert“ werden müsse.
Wie also steht die russische Gesellschaft zu einem Krieg? Denis Wolkow spricht im Interview vom Dienstag über die Wirkung von Propaganda, Angst und darüber, wie sich die Haltung zu Putin entwickeln könnte.
Anastasia Jakorewa: Putin hat in seiner Rede zur Anerkennung der Donezker und Luhansker Volksrepublik [am Montag, 21.02.2022 – dek] gesagt, er sei sicher, dass die Bürger in Russland diese Entscheidung unterstützen werden. Kann man wirklich von einer rückhaltlosen Unterstützung sprechen?
Denis Wolkow: Die Daten, die wir in den vergangenen Jahren gesammelt haben, geben uns eine grobe Vorstellung davon, wie die Menschen reagieren. Es gibt unterschiedliche Einstellungen zu einem Krieg und zu dem, was da vor sich geht. Die erste: Amerika ist an allem Schuld. Nicht mal die Ukraine, nein, Amerika und der Westen: Die setzen die Ukraine unter Druck, die ihrerseits irgendwas gegen die nicht anerkannten Republiken im Schilde führt – auf deren Seite soll Russland sich einmischen. Denn es geht um die russischsprachige Bevölkerung, um Menschen mit russischen Pässen, also „unsere“ Leute. Es ist eine Situation, in der auf unsere Leute eingeprügelt wird, und natürlich müssen wir ihnen helfen und sie verteidigen.
In den vergangenen sieben Jahren haben wir die Menschen regelmäßig befragt, welches Schicksal sie für diese Republiken sehen. Ein gutes Viertel sagt, die Republiken müssten unabhängig werden. Ein weiteres Viertel sagt, sie müssten Russland angegliedert werden. Und in etwa ähnlich viele sind für einen Verbleib in der Ukraine. Der Rest ist unentschieden.
Die Situation wird als Bedrohung dargestellt für das russischsprachige Brudervolk. Beziehungsweise nicht mal für das Bruder-, sondern für das eigene Volk
Es gibt also keine vorherrschende Meinung. Aber als wir gefragt haben: Wenn die Republiken darum bitten, an Russland angegliedert zu werden, sollten wir sie dann angliedern? Da haben etwa 70 Prozent mit „Ja“ geantwortet: Man muss ihnen helfen, und man muss sie aufnehmen. Darum denke ich, dass jetzt, wo die Anerkennung entschieden ist, die Mehrheit diese Entscheidung unterstützen wird – zumal die Situation, wie auch schon 2014, als Bedrohung dargestellt wird für das russischsprachige Brudervolk, beziehunsgweise sogar nicht mal für das Bruder-, sondern für das eigene Volk.
Wie groß ist die Angst bei den russischen Bürgern vor westlichen Sanktionen und den damit verbundenen ökonomischen Einbußen?
Die Angst vor Sanktionen, den ersten Schock gab es ganz am Anfang, als sie verhängt wurden. Dann hat man sich mit der Zeit daran gewöhnt. Zusätzlich haben viele der Befragten das Gefühl: Was auch immer Russland tut – Sanktionen wird es so oder so geben, denn der Westen will Russland schwächen und demütigen. So, wie man uns schon 2014 gesagt hat: Wenn es die Krim nicht gäbe, hätten sie sich was anderes ausgedacht. Das ist eine feste Überzeugung, die auf einem Misstrauen gegenüber der US-Außenpolitik gründet – die konnten wir schon Ende der 1990er Jahre feststellen, als die NATO-Osterweiterung begann.
In einem Ihrer Gastbeiträge [Wolkow publiziert regelmäßig in unabhängigen russischen Medien – dek] habe ich gelesen, in Russland würden sowohl diejenigen, die der Staatsführung gegenüber loyal sind, als auch diejenigen, die ihr gegenüber oppositionell eingestellt sind, dem Westen die Schuld für den Konflikt geben. Die Mehrheit beider Gruppen meint, dass Amerika schuld sei – nur die Prozentanteile der Mehrheiten unterscheiden sich. Woher diese Eintracht?
Eine eindeutige Antwort habe ich darauf nicht. Ich denke, hier spielt mit rein, dass man die Konfrontation zwischen Russland und den USA als internationalen Hauptkonflikt wahrnimmt. Das ist ein Ausdruck von Patriotismus. Man muss sich klar positionieren, wo man steht. Und wenn es so einen Konflikt gibt – dann sind natürlich mehr Leute auf der Seite Russlands.
Wobei ja offensichtlich ist, dass diese beiden Gruppen ihre Informationen aus unterschiedlichen Quellen schöpfen.
Das sagt wirklich etwas darüber aus, wie Menschen Nachrichten konsumieren: Über den Konflikt berichten vor allem das Fernsehen und die offiziellen Medien, und sobald Menschen etwas davon interessant finden, dann suchen sie noch nach weiteren Quellen. Zu diesem Thema suchen die Menschen aber anscheinend nicht nach zusätzlichen Quellen. Wie sie auch in den Umfragen sagen: Wenn ich nur etwas über die Ukraine höre, schalte ich sofort um, ich will nichts davon hören, will nichts davon wissen.
Die Politik gegenüber den „ausländischen Agenten“-Medien beeinflusst auch, wie der Informationsfluss gelenkt wird
Das heißt, bei vielen läuft der Fernseher im Hintergrund, er ist irgendwie einfach da, und dann [sagen die Menschen – dek]: Ich sehe nur fern, und wenn mich diese Geschichte berühren würde, dann würde ich noch was im Internet lesen [unabhängige russische Medien sind fast ausschließlich online zugänglich, wie auch der TV-Sender Doshd – dek]. Oder eben nicht.
Die Politik gegenüber den „ausländischen Agenten“-Medien beeinflusst auch, wie der Informationsfluss gelenkt wird. Früher hat es der Fernsehsender Doshd zumindest manchmal in die Top-Suchergebnisse von Yandex geschafft. Ich habe Nachrichten über Alissa [eine von Yandex entwickelte virtuelle Sprachassistentin] gehört. Als all das anfing, hat Alissa plötzlich keine Nachrichten [der „ausländischen Agenten“-Medien – dek] mehr wiedergegeben.
Wie stehen die Menschen zu einer möglichen Militäraktion [das Interview wurde am 22.02.2022 geführt – dek]?
Schwer vorherzusagen, denn womit können wir es vergleichen? Wir können das nur mit [dem Georgienkrieg] 2008 vergleichen. Worin besteht hier die größte Gefahr? Darin, dass unsere Truppen tatsächlich Gefechte gegen ukrainische Truppen führen. Früher gab es dazwischen einen Puffer; vielleicht waren [russische Truppen im Donbass], aber nicht offiziell …
Angst, Widerwillen – doch weil die Schuld dafür den anderen zugeschrieben wird: Was sollen wir schon tun?
Wir haben den Menschen folgende Frage gestellt: „Glauben Sie, dass die Situation zu einem Krieg zwischen Russland und der Ukraine führen könnte?“ Ende 2021 hat dies rund eine Hälfte für wahrscheinlich gehalten, und die andere für nicht wahrscheinlich. Die Gefühle diesbezüglich: Angst, Widerwillen – doch weil die Schuld dafür den anderen zugeschrieben wird: Was sollen wir schon tun? Wir wollen Frieden, von den Normalbürgern hängt nichts ab ab. Nicht mal von der russischen Staatsführung hängt [dem öffentlichen Bewusstsein nach] etwas ab. Also sagen die Leute: Ja, wir müssen uns verteidigen, ja, wir dürfen nicht klein beigeben, aber was genau ist dieses Klein-Beigeben – die werden versuchen, uns niederzuwalzen, sollen wir uns da etwa zurückziehen?
In einem Ihrer Gastbeiträge haben Sie geschrieben, die Gesellschaft sei „innerlich auf einen Konflikt vorbereitet“. Auch auf einen militärischen Konflikt?
Im Grunde ja, auf einen militärischen Konflikt. Auch hier gilt es, dass die Gesellschaft latent bereit ist – denn wie lange schon wird darüber gesprochen. Das heißt aber nicht, dass sich diese Haltung nicht ändern wird, dass keine Müdigkeit einsetzt. Es ist unmöglich vorherzusagen, wie sich die Situation entwickeln wird und wie die Menschen darauf reagieren werden. Anfangs wird es wahrscheinlich eine Mobilisierung um den Führer geben. Aber was dann?
Wenn es ein kurzer Krieg wird, dann wird es wahrscheinlich ähnlich wie mit Georgien: Auch damals hatten die Menschen das Gefühl, dass es nicht um Georgien und Russland ging – sondern um die USA und Russland. Und dass wir unsere Brüder gerettet hätten. Wichtig war, dass es schnell vorbei war und niemand das Gefühl von ernsthaften Verlusten hatte.
Ein andauernder Krieg kann [Putins] Zustimmungswerten einen beachtlichen Schlag verpassen, ich kann aber ganz bestimmt nicht vorhersagen, wie sich der Konflikt entwickeln wird.
Gibt es mögliche Trigger für russische Bürger, wegen derer sie sich scharf gegen einen Krieg wenden würden?
Das ist schwer zu sagen. Ich denke, vor allem eine große Zahl an Opfern oder die Dauer des Konflikts, ein Sich-Hinziehen.
Welche Möglichkeiten sehen die russischen Bürger, um den aktuellen Konflikt zu lösen – außer einen Krieg?
Sie sehen nicht wirklich welche. Am häufigsten haben die Menschen Verhandlungen genannt. Aber man kann nicht sagen, dass sie geglaubt haben, dass daraus etwas wird, dass die Verhandlungen helfen würden, etwas zu zu lösen. Wir wollten, baten, haben vorgeschlagen, aber niemand ist darauf eingegangen – so sehen die Menschen das.
Wenn man die Situation 2014 mit heute vergleicht, worin unterscheidet sie sich?
Die Sorge, die Angst vor einem Krieg, ist größer. Aber auch um die Zivilgesellschaft ist es inzwischen ganz anders bestellt – damals war sie viel freier, viel präsenter, es gab eine Antikriegsbewegung, es gab Oppositionspolitiker, die noch Unterstützung aus den Jahren 2011/2012 in Teilen der Gesellschaft genossen: Boris Nemzow, Alexej Nawalny, eine ganze Reihe. Jetzt ist da niemand, außer Jabloko als Partei – die, ich sag mal so, nicht sehr populär ist. Und: Proteste sind verboten. Auch deswegen sehen wir keine Antikriegsbewegung. Sowohl die unabhängigen Politiker als auch die unabhängigen Medien sind ausgedünnt.
Droht der Ukraine eine russische Invasion? „Das Risiko steigt,“ warnte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Wochenende in der ARD. Stoltenberg sagte, er befürchte, dass Russland derzeit einen Vorwand für einen Einmarsch suche.
Am Freitag hatten Denis Puschilin und Leonid Pasetschnik die Bevölkerung per Videoansprache zur „Evakuierung“ aufgerufen. Die beiden sind die Chefs der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, wo Russland in der Vergangenheit auch massenweise russische Pässe ausgestellt hat. Wie später anhand von Video-Metadaten bekannt wurde, wurden die beiden Aufrufe offenbar schon zwei Tage zuvor aufgenommen – als die Lage vor Ort noch ruhig war. Mitte Februar 2022 hatte die Staatsduma zudem eine Initiative der KPRF verabschiedet, die beiden abtrünnigen Regionen als unabhängig anzuerkennen. Am heutigen Montag tagt der Sicherheitsrat dazu in einer außerordentlichen Sitzung. Die USA und weitere westliche Staaten warnen bereits seit Wochen davor, dass Russland einen Anlass für einen Angriff auf die Ukraine erfinden wolle.
Beim Besuch von Olaf Scholz am 15. Februar in Moskau sprach Präsident Wladimir Putin von einem „Genozid“ im Osten der Ukraine. Berichte im russischen Staatsfernsehen verbreiten diese Lesart: Im staatlichen Perwy Kanalerzählte RT-Chefredakteurin Margarita Simonjan am Wochenende zuvor von angeblichen Gräueltaten der ukrainischen Armee im Osten der Ukraine und tausenden Kindern im Donbass „ohne Arme und Beine“. Weder UN noch OSZE sehen im Donbass dagegen Hinweise für einen Genozid.
Genozid, Völkermord – die militärische Operation der NATO gegen Jugoslawien im Jahr 1999 legitimierten viele westliche Politiker damals als eine humanitäre Intervention, die NATO handle aus einer „Schutzverantwortung“ heraus. Derzeit weisen Beobachter immer wieder auf solche vermeintlichen Parallelen zum Kosovokrieg hin – als Russland auf der Seite Serbiens stand: Unter dem Vorwand eines „Genozids“ und einer „Schutzverantwortung“ könnte Russland nun auch die Ukraine angreifen.
Auch in russischen unabhängigen Medien kommentieren Beobachter die jüngsten Ereignisse mit wachsender Sorge. Meduza hat am Freitag außerdem Bewohnerinnen und Bewohner der „Volksrepubliken“ zur aktuellen Lage befragt. dekoder bringt Ausschnitte daraus und aus der Debatte.
Kirill Martynow, Redakteur der Novaya Gazeta, kommentiert die aktuellen Ereignisse in einem emotionalen Post auf Facebook:
Samstag, der 19. Februar, der Tag vorm Abschluss der Olympischen Spiele, hat Anschauungsmaterial wie aus dem Lehrbuch geliefert für die Entfesselung eines aggressiven Krieges.
Was ist zu tun, wenn niemand Krieg will, du ihn aber dringend brauchst, um ernst genommen zu werden? Ein Schlüsselmoment ist hierbei die Entschmenschlichung des Feindes: Um ein Nachbarland zu überfallen, muss man erst einmal der eigenen Gesellschaft beibringen, dass in diesem Land Unmenschen leben, die eine Un-Sprache sprechen. Belofinnen, Belopolen, Banderowzy – you name it.
Ein Schlüsselmoment ist die Entschmenschlichung des Feindes
Von solchen Unmenschen ist immer und alles zu erwarten, deswegen wundert sich wohl niemand, wenn sie pünktlich, im Moment der Konzentration von zehntausenden mobilisierter Soldaten an ihren Grenzen, einen Tag vor Ende des Sportfestes in China, eine Jagd auf friedliche Bürger beginnen. Am Horizont erscheint ein gekreuzigter Junge von der Größe der Donbass-Gebiete: Um das Bild der unmenschlichen Grausamkeit zu vollenden, benutzt man Freitagabend Waisenkinder aus dem dortigen Kinderheim und bringt sie mitten in der Nacht irgendwohin. Wer bringt Kinder in eine solche Lage? Nur Todfeinde des guten russischen Volkes, Unmenschen.
Pünktlich beginnen an der Grenze zur Russischen Föderation Granaten zu explodieren. Zum Glück gibt es keine Opfer, und woher die Granaten angeflogen kamen, ist auch nicht klar, aber das ist auch nicht wichtig, denn alles ist false flag – ein Täuschungsmanöver. Dazu sind nur die da in der Lage, die Untiere!
Die Evakuierung angesichts eines unsichtbaren Feindes entwickelt sich von allein in eine humanitäre Katastrophe – verbunden damit ist das Abpressen von Hilfsgeldern russischer Staatsbediensteter, die aufgerufen sind, Teile ihres Gehalts für „die Kinder des Donbass“ zu spenden. Zusätzlich wird es zu einem es zu einem Casus Belli, denn wenn den Menschen befohlen wird zu fliehen, dann ist die Lage ja sehr ernst. Für alle Fälle werden parallel dazu Männer, die in der Donezker und Luhansker Volksrepublik leben, unter dem Vorwand der Mobilmachung als Geiseln genommen – vielleicht töten die Unmenschen einige von ihnen.
Der Krieg jedoch will einfach nicht beginnen, weil ihn immer noch niemand will, aber man muss ihn heranzüchten, ihm auf die Beine helfen, ihn mit Geld füttern und mit Propaganda aufblasen
Vielleicht greifen die Unmenschen ja irgendwann auch Minsk an?
In Donezk explodiert als erstes ein oller UAZ und wenig später stellt sich heraus, dass mit diesem Nummernschild bis vor Kurzem ein anderes, neueres Fahrzeug unterwegs war. Der hinterlistige Feind hat wohl vor dem Terroranschlag den neuen Geländewagen gegen den alten getauscht: So wirtschaftlich clever konzipiert ist die Operation Mungo-Volte – wie sie in den Metadaten [der Evakuierungsaufrufe] der Chefs der Donezker und Luhansker Volksrepublik heißt, aus denen auch hervorgeht, dass diese Eil-Videobotschaften bereits [zwei Tage – dek] zuvor aufgenommen worden waren.
Aus dem Kommandopunkt wird der Start unserer neusten Friedensraketen verfolgt. Ihren Flug beobachten auch die „harten Nüsse“ [Lukaschenko und Putin – dek]. Das Verteidigungsministerium erklärt, dass unsere russischen Truppen in einem weiteren Nachbarland so lange bleiben werden, wie es die aufgekommene internationale Anspannung erfordert. Vielleicht greifen die Unmenschen ja irgendwann auch Minsk an?
Wir sind historisch doch die Unschuld in Person
Die Unzufriedenheit in der Gesellschaft wächst quasi wie von selbst: In einer Spezoperazija hat die Duma die Bereitschaft erklärt, die DNR und LNR anzuerkennen. Jetzt ist der Sprecher des Parlaments empört, dass das Leiden der Kinder im Donbass westliche Politiker völlig kalt lässt. Die Regierung Kubas beschreibt die Politik des Westens als Hysterie und Provokation.
Dimitri Peskow teilt uns seine historiosophischen Anschauungen mit, nach denen Russland in seiner gesamten Geschichte nie jemanden angegriffen hat. Ich denke, das ist ein seltener Fall, in dem Peskow aufrichtig spricht. Viele Menschen, bei denen Propaganda an die Stelle von Bildung getreten ist, teilen diese Ansicht: Diese Unmenschen an unserer Grenze provozieren uns – wir sind historisch doch die Unschuld in Person.
Die Mehrheit der Ungläubigen schweigt um des eigenen Wohles willen
Die Qualität der Inszenierung wirkt, als hätte der betrunkene Chef eines Provinz-Jugendtheaters Regie geführt. Viele glauben ihr nicht, doch die werden dann zu Helfershelfern der Unmenschen und zu Feinden erklärt, und die Mehrheit der Ungläubigen schweigt um des eigenen Wohles willen. Beim Rest der Gesellschaft führt der ganz normale Konformismus zu der Haltung, dass der Krieg nun unausweichlich ist: Wir sind die belagerte Festung und müssen den Gürtel enger schnallen. Da muss doch was dran sein, wo Rauch ist, ist auch Feuer, schließlich könnte doch niemand so dreist unser großes Volk belügen und der Kaiser kann doch nicht nackt sein.
Dimitri Kolesew: Humanitäre Krise als zusätzliches Argument und Druckmittel
Dimitri Kolesew fasst die Geschehnisse in einem Überblicksartikel auf Republic zusammen – an dessen Ende geht er auch auf die Warnung von US-Präsident Biden ein, dass Russland plane, die ukrainische Hauptstadt Kiew anzugreifen:
Die ausgerufene Evakuierung wirkt bislang eher wie der Teil einer Informationskampagne, die Russland im Konflikt mit dem Westen und der Ukraine braucht. Derzeit ist eher zweifelhaft, ob aus DNR und LNR tatsächlich große Flüchtlingsströme zu erwarten sind, für effektvolle Fernsehbilder inklusive ein paar Dutzend Bussen mit Frauen und Kindern wird es aber reichen.
Die Frage ist, warum es notwendig ist, die Situation auf diese Weise anzuheizen. Die Vereinigten Staaten erklären nach wie vor, dass Russland eine kriegerische Invasion in die Ukraine vorbereitet, wobei sogar damit zu rechnen sei, dass sie bis Kiew vordringen wollen. Das ist eines der möglichen Szenarien, doch ist es nicht sehr wahrscheinlich. Und sei es nur, weil die an der Grenze zusammengezogenen Truppen für eine großangelegte Invasion oder Besatzung nicht ausreichen würden.
Für effektvolle Fernsehbilder inklusive ein paar Dutzend Bussen mit Frauen und Kindern wird es reichen
Realistischer wirkt da schon die Variante eines Einmarschs russischer Truppen in das Gebiet von DNR und LNR, wo Russland de facto bereits vor Ort ist. Womöglich wäre dafür eine Anerkennung der beiden Republiken nötig. Das allerdings würde vom Westen als Verletzung der territorialen Unversehrtheit der Ukraine gewertet werden, hätte harte Sanktionen zur Folge und würde die internationale Lage Russland noch mehr erschweren. Der Nutzen eines solchen Schritts liegt nicht auf der Hand.
Womöglich hat Moskau nun in Reaktion auf die USA, die die Situation mit Erklärungen über eine unmittelbar bevorstehende russische Invasion aufgeheizt haben, die Unruhe gesteigert, indem es eine humanitäre Krise simuliert. Das könnte ein zusätzliches Argument und Druckmittel gegenüber Washington und Kiew sein, um Garantien für den Nichteintritt der Ukraine in die NATO und für die Erfüllung des Minsker Abkommens nach russischer Lesart zu bekommen.
Meduza: „Auf uns wartet keiner, nirgends”
Unmittelbar dem Evakuierungsaufruf am Freitag hat Meduza Stimmen vor Ort eingeholt. dekoder übersetzt Ausschnitte daraus.
„Wir haben schon lange keine Angst mehr“ Jelena, Schachtjorsk
Ich selbst möchte nirgends hinfahren. Auf uns wartet keiner, nirgends – ja, und was ist mit der Arbeit, sowieso klar. Keiner will wegfahren. Die Leute glauben nicht, dass es Krieg geben wird. Und ich auch nicht: Ihr werdet sehen, es passiert nichts. Da bin ich sicher, Schluss, aus. Wir haben schon lange keine Angst mehr, wir sind an all das schon seit vielen Jahren gewöhnt.
Mir scheint, das ist alles Politik. Russland wollte unsere Republiken anerkennen, dann sagte Putin: „Nein, nein, ich werde nichts anerkennen.“ Jetzt muss man einen Präzedenzfall schaffen. Was werden wir tun, wenn die Ukraine die DNR und LNR angreift? Wir werden die Republiken anerkennen, denn da leben viele unserer Bürger – die, die einen russischen Pass bekommen haben. Es ist unklar, warum das ausgerechnet jetzt passiert. In den letzten Jahren haben wir friedlich gelebt sowohl mit der Ukraine als auch mit Russland.
„Ich kämpf auch mit der Mistgabel gegen Ukro-Faschisty“ Denis, Donezk
Meine Familie und ich, wir sind 2014 nirgendwohin geflohen und haben auch jetzt beschlossen, hier zu bleiben. Ich bin 45 Jahre alt, hatte vor kurzem erst einen Herzinfarkt, meine Angina pectoris macht sich bemerkbar, aber wenn es richtig knallt, klar, dann kämpf ich sogar mit einer Mistgabel gegen die ukrofaschisty. Im Kriegsfall ist meine Hauptaufgabe meine Familie und mein Land zu schützen.
Was die tatsächliche Situation vor Ort betrifft, da kann ich sagen, dass das, was sie in der Zombiekiste zeigen, stark übertrieben ist. Es sind bei weitem nicht alle willens wegzufahren. Viele wollen hier weiterhin wohnen bleiben, wie sie auch 2014 geblieben sind.
„Die hätten jemanden aus Hollywood beauftragen sollen“ Jewgeni, Donezk
Ich wohne am Rande der Stadt. Bei uns wurde gestern nur ein bisschen geschossen und heute auch etwas – in der Ferne. Ich glaube, dass die Infrastruktur in der Stadt von den Einheimischen selbst vermint wurde. Mir scheint, sie haben sich nicht einmal viel Mühe gegeben. Die hätten doch jemanden aus Hollywood beauftragen sollen, um es etwas raffinierter zu machen. Einen UAZ im Stadtzentrum in die Luft jagen und behaupten, es sei der UAZ des Polizeichefs gewesen – das ist nicht mal lustig. Ich habe noch nie einen Polizeichef in einem UAZ gesehen. Ich glaube, die DNR-Behörden selbst haben sich das einfallen lassen. Ich glaube an eine Invasion der Ukraine, aber die Ukraine braucht das am wenigsten.
Die Gescheiten – Geschäftsleute, Politiker, Banditen – haben dieses Gebiet 2014 verlassen. Ich blieb und fragte mich, was passieren wird. Für diese Regierung würde ich aber nicht in den Krieg ziehen. Ich werde nicht kämpfen, um meine Heimat zu verteidigen, weil ich ein anderes Land als mein Heimatland betrachte: Ich wurde als Ukrainer geboren, ich werde als Ukrainer sterben, einen russischen Pass will ich nicht.
„Es hat einfach keinen Sinn, in den Krieg zu ziehen“ Alexander, Makejewka
Ich bin Wehrpflichtiger. Jetzt heißt es, dass sie schon von Haus zu Haus gehen und einberufen, bis jetzt ist noch niemand zu mir gekommen. Ich will nicht kämpfen. Ich denke, es muss nicht sein. Die Leute versuchen, ihre Taschen zu füllen und Macht aufzuteilen. Einer braucht ein Amt, ein anderer Geld. An der Macht ist jetzt, wer früher ein Niemand war. Jetzt haben sie Befugnisse und versuchen, sich etwas aus den Fingern zu saugen. Wer in den Krieg ziehen wollte, ist schon dort. Soldat in der Armee zu sein ist nur eine Verdienstmöglichkeit.
Im Internet vergleichen viele die aktuelle Situation mit 1941 oder 1945. Damals haben die Menschen für ihre Heimat gekämpft, die Deutschen haben angegriffen. Gegen wen soll man aber jetzt Krieg führen? Gegen Brüder und Schwestern auf der anderen Seite? Viele haben Verwandte in der Ukraine. Viele. Wahrscheinlich jeder. Es hat einfach keinen Sinn, in den Krieg zu ziehen.
Die Grundstimmung ist: „Kann uns nicht irgendjemand irgendwo aufnehmen.“ Wenn Russland uns aufnimmt – gut, damit könnten wir leben. Wenn die Ukraine uns aufnimmt, auch gut. Jetzt sind wir in einer Zwischenzone: In Russland scheint es einigermaßen gut zu laufen, auch in der Ukraine ist es ok, nur bei uns wie immer – nicht so richtig.
Um den Fall Uljukajew ist es leiser geworden. Der ehemalige Wirtschaftsminister steht unter Hausarrest, seit er vor drei Monaten öffentlichkeitswirksam festgenommen und innerhalb weniger Stunden seines Amtes enthoben wurde – weil er zwei Millionen Dollar erpresst haben soll. Seitdem wartet er auf ein Gerichtsverfahren.
Was offiziell als Korruptionsfall behandelt wird, könnte – so wird spekuliert – ein verdeckter Kampf um Posten oder gar eine offene persönliche Rechnung sein. Fest steht: Uljukajew ist nur einer von vielen Staatsbeamten und Politikern, seien es Gouverneure, Bürgermeister oder Berater, die in den vergangenen Jahren von Strafverfolgungsbehörden ins Visier genommen wurden – allerdings ist er der erste Minister, der wegen Korruptionsvorwürfen seinen Posten räumen musste.
Die beiden Journalisten Dimitri Filonow und Anastasia Jakorewa nahmen diesen bisher prominentesten Fall zum Anlass, um für das liberale Webmagazin Republicnach bewährten Mustern zu suchen, wenn es um das Ausschalten von Amts- und Würdenträgern geht.
Witali Teslenko, Gesundheitsminister des Gebietes Tscheljabinsk, saß einfach so mit Freunden in der Banja: bei Wodka, Gurken und Tomaten, Schinkenknackern und dick geschnittenem Schwarzbrot – wobei sie sich durchaus ein erlesenes Bankett hätten leisten können. Die Mitarbeiter des FSB, die die Banja stürmten, fanden dort 12 Millionen Rubel [umgerechnet knapp 200.000 Euro – dek]: „Provisionen“, die Teslenko erhalten hatte. In der Folge legte man dem Minister den Erhalt von insgesamt 69 Millionen Rubel [umgerechnet 1 Million Euro – dek] Schmiergeldern über einen Zeitraum von wenigen Jahren zur Last und verurteilte ihn zu sieben Jahren Strafkolonie.
Das ist nur eine kleine Episode im Kampf gegen die Korruption in Russland. Der Höhepunkt war die Festnahme des Wirtschaftsministers Alexej Uljukajew, der angeblich mit zwei Millionen US-Dollar aus dem Büro von Rosneftherausspaziert ist. Das war das erste Mal in der Geschichte Russlands, dass ein amtierender Minister verhaftet wurde.
Im April 2016 hat Generalstaatsanwalt Tschaika erklärt, im Jahr zuvor seien gegen 958 Tschinowniki Ermittlungen wegen Korruption aufgenommen worden. Wenn jemand in den Knast gebracht wird, könnte das als glatter Sieg von Polizei und Justiz betrachtet werden, doch ist Korruption in Russland auch schlicht die bequemste Art, einen missliebigen Tschinownik „aus dem Rennen zu nehmen“. In der Wirtschaft ist es immer schlimmer, der Kampf ums Geld wird immer erbitterter.
Niemand zählt mit
Nowosibirsk, Wladiwostok, Syktywkar, Birobidshan, Perm, Smolensk. Gouverneure, Bürgermeister, Minister, ihre Stellvertreter – den von Republic zusammengetragenen Daten zufolge werden in Russland im Schnitt monatlich drei hohe Tschinowniki auf Grund von Anti-Korruptions-Paragraphen festgenommen. Eine offizielle Statistik fehlt, und so hat nun Republic selbst Informationen über Verfahren gegen höhere Tschinowniki gesammelt. Insgesamt wurde seit 2010 in den Medien von rund 120 Festnahmen berichtet: von Bürgermeistern, Gouverneuren, Ministern und deren Stellvertretern (Verfahren gegen Tschinowniki niederen Ranges gelangten nicht in die Stichprobe).
In diesen sechs Jahren fiel der Spitzenwert mit 30 Festnahmen auf das Jahr 2013, das Jahr nach den Präsidentschaftswahlen. 2014 ging die Zahl der verhafteten Tschinowniki drastisch zurück. 2015 (in dem 34 hohe Tschinowniki festgenommen wurden) und 2016 (rund 30 Fälle) wurden allerdings die früheren Werte wieder erreicht. Um Bestechung geht es nur in einem Drittel der Verfahren: Oft werden die Tschinowniki des Betrugs oder der Überschreitung von Amtsbefugnissen beschuldigt, seltener der Unterschlagung, Veruntreuung oder der Bildung einer kriminellen Vereinigung.
„Für kriminelles Handeln wird niemand einfach so eingebuchtet, da muss es schon einen politischen Willen geben“, sagt ein auf derartige Fälle spezialisierter Anwalt.
Wie werden die Fälle bearbeitet?
Am 17. März 2014 hat Wladimir Putin zwei Dekrete unterzeichnet: Durch den einen wurde die Krim an Russland angeschlossen, mit dem anderen enthob er Wassili Jurtschenko, den Gouverneur der Oblast Nowosibirsk, seines Amtes. Er war der erste Gouverneur, den Putin mit der Formulierung „aufgrund von Vertrauensverlust“ entließ.
Nach Jurtschenkos Darstellung steht hinter seiner Abberufung eine Aktion ihm nicht wohlgesonnener Leute. Ihnen soll er in die Quere gekommen sein. Jurtschenko stammte aus dem Team des vorherigen Gouverneurs. Nachdem er seinen Posten angetreten hatte, soll Jurtschenko bald seine eigenen Leute auf Schlüsselposten gehievt haben. Aber als einer der wichtigsten Gründe für die Unzufriedenheit im Umkreis von Jurtschenko gilt sein Bestreben, einen örtlichen Tscherkison aufzulösen: den großen Kleidermarkt Gusinoborodski, zu dem Waren aus China gelangten und dann in ganz Sibirien vertrieben wurden. Es heißt, schon die Versuche, diesen Markt Anfang der 2000er Jahre zu reformieren, seien der Grund für die Ermordung der beiden Nowosibirsker Vizebürgermeister Igor Beljakow und Waleri Marjassow gewesen. Gegen Jurtschenko wurde (wegen des Verkaufs eines Grundstücks in Nowosibirsk zu Niedrigpreisen) bereits im Sommer 2013 ein Strafverfahren eingeleitet – das derzeit bei Gericht verhandelt wird. Im Juli 2016 wurde gegen Jurtschenkos Frau Natalja ein Verfahren eingeleitet.
Wessen Interessen hat Jurtschenko beeinträchtigt? Der Gesprächspartner von Republic schweigt, dann holt er das Telefon heraus und gibt den Namen eines ehemaligen Tschinowniks aus der Präsidialadministrationein.
Die Entscheidung zur Abberufung eines Gouverneurs oder eines föderalen Ministers kann nur einer treffen: der Präsident. Wie mehrere Gesprächspartner erklären, mit denen Republic sprechen konnte, besteht die Kunst allein darin, ihn zu einem solchen Schritt zu bewegen. Hierzu braucht es Strafverfahren und unwiderlegbare Beweise. „Dossiers mit kompromittierenden Unterlagen gibt es über jeden. Wann diese eingesetzt werden, ist nur eine Frage der Zeit“, erklärt einer der Gesprächspartner von Republic.
Wer ins Visier kommt, der wird abgehört
Der Moment kann dann eintreten, wenn in einem Gebiet, das in die Zuständigkeit eines Bürgermeisters oder Gouverneurs fällt, zu starke Proteststimmungen herrschen oder Wahlen verloren gehen. So hatte zum Beispiel der Föderale Antimonopol-Dienst (FAS) 2015 den Bürgermeister von Wladiwostok Igor Puschkarjow verdächtigt, dessen Verwandte würden an Verträgen mit der Stadt verdienen. Festgenommen wurde Puschkarjow jedoch erst 2016, vor dem Hintergrund des Skandals, als er die Wahlkommissionen umsiedelte: „Nach personellen Veränderungen in den territorialen Wahlkommissionen von Wladiwostok, die nun nicht mehr der Kontrolle des Bürgermeisters unterstanden, hatte der Bürgermeister zur Strafe ,ein wenig nachgeholfen‘, so dass die Pachtverträge für die Räumlichkeiten der Kommissionen gekündigt wurden“, sagt Ella Pamfilowa, die Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission in einem Interview.
Interesse an einer Abberufung könnte ein Unternehmer oder ein anderer Tschinownik haben, und manchmal treffen sich die Interessen gleich mehrerer Parteien. Lautet das Kommando schließlich, einen Tschinownik zu entfernen, wird er abgehört. Das kann lange dauern. So meinen etwa die Anwälte des ehemaligen Gouverneurs von Sachalin, Alexander Choroschawin, er sei mindestens ein Jahr lang abgehört worden. Der Anwalt des Wladiwostoker Bürgermeisters Igor Puschkarjow gab an, sein Mandant sei über mehrere Jahre abgehört worden. Wie RBK berichtete, war auch Alexej Uljukajew mindestens ein Jahr lang auf dem Radar. Laut Vedomostibetraf das nicht nur den Minister, sondern auch den stellvertretenden Ministerpräsidenten Arkadi Dworkowitsch und den Assistenten des Präsidenten, Andrej Beloussow.
Abhören ist eine unbedingte Maßnahme bei praktisch jedem dieser Vorgänge. Eine Abhörgenehmigung ist per Gericht zu erwirken, doch das ist reine Routine; eine Verweigerung erfolgt äußerst selten. Dem Richter die unbedingte Notwendigkeit von Gesprächsaufzeichnungen eines Tschinowniks plausibel zu machen, ist einfach: Gleich mehrere Anwälte, in deren Verfahren Abhörunterlagen verwendet werden, berichteten davon, dass in den Anträgen folgender Standardsatz auftaucht: „Es besteht der Verdacht, dass Dienstvollmachten überschritten wurden.“ Die Gerichte haben 2015 insgesamt 845.600 Abhörgenehmigungen erteilt. Selbstredend werden nicht nur die Worte des Verdächtigen aufgezeichnet, sondern auch die seiner Gesprächspartner. Das erweitert den Kreis der Leute, deren Gespräche in FSB-Hände gelangen. Und aus ihren Worten können sich neue Strafverfahren ergeben.
Ein ehemaliger Ermittler sagt im Gespräch mit Republic, manchmal sei es möglich, auch ohne Genehmigung des Gerichts abzuhören, was jedoch niemand zugeben würde. Sobald ein Verdächtiger etwas Wertvolles sagt, laufen die Fahnder los, um die Genehmigung einzuholen. „Manchmal streuen sie ein Gerücht und schauen, wie die Abgehörten reagieren. So kann man jemanden bei der Rückgabe von Bestechungsgeldern ertappen, sollte er zu nervös geworden sein“, erklärt ein ehemaliger Ermittler. Beispielsweise wurde 2013 im Restaurant Genazwale auf dem Alten Arbat in Moskau Wjatscheslaw Denissow festgenommen, ein Oberst des Innenministeriums, der wohl einem Geschäftsmann 835.000 Rubel zurückgab.
Gleichzeitig wird durch das Abhören ein Kreis von Personen umrissen, von denen man Aussagen über die betreffende Person erhalten kann. So kam es aufgrund von Aussagen des Bürgermeisters von Iwanowo, der der Bestechlichkeit verdächtigt wurde, zu einem Verfahren gegen Dimitri Kulikow, den Vizegouverneur des Gebiets Iwanowo.
Gegen den ehemaligen Gouverneur von Sachalin Alexander Choroschawin hatte der an Krebs erkrankte und in Untersuchungshaft sitzende Geschäftsmann Nikolaj Kern ausgesagt. Anschließend wurde Kern entlassen und blieb unter Hausarrest; er starb einige Monate später. „Es ist klar, dass er ausgesagt hat, um in Freiheit zu sterben“, sagt Iwan Mironow, der Anwalt der Familie Choroschawin.
Ein ehemaliger Ermittler erklärt, absolut jedes Strafverfahren bringe das Recht mit sich, Hausdurchsuchungen und andere Ermittlungsmaßnahmen vorzunehmen – und so können auch für andere Strafverfahren Beweise gesammelt werden.
Beim Schach gibt es klare Regeln, hier nicht
Müssen die Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden das Vorgehen gegen einen Tschinownik von oben absegnen lassen? Formal ist der FSB nicht verpflichtet, die Präsidialadministration über die Aufnahme operativer Fahndungsmaßnahmen in Kenntnis zu setzen. Allerdings sagen die Tschinowniki, mit denen Republic gesprochen hat, dass man im Kreml selbstverständlich von allen Fällen wisse. Man ging davon aus, dass die großen Korruptionsfälle früher von Sergej Iwanow als Chef der Präsidialadministration betreut wurden. Allerdings wurde Iwanow im August 2016 abgesetzt. Über Untersuchungen gegen Gouverneure wusste man auch in der Verwaltung Innenpolitik der Präsidialadministration Bescheid, wo Wjatscheslaw Wolodin das Sagen hatte.
Ein standardisiertes Schema, wie man eine Genehmigung für die Untersuchung eines Gouverneurs oder Angehörigen des Sicherheitsapparats erhält, gibt es nicht. Das läuft immer individuell. Es gewinnt derjenige, der einen direkten Zugang zum Präsidenten hat und sein Dossier mit kompromittierenden Materialien auf dessen Schreibtisch weiter oben platzieren kann. Zugang zu Putin haben übrigens nicht nur Tschinowniki der Präsidialadministration, sondern unter anderem auch die Chefs der Staatskorporation Rostech(Sergej Tschemesow) und von Rosneft (Igor Setschin). „Das ist wie beim Schach“, erklärt einer der Gesprächspartner. Beim Schach gebe es allerdings klare Regeln, hier nicht, korrigiert ihn ein anderer.
* Stand 11/2016. Quelle: Republic
Dass bei Uljukajews Festnahme der FSB die Hauptrolle spielte, sei Standard, erklären eine Reihe ehemaliger Ermittler gegenüber Republic. Die Erstbearbeitung übernehmen immer die operativen Fahnder von FSB und Innenministerium. Später dann, wenn das Material für ein Strafverfahren gesammelt wird, kommen die Ermittler hinzu. Ein Gesprächspartner erklärt Republic, die Ermittler seien laut Gesetz unabhängig und befugt, den Mitarbeitern des FSB Anweisungen zu geben. Es gebe allerdings Ausnahmen, beispielsweise die Sechser, die 6. Gruppe der internen Sicherheitsabteilung des FSB. Sie wird auch „Spezialeinheit Setschin“ genannt, weil die Gruppe auf Initiative Igor Setschins gegründet wurde, als dieser noch Vize-Chef der Präsidialadministration war.
Die interne Sicherheitsabteilung kontrolliert die Mitarbeiter des FSB, und die Sechser kontrollieren die Kontrolleure.
„Sie kommen einfach und sagen dir, was zu tun ist. Das ist der Inbegriff von Macht. Sie sind fast niemandem untergeordnet. Ihr Ding ist die Exklusivität, und Vollstreckung ihr besonderer Fetisch“, sagt einer der Gesprächspartner zu Republic. Wenn die 6. Gruppe dabei ist, geht es seinen Worten zufolge entweder um eine sehr wichtige Person oder um einen sehr großen Auftrag.
Die Sechser stehen hinter fast allen aufsehenerregenden Korruptionsfällen der letzten Zeit: Ihre Mitarbeiter haben sich sowohl Choroschawin und Gaiser vorgenommen, wie auch den Gouverneur des Gebietes Kirow Nikita Belych.
Bei der Festnahme von Uljukajew hatte Oleg Feoktistow, der für Sicherheit zuständige Vizepräsident von Rosneft, den Mitarbeitern der Sondereinheit geholfen. Feoktistow war im September 2016 zu dem Ölkonzern gekommen, als der Vorgang Uljukajew bereits lief und der Minister mindestens seit dem Sommer abgehört wurde.
Zuvor war Feoktistow stellvertretender Leiter der internen Sicherheitsabteilung des FSB gewesen. Er war für Belych zuständig und für den aufsehenerregenden Fall um Denis Sugrobow und Boris Kolesnikow, ihres Zeichens die Leiter der Hauptverwaltung wirtschaftliche Sicherheit und Korruptionsbekämpfung des Innenministeriums. Wie die New York Times schrieb, war Feoktistow als Anwärter für den Leitungsposten gehandelt worden, verlor aber den apparatsinternen Kampf und gelangte zu den abkommandierten Mitarbeitern des FSB.
Was geschieht nach der Festnahme des Verdächtigen? Der Ermittler eröffnet ein Verfahren, und das Gericht entscheidet über eine Inhaftierung.
Die Festnahme selbst ist eine recht langweilige Angelegenheit. Tschinowniki können an ihrem Arbeitsplatz festgenommen werden (wie im Fall Gaiser und Choroschawin), im Restaurant bei einer angeblichen Geldübergabe (wie bei Belych) oder sogar in der Banja (wie im Fall Teslenko). Die Ermittler nehmen dann über mehrere Stunden Protokolle auf, schreiben Aussagen nieder und durchsuchen die Räumlichkeiten.
Es gibt aber auch Ausnahmen. So erfolgte die Festnahme des Bürgermeisters von Machatschkala, Said Amirow, unter Einsatz von Sondereinheiten, Hubschraubern und Militärfahrzeugen, die die Zufahrtswege zum Haus blockierten. Allerdings sticht der Fall Amirow auch in anderer Hinsicht heraus: Den meisten Bürgermeistern und Gouverneuren werden Wirtschaftsstraftaten zur Last gelegt, während Amirow des Mordes und enger Verbindungen zu örtlichen Straftätern verdächtigt wird.
Die Festnahme wird zur Show
Eine Festnahme zur Show zu machen, war bis vor kurzem das Privileg von Wladimir Markin als Pressesprecher des Ermittlungskomitees. „Im Zuge der Durchsuchungen sind 800 wertvolle Juwelier-Erzeugnisse sichergestellt worden. Sehen Sie, dieses scheinbar einfache Schreibgerät. In Wirklichkeit hat der Stift einen Wert von 36 Millionen Rubel [knapp 600.000 Euro]. Können Sie sich das vorstellen?“, berichtete Markin verzückt in der Fernsehsendung Vestiüber die Durchsuchung bei Choroschawin. Mehrere Anwälte beklagten gegenüber Republic, bei Markin würden Informationen über Fundstücke im Fernsehen schon auftauchen, bevor sie im Strafverfahren aufgenommen seien.
Choroschawin gab später in einem Interview zu, dass es einen goldenen Stift mit Brillanten gab, doch habe der rund 1,3 Millionen Rubel [rund 21.000 Euro] gekostet. „Die werden von der Firma Montblanc in Serie hergestellt. Ich bin nicht der einzige Tschinownik, der so einen hat. Ich habe ihn selbst gekauft. Ich war schon immer wohlhabend“, sagte Choroschawin dem Moskowski Komsomolez. In den Meldungen über Gaiser kursierte dann statt eines Stifts eine Kollektion teurer Uhren.
Zur Festnahme Uljukajews sind offiziell keine Details nach außen gedrungen. Gesprächspartner von Republic nehmen an, das könne daran liegen, dass Markin zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr im Amt gewesen sei.
Treffpunkt Kreml-Zentrale
Die Kreml-Zentrale ist ein gesonderter Block für hochrangige Häftlinge im Moskauer Untersuchungsgefängnis Matrosenstille. Die Haftbedingungen sind hier strenger, aber komfortabler. Es gibt Zweierzellen mit Fernseher und Kühlschrank, einige sogar mit Dusche. Allerdings wird es in der Kreml-Zentrale langsam eng vor lauter prominenten Insassen. So sitzt Choroschawin, der ehemalige Gouverneur von Sachalin, in einer Zelle mit dem ehemaligen Bürgermeister von Wladiwostok, Igor Puschkarjow. Ein Gesprächspartner erzählt Republic, Choroschawin habe bei einer der Fahrten ins Gericht mit General Sugrobow in einem Gefangenentransport gesessen.
„Wenn jemand in Untersuchungshaft sitzt, ist es für die Ermittler einfacher, Druck auf ihn auszuüben. Und für Anwälte ist es schwieriger, Kontakt mit dem Mandanten zu halten“, meint Darja Konstantinowa, Anwältin des stellvertretenden Regierungschefs des Gebiets Iwanowo, Dimitri Kulikow. Ihr Mandant hatte Glück: Kulikow wurde fast umgehend unter Hausarrest gestellt und später gegen Kaution ganz entlassen. Einer der Anwälte meint, so etwas sei in Moskau praktisch unmöglich; man müsse sich darauf einstellen, dass die Entscheidung des Richters zugunsten der Anklage und nicht zugunsten der Mandanten getroffen werde.
Wjatscheslaw Leontjew, Anwalt von Wjatscheslaw Gaiser, berichtet, im Verfahren gegen seinen Mandanten habe der Richter den Haftbeschluss aufgrund eines standardmäßig formulierten FSB-Berichts gefällt: „Angehörige und Vermögen im Ausland sind vorhanden; es besteht Fluchtgefahr und die Möglichkeit, dass auf Zeugen Druck ausgeübt wird; es gibt Verbindungen zur kriminellen Strukturen.”
Leontjew meint (wie auch andere Anwälte, mit denen Republic gesprochen hat), in den Gerichtsverfahren sei keine Parteiengleichheit gegeben. Für eine Haftverlängerung muss der Ermittler die im Bericht genannten Gründe und Fakten bestätigen. Diese Anforderung ist vom Obersten Gericht festgelegt. Praktisch aber verlängere der Richter die Haft lediglich aufgrund der Worte des Ermittlers und ohne, dass dieser irgendwelche Beweise beigebracht hätte, erklärt der Jurist. Ein weiteres Druckmittel ist das Verbot, Angehörige zu sehen. Dem erwähnten Gaiser wird dies bereits seit 14 Monaten verweigert.
„Vielleicht sind die Beschuldigten bei diesen aufsehenerregenden Verfahren gute Menschen, vielleicht aber auch schlechte. Dazu müssen Beweise vorgelegt und es muss fair verhandelt werden“, meint der Anwalt Andrej Griwzow. Die Anwälte schreiben Beschwerden, berichten von Verstößen gegen die Verfahrensvorschriften, gehen vergeblich in Berufung.
„Das Problem bei den aufsehenerregenden Fällen ist, dass sie all das Perverse dieses Systems zu Tage fördern“, sagt Gaisers Anwalt Leontjew. Keiner der großen Prozesse garantiere, dass das System nicht umgehend an gleicher Stelle reproduziert wird. Die Korruptionsbekämpfung in Russland gleicht einem landesweiten Wettkampf um einen Platz an der Sonne, bei dem jeder mit jedem abrechnet.