„Zweimal wöchentlich trafen die Züge aus dem Reich ein, aus Polen1, der Tschechoslowakei, Österreich […]: dienstags und freitags, und zwar – um kein Aufsehen zu erregen – stets in der Früh zwischen vier und fünf Uhr.“ Das schrieb Paul Kohl in den 1980er Jahren über Maly Trostenez, der größten Vernichtungsstätte der Nationalsozialisten, die es in den besetzten Gebieten der Sowjetunion gegeben hat. Kohl war einer der ersten westdeutschen Journalisten, der Jahrzehnte später nach Belarus fuhr – um die Überlebenden zu befragen und darüber zu berichten. Bis zum Ende des Kalten Krieges blieb dieser Schreckensort dennoch eine Leerstelle, in der Sowjetunion und noch mehr in Westeuropa.
Maly Trostenez (belarus. Maly Traszjanez) ist eigentlich der Name eines Dorfes etwa 15 Kilometer südöstlich von Minsk, bezeichnet aber im historischen Kontext drei Tatorte nationalsozialistischen Mordens in der Umgebung der belarusischen Hauptstadt. Zehntausende Menschen wurden in Maly Trostenez erschossen oder in Gaswagen erstickt. Systematisch ermordet wurden Jüdinnen und Juden aus dem Minsker Ghetto sowie aus Mitteleuropa, jene Deportierten, die in den Zügen eintrafen, an die Paul Kohls Zeilen erinnern. Wie überall sonst in Osteuropa – sieht man von den Vernichtungslagern, die es im besetzten Polen gab, ab – dominierten hier die massenhaften Erschießungen: die Shoah als „Holocaust by Bullets“. Weitere Massaker wurden in Maly Trostenez an zivilen Geiseln, Insassinnen und Insassen der Minsker Gefängnisse, darunter Untergrundkämpfer, Partisanen- und Widerstandsverdächtige, und an erkrankten Häftlingen verübt. Seit einigen Jahren nimmt Maly Trostenez Charakterzüge eines gesamteuropäischen Gedenkorts an, wenngleich dieser Prozess noch nicht allen Opfergruppen gerecht wird.
Schon wenige Tage nach dem Einmarsch der Wehrmacht im Juli 1941 in Minsk entstanden erste Lager und Haftstätten in der Stadt, darunter das Minsker Ghetto für rund 80.000 belarusische Jüdinnen und Juden.2 Der Massenmord an der jüdischen Bevölkerung begann kurz darauf an verschiedenen Orten in der Umgebung, so auch im Minsker Vorort Tutschinka (belarus. Tutschynka). Ab Mai 1942 nutzten die deutschen Besatzer dann eine schwer einsehbare Lichtung in dem Waldstück Blagowschtschina (belarus. Blahauschtschyna). Der Wald befand sich ganz in der Nähe des Dorfes Maly Trostenez unweit von Minsk; der sandige Boden dort galt der SS als geeignet für das Anlegen von Massengräbern.
Diese abgelegene Mordstätte, die schließlich bis November 1943 zu einem zentralen Erschießungsort wurde, entstand in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Beginn der Deportationen von Jüdinnen und Juden aus Mitteleuropa nach Minsk. Erst transportierten die Deutschen ihre Opfer von dort aus mit Lastwagen nach Maly Trostenez, um sie nach Ankunft im Wald von Blagowschtschina zu töten.3 Dann wurde ein stillgelegtes Bahngleis in der Nähe ausgebaut und die Deportationszüge rollten unmittelbar zum Vernichtungsort. Maly Trostenez wurde zur größten NS-Vernichtungsstätte auf sowjetischem Boden, und damit zu einem zentralen Tatort der sogenannten „Endlösung der europäischen Judenfrage“.
Die Eskalation des Mordens in Minsk
Schon im November 1941 waren die ersten rund 7000 Jüdinnen und Juden aus dem „Deutschen Reich“ ins Minsker Ghetto gebracht worden. Damit eskalierte die organisierte Gewalt und der systematische Mord an den belarusischen Jüdinnen und Juden in dem abgeriegelten Stadtviertel: Um in den Häusern des Ghettos, die – wie die ganze Stadt – kriegszerstört waren, Platz für die Deportierten zu schaffen, ermordeten Polizeieinheiten mehr als 11.500 Ghetto-Insassen, darunter Frauen, Kinder und Greise. Zwischen dem 7. und dem 20. November wurden sie nach Tutschinka verschleppt und getötet.4 Diese Morde gehörten zu den größten Vernichtungsaktionen im Jahr 1941 im von Deutschen besetzten Belarus und markierten den Übergang zur Ermordung aller Juden im größten belarusischen Ghetto.
Der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion eröffnete dem „Dritten Reich“ die Möglichkeit, die physische Vernichtung der europäischen Juden in den Osten des Kontinents zu verlagern, erst in die Ghettos von Litzmannstadt, Riga oder Minsk, dann in die Vernichtungslager, die auf dem besetzten Gebiet in Polen errichtet wurden. Minsk entwickelte sich dabei zu einer Endstation in Richtung Osten, nachdem im Winter 1941/42 der „Blitzkrieg“ an der Ostfront gescheitert war. Kurz nach der Wannsee-Konferenz 1942 besuchten die Holocaust-Planer Adolf Eichmann, Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich Minsk und ebneten den Weg für die weiteren Deportationen von Jüdinnen und Juden aus Mitteleuropa in das „Reichskommissariat Ostland“ – womit das systematische Morden am Vernichtungsort Maly Trostenez begann.
Im Wald von Blagowschtschina töteten die Deutschen und ihre Helfershelfer belarusische Jüdinnen und Juden aus dem Minsker Ghetto sowie die Deportierten aus Mitteleuropa durch Massenerschießungen – oder im „Gaswagen“: Dabei handelte es sich um umgebaute Lkw, in die bis zu 60 Menschen gepfercht wurden, um sie dann durch das Einleiten von Auspuffgasen zu ersticken5. Nach den Novemberdeportationen trafen 16 weitere Züge ein, darunter Sammeltransporte aus Wien, Theresienstadt, Köln sowie Berlin beziehungsweise Königsberg6. Auch Minsker Gefängnisinsassen beziehungsweise zivile Geiseln wurden auf diese Weise im Wald von Blagowschtschina ermordet.
Der gesamte Trostenez-Komplex lag in der Hand des „Kommandeurs der Sicherheitspolizei“ (KdS) in Minsk, der zentralen Dienststelle der deutschen Besatzungsherrschaft im besetzten Belarus. Sie war dem „Reichssicherheitshauptamt“ (RSHA) in Berlin unterstellt. Um die eigenen Leute mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu versorgen, errichtete der KdS auf dem nahegelegenen Gelände einer ehemaligen Kolchose parallel zu den Mordaktionen ein Zwangsarbeitslager. Ihre Arbeitskräfte rekrutierten die Deutschen vor allem aus den Reihen der eintreffenden mitteleuropäischen Juden. Facharbeiter wie Schlosser, Tischler und Schmied mussten in den Werkstätten arbeiten. Wer krank wurde, fiel bei regelmäßigen Inspektionen der Selektion zum Opfer und wurde ermordet. Die Zahl der Menschen, die in dem Lager interniert waren, lag zeitweise bei bis zu 900. Volksdeutsche, lettische und ukrainische Hilfstruppen bewachten das Lager.7
Insassen hatten im Zwangsarbeitslager auch die Aufgabe, persönliche Gegenstände der Ermordeten von Blagowschtschina zu sortieren und zu verwalten.8 Sie mussten nach Wertsachen in den Koffern der Deportierten suchen, denen vorgetäuscht worden war, es handle sich um eine „Umsiedlung nach Osten“. Die Opfer brachten jeder bis zu 50 Kilogramm Gepäck zu ihrer eigenen Hinrichtung mit.9
Als im Herbst 1943 die letzten noch im Minsker Ghetto verbliebenen Jüdinnen und Juden, mehrere Tausend Menschen, getötet wurden, befand sich die Rote Armee bereits auf dem Vormarsch und die Täter fürchteten eine Entdeckung ihrer Verbrechen. Das Sonderkommando 1005, das in den gesamten besetzten Gebieten systematisch die Spuren der Massenmorde verwischen sollte, traf daher bald vor Ort ein: Die größten Massengräber wurden geöffnet und Zwangsarbeiter mussten die verwesenden Leichen mit Eisenhaken bergen, auf Scheiterhaufen stapeln und verbrennen. Die Asche wurde auf der Suche nach Zahngold gesiebt und dann weitläufig im Boden verteilt.10 Die zu dieser furchtbaren Arbeit eingesetzten Gefangenen wurden im Anschluss ebenfalls ermordet.
So unternahmen die Täter von Maly Trostenez alles, um die Spuren der Massenmorde zu vertuschen, das hieß auch, die sterblichen Überreste der Opfer zu vernichten. Daher kennen wir bis heute nur wenige Namen und es gibt nur ungenaue Angaben über die Zahl der Opfer. Im Sommer 1944 untersuchte eine sowjetische Kommission den Tatort und schätzte, dass etwa 206.500 Menschen in Maly Trostenez ermordet worden seien. Bis heute lassen sich auf Grundlage der Täterakten rund 60.000 Morde rekonstruieren.11
Das Morden in Maly Trostenez setzten die Deutschen noch bis 1944 fort: Mit Hilfe von Kollaborateuren – lettische, ukrainische, später auch belarusische Hilfskräfte – wurden tausende, womöglich gar zehntausende Männer und Frauen aus Minsker Haftanstalten erschossen oder in Gaswagen erstickt, darunter Untergrundkämpfer, Partisanen-, Widerstandsverdächtige und einfach erkrankte Häftlinge. Während in Blagowschtschina die Exhumierungen liefen, wurden die Leichen der weiteren Opfer unweit des Zwangsarbeitslagers im Waldstück Schaschkowka (belarus. Schaschkouka) direkt verbrannt. Der KdS hatte dort eine provisorische Verbrennungsgrube ausheben lassen, die als Ersatz für Blagowschtschina diente. Das Verbrennen sollte neue Massengräber – und damit neue Spuren – vermeiden.
Noch kurz vor Eintreffen der Roten Armee wurden die letzten großen Massaker von Maly Trostenez verübt, als innerhalb von zwei Tagen, am 29. und 30. Juni 1944, mehr als 100 verbliebene Lager- sowie einige Tausend Gefängnisinsassen aus Minsk in einer Scheune auf dem Lagergelände erschossen und verbrannt wurden. Als die Rote Armee das Lager befreite, fand sie nur noch Überreste der Verbrannten, Trümmer des Lagers, die geöffneten Massengräber von Blagowschtschina und Asche in der Grube von Schaschkowka.
Paul Kohl: „Auschwitz von Belorußland“
Bis in die 1990er Jahre gab es bei Maly Trostenez drei Mahnmale aus den 1960er Jahren: in Schaschkowka sowie in den Dörfern Maly und Bolschoi Trostenez (belarus. Wjaliki Traszjanez).12 Gesichertes Wissen aber über den Massenmord vor den Toren von Minsk war kaum vorhanden. Erst spät ließ die Auseinandersetzung mit Maly Trostenez durch Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit die Erkenntnis wachsen, dass die bisherige Erinnerung an die Opfer der hier verübten NS-Verbrechen nicht gerecht wurde.
Im Waldstück von Blagowschtschina gab es lange Zeit keinen einzigen Hinweis auf den eigentlichen Tatort. Maly Trostenez, das der Journalist Paul Kohl in seiner Reportage für ein deutschsprachiges Publikum als „Auschwitz von Belorußland“ bezeichnete, lag im Schatten einer sowjetischen Gedenkkultur und -politik, die auf Heldenerzählungen ausgerichtet war. Wie sehr Maly Trostenez von untergeordneter Bedeutung war, unterstreicht auch die Tatsache, dass die Minsker Stadtverwaltung bei Blagowschtschina bereits im Jahr 1958 eine städtische Mülldeponie anlegen ließ.
Die Gedenkkultur konzentrierte sich zugleich auf den Großen Vaterländischen Krieg, das Heldentum der Rotarmisten und der NS-Widerstandskämpfer. Gedenkzeremonien fanden daher vornehmlich auf dem Ruhmeshügel bei Minsk oder auf dem Siegesplatz in der Stadt statt. Seit 1969 diente zudem die Gedenkstätte Chatyn der Erinnerung an belarusische Zivilisten, die bei der deutschen „Bandenbekämpfung“ ermordet worden waren. Jüdische Opfer blieben dabei unsichtbar und wurden unter den Begriff „friedliche Sowjetbürger“ subsumiert. Der Holocaust blieb ausgespart.
Der „Wald der Namen“ – Die „Pforte der Erinnerung“ – Der „Weg des Todes“
Seit den 1990er Jahren hat sich das Gedenken gewandelt: Das Erinnern an die jüdischen Opfer ist inzwischen ein wichtiges Thema geworden und ganz unterschiedliche Initiativen stehen für eine vielfältigere Erinnerungskultur. Dabei bringen sich nicht zuletzt Akteure aus Österreich ein, denn der Wald von Blagowschtschina zählt zusammen mit Auschwitz-Birkenau zu den Orten, an denen die meisten österreichischen Jüdinnen und Juden ermordet wurden; rund 10.000 von ihnen fanden in Maly Trostenez den Tod.
Die Wiener Bürgerinitiative IM-MER13 pflegt bereits seit dem Jahr 2010 ein Gedenken, bei dem die Namen der Opfer auf Blättern gedruckt und im Wald von Blagowschtschina angebracht werden. Einen Gedenkstein mit knapp eintausend eingravierten Vornamen – das „Massiv der Namen“ – hat die österreichische Regierung im Jahr 2018 errichten lassen. Auch die belarusische Zivilgesellschaft ist zu einem wichtigen Motor für eine breiter gefächerte Gedenkkultur geworden: Nachdem Anfang der 1990er Jahre ein reger Diskurs zu den Nazi-Gräueln eingesetzt hatte, sammelte eine Initiative unter Vorsitz eines belarusischen Abgeordneten mit Wahlkreis bei Maly Trostenez Dokumente und Materialien. Als erstes Zeichen eines neuen Erinnerns wurde in Blagowschtschina im Jahr 2002 ein Gedenkstein eingeweiht, auf dem die Toten des Minsker Ghettos sowie die deportierten Juden zum ersten Mal als Opfer explizit mitgenannt wurden.
Seit die belarusische Staatsführung Anfang der 2010er Jahre die Weichen für eine groß angelegte Umgestaltung des Gedenk- und Erinnerungsortes gestellt hat, sind weitere Gedenkanlagen geschaffen worden: Die „Pforte der Erinnerung“ auf dem Gelände des ehemaligen Zwangsarbeitslagers, der staatliche Gedenkfriedhof Blagowschtschina und der „Weg des Todes“ des Architekten Leonid Lewin, der den Weg der Opfer zur Mordstätte im Wald nachzeichnet. Zahlreiche Gäste aus Politik und Zivilgesellschaft kamen zur Einweihung nach Minsk, auch aus Deutschland, Österreich, Polen und Tschechien. Frank-Walter Steinmeier reiste als erster deutscher Bundespräsident überhaupt nach Belarus, um an dieser Gedenkzeremonie teilzunehmen.
Wer waren die belarusischen Opfer?
Obschon die geplante Gedenkanlage an der einstigen Mordgrube von Schaschkowka noch nicht gebaut ist, zeigt sich bereits, dass die sich abzeichnende Transformation hin zu einem gesamteuropäischen Erinnerungsort mit dem Gedenken aus der Sowjetzeit überformt bleibt: Der Begriff Holocaust auf den Informationstafeln vor Ort fehlt weiterhin, und noch immer werden Jüdinnen und Juden in der weiten Kategorie der „friedlichen Bürger“ unsichtbar gemacht. Ein kritisch-reflektierendes Gesamtkonzept, das auch die Aufarbeitung dieser sich überlagernden Schichten der Erinnerung, der Deutung und der Überformung sowohl der Tat-, als auch der Gedenkorte umfasst, steht noch aus. Ebenso eine Antwort darauf, wie sich neue Hierarchien der Sichtbarkeit zwischen den namentlich benannten jüdischen Opfern aus Mitteleuropa einerseits und den unbekannten jüdischen, wie auch nicht-jüdischen Opfern aus Belarus andererseits im Gedenken vermeiden lassen.
Zum Weiterlesen
Kohl, Paul (1990): „Ich wundere mich, dass ich noch lebe“, Gütersloh
Kohl, Paul (2003): Das Vernichtungslager Trostenez: Augenzeugenberichte und Dokumente, IBB Dortmund
IBB Dortmund/IBB Minsk/Stiftung Denkmal fur die ermordeten Juden Europas (Hrsg.): Vernichtungsort Malyj Trostenez: Geschichte und Erinnerung, Ausstellungskatalog, Berlin 2016
Schölnberger, Pia (Hrsg., 2020): Das Massiv der Namen: Ein Denkmal für die österreichischen Opfer der Shoa in Maly Trostinec, Wien
Angrick, Andrei (2018): „Aktion 1005“ – Spurenbeseitigung von NS-Massenverbrechen 1942-1945: Eine „geheime Reichssache“ im Spannungsfeld von Kriegswende und Propaganda, Göttingen
Rentrop, Petra (2011): Tatorte der „Endlösung“, Berlin
Gerlach, Christian (1999): Kalkulierte Morde, Hamburg
Die Seiten der digitalisierten Ausstellung „Vernichtungsort Malyj Trostenez. Geschichte und Erinnerung“ einer belarusisch-deutschen Historiker-Kooperation. In dem seit 2014 laufenden Projekt arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Belarus, Deutschland, Österreich und Tschechien gemeinsam die Geschichte des Vernichtungsortes auf. (bisher auf Belarusisch, in Kürze auch auf Englisch)
ANMERKUNG DER REDAKTION:
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.
Gemeint sind bei Paul Kohl die Züge aus dem „Deutschen Reich“, aus Deutschland, Österreich und dem Protektorat Böhmen und Mähren. ↩︎
Das Minsker Ghetto wurde am 19. Juli 1941 durch die deutsche Militärverwaltung eingerichtet und im September 1941 der Zivilverwaltung unterstellt. Daneben wurde zeitgleich das Stammlager für sowjetische Kriegsgefangene (Stalag) 352 von der deutschen Wehrmacht angelegt und über die gesamte Besatzungszeit verwaltet. ↩︎
Gerlach, Christian (1999): Kalkulierte Morde, Hamburg, S. 694 ↩︎
Rentrop, Petra (2009): Maly Trostenez, in: Benz, Wolfgang/ Distel, Barbara (Hrsg.): Der Ort des Terrors: Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 9, München, S. 573 – 587 ↩︎
Rentrop, Petra (2011): Tatorte der „Endlösung“, Berlin, S. 219 ↩︎
Kohl, Paul (1990): „Ich wundere mich, dass ich noch lebe“, Gütersloh ↩︎
vgl. Angrick, Andrei (2018): „Aktion 1005“ – Spurenbeseitigung von NS-Massenverbrechen 1942-1945: Eine „geheime Reichssache“ im Spannungsfeld von Kriegswende und Propaganda, Göttingen 2018, Bd. 1, S. 563-582 ↩︎
vgl. Gerlach, S. 770; vgl. Rentrop (2011): Tatorte der „Endlösung“, S. 227 ↩︎
Mit der Vernichtungsstätte hatte dieser Ort nichts zu tun, doch war er für Besucherinnen und Besucher besser zu erreichen und so wurde hier ein Obelisk als Mahnmal errichtet, was gerade für Unkundige in Bezug auf die tatsächlichen Ereignisse irreführend war. ↩︎
Cumaraǔ, Jaǔhen (1995): Zvarot da hramadzjan, Vjarchoǔnaha Saveta, urada, hramadskich arganizacyj [Aufruf an Bürger, den Obersten Sowjet, die Regierung und zivilgesellschaftliche Organisationen], in: ders.: Peršy mikrafon [Mikrofon eins]. Minsk: GMF „Trascjanec“ 1995, S. 3–4 ↩︎
Chatyn war ein nordöstlich von Minsk gelegenes belarusisches Dorf, das 1943 von der SS niedergebrannt wurde. Dabei starben mindestens 150 Zivilisten. Chatyn wurde nie wieder aufgebaut und ist bis heute eines der wichtigsten Symbole des Vernichtungskrieges der Nationalsozialisten in Belarus.
Zum zentralen Erinnerungsort für die von den deutschen Besatzern verbrannten belarusischen Dörfer avancierte die am 5. Juli 1969 eröffnete Gedenkstätte in Chatyn. Das Dorf in der Nähe von Minsk war im März 1943 niedergebrannt und alle seine Bewohnerinnen und Bewohner waren ermordet worden; nach 1945 blieb es eine Wüstung.
Die Gedenkstätte bildet den Grundriss des nicht mehr vorhandenen Dorfes Chatyn nach. Im Mittelpunkt befindet sich die Skulptur des „ungebeugten Menschen“, der ein ermordetes Kind auf den Armen trägt. Sie stellt den einzigen Überlebenden Iosif Kaminski dar. Das Mahnmal dient zugleich als Erinnerungsort für die zerstörten Dörfer in Belarus. Dabei ist der so genannte „Friedhof der nicht wiederaufgebauten Dörfer“ dem Schicksal der Orte gewidmet, die – wie Chatyn – für immer verloren blieben und nicht wieder aufgebaut wurden.
Hintergrund der grausamen Praxis der Nazis, die Dörfer niederzubrennen, war die nationalsozialistische Expansionsideologie vom „Lebensraum im Osten“, der geschaffen werden sollte, ebenso der Kampf gegen mögliche Partisanen und andere NS-Widerständler.
Ein weiterer Teil der Gedenkstätte in Chatyn mit „symbolischen Lebensbäumen“ erzählt die Geschichte von 433 weiteren Dörfern, die vollkommen zerstört wurden, anders als Chatyn in der Nachkriegszeit aber neu aufgebaut werden konnten. Das Erinnern an die verbrannten Dörfer wird durch die „Gedenkmauer“ vervollständigt. In eingelassenen Nischen dieser Mauer finden sich Angaben über größere Vernichtungsorte im nationalsozialistisch besetzten Gebiet von Belarus, darunter zum zentralen Tatort in Osteuropa: der NS-Vernichtungsstätte Maly Trostenez.
Der belarussische Schriftsteller Ales Adamowitsch verarbeitete das Massaker von Chatyn in seinem Buch Chatynskaja powest (1971, Chatyner Erzählung), das wiederum den Regisseur Elem Klimow zu seinem Antikriegsfilm Idi i smotri (1985, Komm und sieh) inspirierte.
„Lieber Michail Sergejewitsch, es ist hier nicht bloß eine Anlage explodiert, sondern der gesamte Komplex an Verantwortungslosigkeit, Disziplinlosigkeit und Bürokratismus.“1 Mit diesen deutlichen Worten wandte sich der belarusische Schriftsteller Ales Adamowitsch am 1. Juni 1986 an den sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow. Adamowitsch zählte zu einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern und Intellektuellen, die schon früh auf die dramatischen Ausmaße der Katastrophe, ihre politische Bedeutung und auf das mangelhafte Krisenmanagement hingewiesen hatten. Mit Ausnahme der in unmittelbarer Reaktornähe gelegenen Stadt Prypjat, deren 86.000 Bewohner am Tag nach der Explosion evakuiert worden waren, hatten etwa überall die geplanten 1. Mai-Feierlichkeiten stattgefunden. Erst danach war eine Sperrzone von 30 Kilometern um den Reaktor errichtet und waren von Mai bis Juni weitere 30.000 Menschen zum zeitweiligen Verlassen ihres Wohnorts aufgefordert worden. Insgesamt versprach die sowjetische Führung eine rasche Rückkehr zur Normalität und gab vor, alles unter Kontrolle zu haben. Forderungen nach weiteren Umsiedlungen und gründlichen Lebensmittelkontrollen, um langfristige gesundheitliche Folgen für einen großen Teil der Bevölkerung zu vermeiden, wurden ignoriert. Stattdessen berichteten die staatlichen Medien optimistisch über den Verlauf der Dekontaminierungsarbeiten und verkündeten, der sowjetische Mensch sei stärker als das Atom. Kritische Meinungen über die Risiken der radioaktiven Strahlung wurden nicht veröffentlicht, Informationen über die reale Kontaminierung unterlagen der Geheimhaltung. Damit war die staatliche Reaktion auf die Reaktorexplosion im AKW Tschernobyl das Gegenteil der neu proklamierten Glasnost-Politik. Auf den technischen Supergau folgte ein politischer Totalausfall.
Von der regionalen „Havarie“ zur gesamtnationalen Katastrophe
Tatsächlich waren 70 Prozent des radioaktiven Fallouts auf dem Territorium der heutigen Republik Belarus niedergegangen. Doch erst ab Beginn des Jahres 1988 erhielt das offizielle Bild von Tschernobyl als einer regional begrenzten „Havarie“ immer mehr Risse und das soziale Gleichgewicht geriet ins Wanken. Hierzu trugen vor allem die steigenden Erkrankungsraten sowie eine als „Tschernobyl-AIDS“ bezeichnete Immunschwäche bei, vorrangig bei Kindern in den südöstlichen Regionen der Oblast Gomel. Die bis dahin abstrakten Strahlenrisiken für die Menschen wurden plötzlich sichtbar und Kinder wurden in Anbetracht fehlender Strahlenmessgeräte quasi zu biologischen Strahlenmessern für die Erwachsenen. Das Vertrauen in die staatliche Informationspolitik schwand.
Zudem löste Gorbatschows Perestroika eine Destabilisierung der Wirtschaft aus, in deren Folge es dem Staat nicht mehr möglich war, den Betroffenen zusätzliche soziale Leistungen, wie neue Wohnungen oder besser medizinische Leistungen, zu bieten. Damit zerbrach der für das sowjetische System zentrale Gesellschaftsvertrag.
Die politische Vertrauenskrise verstärkte sich in den folgenden Jahren noch, nachdem im Vorfeld der ersten weitgehend freien Wahlen zum Volksdeputiertenkongress im März 1989 die Geheimhaltung der Tschernobyl-Akten aufgehoben wurde. Dabei wurden im Februar 1989 auch erstmals Karten zur radioaktiven Belastungssituation veröffentlicht.
Weitere Messungen belegten, dass de facto ein Viertel der Belarusischen SSR durch Tschernobyl kontaminiert war. Dadurch nahm Tschernobyl allmählich den Charakter einer gesamtnationalen Tragödie an und wurde zu einem zentralen Wahlkampfthema bei den Wahlen zum Obersten Sowjet der Belarusischen SSR im März 1990, in den erstmals auch unabhängige politische Kräfte einzogen. Ihre Forderungen brachten die Menschen nun nicht mehr nur durch Eingaben an die staatlichen Behörden zum Ausdruck, sondern auch durch Wähleraufträge und zivilgesellschaftlichen Protest. In den Bezirkszentren der am stärksten kontaminierten Regionen kam es zu zahlreichen Kundgebungen und Streiks.
In Minsk, der Hauptstadt der Belarusischen SSR, wurde die Tschernobyl-Problematik vor allem von der neuen Nationalbewegung aufgegriffen. Im September 1989 rief die Belarusische Volksfront (BNF) erstmals zum Tschernobyl-Marsch auf, der seit 1990 jeweils am Jahrestag der Reaktorexplosion zu den zentralen Protestaktionen der belarusischen Opposition gehört. Die Volksfront vertrat die These, dass die staatliche Tschernobyl-Politik ein Verbrechen oder gar ein Genozid an der belarusischen Nation sei, und forderte eine strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen in Form eines „zweiten Nürnbergs“. Die Lösung der Tschernobyl-Problematik sahen die BNF-Aktivisten im Rahmen eines neuen, von Moskau unabhängigen, demokratischen Belarus.
Um den Ängsten und den Protesten der Bevölkerung in den kontaminierten Regionen zu begegnen, unterstützte allmählich auch die belarusische Parteiführung die Verabschiedung einer umfassenden Tschernobyl-Gesetzgebung. Mit dem vom Obersten Sowjet genehmigten Republikanischen Tschernobyl-Programm erhielten insgesamt etwa 400.000 Menschen das Recht auf eine staatlich finanzierte Umsiedlung. Und in der vom Obersten Sowjet im Sommer 1990 verabschiedeten Souveränitätserklärung hieß es: „Ihre Freiheit und Souveränität verwendet die Belarusische SSR vorrangig zur Rettung des Volkes der Belarusischen SSR vor den Folgen der Katastrophe von Tschernobyl.“2
Zuspitzung der wirtschaftlichen Situation nach der Unabhängigkeit
Tschernobyl war auch eine wirtschaftliche Katastrophe. Einerseits verstärkte sie vor allem in den kontaminierten Regionen die mit der Auflösung der Sowjetunion verbundenen sozio-ökonomischen Krisensymptome. Andererseits stellten die Maßnahmen zur Eindämmung der Katastrophenfolgen eine immense Belastung für den Haushalt der neu entstandenen Republik Belarus dar, was sich auf den gesamten belarusischen Transformationsprozess auswirkte. So war etwa die hohe Zahl der Umsiedlungsberechtigten noch in der Annahme festgelegt worden, dass die Umsiedlungen überwiegend durch den Unionshaushalt finanziert würden. Diese und weitere geplanten Maßnahmen mussten nun aus eigenen Mitteln umgesetzt werden, die jedoch jährlich weniger wurden. Der Wegfall der Ressourcen aus Moskau konnte auch nicht durch die enorme internationale Solidarität aufgefangen werde, welche Belarus durch unzählige Tschernobyl-Initiativen aus vielen europäischen Ländern, Japan und den USA erfuhr.3 Berechnungen der belarusischen Akademie der Wissenschaften aus den 1990er Jahren ergaben, dass sich der für Belarus entstandene Gesamtschaden für die Jahre 1986 bis 2015 auf 235 Milliarden US-Dollar beläuft.4 Dieser Betrag umfasst sowohl die unmittelbaren Schäden durch die erzwungene Aufgabe von Industrieanlagen und landwirtschaftlicher Nutzfläche als auch die Kosten für die gesetzlich festgelegten Sozialleistungen.
Waren für das Jahr 1992 noch 19,9 Prozent des Gesamthaushalts für Maßnahmen zur Bewältigung der Katastrophenfolgen vorgesehen, so wurden die entsprechenden Ausgaben in den folgenden Jahren auf etwa fünf Prozent zurückgefahren. Ab 2005 sanken sie sogar auf 1,5 bis 2 Prozent. Parallel war seit 1993 auch ein deutlicher Rückgang der Umsiedlerzahlen zu beobachten: So wurden beispielsweise 1995 lediglich 1342 Personen umgesiedelt, drei Jahre zuvor waren es noch 20.000 gewesen. Insgesamt verließen im Rahmen der staatlichen Umsiedlungsmaßnahmen bis 1998 knapp 135.000 Menschen ihre Heimat, 479 Orte wurden vollständig aufgegeben.5 In der Folgezeit wurde die staatliche Umsiedlungspolitik faktisch eingestellt.6
Neben der Kosten kamen noch weitere Probleme hinzu: So bereitete die Integration der Umsiedler an den neuen Wohnorten häufig Schwierigkeiten, es fehlte an Arbeitsplätzen und sozialer Infrastruktur. Ab Mitte der 1990er Jahre setzte daher eine Rückwanderung von Umsiedlern in die belasteten Gebiete ein. Insbesondere galt dies für ältere Dorfbewohner, welche in städtische Siedlungen umgesiedelt worden waren. Darüber hinaus bildeten die leer stehenden Häuser in den belasteten Gebieten auch einen Zufluchtsort für Bürgerkriegsflüchtlinge aus den kaukasischen oder zentralasiatischen Staaten. In den kontaminierten Regionen entstand dadurch eine schwierige demographische Situation, die sich durch einen erhöhten Anteil an alten Menschen und sozialen Risikogruppen, eine hohe Arbeitslosigkeit und einen Mangel an Fachkräften auszeichnete. Zahlreiche sozialpsychologische Probleme, etwa der Anstieg von Alkoholismus und der Scheidungsraten, waren die Folge.
Lukaschenkos „Sieg“ über Tschernobyl
Die Rückwanderung gerade älterer Menschen in die depressiven Tschernobyl-Regionen hatte direkte politische Konsequenzen. Im Unterschied zu großen Teilen der jüngeren und urbaneren Bevölkerung verstanden sich viele von ihnen weiterhin als Sowjetmenschen. Dieses autoritäre Potential bot dem 1994 gewählten Präsidenten Alexander Lukaschenko ein ideales Forum, um seinen volksnahen, an sowjetischen Praktiken orientierten Politikstil zu inszenieren. Ab 1996 machte er die Tschernobyl-Problematik zunehmend zu seiner persönlichen Angelegenheit und leitete eine Politik der „Wiedergeburt der verstrahlten Erde“ ein. Seine regelmäßigen Besuche in den kontaminierten Regionen und sein Versprechen, die Umsiedlungspolitik zu beenden, den Investitionsstopp aufzuheben und eine Wiederbelebung der brachliegenden Tschernobyl-Regionen zu ermöglichen, gaben Lukaschenko dabei Gelegenheit, sich von seinen politischen Vorgängern abzugrenzen und diese zu Schuldigen zu erklären.
Lukaschenko stellte die Überwindung der Tschernobyl-Folgen in die Tradition des Kampfs der Belarusinnen und Belarusen im Zweiten Weltkrieg – ein Vergleich, der bereits 1986 häufig benutzt wurde, als vor allem Soldaten für die Dekontaminierungsarbeiten am zerstörten Reaktor und in der Sperrzone eingesetzt wurden. 2016 konstatierte er bei seinem Besuch anlässlich des 30. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe: „Angesichts der gesamtnationalen Katastrophe hat das belarusische Volk, wie bereits mehrmals in seiner Geschichte, wahrhaftes Heldentum bewiesen. Es hat nicht die Arme hängen lassen, sondern die innere Kraft zur Vereinigung gefunden und daher standgehalten.“7
Tatsächlich wurden während seiner Amtszeit vielfältige Anstrengungen zur Wiederbelebung der Wirtschaft sowie zur Entwicklung der medizinischen und sozialen Infrastruktur in den verstrahlten Regionen unternommen. Dabei wurden mit Verweis auf den natürlichen Verfallsprozess der zentralen radioaktiven Isotope viele bisher mit der Strahlung begründete Einschränkungen, etwa das Verbot für landwirtschaftliche Aktivitäten, aufgehoben. Auch wenn Lukaschenko bestrebt war, die Anfang der 1990er Jahre beschlossenen umfangreichen Sozialleistungen für die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten zu reduzieren, blieben zentrale Leistungen wie die kostenlose Schulverpflegung oder jährliche Erholungsmaßnahmen für Kinder weiterhin bestehen. Dies trug dazu bei, dass bei sämtlichen Präsidentschaftswahlen seit 2001 die Zustimmungsrate für Lukaschenko in den am stärksten von Tschernobyl betroffenen Bezirken am höchsten lag. In den aktuell als kontaminiert geltenden Gebieten leben immerhin etwa zwölf Prozent der belarusischen Gesamtbevölkerung.8
Das Menetekel im Hintergrund
Parallel zu dem von Lukaschenko vertretenen Paradigmenwechsel in der belarusischen Tschernobyl-Politik wandelte sich auch die offizielle Haltung zur Atomenergiefrage: Im November 2020 wurde das erste belarusische AKW eröffnet, um angesichts der Erhöhung der Gaspreise die Abhängigkeit von russländischen Gas- und Öllieferungen zu mindern. Den Erlass für den AKW-Bau hatte Lukaschenko bereits im November 2007 unterzeichnet. Die Botschaft, alle Tschernobyl-Probleme seien dank der umfassenden Aktivitäten der belarusischen Führung erfolgreich bewältigt, stellte eine entscheidende Voraussetzung für die Umsetzung dieses Projekts dar. Ein wichtiger Bestandteil dieser Botschaft ist die Aussage, der Gesundheitszustand der Menschen in den Tschernobyl-Regionen unterscheide sich nicht vom landesweiten Durchschnitt. Medizinische Daten, welche eine Überprüfung dieser Aussage erlauben würden, liegen jedoch nicht vor.9
Hinter der Oberfläche offizieller Verlautbarungen bleiben die Erfahrungen von Tschernobyl jedoch weiterhin präsent. Besonders deutlich zeigte sich dies 2020 mit Beginn der Covid-19-Pandemie, welche die politische Führung zunächst verharmloste. Wie 1986 wurde 2020 erneut versucht, durch eine selektive Informationspolitik den Eindruck von Normalität zu erwecken, um wirtschaftliche Interessen zu wahren und panische Reaktionen in der Bevölkerung zu verhindern. Dies hatte jedoch in einer Gesellschaft, die durch die Erfahrung einer mehrjährigen Verschleierungspolitik der sowjetischen Behörden nach der Reaktorexplosion im AKW Tschernobyl bis heute traumatisiert ist, den gegenteiligen Effekt. Eine enorme Politisierung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen im Vorfeld der Präsidentschaftswahl vom August 2020 war die Reaktion darauf. Tschernobyl und seine Folgen sind in Belarus daher nach wie vor aktuell.
Anmerkung der Redaktion:
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.
Zum Weiterlesen:
Arndt, Melanie (2016, Hrsg.): Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl: (Ost-)Europäische Perspektiven, Berlin
Dalhouski, Aliaksandr (2015): Tschernobyl in Belarus: Ökologische Krise und sozialer Kompromiss (1986-1996), Wiesbaden
Sahm, Astrid (1999): Transformation im Schatten von Tschernobyl: Umwelt- und Energiepolitik im gesellschaftlichen Wandel von Belarus und der Ukraine, Münster
Sahm, Astrid (2010): Die Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl für Belarus: Dimensionen, politische Reaktionen und offene Fragen, in: Mez, Lutz/Gerhold, Lars/de Haan, Gerhard (Hrsg.): Atomkraft als Risiko: Analysen und Konsequenzen nach Tschernobyl, Frankfurt a.M. u. a., S. 153-165
Adamovič, Ales’ (1992): Čarnobyl’ i ŭlada, in: ders.: Apakalipsis pa hrafiku, Minsk, S. 3. Eine deutsche Übersetzung des Briefes findet sich unter dem Titel „Nicht nur ein AKW: Ein Brief an Michail S. Gorbačev“ in Osteuropa 4/2006, S. 19-24 ↩︎
zit. nach Sahm, Astrid (1999):Transformation im Schatten von Tschernobyl: Umwelt- und Energiepolitik im gesellschaftlichen Wandel von Belarus und Ukraine, Münster, S. 156 ↩︎
Enttäuscht wurden vor allem die Hoffnungen auf Finanzierung durch internationale Organisationen, wie die Vereinten Nationen oder die EU. Zentrale Stützen waren daher zivilgesellschaftliche Initiativen. So gab die belarusische Regierung 1993 an, bisher 82% der gesamten ausländischen Hilfeleistungen von NGOs erhalten zu haben. Dabei kam der größte Anteil dieser Hilfe in den 1990er Jahren aus Deutschland: Bis Mitte der 1990er Jahre hatten sich hier über 1.000 Initiativen gebildet, die Kinder zur Erholung einluden, Hilfstransporte organisierten oder andere Maßnahmen in den betroffenen Ländern gemeinsam mit ihren Partnern vor Ort durchführten. Vgl. dazu auch Melanie Arndt (2020): Tschernobylkinder: Die Transnationale Geschichte einer nuklearen Katastrophe, Göttingen ↩︎
Die Zahlen wurden 1996 zum 10. Jahrestag von Tschernobyl erstmals veröffentlicht und werden bis heute von offizieller Seite genannt. Der entsprechende Nationale Bericht ist noch online verfügbar. Vgl. ebenfalls Sahm, Transformation im Schatten von Tschernobyl, S. 235 ↩︎
Angaben nach Sahm, Astrid (2010): Die Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl für Belarus: Dimensionen, politische Reaktionen und offene Fragen, in: Mez, Lutz/Gerhold, Lars/de Haan, Gerhard (Hrsg.): Atomkraft als Risiko: Analysen und Konsequenzen nach Tschernobyl, Frankfurt a.M. u. a., S. 153-165 ↩︎
Insgesamt sind die medizinischen Folgen der Tschernobyl-bedingten Strahlung in den betroffenen Regionen nur schwer einschätzbar, da zahlreiche weitere Faktoren die Gesundheit der Menschen beeinflussen und die Strahlung über die Nahrungsmittelkette auch Menschen in anderen Regionen erreicht. Auch in der internationalen Forschungsgemeinschaft gibt es hierzu unterschiedliche Positionen. Direkt der Strahlenbelastung zuordbar sind lediglich die akute Strahlenkrankheit, die bei in der Nacht der Reaktorexplosion vor Ort eingesetzten Personen auftrat, sowie Schilddrüsenkrebs, der durch die Jod-131-Strahlung in den ersten Tagen nach der Katastrophe ausgelöst wurde. Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Jugendlichen war in Belarus vor Tschernobyl praktisch unbekannt. In den ersten 15 Jahren nach der Katastrophe wurden jedoch über 1000 Fälle diagnostiziert. Siehe zur Problematik: The Other Report on Chernobyl↩︎