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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Geknallt hätte es sowieso“ – Teil II

    „Geknallt hätte es sowieso“ – Teil II

    „Wir überschätzen die Bedeutung des Oktobers und die Rolle Lenins etwas. Seine Rolle war riesig, aber den Weg des Bürgerkriegs hatten wir bereits eingeschlagen“, erklärt Boris Kolonizki, renommierter Historiker an der Europäischen Universität St. Petersburg, über die dramatischen Ereignisse vor 100 Jahren im damaligen Petrograd.

    Im zweiten Teil des Longread-Interviews, das The Village zum Jahr 1917 mit ihm geführt hat, hinterfragt er die Bedeutung zentraler Personen.

    Welche Rolle spielte der Zar selbst bei seinem Sturz in der Februarrevolution? Welche politischen Kräfte rangen danach um die Macht, wie bedeutend war Lenin? Und warum drohte abermals ein politischer Umbruch?

    V. Zur Rolle Nikolaus II.

    „Nikolaus II. war kein guter Politiker. Er hat Fehler gemacht, strategische und taktische, auf verschiedenen Ebenen.“ Zar Nikolaus in der sibirischen Verbannung, nach seiner Abdankung / Foto © Library of Congress
    „Nikolaus II. war kein guter Politiker. Er hat Fehler gemacht, strategische und taktische, auf verschiedenen Ebenen.“ Zar Nikolaus in der sibirischen Verbannung, nach seiner Abdankung / Foto © Library of Congress

    Alexey Pavperov: Die gängige Meinung ist, dass Zar Nikolaus II. die Hauptschuld an der Februarrevolution trägt. Gerade seine Inkompetenz, sein Konservatismus, seine Fehler und der katastrophale Mangel an Respekt gegenüber dem kaiserlichen Thron hätten die Revolution erst ermöglicht.

    Boris Kolonizki: Nikolaus II. war kein guter Politiker. Er hat Fehler gemacht, strategische und taktische, auf verschiedenen Ebenen. Andererseits, wie ich schon sagte, in den Jahren des Ersten Weltkriegs steckten alle beteiligten Länder in einer sehr schwierigen Lage. Die Lage Russlands kann man allerdings als besonders schwierig bezeichnen. Objektiv gesehen stellte das Land damals die größte Armee der Welt, ohne dabei der fortschrittlichste, führende Staat zu sein. Dafür war eine gigantische Mobilisierung nötig.

    Eine Frontlinie aufzubauen, das ist eine ingenieurtechnische Mammutaufgabe, vergleichbar mit dem Bau der Sibirischen Eisenbahn, eine riesige nationale Baustelle. Eine Zehn-Millionen-Mann-Armee musste versorgt werden: Verlegung, Waffen, Nahrung und medizinische Versorgung, Abtransport der Verletzten. Selbst einem erstklassigen Politiker hätte das große Probleme bereitet.

    Geknallt hätte es sowieso – vielleicht später oder in einer weniger heftigen Form.

    Geknallt hätte es sowieso – vielleicht später oder in einer weniger heftigen Form

    Nikolaus II. hat haufenweise Fehler gemacht. Zum Beispiel personelle: Manche Leute waren, wie die Februarrevolution gezeigt hat, eindeutige Fehlbesetzungen, was zu unprofessionellem Verhalten oder sogar zu Illoyalität gegenüber dem Zaren geführt hat.

    Schwere Fehler machte er im Kampf um die öffentliche Meinung. Heute wird viel zu viel über die Ermordung Rasputins gesprochen, wichtig ist jedoch nicht der Mord an sich, sondern wie das Regime darauf reagierte. Da ist ein Mensch getötet worden, aber es wird nicht ermittelt. Was für eine Regierung ist das bitte?

    In Ewa Bérards Buch Pétersbourg impérial [dt. Das imperiale Petersburgdek] wird die These aufgestellt, der Zar hätte Petersburg nicht besonders gemocht und den Großteil seiner Zeit in Zarskoje Selo verbracht. Er hätte die öffentliche Meinung ignoriert und sich während offizieller Veranstaltungen zurückgezogen. Der Zar soll die Stadtbevölkerung, die Bourgeoisie, missachtet und gefürchtet haben.

    Könnte man sagen, dass das fehlende Verständnis zwischen der Stadt und dem Zaren eine bedeutende Rolle während der Revolution gespielt hat?

    Kriegsminister Alexander Kerenski. „Als der Zar Kerenski kennenlernte, sagte er: ‚Wie schade, dass wir uns nicht schon früher begegnet sind.‘ Aber wer hatte sie denn daran gehindert?“ / Foto © Kommersant-Archiv

    Es gab ein Petersburg, das er nicht mochte. Und es gab eins, das er durchaus mochte. Die Paraden auf dem Marsfeld, und die Gesellschaft der Gardeoffiziere, die liebte er zweifelsohne. Petersburg war zu diesem Zeitpunkt eine sehr militärische Stadt.

    Manchmal gelangen ihm auch kluge Schachzüge, da nutzte er die politische Infrastruktur der Stadt. Im Februar 1916 besuchte er die Staatsduma und sorgte damit für einen Medienhype, der wochenlang anhielt.

    Ich denke, es hat nicht so sehr mit der Stadt zu tun, sondern vielmehr mit seiner Einstellung zu Russland insgesamt, zu dessen Geschichte, dessen sozialer Struktur. Er liebte ein imaginäres Russland der Bauern, die er den gebildeten, vom westlichen Einfluss verdorbenen Klassen gegenüberstellte.

    Die Bedeutung der Hauptstädte zu unterschätzen, das war ein gewaltiger politischer Fehler, ein riesengroßer politischer Patzer von Anfang an

    Er und – in noch größerem Maße – Zarin Alexandra Fjodorowna glaubten an die Existenz eines ungemein religiösen Bauernvolks als Träger von höchsten moralischen Werten und monarchistischer Gesinnung, und betrachteten alle anderen als eine Art Sperre, die nur stört.

    Das Volk versteht den Zaren, und das wird Russland auf ewig retten – so sah das imaginäre Land aus, das Nikolaus in Wirklichkeit nicht besonders gut verstand.

    Aus dem Schriftwechsel zwischen dem Zaren und seiner Gattin geht ihr Verhältnis zum Geschehen deutlich hervor: Petersburg und Moskau lärmen, sind voller Klatsch und Tratsch, aber diese beiden Städte sind nur zwei kleine Punkte auf der riesigen Landkarte Russlands.

    Die Bedeutung der Hauptstädte zu unterschätzen, das war ein gewaltiger politischer Fehler, ein riesengroßer politischer Patzer von Anfang an.

    Eigentlich war Nikolaus II. ja ein interessanter Mensch. [Die Dichterin Sinaida – dek] Hippius bezeichnete ihn als „Charmeur“: Er konnte die Menschen in seinen Bann ziehen. Viele, die ihn verachteten, verfielen bei einer persönlichen Begegnung seinem Charme – dem eines zurückhaltenden, durchaus intelligenten Menschen. Er konnte mit seinem Charme bestechen.

    Eigentlich war Nikolaus II. ja ein interessanter Mensch. Viele, die ihn verachteten, verfielen bei einer persönlichen Begegnung seinem Charme

    Dabei zeichnete ihn eine gewisse Unbeständigkeit aus. Manchmal ließ er wichtige Mitarbeiter gehen, ohne ihnen noch ein Hintertürchen offen zu lassen. Man muss jedoch die Kunst beherrschen, sich von jemandem zu verabschieden und ihn sich zugleich für den Notfall noch warmzuhalten. Außerdem verkannte er mitunter den Einfluss der öffentlichen Meinung, der Oppositionsparteien und der Geschäftswelt  – seine Denkweise war nicht sehr modern.

    Als er Kerenski kennenlernte, sagte er: „Wie schade, dass wir uns nicht schon früher begegnet sind.“ Aber wer hatte sie denn daran gehindert?

    Gut, Kerenski war vor der Revolution eine absolute Randfigur. Aber was ist mit dem Kadettenführer Pawel Nikolaewitsch Miljukow?! Man kann sagen, was man will, aber der war ein russischer Patriot. Sein Sohn, ein Offizier, war im Ersten Weltkrieg gefallen. Stellen Sie sich vor, der Imperator hätte einen Brief an ihn gerichtet, oder ihn sogar eingeladen, irgendwie seine Unterstützung geäußert, von Mensch zu Mensch – ein halbes Jahr später hätten die Kadetten strammgestanden und den Kaiser hochleben lassen.

    Politische Zugeständnisse waren eine Zeit lang gar nicht so wichtig, ein paar simple kommunikative Gesten hätten schon gereicht.


    VI. Über die Helden der Revolution und den Weg zum Bürgerkrieg

     „Der kritische Punkt war der Auftritt von General Kornilow, der die Provisorische Regierung  herausforderte. Der Bürgerkriegs-Mechanismus war in Gang gesetzt.“ / Foto © Kommersant-Archiv
    „Der kritische Punkt war der Auftritt von General Kornilow, der die Provisorische Regierung herausforderte. Der Bürgerkriegs-Mechanismus war in Gang gesetzt.“ / Foto © Kommersant-Archiv

    Lassen sich denn mit Gewissheit Personen nennen, deren Handeln im Zeitraum zwischen den beiden Revolutionen eine maßgeblich negative Rolle spielte und letztlich zur Verstärkung des Konflikts, zur Gewalteskalation und zur Zerrüttung der Lage in Petrograd geführt hat?

    Das kommt auf den Blickwinkel an. Für die einen war die Fortsetzung des Krieges ein positiver Faktor, für die anderen war es gerade umgekehrt. Genauso ist es mit der gewaltsam durchgeführten Agrarreform. Die Antwort hängt vom jeweiligen Interesse ab.

    Ich glaube, Wörter wie „positiv“ und „negativ“ sind sowieso nicht sehr gut als Erkenntnisinstrumente geeignet. Und trotzdem benutzen wir sie.

    Aus meiner Sicht gibt es nichts Schlimmeres als den [Russischen – dek] Bürgerkrieg. Das ist ein in höchstem Maße wichtiges Ereignis in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, es hat uns stark beeinflusst und tut das immer noch. In gewissem Sinne befinden wir uns bis heute in seinem Wirkungsfeld.

    Die große Frage ist für mich der Weg von der Revolution zum Bürgerkrieg. Jede Revolution ist ein potentieller Bürgerkrieg. Und in der Regel wird jede Revolution von kleinen, lokalen Bürgerkriegen begleitet. Sie können ganz unterschiedliche Ausmaße annehmen.

    In Russland war der kritische Punkt der Auftritt von General Kornilow, der die Provisorische Regierung herausforderte. Der Bürgerkriegs-Mechanismus war in Gang gesetzt. Deswegen überschätzen wir die Bedeutung des Oktobers und die Rolle Lenins etwas. Seine Rolle war riesig, aber den Weg des Bürgerkriegs hatten wir bereits eingeschlagen.

    Wir neigen generell dazu, die Geschichte zu personifizieren – Kerenski, Kornilow, Lenin, Nikolaus II. – und ebenso den Konflikt zwischen Kerenski und Kornilow auf einen psychologischen zu reduzieren. In Wirklichkeit ist die Vorstellung naiv, dass da irgendein Staatsoberhaupt sitzt und alles entscheidet. Er hat immer einen Kreis von Unterstützern, eine Referenzgruppe, er muss manövrieren. Er arbeitet in einem Team, es ist ein großes Orchester.

    Der Bürgerkriegs-Mechanismus war in Gang gesetzt. Wir überschätzen die Bedeutung des Oktobers und die Rolle Lenins

    Wir sind ein kulturell sehr gespaltenes Land. Es herrscht völliges Unvermögen, sich gegenseitig zuzuhören: Alle fordern lauthals einen Dialog, aber es endet immer in vielen verschiedenen gleichzeitigen Monologen, die auch noch extrem laut vorgetragen werden. Wir reden von einer nationalen Aussöhnung, aber alles endet mit grob aufgezwungener Buße. 


    VII. Von der Februar- zur Oktoberrevolution

    Mitglieder der Provisorischen Regierung. „Unsere Sicht ist zu sehr auf die Bolschewiki und auf Lenin verengt. Man muss auch das Verhalten ihrer Gegner betrachten“ / Foto © Wikipedia/gemeinfrei
    Mitglieder der Provisorischen Regierung. „Unsere Sicht ist zu sehr auf die Bolschewiki und auf Lenin verengt. Man muss auch das Verhalten ihrer Gegner betrachten“ / Foto © Wikipedia/gemeinfrei

    Was war der Grund für das Chaos und die Desorganisation im politischen Leben Russlands nach der Februarrevolution? Warum fanden sich keine Kräfte, die entschlossen die Macht übernehmen und die Situation unter Kontrolle halten konnten?

    Darüber sind sich die Historiker nicht einig. Faktisch entstand während der Februarrevolution eine Konstellation, die mit dem nicht sehr präzisen Begriff Doppelherrschaft bezeichnet wird.

    Das Schlüsseldokument, das die Konturen dieser Ordnung vorgab, war der Befehl Nr. 1 des Petrograder Sowjets, mit dem die Armee praktisch demokratisiert und das System der Kompaniekomitees eingeführt wurde. Von Anfang erhoben sie einen Regierungs- und Machtanspruch. Diese Macht konnte in verschiedenen Landesteilen und Regionen unterschiedliche Gestalt annehmen, aber sie war überall präsent.

    Manche Historiker sagen, dass es keine Doppelherrschaft war, weil in einigen Regionen eine gewisse Zusammenarbeit stattfand. In anderen Gebieten war die Lage noch verworrener. In Kiew beispielsweise wurde die Macht von den Organen der Provisorischen Regierung, dem Kiewer Sowjet und der Zentralna Rada beansprucht. In Finnland gab es die Machtorgane des Großfürstentums Finnland, die Militär- und Zivilorgane der Provisorischen Regierung und die Komitees, die dort besonders stark waren.

    Gewinner und Akteure waren keineswegs immer die Bolschewiki. Im Gouvernement Kasan beispielsweise begann der örtliche Bauernsowjet, der von Sozialrevolutionären geleitet wurde, mit einer Landreform, ohne sich groß an Petrograd zu orientieren.

    Das Machtsystem des Zarismus war also zerfallen, und auf seinen Trümmern begann der Kampf zwischen einer Vielzahl unterschiedlicher Kräfte.

    Ja. Wobei es einen Konsens gab in Bezug auf einige wichtige strukturelle Entscheidungen: Die Polizei wurde abgeschafft und durch eine Volksmiliz ersetzt. Man ging davon aus, dass eine ständige Polizei etwas Schlechtes sei. Stattdessen sollte jeder freie Bürger zeitweise die Pflichten der Ordnungshüter übernehmen. Eine Miliz, also praktisch eine Volkswehr. So eine naive, utopische Idee.

    Jeder freie Bürger sollte zeitweise die Pflichten der Ordnungshüter übernehmen. So eine naive, utopische Idee

    Außerdem wurde die lokale Machtstruktur abgeschafft – anstelle der Gouverneure wurden Kommissare ernannt. Diese Maßnahmen waren unumgänglich: Die Revolutionäre wollten die neue Ordnung festigen und absichern. 

    Ein weiterer wichtiger Punkt war die Abschaffung der Todesstrafe – eine humanitäre Forderung, für die alle Parteien eintraten, die der Provisorischen Regierung und dem Petrograder Sowjet angehörten. Zu Kriegszeiten war das eine äußerst  schwierige Entscheidung, weil sie die Herrschaftsinstrumente einschränkte.
     
    Nach der Julikrise und dem ersten erfolglosen Versuch der Bolschewiki, die politische Macht zu ergreifen, schwang die gesellschaftliche Stimmung massiv nach rechts um. Im September jedoch, bei der Niederschlagung des Kornilow-Aufstands, musste Kerenski bolschewistische Aktivisten aus dem Gefängnis entlassen, sich bolschewistischer Agitatoren bedienen und Waffen an die Arbeiter verteilen. Danach lag die Initiative im politischen wie im gesellschaftlichen Bereich wieder bei den Bolschewiki, die sich kurz zuvor noch in der Illegalität befunden hatten und von der Gesellschaft als negative, destabilisierende Kraft wahrgenommen wurden.

    Was sagen diese Umschwünge über die Situation in Petrograd aus?

    Wenn es um die Revolution geht, sollten wir nicht allein von den Bolschewiki reden. Ich würde eher von den Bolschewiki und ihren Verbündeten sprechen. Während der Julikrise spielten etwa die Anarchisten eine große Rolle. Sehr wichtig für die Bolschewiki war das Bündnis mit den linken Sozialrevolutionären. Dann gab es noch verschiedene Organisationen der Menschewiki-Internationalisten, verschiedene nationale Gruppen, parteilose Aktivisten und andere.

    Die Radikalisierung war nicht unbedingt immer eine Bolschewisierung. In den Sowjets und Komitees, von denen die Legalisierung der Revolution entscheidend abhing, gehörten viele nicht der Partei der Bolschewiki an. In manchen Fällen zum Beispiel sprachen sich die gleichen Leute, die Kerenski im Juli noch unterstützt hatten, im September gegen ihn aus.

    Ich würde nicht sagen, dass sich die Partei der Bolschewiki vollständig in der Illegalität befand. Die Situation war überall im Land unterschiedlich. Aber selbst in Petrograd schaffte es die Partei, eine Zeitung herauszubringen, die zwar immer wieder eingestellt wurde, aber jedesmal unter anderem Namen neu erschien.

    Am Anfang sehen wir den Glauben an das Wunder der Revolution, die alles verändern wird. Später zeigt sich dann, dass die Dinge nicht ganz so gut stehen

    Und eigentlich geht es nicht um die Bolschewiki, sondern um die Macht. Unsere Sicht ist zu sehr auf die Bolschewiki und auf Lenin verengt. Man muss auch das Verhalten ihrer Gegner betrachten – und das Verhalten derjenigen, die demobilisiert wurden. Wir schauen – glücklicherweise meist im Fernsehen – auf Revolutionen in anderen Ländern. Am Anfang sehen wir eine ungeheure Begeisterung, den Glauben an das Wunder der Revolution, die alles verändern wird. Später zeigt sich dann, dass die Dinge nicht ganz so gut stehen – die Wirtschaft, die Kriminalität und so weiter und so fort.

    Ohne diese naive Begeisterung ist beispielsweise das Phänomen Kerenski gar nicht vorstellbar – ein Führer und Retter, an den alle glauben. Nach einiger Zeit sind dann die einen nach rechts abgewandert, in Richtung Konterrevolution. Sehr viele (ich würde sogar sagen, die meisten) haben die Politik ganz aufgegeben: Sie hatten die ständigen Diskussionen satt, waren müde davon. Der Winter stand vor der Tür, die Leute kümmerten sich um Heiz- und Lebensmittel sowie um ihre Lieben, und dann nahm auch noch die Kriminalität zu.

    Bei einigen hielt sich die Revolutionsbegeisterung. Etwas klappt nicht? Dann muss man eben noch härter und entschlossener handeln. Eine solche Radikalisierung der Linken spielte den Bolschewiki und ihren Verbündeten in die Hände.

    Ja, unser Bild von diesen Geschehnissen ist wohl tatsächlich zu stark vereinfacht. Und es ist normal, dass zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Kräfte die Initiative übernehmen und die Sympathie der Gesellschaft gewinnen.

    Es geht nicht nur um Sympathie, es geht um den Grad der Beteiligung. Die einen unterzeichnen per Mausklick eine Petition. Andere nehmen an Kundgebungen teil. Und wieder andere beteiligen sich an Protestaktionen. Das sind sehr unterschiedliche Dinge.

    1917 drückten die einen ihre Sympathien aus, indem sie zu Hause Zeitung lasen und die Passagen, die ihnen gefielen, rot anstrichen. Andere gingen auf die Straße. Manche nahmen die Organisationsarbeit in die Hand. Manche stellten Geld zur Verfügung.

    Die Sympathie für eine populäre Person kommt nicht immer in Form aktiver politischer Handlungen zum Ausdruck. Politik ist eine vielschichtige und mehrdimensionale Angelegenheit.


    dekoder dankt Robert Kindler für seine Unterstützung bei der Aufbereitung des Interviews.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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    „Alle hatten eine Krise erwartet, aber nicht zu diesem Zeitpunkt und nicht in dieser Situation. Es kam, wie man so schön sagt, eins zum anderen …“, erklärt Boris Kolonizki, renommierter Historiker an der Europäischen Universität St. Petersburg, über die dramatischen Ereignisse vor 100 Jahren im damaligen Petrograd, die zur Februarrevolution führten.

    Zu Beginn des Jahres 1917 erwächst aus Protestmärschen und Streiks eine Protestbewegung, die Zar Nikolaus II. den Thron kostet. Bewaffnete Arbeiter und Soldaten besetzen am 27. Februar zentrale Knotenpunkte der Stadt, darunter Waffenarsenale, die Telefonzentrale und Bahnhöfe. Die Regierung verliert ihre Macht und Kontrolle, aus der Duma wird die Forderung nach Abdankung des Zaren laut – der er sich kurz darauf beugt.

    Die Februarrevolution krempelt die politischen Verhältnisse um: Die 300-jährige Herrschaft der Zarenfamilie Romanow endet. Russland ist keine Monarchie mehr.

    Boris Kolonizki ist auf dem Feld der Revolutionen von 1917 führender Experte in Russland. Im ersten Teil eines Longread-Interviews mit The Village, geht er vor allem auf die Stimmung jener Zeit ein, warum sie damals so dramatisch hochkochte, welche Symbole eine wichtige Rolle spielten und wie das Jahr 1917 gegenwärtig wahrgenommen wird. 

    Fotos © Kommersant-Archiv
    Fotos © Kommersant-Archiv

    Alexey Pavperov: Welche der beiden Revolutionen, deren Jahrestage dieses Jahr begangen werden, ist Ihrer Meinung nach von größerem Interesse für die Öffentlichkeit? Es sieht so aus, als würde von seiten der Regierung die Oktoberrevolution mehr Aufmerksamkeit bekommen.

    Boris Kolonizki: Das hängt ganz davon ab, wie man die Geschehnisse betrachtet. Viele meinen, es war ein zusammenhängender Revolutionsprozess. Die Frage ist, wie wir die Revolution begreifen, wie wir den Begriff definieren. Ich denke, sowohl der Februar als auch der Oktober wecken Aufmerksamkeit bei den Menschen und den Medien. Möglicherweise hat es sich aus der Historie heraus so ergeben, dass viele meinen, besser über die Ereignisse des Oktobers informiert zu sein. Aber das ist bei weitem nicht immer der Fall.

    Für die derzeitige Regierung ist die Revolution kein angenehmes Thema. Es spaltet eher, als dass es verbindet. Ich erwarte einige Kontroversen

    Man wird sehen. Für die derzeitige Regierung ist es im Grunde kein angenehmes Thema: Es spaltet die öffentliche Meinung eher, als dass es verbindet. Wie Sie wissen, haben viele auf irgendein Signal gewartet, und in der Botschaft des Präsidenten an die Föderalversammlung haben sie eines bekommen. Aber es ist unwahrscheinlich, dass man auf dieser Grundlage zu einer nationalen Einheit kommen wird, daher erwarte ich einige Kontroversen. Schwer zu sagen, was da kommt.

    Ich meine damit nicht nur den gesamtpolitischen Kontext, sondern auch unvorhersehbare Ereignisse. Zum Beispiel hätte ich absolut nicht damit gerechnet, dass der Kinofilm Mathilda so viel Aufsehen erregen und Publicity bekommen würde. Gut möglich, dass noch andere Überraschungen warten.


    I. Die Stimmung in St. Petersburg vor 100 Jahren

    „Kleinere Revolten und Lebensmittelknappheit waren nichts Neues.“ Dies trieb die Menschen auf die Straße, hier in Petrograd im Februar 1917
    „Kleinere Revolten und Lebensmittelknappheit waren nichts Neues.“ Dies trieb die Menschen auf die Straße, hier in Petrograd im Februar 1917

    Wir unterhalten uns heute im Februar 2017. Können Sie bitte beschreiben, wie die Stimmung in der Hauptstadt etwa zur gleichen Zeit vor 100 Jahren war? Bis zur Revolution blieb noch knapp ein Monat, die Hungerrevolten brachen erst in der letzten Februar-Dekade aus. Was bewegte die Stadt in dieser Phase?

    Kleinere Revolten und Lebensmittelknappheit waren nichts Neues. Doch die Versorgungsengpässe waren jetzt deutlich spürbar. Das betraf nicht nur Lebensmittel, sondern auch Holz und Kohle – die Versorgung hing davon ab, dass die Infrastruktur funktionierte. Es gab Schwierigkeiten mit dem Transport, Zeitzeugen berichteten von einer Eisenbahnkrise. Dabei deutet in der Statistik nichts auf eine Krise hin, dank der Professionalität ihrer Mitarbeiter wurde die Russische Eisenbahn immer besser. Immer schwieriger aber wurde es, die Armee zu versorgen – entsprechend litt der Binnentransport. Außerdem herrschten schwierige Witterungsverhältnisse in verschiedenen Regionen des Landes und die Schienen mussten vom Schnee freigeschaufelt werden. Auch der teilweise sehr unübersichtliche organisatorische Überbau und der ungeregelte Markt hatten negative Auswirkungen.

    Die Menschen strömten nach St. Petersburg: Flüchtlinge, Soldaten, Deserteure

    Eine weitere Besonderheit war der Alltag in der Stadt. Die Menschen strömten hierher: Flüchtlinge in Not, Soldaten auf Fronturlaub oder nach einem Krankenhausaufenthalt, Deserteure. Die Grenze zwischen entlassenen oder beurlaubten Militärs auf der einen und Fahnenflüchtigen auf der anderen Seite war manchmal recht schwer auszumachen. Zwar stieg die Kriminalität nicht so stark an, wie es dann in der Folgezeit der Fall war, insgesamt jedoch war eine höhere Instabilität zu spüren. Spekulationsgeschäfte und Korruption florierten.

    In der Stadt begegneten einem zahlreiche Männer im wehrpflichtigen Alter in Zivil oder in Uniform, die fernab der Gefahren an der Front lebten. Durch Schmiergelder oder dank guter Verbindungen konnten sich viele einer Einberufung entziehen. Eine Mobilisierung von solchem Ausmaß, wie sie einem auf den Straßen von Paris oder London ins Auge fiel, gab es in St. Petersburg nicht.

    Viele in der Hauptstadt schlugen Profit aus Kriegsgeschäften und Spekulationen. Zum Beispiel war damals  in Russland ein großer Mangel an Medikamenten spürbar. Bis zum Krieg waren sie vorwiegend aus Deutschland importiert worden. Führte man diese wertvollen Waren über Skandinavien ein, um sie für ein Heidengeld hier weiter zu verkaufen, konnte man davon in Saus und Braus leben. Der Aufstieg von Neureichen – den Marodeuren im Hinterland, wie sie damals in Russland genannt wurden – war bezeichnend in der Kriegszeit. Diese Aspekte der Krise bleiben häufig außen vor. Krieg ist immer ungerecht, aber hier war er vielleicht besonders ungerecht.

    Viele in der Hauptstadt schlugen Profit aus Kriegsgeschäften. Krieg ist immer ungerecht. Aber hier war er vielleicht besonders ungerecht

    Hinzu kamen innerstädtische Verkehrsprobleme. Zeichnungen von damals zeigen Menschenmassen, die Straßenbahnen stürmen. Die Spannungen im Alltag spitzten sich zu.

    Ich möchte noch einmal betonen, dass das Kinkerlitzchen waren im Vergleich zu den darauffolgenden Jahren. Aber Menschen können nun mal ihre aktuelle Situation nicht mit der Zukunft vergleichen.

    Noch etwas machte die Stadt damals besonders aus: die Gerüchte. Gerüchte über Verrat, über Spione, Gerüchte über eine deutsche Partei am Hof, Gerüchte über das Vorhaben, einen Sonderfrieden zu schließen, darüber, dass die Zarin eine Agentin des Feindes sei, und über ihre Protektion durch den Zaren. Man munkelte, es gebe eine Verschwörung.

    Heute streiten die Historiker über deren tatsächliches Ausmaß, allerdings können Gerüchte über Verschwörungen manchmal genauso bedeutsam sein wie die Verschwörungen selbst. 


    II. Zunahme der Gewalt und Proben für die Revolution

    „Während der Februarrevolution gab es ziemlich viel Vandalismus.“ Zerstörtes Polizeigebäude in Petrograd
    „Während der Februarrevolution gab es ziemlich viel Vandalismus.“ Zerstörtes Polizeigebäude in Petrograd

    Wie stand es um die Gewalt in der Stadt, wie alltäglich war sie? Lew Lurje beispielsweise spricht in diesem Kontext oft von Hooligans und dass junge Arbeiter oft und gerne Gewalt angewandt hätten.

    Ich denke, wir können zu jener Zeit  nicht von einer einheitlichen Subkultur der Arbeiterklasse sprechen. Es gab zum Beispiel Textilarbeiter, die vor dem Ersten Weltkrieg hauptsächlich saisonal beschäftigt waren. Wenn es im Dorf nichts zu tun gab, zog es sie in die Stadt. Sie waren Arbeitsmigranten, die Geld nach Hause schickten und die Verbindung zu ihren Dörfern nicht abreißen ließen.

    Es gab aber auch ausgebildete Arbeiter, die sich teilweise selbst als Arbeiter-Intelligenzija bezeichneten. Sie hatten ein gutes Einkommen, das mitunter dem eines Staatsbediensteten gleichkam. Manche von ihnen konnten ihre Kinder auf Gymnasien schicken. Diese Arbeiterelite, die in England Arbeiteraristokratie genannt wurde, bestand aus gebildeten, politisierten Menschen, die Karriere gemacht hatten. Dabei waren sie oft oppositionell eingestellt. Die Arbeiterklasse war also vielfältig und umfasste verschiedene Generationen.

    Für jugendliche Arbeiter war es ein Fest für die Seele, mit einem Eisstück nach einem Polizisten zu werfen

    Lurje hat aber absolut recht: Für jugendliche Arbeiter war es ein Fest für die Seele, mit einem Eisstück nach einem Polizisten oder mit einer Schraubenmutter nach dem Meister zu werfen.

    Die amerikanische Forscherin Joan Neuberger hat ein Buch mit dem Titel Hooliganism geschrieben: Dieses englische Fremdwort ist Anfang des 20. Jahrhunderts in den russischen Sprachgebrauch eingegangen; seine Bedeutung war damals allerdings eine andere als heute.

    Hooliganismus ist kulturell ritualisierte Gewalt. Das heißt, junge Leute aus Arbeitervierteln, die sich in ihrer Nachbarschaft durchaus anständig verhalten, die sich gut anziehen und eventuell gut verdienen, begeben sich auf das Territorium des Klassenfeindes, ins Stadtzentrum oder in einen Datschenvorort, um Vertreter einer anderen sozialen Gruppe zu provozieren.

    Lassen sich die steigende Kriminalität und die spontanen Gewaltausbrüche als eine Art Probe für die Ereignisse Ende Februar deuten?

    Proben für die Februarrevolution gab es im ganzen Land und viele. Eine Probe, die häufig vergessen wird, gab es auch in St. Petersburg: ein großer Streik im Sommer 1914. Dabei wurden Telegrafenmaste abgesägt, Barrikaden in Arbeitervierteln errichtet, Bahnwaggons umgekippt und unter Revolutionsgesängen Gebäude gestürmt.

    Der Unterschied zur Revolution bestand darin, dass die Arbeiter zu jenem Zeitpunkt vom Großteil der Bevölkerung isoliert waren, von der Bildungsschicht, der Mittelschicht, den Liberalen. Liberale Zeitungen äußerten Entrüstung, nach dem Motto: Was für ein unerhörter unzivilisierter Vandalismus, wo wir doch Steuern zahlen, es sind unsere Telefonleitungen und unsere Straßenbahnen!

    Während der Februarrevolution haben die Arbeiter dann haargenau dasselbe gemacht. Vielleicht haben sie keine Barrikaden errichtet, dafür aber Straßenbahnen blockiert, hier und da Waggons umgekippt, es gab ziemlich viel Vandalismus.

    Ein wichtiges Moment der Februarrevolution waren Pogrome: Lebensmittelläden oder Bäckereien wurden verwüstet. Wissen Sie, die Kruste des französischen Brötchens krachte ziemlich laut. Es kam zu Überfällen auf Juwelierläden, manchmal wurden aber auch nur Schaufenster eingeschlagen. 

    Auch den Machthabern war ein ebensolches Maß an Gewalt nicht fremd. 

    Natürlich, und das ist sehr entscheidend. Gewalt galt auch auf der anderen Seite als probates Mittel. Man darf nicht vergessen, dass die Machtorgane bei jeglichen Konflikten in der Regel sehr hart durchgriffen.

    Charakteristisch für Russland war, dass es ein Polizeistaat mit einem Mangel an Polizisten war. Sogar in St. Petersburg, wo es eigentlich ein hohes Polizeiaufkommen gab, kam man bei Unruhen nicht ohne die Armee aus. In erster Linie wurden Kosakentrupps eingesetzt, wobei uns bekannt ist, dass auch die Infanterie hinzugezogen wurde. Das heißt, die Armee wurde zu Polizeizwecken eingesetzt. Aber in der Armee lernt man andere Dinge: mit einem Bajonett zu stechen, mit einem Gewehrkolben zu schlagen und – im Extremfall – zu schießen.

    Unterm Strich liefen bereits Jahrzehnte vor der Februarrevolution auf beiden Seiten Vorbereitungen zum erbitterten Kampf. Ich mache mir derzeit viele Gedanken zu Konfliktkultur: Wie haben unterschiedliche Länder die Krisen überwunden. Schließlich war Russland nicht das einzige Land, in dem es während des Ersten Weltkriegs Spannungen gab. Aber in Russland bereiteten schon viele kleine Bürgerkriege, an denen sich viele, viele Menschen beider Seiten beteiligten, die Revolution mit vor.

    Gerade wurde im Bolschoi Dramatitscheski Teatr das Stück Der Gouverneur nach der gleichnamigen Erzählung von Leonid Andrejew inszeniert. Darin befiehlt der Gouverneur, Streikende, einschließlich Frauen und Mädchen, zu erschießen. Ab diesem Zeitpunkt wird er von ihnen regelrecht verfolgt. Nach den blutigen Ereignissen wartet die ganze Stadt darauf, dass der Gouverneur erschossen wird: Damit endet das Stück. Es zeigt eindringlich, wie die Gesellschaft Terror bestraft und wie Gewaltspiralen ausgelöst werden.

    Eine Kompromisskultur gab es weder auf der einen noch auf der anderen Seite

    Natürlich gab es einerseits die aggressive Subkultur der Arbeiterklasse. Und in manchen Teilen Russlands war das Ausmaß der Gewalt noch wesentlich größer als in St. Petersburg. Nehmen Sie zum Beispiel die Beschreibungen der Streiks auf dem Gebiet des heutigen Donbass. Andererseits ist es aber den Machtorganen auch zu keinem Zeitpunkt gelungen, für Verhandlungen, Kompromisse oder Deeskalation zu sorgen. Eine Kompromisskultur gab es weder auf der einen noch auf der anderen Seite.

    Sicher, die Bolschewiki haben in der russischen Geschichte eine ungeheuer große Rolle gespielt. Doch gerade die Rahmenbedingungen – eine Bürgerkriegskultur und der Mangel an Kompromissbereitschaft – waren Wind in ihren Segeln. 


    III. Der zunehmende Konflikt zwischen Regime und Gesellschaft

    „Viele Probleme wurden unnötig politisiert.“ Demonstration auf dem Marsfeld, nach der Abdankung des Zaren
    „Viele Probleme wurden unnötig politisiert.“ Demonstration auf dem Marsfeld, nach der Abdankung des Zaren

    Kann man sagen, dass 1917 von vielen als ein Jahr wahrgenommen wurde, in dem es zu umfassenden Veränderungen kommen musste – ohne dass man in dem Moment hätte sagen können, wie die aussehen?

    Zum einen sagten viele, dass das Leben so nicht weitergehen könne. Zum anderen kam die Revolution recht unerwartet. Alle hatten eine Krise erwartet, aber nicht zu diesem Zeitpunkt und nicht in dieser Situation. Es kam, wie man so schön sagt, eins zum anderen – ein Konflikt, dann ein zweiter, ein dritter …

    Zum Teil lag die Schuld bei der Regierung: Viele Probleme wurden nicht gelöst, indem man sie sachkundig erörterte. Stattdessen wurden sie unnötig politisiert.

    Das ist eine wichtige Lehre auch für unsere Zeit.

    Viele Probleme wurden nicht gelöst, indem man sie sachkundig erörterte. Stattdessen wurden sie unnötig politisiert. Das ist eine wichtige Lehre auch für unsere Zeit

    Beispielsweise wird jetzt über einen Zusammenschluss zweier Bibliotheken geredet, der Petersburger Publitschka und der Moskauer Leninka. Es gibt keinerlei rationale Argumente für eine Vereinigung dieser beiden Giganten; Probleme und Errungenschaften finden sich bei beiden. Enden wird alles damit, dass in St. Petersburg schließlich eine Menge Leute aufheulen werden: „Das ist unsere Stadt – was sollen bloß diese Moskauer Pöbeleien?!“

    Im Jahr 1917 gab es noch weit mehr solcher Fälle. Viele wollten ihre privaten Angelegenheiten regeln, die dann ohne Notwendigkeit politisiert und ideologisiert wurden, was dann wiederum die Machthaber ausbaden mussten.

    Mich hat das Buch Les Français dans la Grande Guerre des Historikers Jean-Jaques Becker sehr beeindruckt. Wir fragen uns, warum es in Russland zur Revolution gekommen ist und wie das hätte verhindert werden können. Und er fragt, wie wir – wir Franzosen – es hingekriegt haben, während des Ersten Weltkrieges eine Revolution zu vermeiden.

    Er beschreibt die Konflikte und du erkennst, wie alles am seidenen Faden hing. Manchmal wollten die Streikenden einfach Ärger machen und die örtlichen Verwaltungen versuchten mit unglaublicher Geduld, diese Konflikte zu lösen: mit Hilfe von Lehrern, mit Hilfe der Kirche, mit Hilfe von Schriftstellern, die sie hatten hinzuziehen können. Das ist eine enorme Leistung, die Tradition des demokratischen Diskurses hat die Lage stabilisiert.

    Und was geschah in Russland, als diese Konflikte begannen? Im Gouvernement Tomsk beispielsweise kam es während der Mobilisierung zu Unruhen und Zusammenstößen, halb Barnaul wurde abgefackelt. Und in Moskau kam es zu einem antideutschen Pogrom – auch hier setzten die Truppen Waffengewalt ein. In den Textilfabriken in der Provinz kam es zu Konflikten – und wieder Truppen, wieder Waffen.

    Ganz zu schweigen von dem Aufstand 1916 in Turkestan, der durch den idiotischen Befehl ausgelöst wurde, die örtliche Bevölkerung zu Arbeitseinsätzen zu rekrutieren. Schlecht durchdacht, schlecht umgesetzt und entsprechend begleitet von Korruption. Die Behörden haben alles Mögliche getan, damit es zu einem Konflikt kam.

    Lässt sich das Erbe der Leibeigenschaft als Grund für das Unverständnis und die Spaltung ausmachen, als Grund vieler damaliger Konflikte? Es gab sehr viele Bauern in der Stadt; zwischen ihnen, den Offizieren und den Soldaten herrschte ein grundlegendes Unverständnis.

    Die Leibeigenschaft ist sicher wichtig, allerdings gab es in Petersburg viele Arbeiter, die aus Regionen kamen, in denen es nie Leibeigenschaft gegeben hatte, oder eine ganz andere als in Russland. In der Hauptstadt lebten damals viele finnische Arbeiter und Balten …

    Aber ich stimme Ihnen insofern zu, als dass es wohl eher eine kulturelle Frage war. Mir scheint: Länder, die eine stürmische Urbanisierung erleben, sind ganz prinzipiell sehr verwundbar.

    Die wichtigste Veränderung in der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts war die Umsiedlung Russlands in die Städte. Für die erste, und manchmal auch für die zweite Generation der neuen Städter ist das ein sehr schwieriger Prozess, mitunter schwieriger als eine Emigration. Viele der Zugezogenen zerbrechen psychisch an der Urbanisierung. Die Überlebenstaktik ist eine völlig andere, die Moral, die Religion.

    Viele der Zugezogenen zerbrechen psychisch an der Urbanisierung. Die Überlebenstaktik ist eine völlig andere, die Moral, die Religion

    Wenn jemand auf dem Land lebt, dann ist die Gemeinde mit dem Dorf und dessen Umgebung kongruent, alle kennen einander mehr oder weniger. Dann kommt er in die anonyme Stadt, in der nicht mal der Bau von Kirchen mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten kann. Zum einen gibt die Stadt viele Möglichkeiten und Freiheiten. Zum anderen bedeutet sie eine große Prüfung und riesigen Stress.

    Schauen Sie: Das Spanien, in dem ein Bürgerkrieg ausbricht, die iranische Revolution, der aktuelle arabische Frühling – das alles sind Menschen, die aus traditionellen Gesellschaften in modernisierte Städte gelangen. Die können in verschiedene Richtungen driften.


     IV. Über die Effektivität der Bolschewiki und die Schwäche der Regierung

    „Der Snamenskaja-Platz fungierte wie ein riesiges Sammelbecken“ – Demonstration auf dem Snamenskaja-Platz im Februar 1917 / Foto © Wikipedia/Desconocido – gemeinfrei
    „Der Snamenskaja-Platz fungierte wie ein riesiges Sammelbecken“ – Demonstration auf dem Snamenskaja-Platz im Februar 1917 / Foto © Wikipedia/Desconocido – gemeinfrei

    In einem Interview sprachen Sie vom kreativen Gehalt der Revolution; sprich, dass die Kräfte, die um die Macht kämpfen, auch miteinander um die Kreativität der Rhetorik und Propaganda konkurrieren, um die Ideologie und die Kreativität des eigenen Handelns. Kann man sagen, dass die Bolschewiki ihren Konkurrenten hier einiges voraus hatten?

    Vor der Revolution war über Jahrzehnte hinweg eine hoch entwickelte Subkultur, ein revolutionärer Untergrund entstanden, insbesondere seit den 1870er Jahren, seit der Bewegung Narodnaja Wolja. Es gab Bestseller des revolutionären Untergrunds, Bücher, mit denen die radikale Jugend erzogen wurde. Es gab Lieder, städtische Mobilisierungsrituale. Diese Kultur hatte ihre Berührungspunkte mit der russischen Hochkultur, ob uns das gefällt oder nicht.

    Nach der Februarrevolution herrschte in Russland ein politischer Pluralismus. Ja, die monarchistischen rechten Parteien waren zwar am Drücker, viele Zeitungen waren verboten, aber man konnte im Großen und Ganzen alles sagen, was man wollte – es bestand absolute Freiheit.

    Und wenn wir uns die Symbolik anschauen, dann war diese von Anfang an von der revolutionär-politischen Kultur geprägt. Manche Leute bezeichneten diese Revolution als eine bürgerlich-demokratische, doch die dominierende Symbolik war eine sozialistische. Das wiederum schafft einen Rahmen, der vor allem den Radikalen entgegenkommt, in diesem Fall den Bolschewiki und ihren Verbündeten.

    Die Politisierung nach dem Februar 1917 geschah mit Liedern und Ritualen. Erst danach lasen die Leute die Parteiprogramme

    Die Menschewiki waren in einer sehr schwierigen Lage: Einerseits waren es ihre Lieder und ihre Subkultur. Andererseits war ihnen bewusst, dass sie den politischen Prozess radikalisieren könnten, und davor hatten sie Angst. Ihre Botschaft war folgende: Leute, das sind jetzt nur Symbole; fasst das nicht als direkte Handlungsanleitung auf. Schließlich verstehen die Franzosen die recht blutrünstige Marseillaise ja auch nicht als unmittelbare Anleitung zur Revolution.

    Das war damals ein etwas naiver Aufruf. Die Politisierung nach dem Februar 1917 geschah mit Hilfe von Liedern und Ritualen. Erst danach lasen die Leute die Parteiprogramme. Das war dann der Radikalisierungsfaktor.

    Warum war der Stabilitätspuffer des gesamten Systems so schwach? Anfang 1917 war die Situation in Petrograd längst nicht katastrophal. Die Аnsprachen der Arbeiter führten zu der Kundgebung auf dem Snamenskaja-Platz, allerdings hatte diese Demonstration größtenteils symbolischen Charakter. Die Autokratie zu stürzen, war anfangs gar nicht das Ziel. Für die meisten politischen Akteure kamen die anschließenden Ereignisse völlig überraschend. Warum lag das Regime des Zaren buchstäblich innerhalb einer Woche am Boden? Warum erhob sich niemand, den Thron zu verteidigen?

    Was den Ort angeht, so war traditionell der Platz vor der Kasaner Kathedrale die Bühne für politischen Protest. Der Snamenskaja-Platz allerdings fungierte wie ein gigantisches Sammelbecken. Leute aus gleich mehreren Arbeitervierteln – aus den Stadtteilen Newskaja Sastawa, Moskowskaja Sastawa, Ochta – konnten gar nicht anders, sie mussten an diesem Platz vorbei, wenn sie zum Newski-Prospekt gelangen wollten.

    Wir beschreiben die Revolution gewöhnlich durch das Handeln der Hauptakteure. Dabei werden viele Revolutionen von einer Minderheit verwirklicht. An der Oktoberrevolution ist das noch deutlicher zu sehen. Wenn wir uns die revolutionären Ereignisse jener Zeit anschauen, erkennen wir, dass in den Städten kein sonderlich großer Teil der Bevölkerung mobilisiert wurde. Und auch im Februar 1917 ging nur ein bescheidener Teil der Bevölkerung auf die Straße; allerdings war das eine recht aktive und sichtbare Minderheit.

    Wir beschreiben die Revolution gewöhnlich durch das Handeln der Hauptakteure. Dabei werden viele Revolutionen von einer Minderheit verwirklicht

    Eine Revolution – das ist eine sehr wichtige These für mich – bedeutet, dass gleichzeitig die einen sehr schnell mobilisiert werden, während die anderen – jene, die sich dem revolutionären Prozess entgegenstellen oder ihn wenigstens hemmen könnten – ganz erheblich demobilisiert werden. Mit anderen Worten: Der Grund für die Februarrevolution lag darin, dass ihr nicht massiv entgegengewirkt wurde, selbst von jenen nicht, die das ureigentlich hätten tun müssen. Da waren Generäle, die mit Entscheidungen zögerten, Offiziere, die Befehle nicht weitergaben, Kosaken, die nur so taten, als ob sie Befehle ausführen …

    Und dann noch die Gerüchte! Nicht wenige Offiziere der kaiserlichen Armee nahmen ernsthaft an, dass mit der Zarin nicht alles in Ordnung sei. Es wurden Pläne diskutiert, die Herrscherin mit Hilfe von Gardeoffizieren zu verhaften. Vor dem Krieg wäre so etwas kaum denkbar gewesen.


    dekoder dankt Robert Kindler für seine Unterstützung bei der Aufbereitung des Interviews.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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