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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Zitat #10: „Lukaschenko kapiert nicht, wie massiv er die Belarussen verprellt hat“

    Zitat #10: „Lukaschenko kapiert nicht, wie massiv er die Belarussen verprellt hat“

    Alexander Lukaschenko sucht den Dialog – so will der belarussische Machthaber zumindest sein Treffen mit oppositionellen Gefangenen am vergangenen Wochenende verstanden wissen. Im Untersuchungsgefängnis des KGB hat er sich laut staatsnahem Telegram-Kanal Pul Perwogo viereinhalb Stunden lang mit inhaftierten Oppositionellen – darunter Viktor Babariko, der ebenfalls zur Wahl antreten wollte und verhaftet worden war – und inhaftierten Vertretern des Koordinationsrats unterhalten. Unter anderem diskutierte er eine Verfassungsänderung und betonte: „Unser Land lebt unter der Losung der Dialogbereitschaft.“ Zahlreiche Oppositionelle, wie etwa Pawel Latuschko, jedoch kritisierten einen Dialog und Runden Tisch im KGB-Untersuchungsgefängnis als „absurd“.

    Dialog oder Repression – welchen Weg wählt Lukaschenko? Diese Frage wirft der renommierte russische politische Kommentator Alexander Morosow im unabhängigen Meinungsmedium Republic auf: 

    [bilingbox]Es wäre falsch, darauf zu spekulieren, dass sich der Protest auf natürlichem Wege durch Müdigkeit und Routine irgendwann wieder verläuft. Lukaschenko kapiert nicht, wie massiv er die Belarussen verprellt und gekränkt hat.

    […]

    Das beste Szenario für Lukaschenko wäre ein echter (kein fiktiver) Runder Tisch, freie Neuwahlen, bei denen er kandidieren kann, mit einer neu besetzten Zentralen Wahlkommission und internationalen Beobachtern. Natürlich würde er verlieren. Aber er könnte im Wahlkampf seine Wähler mobilisieren, eine eigene Partei gründen und mit dieser anschließend ins Parlament einziehen. Das wäre der beste aller möglichen Fortgänge seines Lebenswegs.

    Die beiden anderen Varianten sind deutlich schlechter. Die erste ist: Das Land über Monate mit Gewalt zu überziehen und so den Konflikt von Volk gegen Polizei, Armee und Geheimdienste anzuheizen und das Land langfristig in die wirtschaftliche Stagnation zu stürzen. Die zweite: Alles de-facto mit Hilfe des Kreml zu unterdrücken, das heißt die Souveränität von Belarus zu opfern.~~~Расчет на естественный спад протеста за счет усталости, рутинизации – ошибочный. Лукашенко не понимает, насколько глубоко он задел и оскорбил белорусов.

    […] Лучший сценарий для Лукашенко – это не фиктивный, а реальный круглый стол, повторные свободные выборы, в которых он сможет участвовать, с новым составом ЦИКа, с международными наблюдателями. Очевидно, что он проиграет. Но он получит возможность в ходе кампании мобилизовать своих избирателей, создать себе партию и с ней затем войти в парламент. Это – лучшее из возможных продолжений его жизненного пути.

    Оба других варианта гораздо хуже. Первый: залить страну многомесячным насилием, стимулируя конфликт между населением, с одной стороны, и полицией, войсками, спецслужбами, с другой, и погрузить ее надолго в экономическую стагнацию. Второй: подавить все это де-факто руками Кремля, т. е. пожертвовав суверенитетом Беларуси.[/bilingbox]

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  • Zitat #6: Protest macht Gouverneure

    Zitat #6: Protest macht Gouverneure

    Bewegung unter den russischen Gouverneuren: Bei den Gouverneurswahlen am Einheitlichen Wahltag Anfang September konnte in mehreren russischen Föderationssubjekten kein Kandidat eine absolute Mehrheit erzielen, weshalb dort Stichwahlen angesetzt wurden. Am Sonntag fanden diese im Chabarowski Krai sowie in der Oblast Wladimir statt. In beiden Fällen gewannen überraschend die Kandidaten der LDPR und nicht die Amtsinhaber der Regierungspartei Einiges Russland, die traditionsgemäß die überwältigende Mehrheit aller Gouverneure in Russland stellt.

    Bereits in der vergangenen Woche entschied im Primorski Krai der Kandidat der systemoppositionellen KPRF die Mehrzahl der Wahlbezirke für sich – die Ergebnisse wurden jedoch später wegen massiver Wahlmanipulationen zugunsten des Gegenkandidaten von Einiges Russland annulliert.

    Was ist da los? Woher kommen die plötzlichen Erfolge von LDPR und KPRF? dekoder hat drei Statements von kremlkritischen Politologen und Journalisten übersetzt.

    Ekaterina Schulmann (Echo Moskwy): Nicht aus Liebe 

    Politologin Ekaterina Schulmann hat bereits im Wahlergebnis des Primorski Krai vor allem einen Ausdruck des Protests gesehen, wie sie im Interview auf Echo Moskwy äußerte: 

    [bilingbox]Die heutigen Wähler stimmen für den Kandidaten aus der Opposition nicht aus Liebe zu dem Kandidaten aus der Opposition. Sie wissen oft nicht einmal, wie er heißt, wer das überhaupt ist. Sie wollen gegen die Amtsinhaber, gegen die herrschende Regierung stimmen. Es ist genau, was der von mir bereits zitierte Alexander Kynew folgendermaßen nannte: „Wähl einen Teufel mit Glatze, aber ja nicht den Kandidaten von Einiges Russland.“~~~Нынешний избиратель не голосует за оппозиционного кандидата из любви к этому оппозиционному кандидату. Он вообще не знает часто, как его зовут, кто он такой. Он хочет голосовать против инкумбента, против действующей власти. Это вот ровно то, что уже цитировавшийся мной Александр Кынев, называет «за черта лысого, только бы не а «Единую Россию».[/bilingbox]

    erschienen am 18.09.2018

    Kirill Rogow (Facebook): Das wird ein grausamer Kampf

    Der Politologe und Journalist Kirill Rogow spricht auf Facebook gar von einer „Anti-Kreml-Rallye“ und wittert nach den Ergebnissen aus der Oblast Wladimir neue Machtkämpfe im Kreml selbst:

    [bilingbox]Eine solch vernichtende Niederlage hätte ich, wie wohl alle, nicht erwartet. Beeindruckend ist Folgendes: Sobald die Menschen im ersten Wahlgang gesehen haben, dass es möglich ist, sind sie in den kleinen Spalt, der da entstanden war, hineingesprungen, um zu sagen, was sie wirklich denken. Gute Nacht und träumt schön.
    Das Spannendste liegt noch vor uns: Wenn es an die schonungslose Aufarbeitung des Themas innerhalb der Kremlmauern geht. Das wird ein grausamer Kampf mit unerwarteten Opfern. ~~~В принципе, такого разгрома я, конечно, как и все, не ожидал. Впечатляет вот это: как только люди увидели в первом туре, что это можно, они просто рванули в образовавшуюся расщелину, чтобы сказать, что они на самом деле думают.
    Спокойной ночи и хороших снов.
    Главная интрига впереди – это суровая разборка внутри кремлевских. Борьба будет жесткой и с неожиданными жертвами.[/bilingbox]

    erschienen am 24.09.2018

    Alexander Morosow (Facebook): Kluge Vorschläge der Polittechnologen

    Der kremlkritische Journalist Alexander Morosow lenkt in einem Kommentar auf Facebook sein Augenmerk darauf, was sich nun insgesamt in der politischen Landschaft Russlands ändern könnte:

    [bilingbox]Als Ergebnis der Gouverneurswahlen […] gab es von Seiten der Experten, die für Kirijenko arbeiten, bislang zwei äußerst kluge Vorschläge: Matweitschew schlug vor, dass die Gouverneure wieder ohne jegliche Demokratiespielchen direkt ernannt werden sollen; Gleb Kusnezow sprach sich für eine harte Bestrafung der drei im Parlament vertretenen Parteien aus, die als Juniorpartner von Einiges Russland auftreten – aufgrund unwürdigen Verhaltens und Erpressung.
    Gewiss, betrachtet man die Tränen der Pamfilowa, dann ist es schwierig, etwas noch Klügeres zu fordern als die Zerschlagung von KPRF-LDPR-SR und das Einstellen des idiotischen Zensus-Systems zur Vergabe von Vollmachten für die Statthalter in der Provinz.~~~по итогам губернаторских выборов, – омраченных вторыми турами (т.е. де-факто "невыполненными договоренностями") со стороны экспертов, работающих на Кириенко, пока поступили два разумных предложения: от Матвейчева – вернуться к практике прямого назначения губернаторов без всякой "игры в демократию", от Глеба Кузнецова – жестоко наказать три парламентские партии, выступающие "младшими партнерами" ЕР, за недостойное поведение и шантаж.
    Действительно, глядя на "слезы Памфиловой" трудно предложить, что-то более разумное, чем устроить разгром КПРФ-ЛДПР-СР и перестать дурачиться со сложной цензовой системой выдачи "ярлыков" наместникам в провинции.[/bilingbox]

    Vorläufiges Ergebnis der Stichwahl vom 23.9. in der Oblast Wladimir im Vergleich zum ersten Wahlgang am 9.9.

     


    Zum Zoomen mit dem Mausrad die Strg-/Ctrl-Taste gedrückt halten oder in den Vollbildmodus wechseln. Viele der Wahlbezirke, die im ersten Wahlgang noch an die Amtsinhaberin und Kandidatin von Einiges Russland Swetlana Orlowa (blau) gegangen sind, konnte der LDPR-Kandidat Wladimir Sipjagin (gelb) in der Stichwahl für sich entscheiden. Quelle: ZIK

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • „Die Tschechoslowaken waren selbst schuld“

    „Die Tschechoslowaken waren selbst schuld“

    Im August 1968 haben die Truppen des Warschauer Pakts dem sogenannten Prager Frühling, Reformbestrebungen in der Tschechoslowakei, ein jähes Ende bereitet. Wie das russische Staatsfernsehen Rossija 1 zum 50. Jahrestag am 21. August 2018 darüber berichtete, das analysiert Alexander Morosow auf The Insider.

    Zu [Prag] 1968 ist viel publiziert worden: Die Dokumente des Politbüro und des KGB, Erinnerungen, Foto- und Videosammlungen, jeder kann die Mitschriften der langen Telefonate zwischen Breshnew und Dubček nachlesen, auch sie wurden veröffentlicht. 
    Womöglich ist die Geschichte dieses Einmarsches das für die breite Leserschaft am besten dokumentierte und offen einsehbare politische Ereignis des 20. Jahrhunderts, jedenfalls auf russischer Seite. Und voilà, es kann sich nun jeder, der sich den neunminütigen Beitrag des wichtigsten russischen Fernsehsenders zum „Jubiläum“ anschaut, selbst davon überzeugen, wie einfach es ist, das Puzzle der einzelnen Episoden derart zu verschieben, dass ein völlig neues Bild entsteht.

    Die Tschechoslowaken sind selbst schuld

    Dabei kann man sehr grob vorgehen, wie das Autoren kleinerer Veröffentlichungen tun, oder dezenter, wie der Chef des Europa-Büros von Rossija. Aber das Ergebnis geht in dieselbe Richtung: Die Tschechen [Tschechoslowaken – dek] sind „selbst an allem schuld“. 
    Sei es Dubček, der die Kontrolle verloren hatte, seien es die Dissidenten, die ja auf Weisung des CIA gehandelt haben, seien es die Tschechen insgesamt, die zu große Veränderungen gefordert haben – der Reformprozess hätte langsamer eingeleitet werden müssen (dazu wird in dem Beitrag ein kurzes Interview mit der tschechischen Journalistin Procházková gebracht), sei es die Atmosphäre 1968 in Europa – auch die habe sich negativ ausgegewirkt.
    Schiebt man beim Legen dieses Puzzles bestimmte Teile weit weg, etwa den Entscheidungsprozess in Moskau, die Reformideen, die in der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei erörtert wurden, die gleiche militärische Einmischung in Budapest im Jahr 1956 und lässt – last but not least – die historische Perspektive (sprich, die Samtene Revolution des Jahres 1989) völlig außer Acht, dann ergibt sich ungefähr jenes Bild, das der Kreml und seine Medien heute präsentieren:
    Schauen Sie: eine tragische Episode in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Tschechen haben das selbst zu verantworten, wollen das aber nicht zugeben, ja mehr noch, sie „verhöhnen die Erinnerung“: Seht nur, sie haben einen Panzer der Befreier rosa angemalt! Ihr Verhältnis zur Geschichte ist ein postmodernistisches, unseres ein trauerndes, heldisches, und wir bedauern, dass das Brudervolk so auf dem Holzweg ist.

    Jeder weiß, selbst bei einer Unterhaltung in der Elektritschka wird der Gesprächspartner gerne zugeben, dass in dieser Interpretation einige historische Fakten nicht ganz korrekt dargestellt sind. Gleichzeitig wird er jedoch abwinken und sagen: „Wenn wir nicht eingegriffen hätten, dann wären Soldaten der NATO gekommen.“ Dieses Argument hat sich mittlerweile auf die Geschichte insgesamt ausgebreitet, es dient als schlussendliche Rechtfertigung jeglicher Handlungen jeglicher russischer Herrscher.

    Um eine Aggression zu rechtfertigen, muss man Grenzen als bedingt denken

    Hier sind vier Positionen zu differenzieren: das Bewusstsein der breiten Bevölkerung, revisionistische Historiker, die Medienmacher des Kreml, und der derzeitige Kreml selbst. 
    Für den normalen unpolitischen Menschen sind solche Beiträge eine große Versuchung. Nach der Krim ist das Leben in der Geschichte unbequem geworden. Eine militärische Intervention in das Leben eines anderen Volkes zu heroisieren, fiel der Bevölkerung sogar in der Sowjetzeit schwer – das galt für die Zeit des Finnischen-Sowjetischen Kriegs und für Afghanistan. Es musste eine Erklärung gefunden werden, die einen mit der Realität versöhnt.
    Heroismus zum Schutz der eigenen Grenzen wird nicht in Frage gestellt. Ein Truppeneinmarsch, um andere zu erobern oder Unerwünschtes zu unterdrücken, stößt hingegen auf inneren Widerstand. Um eine Aggression zu rechtfertigen, muss man Grenzen als bedingt denken, und erklären, dass sie nicht mit denen auf der Landkarte übereinstimmen. 
    Genau das geschieht derzeit: Die imaginierte Grenze verläuft wieder nicht so wie auf der realen Karte, und überall, wo die imaginierte Russki Mir (dt. „Russische Welt“) liegt, stößt sie mit der imaginierten NATO zusammen.

    Revisionistische Historiker konstruieren bekanntermaßen häufig jahrelang alternative Beschreibungen der Realität, einfach in dem Bestreben, dem Mainstream etwas entgegenzusetzen.
    Solange das nicht von Propagandamachern aufgegriffen wird, bleibt diese alternative Geschichte eine Randerscheinung. Jetzt aber fallen die Interessen des Kreml und der Alternativler zusammen. „Reptiloide verüben einen Anschlag auf den Code der russischen Zivilisation.“ So lautet das wichtigste Thema der aktuellen geopolitischen Forschung.

    Alternative Geschichtssschreibung

    Der Bruch des so genannten „zivilisatorischen Codes“ ist keine Metapher. Diesen Begriff verwenden sowohl Wladimir Putin als auch Patriarch Kirill. Dadurch entsteht ein stabiles Schema, in das sich jedes Ereignis einfügt, eben auch die Operation Donau: Die Tschechen und Slowaken werden schlicht zu Geiseln in der großen Schlacht zwischen den „Russen“ und den „Reptiloiden“: 1968 haben Soldaten der NATO in Tschechien die Russische Welt angegriffen, und mit ihnen haben auch Kräfte angegriffen, deren Ziel es ist, unseren „zivilisatorischen Code“ zu zerstören.

    Das Problem ist, dass im Rahmen des zweiten „Aufstands der Massen“, nämlich während des explosionsartigen Wachstums der Internetkommunikation, jeder, der Inhalte produziert – und seien sie auch noch so irrsinnig – ohne Weiteres seine eigene Sekte bilden kann. Gleichzeitig werden die klassischen Institutionen zur Wissenserzeugung geschwächt und verlieren in der Gesellschaft insgesamt an Autorität. Die Schüler werden nicht bei den Positionen der Lehrbücher verharren – sie werden leicht in Sekten hineingezogen, die alternative Interpretationen verbreiten. Und ein junger Putinscher Karrierist wird gern bereit sein, ein neues Geschichtsschema zu vertreten, in dem überall auf der Welt „undankbare Völker“ den imaginierten Umfang eines „unendlichen Russland“ säumen. 

    Der Chef des Europastudios von Rossija wie auch Russia Today verfügen heute über riesige Möglichkeiten, nach Belieben und vollkommen ungestraft die Figuren auf dem Schachbrett der Geschichte umzustellen und anstelle der Konstellation, die sich aus jahrelanger Forschungsarbeit qualifizierter Historiker ergibt, eine neue herzustellen. Können die Historiker heute – als akademische Institution – dem zweiten „Aufstand der Massen“ und der Revolution der Internetmeinungen etwas entgegensetzen?

    Was können Historiker den Internetmeinungen entgegensetzen?

    Der Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 ist in der politischen Geschichtsbetrachtung der Russen und Tschechen längst abgehakt und wird von der Samtenen Revolution von 1989 überdeckt. Bis zur Krim, die alle Sinnkonstruktionen des Innenlebens der Russischen Föderation deformiert hat, ist jedwede Revision der sowjetischen Epoche sinnlos gewesen: In postsowjetischer Zeit wurden die Beziehungen der Völker auf der Basis derjenigen Wege wiederhergestellt, die die jeweiligen Länder des ehemaligen Ostblocks und die ehemaligen Republiken der UdSSR selbstständig einschlugen. 

    Nun aber, nach der Annexion, gedenkt der Kreml in dieser [revisionistischen – dek] Weise nicht nur des Einmarsches in die Tschechoslowakei, er wird 2019 auch die Samtene Revolution in diesem Sinne interpretieren. Sie muss – wie jeder andere Protest – als „Orangismus“ und „äußere Einmischung“ verstanden werden.
    Die Hauptlinie dieses Gedankenschemas lautet: Soldaten der NATO greifen von allen Seiten an, und mit ihnen Reptiloide, die unsere Identität zerstören. Diese Linie ist unendlich. Auf ihr kann man keinen Punkt setzen. Und nicht – jedenfalls nicht allein Kraft des Verstandes – zu einem gesünderen Geschichtsverständnis zurückkehren.

    Die Angliederung der Krim hat einen fürchterlichen Dienst geleistet

    Wenn du im Kopf erst einmal ein „Veteran“ dieses Krieges bist, wirst du ihn auch mit 80 Jahren noch führen. Die Krim hat einen fürchterlichen Dienst geleistet: Seine Strahlung wird noch lange Zeit junge Leute zu Veteranen eines imaginierten globalen Krieges machen. 

    Sämtliche Puzzles der Geschichte werden neu angeordnet, alle realen Kontexte zerstört, alle Fragen von Schuld und Verantwortung durcheinander gebracht – und alle Völker werden dastehen als feige Verräter oder naive Dummköpfe, die den eigenen Vorteil nicht begreifen, den ihnen die brüderliche Hilfe des Kreml bringt. Das ist das Fazit des Jubiläums der Operation Donau, wenn man sich den Beitrag des staatlichen russischen Senders anschaut.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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    Die Propagandamacher (Teil 1)

    Die Propagandamacher (Teil 2)

  • Sofa oder Wahlurne?

    Sofa oder Wahlurne?

    Wählen oder Nicht-Wählen, das ist die Frage, die sich angesichts der bevorstehenden Dumawahl den oppositionell eingestellten Bürgern stellt: Hauptargument gegen den Gang an die Wahlurne ist, dass Wahlen in einem autokratischen System nichts weiter seien als eine Farce, eine Imitation von Demokratie, und das Ergebnis sowieso schon feststehe. Wer wählen geht, erkläre sich damit einverstanden – und solle deswegen besser zuhause auf dem Sofa bleiben.

    Die Opponenten dieser sogenannten „Sofapartei“ jedoch appellieren, dass jedes Nicht-Handeln apolitisch sei und es durchaus gute Gründe für den Wahlgang gebe. Schließlich gehe es auch darum, die „demokratischen Muskeln zu trainieren“ und Weichen für die nächsten Wahlen zu stellen.

    Sofa oder Wahlurne? Slon.ru bat sieben renommierte Politik-Experten um ihren Ratschlag.

    Wählt, auf wen die Flasche zeigt

    In einem britischen Kinderbuch mit dem Titel Sie sind ein schlechter Mensch, Mr. Gum pflegt die Hauptperson und der Antiheld, also jener Mr. Gum, einen sehr unhygienischen Lebenswandel. Daraufhin siedeln sich in seinem Haus Insekten an, aber keine gewöhnlichen, sondern, wie der Autor schreibt, riesenhafte: mit Gesichtern, Namen und Dienstposten. So ein Gefühl bekomme ich bei dem Angebot an Parteien und Kandidaten. Wählt bitte, wen ihr lustiger findet, oder auf wen die Flasche zeigt, es spielt keine Rolle.

    Foto © cogita.ru
    Foto © cogita.ru
    Grigori Golossow (geb. 1963) ist Politikwissenschaftler. Der Experte für Parteiensysteme forschte an renommierten internationalen Universitäten. Seit 2011 lehrt er an der Europäischen Universität Sankt Petersburg am Lehrstuhl für vergleichende Politikwissenschaft.

     

     

     

     

     


    Die wären nur froh, wenn ihr nicht hingeht

    Unter einer Vielzahl an Äußerungen zu den bevorstehenden Wahlen findet sich oft folgende: „Sie wollen, dass wir wählen gehen, also gehen wir nicht – und wer hingeht, der kooperiert mit ihnen und ist also ein Kollaborateur.“ Darauf basieren alle Ideen von Boykott und Delegitimierung des Regimes.

    Doch  im ersten Teil des Satzes ist ein Fehler: Sie wollen ja eigentlich überhaupt keine Wahlen. Und haben alle Wahlen abgeschafft, die man abschaffen kann, und den Rest reglementiert. Die Wahlen generell abschaffen können sie aber nicht, das wäre ein zu radikaler Schritt  – vorerst jedenfalls.    

    Insofern sind Wahlen für sie ein unangenehmes Prozedere, zu dem sie leider verpflichtet sind, obwohl sie, hätten sie die Freiheit, sie am liebsten abschaffen würden. In dieser Lage – man muss Wahlen durchführen, die man fürchtet – wäre es am besten, wenn die Leute gar nicht hingingen. Deswegen muss der Satz, mit dem ich diesen Text begonnen habe, anders lauten: „Sie haben Angst vor den Wahlen, können sie aber nicht abschaffen. Deswegen wären sie nur froh, wenn ihr nicht hingeht.“

    Foto © polit.ru
    Foto © polit.ru

    Ivan Kurilla (geb. 1967) ist Historiker und Amerikanist. Der Experte für Geschichtspolitik lehrt seit 2015 an der Europäischen Universität Sankt Petersburg und leitet das Partnerprogramm der Universität.

     

     

     

     

     


    An der Türe rütteln!

    Bei diesen Wahlen spricht man nicht mehr von „Wählergruppen“ – die gibt es im herkömmlichen Sinne nicht – weder regierungstreue, noch liberale, noch linke. Die Wählergruppen der Zukunft schlummern innerhalb der Gruppe X – das sind die, die unschlüssig sind oder nicht einmal die Leute aus dem eigenen Lager wählen wollen. Je nach Quelle sind das 15 bis 30 Prozent.

    Die Abgeordneten der 7. Staatsduma werden in den kommenden zwei bis drei Jahren im Zentrum der Umbrüche stehen. Und dann werden wir alle wollen, dass es eine gute Duma ist. Umso wichtiger, dass auf dem Ochotny Rjad noch andere sein werden als die vier Kopfnicker-Parteien.

    Wen werden oppositionell gestimmte Bürger wählen? PARNAS, die Partei des Wachstums, Rodina oder Jabloko – egal. Aus der neuen Palette wird sich jeder was aussuchen. Wir wählen am 18. September nur für den Sand im Getriebe des Druckers. Sollten ein oder zwei neue Fraktionen in die Duma einziehen, knirscht es im Drucker, und dann kriegen sie ihn vielleicht nicht wieder in Gang.     

    Zur Wahl gehen in dem Wissen, dass man auf euch – genau auf euch – dort nicht wartet! Da haben wir ihn, den Einzelprotest, den man sich gefahrlos erlauben kann. Doch dieser seltene Einzelprotest birgt die Chance, ein schnelles Ergebnis zu bringen. Ohne den Versuch, die Wahlen zu politisieren, werden wir nie erfahren, wie weit die Gesellschaft politisiert ist. Einen Versuch ist es wert. Denn man kriegt die Tür nicht auf, wenn man nicht zumindest einmal dran gerüttelt hat.

    Foto © CC BY-SA 3.0
    Foto © CC BY-SA 3.0

    Gleb Pawlowski (geb. 1951) war Mitbegründer und Direktor der Stiftung für effektive Politik – eines Thinktanks, der sich 2011 auflöste. Für viele Beobachter galt Pawlowski als „Chef-Polittechnologe“ des Kreml, im Zuge der Schließung der Stiftung wandte sich Pawlowski weitgehend von Putin ab und gilt seitdem als ein Kritiker seines Regimes.

     

     

     

     


    Für die stimmen, die an der Fünf-Prozent-Hürde kratzen

    Fehlt eine maßgebliche, geeinte Opposition, dann ist ein Umschwung bei den Wahlen unmöglich. Selbst wenn die Regierungspartei deutlich an Popularität einbüßt, gibt es einfach keinen Ersatz – ein Alternativvorschlag steht nicht auf dem Stimmzettel.

    Man kann aber ein Parlament anstreben, das weniger monopolisiert ist und untereinander konkurriert – also eines, in dem die Mitglieder ständig miteinander verhandeln müssen, genau wie die Exekutive es mit ihnen allen tun muss. Niemand hat dann ein Mehrheitspaket an Stimmen (und damit die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, ohne mit den anderen zu kooperieren).

    Ein solches Szenario ist zwar auch bei einer inneren Spaltung der Regierungspartei denkbar. Effektiver aber wäre es , wenn mehrere unterschiedliche Fraktionen und Gruppen in die Duma einzögen, egal welche ideologische Ausrichtung sie haben. Deswegen sollten Protestwähler ihre Stimme vielleicht einfach irgendeiner Partei geben, die nicht im Parlament sitzt. Denn die im Parlament brauchen ihre Stimme ja nicht.  

    Dann beginnt ein recht spitzfindiges Spiel: Wenn die von den oppositionellen Wählern gewählten Parteien es nicht ins Parlament schaffen, dann kommen ihre Stimmen dem Sieger zu Gute – also einer Partei, die durchgekommen ist. Daher hoffen womöglich viele, jene zu unterstützen, die an der Fünf-Prozent-Hürde kratzen.

    Foto © Niece/livejournal.com
    Foto © Niece/livejournal.com
    Ekaterina Schulmann (geb. 1978) ist Politikwissenschaftlerin und Journalistin. Sie schreibt regelmäßig für die unabhängigen Medien Vedomosti, Grani.ru und Colta und gilt als Expertin für das Herrschaftssystem Russlands.

     

     

     

     

     


    Schaut genau hin!

    Das Problem der aktuellen Wahlen für den oppositionellen Wähler ist: So gut wie jedes Votum konserviert das bestehende System. Möglichkeiten des Protestwählens fehlen praktisch völlig. Es gibt keine Option „gegen alle“ zu sein, die Abstimmung mit den Füßen mehrt die Stimmen für die regierende Partei. Die Unterstützung der systemischen Opposition, die sich dem Kreml immer weiter annähert, führt zu keiner Veränderung der Kräfteverhältnisse.

    Für den oppositionellen Wähler bleibt nur eine für ihn relativ wirksame Taktik: Beobachtung statt Teilnahme. Das Sammeln von Informationen über Verstöße, die Verbreitung dieser Daten über zugängliche, legale Wege, die Analyse, wie das System mit all seinen Nuancen funktioniert und genaue Kenntnis über das Wahlrecht – das alles ist eine Art Ressource, die sich positiv auf das oppositionelle Umfeld und seinen Reifungsprozess auswirkt.  

    Geht ins Wahllokal, seht euch an, wie alles funktioniert, schaut, welche Wahlbeobachter anwesend sind, notiert die persönlichen Angaben jener, die die Exit-Polls durchführen und vergleicht danach deren Daten mit den offiziellen Ergebnissen aus eurem Wahlbezirk. Den Stimmzettel kann man nach eigenem Gutdünken verwenden.

    Foto © obsfr.ru
    Foto © obsfr.ru

    Tatjana Stanowaja (geb. 1978) ist Leiterin der Analyse-Abteilung im Zentrum für Politische Technologien. Ihre Analysen werden oft von wissenschaftlichen und unabhängigen Massenmedien veröffentlicht

     

     

     

     

     

     


    Wählen als Widerstand

    Ich glaube, bei den bevorstehenden Wahlen wird den Leuten, die dem Land Wohlergehen und Fortschritt wünschen, im Großen und Ganzen dasselbe geboten wie vor vier Jahren. Das, was man uns anbietet, sind keine Wahlen, sondern ein sorgfältig inszenierter Betrug. Diesmal ist der Fake so einstudiert, dass er auch ohne Wahlbeteiligung auskommt. Er hat jetzt die Stufe der Selbstgenügsamkeit erreicht. Er ruft die Passivität der Bürger hervor, ja, er fördert sie sogar.

    Und deswegen wäre es meiner Ansicht nach für diejenigen, die sich diesem Betrug widersetzen wollen, am sinnvollsten, einfach wählen zu gehen. Aber nicht mit der Vorstellung, jemanden zu wählen oder für jemanden zu stimmen. Es gibt keine Wahlen. Es gibt eine rechtswidrige Aneignung von Wahlverfahren und es gibt Widerstand dagegen. Das Ausmaß des geleisteten Widerstands wird sich auf den weiteren Kurvenverlauf der Ereignisse auswirken.

    © V. Shaposhnikov/Kommersant
    © V. Shaposhnikov/Kommersant

    Kirill Rogow (geb. 1966) ist Politikwissenschaftler und Journalist. Er war Mitbegründer und zwischen 1998 und 2002 Chefredakteur des Online-Mediums Polit.ru. Zwischen 2005 und 2007 war Rogow stellvertretender Chefredakteur der Zeitung Kommersant. Er schreibt regelmäßig für die unabhängigen Medien Vedomosti und Novaya Gazeta.

     

     

     

     


    Es gibt weder etwas zu gewinnen noch zu verlieren

    Bei diesen Wahlen gibt es für den oppositionellen Wähler keine gute Strategie – ihr werdet nichts gewinnen, aber auch nichts verlieren, auch wenn ihr gar nicht hingeht.

    Diese Wahlen finden vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Niedergangs und einer tiefen Krise der liberalen Bewegung statt. Das Wahlergebnis – das Scheitern der alten liberalen Parteien – wird die Frage nach einer völlig neuen Etappe der Gesellschaft als ganzer aufwerfen. Der Kreml wird über die Einerwahlkreise eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit in der neuen Duma bilden.

    Als nächstes stellt sich die Frage der Präsidentenwahl 2018. Und hier wird dann das gebraucht, was vor der Dumawahl nicht zustande gekommen ist: eine neue demokratische Koalition, die eine Strategie des Widerstands anzubieten hat gegen das heraufziehende Regime lebenslänglicher Macht.  

    Foto © CC BY-SA3.0
    Foto © CC BY-SA3.0
    Alexander Morosow (geb. 1959) ist Journalist und war bis 2015 Chefredakteur des Russischen Journals – eines Onlinemediums, das seit 1997 existiert. Zwischen 2008 und 2013 schrieb Morosow regelmäßig für die unabhängigen Medien Slon, Colta, Vedomosti und Grani.ru.

     

     

     


    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.