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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Schaschlik

    Schaschlik

    Es ist Sommerzeit. Tausende Menschen in Russland strömen am Wochenende auf ihre Datschen, gehen in Parks oder fahren ins Grüne, um die Sommerfrische zu genießen. Ob auf dem Land, beim Angeln, auf der Jagd, bei einer Geburtstagsfeier oder Hochzeit – es gibt Schaschlik. Dafür ist jeder Anlass willkommen. Kulinarisch lässt sich Schaschlik ziemlich einfach beschreiben: in Essig mariniertes Fleisch, das auf einem Spieß über glühender Holzkohle gegrillt wird. Schaschlik jedoch ist mehr als ein Gericht. Es ist eine kulturelle Institution, ein verbindendes Element, das seit der Sowjetzeit in der urbanen Bevölkerung beliebt ist und eine identitäts- und sogar friedensstiftende Funktion hat. 

    „Grabt doch, ja grabt doch einen Tunnel unterm Fluss. 
    Habt keine Angst und kommt dann ruhig
    zu Schaschlik und Wein. 
    Bringt die Gitarre mit und stimmt sie ein.
    Doch vergesst nicht: Eure spitzen Reißzähne macht vorher stumpf.“ 

    singt etwa Wladimir Wyssozki im Film Der Meister der Taiga. Dem Phänomen Schaschlik gehen wir auf die Spur. 

    Schaschlik ist mehr als ein Gericht, es ist eine kulturelle Institution / Foto © Pawel Kassin/Kommersant
    Schaschlik ist mehr als ein Gericht, es ist eine kulturelle Institution / Foto © Pawel Kassin/Kommersant

    Ein Schaschlik ist ein Gericht aus Fleisch, das in kleine Stücke geschnitten ist. Die rechteckigen Fleischstücke werden mit Zwiebel, Salz und Pfeffer mariniert und dann auf einem schampur (dt. Metallspieß) eng aneinander aufgespießt. Schließlich grillt man sie langsam in einem mangal, einem Becken mit tiefen Ritzen für je einen Spieß, über glühender Holzkohle. Den Spieß muss man dabei immer wieder drehen, damit das Fleisch gleichmäßig durchgebraten wird. Es darf keinesfalls über offenem Feuer gegart werden. Aufflammende Feuersträhnen werden schonungslos mit Wasser oder Wein gelöscht.

    Die kaukasischen Wurzeln des Schaschlik

    Das Wort schaschlýk kam im 18. Jahrhundert aus der krimtatarischen Sprache, in der schisch „Drehspieß“ bedeutet, ins Russische.1 Auch wenn viele Krim-Reisende in der Tat den krimtatarischen Schaschlik auf dem Berg Ai-Petri als einen der Besten überhaupt beschreiben würden, hat das in Russland verbreitete Schaschlik seinen Ursprung jedoch eher in der kaukasischen Küche, in der es zum Nationalgericht gehört: In Georgien heißt es Mzwadi, in Armenien sagt man Chorowaz und in Aserbaidshan nennt man es Kebap.2
    Als Gericht wurde Schaschlik in Russland erst Ende des 19. Jahrhunderts populär. Ursprünglich war Schaschlik nur bei Auswanderern aus südlichen Regionen des russischen Reichs beliebt und wurde zusammen mit Weinen aus Kachetien seit 1870 in einer kaukasischen Kellerei serviert und bei den Gästen zunehmend beliebter.3 Doch zum Erfolg bei den Moskauern soll das russische Restaurant Peterhof beigetragen haben. Dessen Betreiber namens Rasshiwin hatte einen kaukasischen Koch angestellt, der selbst bereits in seiner Wohnung einen illegalen Restaurantbetrieb mit Schaschlik und Wein aus Georgien begonnen hatte.4 Im Peterhof wurde Schaschlik aus jungem Lammfleisch täglich angeboten, während andere Speisen wie pelmeni (Teigtaschen) nur mittwochs und samstags zu bekommen waren.5 Der Grund dafür war einerseits, dass die russische Bevölkerung mehr und mehr Interesse an den nationalen Küchen anderer Völker des Russischen Reiches zeigte.6 Andererseits war das Schaschlik unkompliziert und praktisch in der Zubereitung und somit gut für ein Restaurant geeignet. Allerdings konnten sich eine lange Zeit nur wohlhabende Kaufleute das Essen im Restaurant leisten, die Mehrheit der Bevölkerung kannte die kaukasische Spezialität nicht. 

    Auch nach der Oktoberrevolution änderte sich die Situation erstmal nicht: In den 1920 und 1930er Jahren wurde das Gericht in speziellen Restaurants für die Nomenklatura serviert. Die Parteispitze, deren Mitglieder – wie der Georgier Joseph Stalin – oft kaukasische Wurzeln hatten, hatte eine Vorliebe für Schaschlik. Einige Parteimitglieder bestellten es nur im Restaurant Aragwi, das auf dem Höhepunkt der stalinschen Repressionen 1938 unter Beteiligung eines anderen einflussreichen Georgiers, Lawrenti Berija, eröffnet wurde und für sein schaschlik po-karski (dt. Schaschlik à la Kars) berühmt war.7 

    Geburt des sowjetischen Schaschlik

    Auch wenn das Schaschlik bereits 1939 mit einem Rezept ins Buch von der schmackhaften und gesunden Nahrung aufgenommen wurde, erreichte es die breite urbane Bevölkerung erst in den 1960er und 1970er Jahren. Wie der usbekische Pilaw (plow) oder der ukrainische Borschtsch hat sich auch das Schaschlik im Vergleich zum ursprünglischen Gericht stark sowjetisiert und sein lokales kaukasisches Kolorit verloren.8 Das Rezept aus dem Buch von 1939 schreibt vor, Fleisch in einer Marinade aus Zwiebeln, Zitronensaft und Essig einzulegen und für ein paar Stunden ruhen zu lassen9. Das hat mit dem georgischen Mzwadi wenig zu tun. Denn in Georgien wird Fleisch nur mit Salz und Pfeffer gewürzt und sofort gebraten, ohne es zu marinieren.10 Damit ist ein universales Schaschlik-Rezept fester Bestandteil der kulinarischen Identität der UdSSR geworden.

    Ganz im Geiste der industriellen Gesellschaft, in der alles schnell gehen sollte, wurde Schaschlik in der Sowjetzeit oft schon halbfertig, nämlich portioniert und mariniert, verkauft. Schaschlik wurde fast überall in kaukasischen Restaurants, auf dem Markt oder in der sogenannten schaschlytschnaja angeboten. Die schaschlytschnaja gehörte zum besonderen Typus des sowjetischen Schnellimbiss – der sakussotschnaja. Abgeleitet vom Wort sakussywat (dt. etwa: etwas nach einem Schluck Alkohol essen) hatten sie in der Regel das primäre Ziel, einen kleinen Imbiss zum Wodka dazu zu servieren. Der Imbiss hatte verschiedene Spezialisierungen, wovon die konkreten Namen der Lokale abgeleitet wurden: sossissotschnaja (von dt. Würstchen), pelmennaja (von pelmeni, dt. Teigtaschen), blinnaja (von dt. Blini/Eierkuchen) oder eben schaschlytschnaja (von dt. Schaschlik).11 Die Imbisslokale mit Schaschliks waren in der UdSSR weit verbreitet und äußerst beliebt. 

    Die wohl bekannteste schaschlytschnaja in Moskau war im Volksmund als „Antisowetskaja“ bekannt. Nicht weil sich dort Dissident·innen versammelten, sondern weil sie sich gegenüber eines Hotels namens Sowetskaja befand.12 Zeitzeugen erinnern sich, dass sie laut, überfüllt, lecker und äußerst günstig war: „Auf der Speisekarte standen nicht nur Cognac und Wodka, sondern auch Bier und billiger Tafelwein, der von Studenten und einheimischen Strolchen rege genutzt wurde. Das Publikum war jedoch sehr bunt … Arbeiter mit Mützen standen oft zusammen mit Militärs mit Hüten, die dieses demokratische Lokal gar nicht verschmähten. Das Schaschlik und Kebap war natürlich mittelmäßig, aber es roch herzzerreißend und kostete weniger als einen Rubel, was die Hauptsache war.“13

    Schaschlik auf der Leinwand 

    Zur Popularisierung des Schaschlik hat aber vor allem die sowjetische Filmindustrie beigetragen. Die Filme machten aus der kaukasischen Speise ein sowjetisches Kultprodukt und begründeten somit eine neue Freizeitgestaltung: das Schaschlik-Grillen. Viele Filme, nicht zuletzt die Komödien von Leonid Gaidai14, zeigen Szenen, in denen Schaschlik verspeist oder zubereitet wird. Oft fungiert Schaschlik nicht nur als Speise, sondern als Freizeitgestaltung mit Freunden, Feuer, Fleisch und Musik. 

    Viele sowjetische Filme zeigen Szenen, in denen Schaschlik verspeist oder zubereitet wird / Bild © Screenshot des Filmes Operation „Y“/Mosfilm

    Die wohl bekannteste Schaschlik-Szene stammt aus dem Film Moskau glaubt den Tränen nicht (1979) von Wladimir Menschow, der sogar einen Oscar erhielt. Im zweiten Teil des Films trifft sich eine Gruppe von Freunden in der Natur, um einen Geburtstag vorzufeiern.15 Im Film wird im Detail gezeigt, wie man ein Schaschlik macht. Eine Zwiebel wird geschnitten, Holz gehackt, Feuer gemacht, das Fleisch und Gemüse aufgespießt, und schlussendlich gegrillt. Jeder der Gäste bekommt ein Spieß mit Schaschlik und das Fleisch wird auch direkt vom Spieß gegessen. Anschließend singen sie Lieder und trinken dabei. Die romantisch-melancholische Szene zeigt das unbeschwerte Leben einfacher sowjetischer Menschen. 

    Schaschlik – eine Männersache

    Was allerdings bei allen Schaschlik-Szenen auffällt ist, dass das Schaschlik stets nur von Männern gemacht wird. „Schaschlik duldet keine Frauenhände“, sagt der Protagonist des Filmes.16 Dem entspricht, was ein Protagonist eines anderen Film sagt: „Frauen können das schöne Lammfleisch nur zerstören.“17 Während Frauen in der Sowjetunion ihre Männer im Alltag gerne bekochen durften, war das Grillen von Schaschlik reine Männersache. Männer haben das Fleisch mariniert, Holz gesammelt, Feuer gemacht und letztendlich Schaschlik gegrillt. Frauen durften Salate und Beilagen zubereiten, den Tisch decken und anschließend den Grillmeister loben und alles aufräumen, aber das Schaschlik selbst durften sie nicht anfassen.

    Seit den 1970er Jahren wurde Schaschlik zunächst immer beliebter und in der Perestroika ist es zum Nationalgericht geworden. Während früher in den Kultur- und Freizeitparks traditionelle Köstlichkeiten wie Eis, Limonade, Kuchen und Brötchen angeboten wurden, tauchte an diesen Orten nun Schaschlik auf. Schaschlik, das früher eine Delikatesse der Nomenklatura war, wurde somit zu einem weitverbreiteten Gericht, zum sowjetischen Fastfood, das landesweit in Tausenden von Bahnhöfen, Straßen-, Park- und Strandimbisse serviert wurde. 

    Schaschlik heute

    Das Schaschlik und die mit ihm verbundenen Rituale haben heute einen festen Platz im russischen Festtagskalender. Die Schaschliksaison beginnt in der Regel im Mai. Die maiskije prasdniki (dt. Mai-Feiertage) spielen dabei eine wichtige Rolle. Zwischen dem Tag der Arbeit (1. Mai) und dem Tag des Sieges (9. Mai) nehmen viele Menschen gerne Urlaub und allerorts – auf den Datschen, in Parks oder in der Natur – wird gegrillt. Die Saison endet, wenn der erste Schnee fällt. Dennoch gibt es viele Menschen, die auch im Winter Schaschlik grillen.

    Neben den kleineren geselligen Schaschlik-Runden finden in Russland und in den ehemaligen Sowjetrepubliken auch Schaschlik-Festivals statt. 2019 ging etwa das von der Moskauer Stadtverwaltung initiierte Festival Schaschlyk.Live durch die Medien, das auf dem Höhepunkt der Sommerproteste 2019 spontan organisiert wurde und an dem angeblich über 300.000 Menschen teilnahmen. Selbst wenn die Teilnehmerzahl vermutlich deutlich niedriger war, zeigte sich damals noch mal mehr die Popularität des Schaschlik. 

    Mittlerweile kann man über eine gewisse Ent-sowjetisierung des Schaschlik sprechen, die teilweise mit einem Rückgriff auf die ursprüngliche kaukasische Rezeptur zusammenhängt, teilweise aber auch mit der Weiterentwicklung und den Zubereitungsvariationen. Viele georgische Restaurants in Russland, die in der letzten Zeit wie Pilze aus dem Boden schießen, bieten ihren Gästen das traditionelle Schaschlik an und nicht seine sowjetische Variation. Im Alltag bevorzugen die Menschen jedoch bereits mariniertes Fleisch, verwenden für Schaschlik unterschiedliche Fleischsorten und nicht nur Schweinefleisch, wie es in der UdSSR üblich war. Da Schaschlik eine Volksspeise ist, gibt es Tausende verschiedener Marinaden und keine festgelegte Rezeptur. Jeder hat sein eigenes Rezept, meist geerbt vom Vater oder Großvater. Eine typische Beilage zu Schaschlik gibt es nicht. Man serviert dazu gegrilltes Gemüse, das sich ebenfalls gut aufspießen lässt, wie Zwiebel, Tomate, Paprika, Zucchini oder Aubergine. Es wird aber von Köchen empfohlen, einen Salat aufzutischen, der den Geschmack des Schaschliks unterstreicht.18 Gegessen wird Schaschlik mit Ketchup oder einer Barbecuesauce, einige bevorzugen auch klassische kaukasische Saucen wie Adshika.

    Fürs Schaschlik-Grillen in der Freizeit braucht man heute also ein Auto, um in die Natur zu kommen, ein Mangal, Schampure, Schweine-, Kalbs, Rinds- oder Lammfleisch, Marinade mit und ohne Essig, Männer, die es grillen, Wodka oder Rotwein, damit der Mund nicht austrocknet, und zu guter Letzt nette Gesellschaft. Denn Schaschlik ist mehr als Grillen, es ist eine gemeinschaftliche Freizeitgestaltung, die zu einer Art heiligem, freundschaftlichem Ritus am brennenden Feuer geworden ist.


    Rezept „Sowjetisches Schaschlik“

    Für eine klassische sowjetische Marinade19 braucht man: 

    Lammfleisch (Hinterbein) / Schweinefleisch (Hals) – 1 Kg 
    Zwiebeln – 4 Stück 
    Zitronensaft – 2 TL oder Essig – 2 EL 
    Salz und Pfeffer 
    Fleisch in nicht allzu kleine Stücke schneiden und in einen Topf legen. Zwiebel fein zerkleinern und zum Fleisch hinzufügen, Salz, Pfeffer und Essig oder Zitronensaft hinzugeben. Den Topf bedecken und für 2 – 3 Stunden an einen kühlen Platz stellen. Anschließend das Fleisch aufspießen und über glühender Kohle 15 – 20 Minuten grillen. Die Spieße wenden, damit das Fleisch gleichmäßig durchgebraten wird.

    Guten Appetit! 


    1. vgl. Pochlebkin, Vil’jam (1978): Nacional’nye kuchni našich narodov, Moskau, S. 118 ↩︎
    2. ebd. ↩︎
    3. vgl. Giljarovskij, Vladimir (2016): Moskva i Moskviči, Moskva, S. 343 ↩︎
    4. ebd., S. 343–344 ↩︎
    5. ebd., S. 343 ↩︎
    6. vgl. Pochlebkin, Vil’jam (2000): Kuchnja veka, Moskva ↩︎
    7. vgl. Vas’kin, Aleksandr (2018): Povsednevnaja žizn’ sovetskoj stolicy pri Chruščeve i Brežneve, Moskva, S. 288–291 ↩︎
    8. vgl. Gluščenko, Irina (2014): Ideal’nyj šašlyk, in: Franz,Norbert/Frieß, Nina (Hrsg.): Küche und Kultur in der Slavia: Eigenes und Fremdes im ausgehenden 20. Jahrhundert, Postdam, S. 109–130 ↩︎
    9. vgl. Chudjakov, E./Vilenkin, B./Pevzner, M./Molčanova, O. M. (1939, Hrsg.): Kniga o vknusnoj i zdorovoj pišče, Moskva, S. 130 ↩︎
    10. vgl. Pochlebkin, Vil’jam (1983): Nacional’nye kuchni našich narodov, Moskva, S. 127 ↩︎
    11. vgl. Vas’kin, Aleksandr (2018): Povsednevnaja žizn’ sovetskoj stolicy pri Chruščeve i Brežneve, Moskva, S. 311 ↩︎
    12. ebd., S. 293 ↩︎
    13. S.: Cozy Moscow: Moskovskie restorany v 60-70-ch godach XX veka ↩︎
    14. Operation „Y“ und andere Abenteuer Schuriks (1:55 – 1:58); Entführung im Kaukasus (10:05); Hund Barbos und ungewöhnlicher Crosslauf (56:23 – 1:04:05) ↩︎
    15. Youtube: Piknik ↩︎
    16. Youtube: Piknik (0:05 – 0:14) ↩︎
    17. Youtube: Ošibka rezidenta, 1968. Na krasivaja ženščina, delaj šašlyk…I ty zagubiš‘ baraninu ↩︎
    18. eda.ru: Ideal’nyj Salat dlja šašlyka ↩︎
    19. vgl. Molčanova, O./Lobanov, D./Lifšic, M./Cyplenkov, N. (1952, Hrsg.): Kniga o vknusnoj i zdorovoj pišče, Moskva, S. 173–174 ↩︎

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  • Kolbassa (Wurst)

    Kolbassa (Wurst)

    Nach der Oktoberrevolution 1917 kommt es zum Zusammenstoß zweier Welten: einer alten, vorrevolutionären und einer neuen, die in die kommunistische Zukunft reicht. Auch die Küche wurde dabei zu einem Schauplatz dieses Kampfes. Krieg den Küchen! Fleischwölfe, Kocher, Pfannen, Wasserhähne aller Länder, vereinigt euch in eine riesige Kantine! Tausend Küchen hat man bereits unterworfen. Es muss eine Industrialisierung der Küche durchgeführt werden! So träumt Andrej Babitschew, der Protagonist des Romans Neid von Juri Olescha, der sich als sowjetischer Funktionär mit der Entwicklung der Lebensmittelindustrie beschäftigt. Dieser Mann, der stellvertretend für die neue Welt steht, ist geizig und eifersüchtig. Er würde alle Spiegeleier und Buletten am liebsten selbst braten und alle Brote selbst backen. Er würde das Essen gebären. Und als allererstes bringt er sie zur Welt: Die Kolbassa, die Wurst, die 35 Kopeken kostet, und die sich jeder leisten kann. 
    Dass in dem 1927 erschienenen Roman ausgerechnet eine Wurst als ein Symbol der neuen Welt fungiert, ist kein Zufall. Für einige sowjetische Generationen war sie mehr als nur ein Produkt: Sie war vor allem eine Errungenschaft, die den Weg in die glückliche kommunistische Zukunft ebnen sollte. Fest im postsowjetischen Bewusstsein verankert, sorgt die Kolbassa heute noch für Sehnsucht nach der untergegangenen Sowjetunion, wo die Wurst viel besser gewesen sei. Selbst wenn es nicht immer einfach war, sie zu bekommen.  

    Als Lebensmittelprodukt wohl seit dem Mittelalter bekannt, konnte die Kolbassa sich jedoch vor der Revolution nicht behaupten: Während sie für den Adel und die Intellektuellen als zu primitiv galt, war sie für einfache ArbeiterInnen und Bauern schlicht zu teuer. Der Durchbruch der Wurst zum Massenprodukt, dessen Entstehung im Roman Neid nicht ohne Ironie beschrieben wird, geschieht erst in den 1920er Jahren. Zu diesem Zeitpunkt beginnt die Ära der Wurst in der UdSSR.1

    Die Ära der Wurst 

    In der neuen Welt sollten nicht nur politische Strukturen, sondern auch der Alltag revolutioniert werden. Die Verpflegung der ArbeiterInnen wurde aus der privaten Küche in gemeinsame Kantinen verlegt, die in den Fabriken eingerichtet worden waren. Mit dem Ziel, die Kochzeiten zu verkürzen und Frauen von der Küchenlast zu befreien, sollten neu errichtete Fleischkombinate halbfertige Produkte wie kotlety (dt. Buletten) und fertige Lebensmittel wie sossiski (dt. Würstchen), sardelki (dt. Lyoner) und kolbassy (dt. Würste) produzieren.2 All diese Produkte sollten leicht zugänglich und kalorienreich sein, um den Hunger der ArbeiterInnen schnell stillen zu können. Mit der Zeit wurden sie zum Symbol des sowjetischen Alltags.3 

    [bilingbox]„Achtung! 
    Wichtig für die Arbeitermassen. 
    Im Mosselprom 
        gibt es die beste 
            Wurstproduktion“4.~~~«Внимание!
             Важно для рабочих масс.
    В Моссельпроме
             лучшее
                     производство колбас».[/bilingbox]

    Mit diesem Gedicht warb Wladimir Majakowski (1893–1930) Mitte der 1920er Jahre für die Wurstwaren des Mosselprom. Doch noch in den 1930er Jahren wurde Wurst hauptsächlich in größeren Städten gehandelt, der Rest des Landes blieb hingegen ohne die Fleischdelikatesse. Erst im Zuge der Industrialisierung der 1930er Jahre wurde Wurst tatsächlich zum Volksprodukt. 
    Der Aufstieg von Kolbassa ist eng verbunden mit dem Namen Anastas Mikojan (1895–1978), dem Volkskommissar für die Nahrungsmittelindustrie. Nach seiner Reise in die USA 1936 begann er damit, in Moskau Kochwürste produzieren zu lassen. Diese passten perfekt zur neuen sowjetischen Esskultur, die durch die Industrialisierung revolutioniert worden war. 

    Je nach Sorte galt Wurst als ein Statussymbol. Collage aus dem Bilderbuch Würste und geräucherte Fleischprodukte (1938)

    Die verschiedenen sowjetischen Wurstsorten unterschieden sich im Geschmack, Preis und in ihrer Zugänglichkeit für die Bevölkerung. Im Bilderbuch Würste und geräucherte Fleischprodukte, 1938 herausgegeben vom Volkskommissariat für Nahrungsmittelindustrie, findet man über 60 Wurstrezepturen, die sich in die folgenden Zubereitungsarten unterteilen lassen: farschirowannaja (dt. gefüllte), warjonaja (dt. gekochte), koptschоnaja (dt. geräucherte), liwernaja (dt. Leberwurst), krowjanaja (dt. Blutwurst) und noch viele weitere.5 Laut dem vielfach neu aufgelegten und millionenfach verkauften Kniga o wkusnoi i sdorowoi pischtsche (dt. Buch über schmackhafte und gesunde Nahrung) wurden in der UdSSR später über 100 Sorten größerer und kleinerer Würste produziert.

    Je nach Sorte galt Wurst als ein Statussymbol. Moskowskaja – eine geräucherte Wurst – war wegen ihres Geschmacks sehr begehrt, für die ArbeiterInnen der sowjetischen Betriebe jedoch kaum zu bekommen und primär auf den Tischen der Nomenklatura zu finden. Die Kochwurst Doktorskaja konnte man hingegen mit etwas Glück häufiger erwerben, und sie war vor allem bei den ArbeiterInnen beliebt. Ihr Geschmack und ihre Zugänglichkeit auf dem Markt hat sie sogar zu einem der beliebtesten Lebensmittel in der Geschichte der Sowjetunion gemacht. Der Name Doktorskaja bedeutet in etwa „vom Doktor empfohlen“. Ursprünglich wurde diese Kochwurst Bürgerkriegsveteranen in Rehabilitationseinrichtungen ärztlich verschrieben. Da sie reich an Eiweiß und fettarm war, wurde die Doktorskaja-Wurst auch bei einigen Magenkrankheiten empfohlen.6

    Defizit, Schlangen und „Wurstzüge“

    Zu Zeiten der Sowjetunion war die Wurst ein Statussymbol, ein Indikator der Gastfreundschaft. Über die Wurstauswahl in den Läden wurde auch das Lebensniveau einer Stadt beurteilt – gerade in Zeiten, in denen Wurst Mangelware war. Auch wenn im Bilderbuch Würste und geräucherte Fleischprodukte viele Wurstsorten abgebildet waren, wurden in der Realität nur die Wenigsten von ihnen tatsächlich hergestellt. Lediglich zwei bis drei Sorten waren nach langem Schlangestehen für die sowjetische Bevölkerung erhältlich, jedoch nicht in jeder Stadt und nicht in jedem Laden. 
    Die beiden Hauptstädte, Moskau und Leningrad, wurden immer besser beliefert als die übrigen Städte und Dörfer.7 Dies führte dazu, dass viele Leute aus den unmittelbaren Vororten oder den umliegenden Städten mit der Bahn nach Moskau fuhren, um Lebensmittel einzukaufen, darunter auch Kolbassa. Die überfüllten Elektritschkas mit Fahrgästen, die in ihren Taschen Wurst, Brot, Milch, Eier und Fleisch transportieren, waren ein Phänomen der sowjetischen Alltagskultur. Man nannte diese Züge auch kolbassnyje pojesda (dt. Wurstzüge).8 

    In den Zeiten des landesweiten Defizits, das als Folge der Planwirtschaft entstanden war, wurde aus der Kochwurst ein Fleischersatz. In Suppen wie Borschtsch oder Soljanka fügte man am Ende häufig Wurst statt Fleisch hinzu. Auch für den berühmten Salat Olivier wurde Wurst mit den anderen gekochten Zutaten wie Eiern, Kartoffeln, Möhren, Dosenerbsen und Essiggurken vermischt und mit Mayonnaise angerichtet. Da seine Zutaten leichter zu bekommen waren als Fleisch, konnte man den Salat etwa am 31. Dezember auf dem Tisch jeden Haushaltes finden. Olivier und seine Hauptzutat, die Kochwurst, sind so zum Symbol des Neujahrsfestes geworden.9 Auch eine angebratene Wurstscheibe mit Spiegelei obendrauf schmeckte vorzüglich. Während die Kochwurst im Alltag des sowjetischen Menschen einen prominenten Platz einnahm, wurde geräucherte Wurst überwiegend bei Feierlichkeiten serviert. 

    Wurst als Kultobjekt

    Dass Wurst zu einem Kultobjekt werden konnte, lag an der Bedeutung, die sie im sowjetischen Alltag gehabt hatte. Da sie satt machte und schmeckte, war sie zum einen ein von den meisten Sowjetbürgern begehrtes Konsumgut. Zum anderen war sie ein beliebter Ersatz für Frischfleisch, das nur selten erhältlich war. Ihre symbolische Sonderstellung behielt die Kolbassa auch nach dem Zerfall der Sowjetunion. 

    Einerseits wurde die Wurst immer mehr mit dem Kapitalismus in Verbindung gebracht. Viele HeldInnen des Buchs Secondhand-Zeit von Swetlana Alexijewitsch äußern, dass man seine Seele für Wurst verkauft habe. Im Buch taucht die Wurst als Symbol des Kapitalismus und des Wohlstands nach westlichem Muster auf: „Der Mensch, der aus 100 Wurstsorten im Laden auswählt, ist freier als derjenige, der aus zehn Sorten auswählt.“10

    Andererseits fungierte die Wurst aber auch als nostalgisches Symbol des Sozialismus und des untergegangenen sowjetischen Imperiums: „Früher roch es in der Wurstabteilung – nach echter Wurst. Immer noch kneife ich meine Augen zusammen und erinnere mich an diesen Geruch. Eine echte Kochwurst. Aber jetzt ist es nicht so. Die Wurst riecht nicht mehr.“11 Das nostalgische Gefühl, das sich beim Gedanken an die vermeintlich gute alte Sowjetzeit einstellt, manifestierte sich sowohl im Privaten wie auch in der Populärkultur unter anderem im Bild der sowjetischen Wurst. 

    So erschien 2012 ein Werbespot, in dem ein Professor in das Büro eines Volkskommissars stürzt und über die Steigerung der industriellen Produktion spricht, die man leicht erreichen könne, wenn man der Wurst Phosphate, Geschmacksverstärker und andere Zusatzstoffe hinzufügen würde. Der von diesem Vorschlag angewiderte Volkskomissar drückt auf einen roten Knopf unter dem Tisch und der Professor wird von zwei NKWD-Mitarbeitern weggeschleppt. Beworben wird dabei eine Wurst aus der „sowjetischen Reihe“, die „aus Naturprodukten nach der Rezeptur des Jahres 1938“ hergestellt wird. 

    Auch wenn das brutale Abführen eines Akademikers und das Rezeptur-Jahr, das für den Höhepunkt der Stalinschen Repressionen steht, auf die schrecklichen Seiten der sowjetischen Geschichte hinweisen, soll der Werbespot vor allem eine Vorstellung hervorrufen: dass in der Sowjetunion zumindest die Wurst reiner und besser gewesen sei – auch wenn wirklich gute Wurst womöglich nur auf dem Tisch des Volkskommissars serviert wurde. 


    1. vgl. Gluščenko, Irina (2015): Obščepit: Mikojan i sovetskaja kuchnja, Moskau, S. 105 ↩︎
    2. vgl. Molčanova, Ol’ga et al. (Hrsg., 1952): Kniga o vknusnoj i zdorovoj pišče, Moskau, S. 12–16 ↩︎
    3. vgl. Gluščenko: Obščepit, S. 105 ↩︎
    4. Majakovskij, Vladimir (1957): Polnoe sobranie sočinenij: V 13 t.: Т. 5: Stichotvorenija 1923 goda, Moskau, S. 310 ↩︎
    5. vgl. Konnikov, Abram (Hrsg., 1938): Kolbasy i mjasokopčenosti, Leningrad, S. 23 ↩︎
    6. vgl. Molčanova: Kniga o vknusnoj i zdorovoj pišče, S. 184 ↩︎
    7. vgl. Vas’kin, Aleksandr (2018): Povsednevnaja žizn’ sovetskoj stolicy pri Chruščeve i Brežneve, Moskau, S. 232 ↩︎
    8. vgl. Lebina, Natal’ja (1991): Passažiry kolbasnogo poezda: Ėtjudy k kartine rossijskogo byta rossijskogo goroda 1917–1991, Moskau ↩︎
    9. vgl. Vas’kin, Povsednevnaja žizn’ sovetskoj stolicy, S. 461–462 ↩︎
    10. Aleksievič, Svetlana (2018): Vremja sekond chėnd, Moskau, S. 13 ↩︎
    11. Gluščenko: Obščepit, S. 106 ↩︎

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