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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Am Ende der Fahnenstange?

    Am Ende der Fahnenstange?

    Am 21. Juni 2021 haben die EU-Außenminister neue Sanktionen beschlossen – und damit das vierte Sanktionspaket seit der Wahlfälschung und dem Beginn der Proteste gegen die belarussische Staatsführung am 9. August 2020. Grund für die neuen Maßnahmen war die erzwungene Landung des Ryanair-Fluges 4978 in Minsk, bei der der Journalist und Blogger Roman Protassewitsch und seine Freundin Sofia Sapega festgenommen wurden.

    Der Sanktionsliste, auf der sich bereits 88 Vertreter der belarussischen Machthaber befanden, wurden 78 weitere Personen hinzugefügt. Darunter auch hochrangige Silowiki wie der stellvertretende Innenminister Nikolaj Karpenkow, Verteidigungsminister Viktor Chrenin, der Befehlshaber der Luftwaffe Igor Golub und der Verkehrs- und Kommunikationsminister Alexej Awramenko, aber auch Manager von Staatsunternehmen, Polizisten, Richter, Parlamentsabgeordnete und andere Vertreter des Systems Lukaschenko, die mit einem Einreiseverbot in die EU belegt wurden. Zudem sollen erstmals auch bedeutende Staatsunternehmen und Wirtschaftszweige sanktioniert werden, wie beispielsweise Unternehmen für Finanzdienstleistungen, aus dem Energiebereich oder auch das Unternehmen Belaruskali, einer der weltweit wichtigsten Hersteller von Kalidünger. Parallel verhängten auch die USA neue Sanktionen. 

    Scharfe Reaktionen aus Belarus folgten prompt. Alexander Lukaschenko wähnt sich bereits in einem neuen, heißen Krieg. An die Adresse des deutschen Außenministers Heiko Maas sagte er: „Wer sind Sie? Ein reuiger Deutscher oder der Erbe der Nazis?“ Der belarussische Staatschef drohte mit einer harten Reaktion auf die Sanktionen, ohne diese aber konkret auszuführen.

    Wie könnte solch eine Reaktion aussehen? Und was bedeuten die Sanktionen für die belarussischen Machthaber? Der Journalist Alexander Klaskowski geht diesen Fragen in einem Analysestück für das Medium Naviny.by nach.

    Der Westen betont, dass er mit den aktuellen Maßnahmen das Regime von Alexander Lukaschenko dazu bringen will, die Repressionen zu stoppen, die politischen Gefangenen freizulassen und faire Wahlen abzuhalten. Die Vertreter des Regimes geben jedoch deutlich zu verstehen, dass genau das Gegenteil der Fall sein wird.

    Die Erklärung von Außenminister Wladimir Makei im April ist mittlerweile ein Klassiker ihres Genres geworden: 

    „Jede weitere Verschärfung der Sanktionen wird zum Ende der Zivilgesellschaft führen.“

    Die Regierung untermauert diese rhetorische Drohgebärde durch ihr Vorgehen, indem sie die Zahl der politischen Gefangenen erhöht und die roten Absperrbänder um die protestierenden Teile der Gesellschaft enger zieht – die Oppositionsparteien, die Nichtregierungsorganisationen und die nichtstaatlichen Medien (in diesem Bereich war die Zerschlagung des äußerst populären Internetportals Tut.by ein schockierender Vorgang, 15 Mitarbeiter wurden verhaftet).

    Kann man zweimal in denselben Fluss steigen?

    In den letzten Wochen begannen über Verwandte der politischen Gefangenen Informationen durchzusickern, dass einigen in den Strafkolonien hartnäckig nahegelegt wird, Gnadengesuche zu stellen. Auch wurden in den Medien Überlegungen laut, dass es eine Amnestie für politische Häftlinge geben könnte. Auch von anderen regierungsfreundlichen Figuren wird diese Frage immer wieder durchgekaut.

    Man fühlt sich an das Jahr 2011 erinnert. Seinerzeit hatten sich die Beziehungen zwischen Minsk und dem Westen drastisch verschlechtert, nachdem eine Demonstration auf dem Unabhängigkeitsplatz auseinandergetrieben worden war und dutzende Regimegegner verhaftet wurden; damals wurden ebenfalls Sanktionen verhängt.

    Die belarussische Regierung hatte sich in der Defensive gefühlt, die politischen Gefangenen bedrängt, Gnadengesuche zu schreiben, und diejenigen freigelassen, die ein solches Papier unterschrieben. Später wurden sogar auch diejenigen freigelassen, die sich hartnäckig geweigert hatten, um Gnade zu bitten. In der Folge steuerten Minsk und der Westen allmählich auf eine Normalisierung der Beziehungen zu (wozu übrigens auch in erheblichem Maße die russische Aggression gegen die Ukraine 2014 beigetragen hat).

    Aber kann man zweimal in denselben Fluss steigen? Heute ist der Konflikt sehr viel schärfer. Die EU und die USA weigern sich, Lukaschenkos Legitimität anzuerkennen. Der wiederum befürchtet, dass ein Ende der Repressionen den protestbereiten Teil der Gesellschaft ermutigen könnte, nach dem Motto: Der Würgegriff des Regimes wird schwächer, der Führer gibt klein bei.

    Der Skandal wegen der erzwungenen Landung der Ryanair-Maschine in Minsk und der Festsetzung des Regimegegners Roman Protassewitsch, der sich an Bord befunden hatte, sprühte zusätzlich eine gehörige Menge Kerosin in den lodernden Konflikt. Jetzt neigt man in Brüssel und Washington dazu, das Regime in Belarus auch als Gefahr für die internationale Sicherheit zu betrachten. Wie soll es da einen Dialog geben? Zumal in der Minsker Rhetorik keinerlei Kompromissbereitschaft zu erkennen ist. Der Ton ist weiterhin angriffslustig und drohend. 

    Die Regierung ist nicht bereit, einen Rückzieher zu machen

    Doch selbst wenn man westliche Politiker als Halunken bezeichnet, ist die belarussische Führung prinzipiell nicht gegen eine Befriedung, weil dieser höllische Zwist, so sehr man auch den Dicken markiert, die wirtschaftlichen Interessen bedroht. Unter die neue Sanktionen fallen jetzt auch Michail Guzerijew, Alexander Saizew, Alexej Olexin, Sergej Teterin und Alexander Schatrow, die als „Lukaschenkos Brieftasche“ gelten.

    Minsk möchte sich allerdings lediglich zu den eigenen Bedingungen versöhnen und nichts von demokratischen Ultimaten hören.
    „Zum jetzigen Zeitpunkt ist die belarussische Regierung nicht zu einem Rückzieher bereit“, meint Andrej Fjodorow, Experte für internationale Politik.

    Er vermutet in einem Kommentar für das Nachrichtenportal Naviny.by, dass die Regierung einen Teil der politischen Häftlinge freilassen könnte, um ein Signal an den Westen zu senden. Der Druck auf die Zivilgesellschaft dürfte aber aufrechterhalten werden. Man werde wohl einige Organisationen schließen, werde aber, „anders als bei Tut.by, ohne Verhaftungen vorgehen“.

    Waleri Karbalewitsch, ein Experte des Minsker Thinktanks Strategija, befürchtet, dass nach der Verhängung wirklich harter Sanktionen „von einer Amnestie nicht mehr die Rede sein wird“. Seine Prognose lautet, dass das Regime auf diese Schritte des Westens mit einer Verschärfung der Repressionen antworten wird, insbesondere gegen Medien.

    Bezeichnend sei hier die Absicht des Innenministeriums, durchzusetzen, dass sämtliche Inhalte des zerschlagenen Portals Tut.by per Gericht als extremistisch eingestuft werden, erklärt der Experte in einem Kommentar für Naviny.by. Einen derartigen Ansatz könnte die Regierung dann auch auf andere unabhängige Medien ausweiten, meint Karbalewitsch.

    Dadurch bliebe den Journalisten nur, „entweder das Land zu verlassen oder ins Gefängnis zu wandern oder den Beruf zu wechseln“.

    Mit der Verschärfung der Sanktionen gerät der Westen in ein moralisches Dilemma, da das Regime in Belarus sich kaltblütig und systematisch an jenen rächt, die es für eine Fünfte Kolonne seiner Feinde im Ausland hält.

    Wobei laut einiger Experten das Regime aufgrund zu großer Anspannung müde ist und unweigerlich versuchen wird, wenigstens für den Anfang die Spannungen an der Westfront zu reduzieren.

    Minsk erhöht den Einsatz 

    In nächster Zeit werde ein „Prozess in zwei Richtungen“ zu beobachten sein, meint Igor Tyschkewitsch, Experte am Ukrainski institut buduschtschego (dt. Ukrainisches Zukunftsinstitut) in einem Kommentar für Naviny.by. Einerseits werde der Druck auf die Zivilgesellschaft weitergehen, andererseits sei eine Amnestie für politische Häftlinge zu erwarten – wenn nicht zum Unabhängigkeitstag am 3. Juli, dann vielleicht zum 17. September (an diesem Datum wurde ein neuer Feiertag eingeführt, der „Tag der Einheit des Volkes“).

    Nach der Vorstellung des Entwurfs für eine neue Verfassung, die „irgendwann zum September hin“ erfolgen werde, werde die Regierung mit dem Westen „herumhandeln“, lautet Tyschkewitschs Prognose. Er glaubt, dass über diplomatische Kanäle „bereits die ersten Beratungen [in dieser Richtung] laufen“.

    Was die Repressionen betrifft, so hat die Regierung „ihre Arbeit im Wesentlichen getan“, jetzt „werden die Reste erledigt“. Heute sorgt einfach jeder Fall von Repression für besonderes Aufsehen, doch habe es im Februar beispielsweise mehr solcher Fälle gegeben, meint der Experte.

    Die Fortführung der Repressionen lasse sich unter anderem dadurch erklären, dass Minsk „den russischen diplomatischen Traditionen folgt: Vor dem Beginn wichtiger Verhandlungen wird der Einsatz maximal erhöht“.

    Die Opposition soll aus einem Dialog mit dem Westen herausgehalten werden

    Tyschkewitsch ist der Ansicht, Minsk werde die westlichen Akteure mit der Aussicht auf Veränderungen im politischen System und auf die Einführung gewisser demokratischer Elemente locken. „Der Westen wird sich auf die eine oder andere Weise auf einen Dialog einlassen. Vielleicht nicht sofort, aber er wird reagieren müssen“, meint er gegenüber Naviny.by. Dem Westen sei klar, dass er „in der heutigen Konfiguration [des politischen Systems] Lukaschenko durch Sanktionen nicht wird stürzen können“.

    „Die Blockade“ im Dialog mit der EU und den USA könnte Anfang des kommenden Jahres „gelöst werden“. Dabei werde Minsk „auf seinem eigenen Algorithmus beharren“ – eine etwas demokratischere Verfassung, ein neues Wahlgesetzbuch und dann Wahlen, lautet seine Prognose.

    Werden sich die ausländischen Teams von Lukaschenkos Widersachern  in diesen Prozess einschalten können? Tyschkewitsch meint, sie müssten ihren Politikstil und den Kommunikationsansatz ändern, wenn ihre Anführer nicht das gleiche Schicksal ereilen soll, wie Juan Guaidó (der venezolanische Oppositionsführer, der nach einer Reihe politischer Misserfolge von der EU nicht mehr als rechtmäßiges Staatsoberhaupt anerkannt wurde).

    Für die ausländischen Teams der Opponenten des Regimes in Belarus sei es wichtig „zu versuchen, auf die Schlüsselfrage zu antworten: Was werdet ihr mit Belarus machen?“

    Stand heute gebe es „eine Reihe von Parolen und Erklärungen, dass der Westen uns Geld geben wird. Doch wo sind die Vorschläge für die Vertreter der Agrarwirtschaft, des Maschinenbaus, der Sicherheitsbehörden, der Mitarbeiter im Bildungswesen? Da geht es darum, was man öffentliche Politik nennt. Bislang allerdings arbeiten die Widersacher Lukaschenkos im Modus „revolutionäre Propaganda“. Und hierbei sind sie in starkem Maße ein Spiegel von Alexander Lukaschenko“, meint Tyschkewitsch.

    Brisante Mischung mit möglicherweise heftiger Wirkung

    Wenn wir von Versuchen sprechen, auf das Regime einzuwirken, müssen wir auch den Faktor Russland berücksichtigen. Die belarussische Führung erklärt, sie werde den Schaden durch die westlichen Sanktionen über eine verstärkte Zusammenarbeit mit Russland und der Eurasischen Wirtschaftsunion ausgleichen.

    Moskau hat es offensichtlich nicht eilig, einfach so Geld zu geben und verbilligte Energieträger zu liefern. Es wäre aus Sicht des Kreml dumm, die beklagenswerte Lage des Verbündeten nicht für seine Interessen und eine stärkere Anbindung von Belarus auszunutzen.

    Sollte der Kreml – und auch der Westen – starken Druck ausüben und das Regime in Belarus in die Zange nehmen, dann dürfte es den „Weg nach Osten“ wählen. Es würde seine Abhängigkeit von Russland verstärken und Teile seiner Souveränität aufgeben, erläutert der internationale Politikexperte Andrej Fjodorow.

    Auch diese wahrscheinliche Wirkung der verschärften Sanktionen stellt für die EU und die USA ein Problem dar. Derzeit sieht es so aus, als würden sie nach dem Prinzip vorgehen: „Tue, was du tun musst, komme, was wolle“.

    Die Verfechter von Sanktionen bauen darauf, dass die Sanktionen das Regime niederringen werden, bevor das Land seine Souveränität an Moskau opfert. 

    Und wenn man die Variante bedenkt, dass die Volksrevolution in irgendeiner Form das geschwächte Regime besiegt, so bedeutet das ebenfalls ein Risiko: Wenn Moskau plötzlich mit Panzern vorfährt, um – im eigenen Verständnis – rettend die Lage zu klären.

    Heute lässt sich nur eines prognostizieren, nämlich dass die Sanktionen einen kumulativen Effekt haben werden. An einem bestimmten Punkt wird sich Quantität in Qualität verwandeln. Die Stabilitätsreserven der belarussischen Wirtschaft sind nicht allzu groß, die Schwachstellen nehmen zu, und der Teufel weiß, wann die Wirtschaft des Landes zusammenbricht.

    Gleichzeitig wächst in der Gesellschaft der Grad der Unzufriedenheit, wobei sich zur politischen Unzufriedenheit jetzt auch die wirtschaftliche gesellt – und dies in zunehmendem Maße. Und an einem bestimmten Punkt könnte diese brisante Mischung hochgehen.

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  • Harte Landung

    Harte Landung

    Um 14.15 Uhr Ortszeit landet am vergangenen Sonntag die Ryanair-Maschine FR 4978 am Nationalen Flughafen von Minsk. Eigentlich hätte der Flug, der in Athen gestartet war, um 13 Uhr die litauische Hauptstadt Vilnius erreichen sollen, das eigentliche Ziel der Reise. Was den Piloten letztlich veranlasst hat, mit über 100 Passagieren und sechs Crewmitgliedern an Bord in der belarussischen Hauptstadt zu landen, darüber gibt es noch kein klares Bild. Denn in dem Moment, als die Boeing 737 sich über der belarussischen Stadt Lida befand, war sie Vilnius eigentlich näher als Minsk. In der offiziellen Erklärung, die vom Pressedienst des Minsker Flughafens veröffentlicht wurde, heißt es, dass das Flugzeug ein Notsignal abgegeben und sich an den Minsker Flughafen gewandt habe mit der Bitte um Landung. Die Nachricht sei um 12.50 Uhr Minsker Zeit eingegangen, berichtet Tut.by in einer detaillierten Recherche. Dann wird die Faktenlage unklarer. Denn ursprünglich ist in den offiziellen Kanälen der belarussischen Machthaber von einer Bombendrohung die Rede. Am Sonntagabend heißt es von offiziellen belarussischen Stellen dazu, dass man diese aus Informationen der Hamas erhalten habe, was von der Hamas aber kurze Zeit später dementiert wird. Jedenfalls macht sich der Ryanair-Flug auf den Weg nach Minsk, mittlerweile ist ein Kampfjet der belarussischen Luftwaffe aufgestiegen, angeblich auf Befehl von Alexander Lukaschenko, der die Aktion persönlich geleitet haben soll. Die MiG 29 begleitet Flug FR 4978 nach Minsk. 

    Nach der Landung müssen die Passagiere die Maschine verlassen, ihr Gepäck wird mehrmals von Sicherheitsbeamten durchsucht. Die mehrstündige Aktion findet neben dem Flugzeug statt, was für eine angebliche Bombendrohung zumindest ungewöhnlich erscheint. Schließlich werden zwei Passagiere festgenommen: Der Belarusse Roman Protassewitsch und dessen Freundin Sofia Sapeha, eine russische Staatsbürgerin. Protassewitsch war Chefredakteur des Telegram-Kanals Nexta, der seit dem Beginn der Proteste in Belarus nach dem 9. August 2020 zu einer der wichtigsten Informationsquellen für die Ereignisse in dem osteuropäischen Land avancierte. Der Kanal wurde von den Machthabern in Belarus als „extremistisch“ eingestuft. Der 26-jährige Protassewitsch, der bereits seit 2019 in Polen lebt, stand auf der Fahndungsliste der belarussischen Machthaber. Nach Bekanntwerden der Festnahmen macht in den sozialen Medien schnell eine Anschuldigung die Runde: Die Landung in Minsk sei eben wegen Protassewitsch erzwungen worden. Nexta ließ die Vermutung verlautbaren, Lukaschenko habe mit einem Verstoß gegen alle Gesetze ein Flugzeug „gekapert“. Das offizielle Minsk verteidigte sein Vorgehen, das nun „bewusst politisiert“ werde.

    Das Vorgehen des Lukaschenko-Staates wurde noch am Sonntagabend von zahlreichen Regierungen und Organen der EU scharf kritisiert. Dem Autokraten wurde „Luftpiraterie“ vorgeworfen. Zahlreiche Fluggesellschaften haben angekündigt, den belarussischen Luftraum ab sofort umfliegen zu wollen. Bereits am Montag verkündete die EU neue Sanktionen, unter anderem soll der Luftraum über der EU für belarussische Maschinen gesperrt werden. Zudem wurde die unverzügliche Freilassung von Protassewitsch gefordert, dem nach belarussischen Gesetz bis zu 15 Jahren Haft oder sogar die Todesstrafe drohen könnten. Am Montagabend verbreiteten mehrere staatliche Kanäle in Belarus ein Video von Protassewitsch, in dem er – sichtlich unter Druck stehend und mit Verletzungen und blauen Flecken im Gesicht – seine vermeintliche Schuld eingestand.

    Warum ausgerechnet Protassewitsch? Was bedeutet dieses beispiellose Ereignis für die belarussische Opposition und für die internationale Staatenwelt? Hat der russische Präsident Putin Lukaschenko den Rücken für diese Aktion freigehalten, war der Kreml letzten Endes womöglich sogar beteiligt? Auf diese und andere Fragen versucht der belarussische Journalist Alexander Klaskowski in seiner Analyse für Naviny.by Antworten zu finden.

    Offiziell versucht Minsk alles so darzustellen, als sei Protassewitsch ganz zufällig gefasst worden. Eigentlich habe Belarus aber Europa vor einer Gefahr gerettet (und was, wenn nun tatsächlich eine Bombe an Bord gewesen wäre, hm?!), und nur deswegen habe es den ausländischen Linienflieger, der von Athen nach Vilnius flog, zur Landung gezwungen.

    Ihren Reaktionen nach zu urteilen glauben Europa und Washington einer so unschuldigen Version nicht mal ansatzweise. Die dortigen Politiker gehen vielmehr davon aus, dass das Regime, um seinen Feind einzufangen, das Leben von EU-Bürgern und die Flugsicherheit gefährdet hat. Schwere Vorwürfe wurden laut. Die Entführung eines Flugzeugs auf Geheiß der Behörden bezeichnete Ryanair-Chef Michael O’Leary als „staatlich gesponsorte Piraterie“. Er deutete an, dass sich an Bord des Flugzeugs mehrere KGB-Agenten befunden hätten.

    Den Kommentaren in den Medien und Sozialen Netzwerken nach zu urteilen vermuten auch viele unabhängige Experten und belarussische Bürger hinter dieser verrückten Geschichte eine gut durchdachte Aktion der belarussischen Geheimdienste. Umso mehr als die großen Bosse mit den Schulterklappen zuvor öffentlich gedroht hatten, die ihren Worten zufolge „blutrünstige“ Opposition wo auch immer zu ergreifen. Die Geschichte von der Festnahme Protassewitschs schlägt genau in diese Wir-haben-lange-Arme-Kerbe. Das breite Publikum nun von einer anderen Interpretation zu überzeugen, ist also eine – nun, sagen wir mal: sehr undankbare Aufgabe.

    Warum ausgerechnet Protassewitsch?

    Der Blogger und Journalist Protassewitsch ist 2019 nach Polen emigriert. Er hat der belarussischen Machtelite natürlich ordentlich in die Suppe gespuckt, als er im vergangenen Jahr bei Ausbruch der Massenproteste einen Telegram-Kanal redaktionell verantwortete [den Kanal Nexta – dek], den die Behörden schließlich als „extremistisch“ einstuften.

    Die Welle der belarussischen Revolution hat das Regime ins Wanken gebracht und seine Führung eindeutig in Angst versetzt. Und einige Telegram-Kanäle schienen tatsächlich die Straßenproteste zu koordinieren und führten einen harten Infokampf gegen das Regime. Deswegen wurde gegen Protassewitsch auch ein Strafverfahren aufgrund von drei Paragraphen eingeleitet.

    Aber jetzt sind die Proteste dem Erdboden gleichgemacht. Zu koordinieren gibt es da nichts mehr. Warum ist die Verhaftung Protassewitschs den Machthabern ausgerechnet jetzt so wichtig, dass sie sogar all die unangenehmen Konsequenzen aus dem Ausland in Kauf nehmen?

    „Hier geht es nicht so sehr um rationale, als vielmehr um emotionale Aspekte. Zum Beispiel um den Wunsch, sich für die Schockmomente zu rächen, die die Machthaber im letzten Jahr durchgemacht haben“, so Waleri Karbalewitsch vom analytischen Zentrum Strategija in Minsk.

    Außerdem sei den Machthabern wichtig, durch den Fang eines Feindes ihre Anhänger zu motivieren, „so nach dem Motto, schaut her, wie cool wir sind“, sagt der Analyst in einem Kommentar auf Naviny.by.

    Die Verhaftung Protassewitschs passe gerade in propagandistischer Hinsicht gut ins Konzept: „Womöglich wird er etwas erzählen, und dann heißt es im Fernsehen: Schaut her, die westlichen Geheimdienste haben eine Farbrevolution in Belarus eingefädelt.“

    In der Tat hat die belarussische Führung schon seit Beginn der Proteste die Verschwörungserzählung forciert, dass Saboteure im Westen diesen ganzen Brei angerührt hätten. Und wir haben schon gesehen, dass die hiesigen Silowiki imstande sind, die Zungen der Verhafteten zu lösen. Also ist nicht ausgeschlossen, dass man Protassewitsch etwas in den Mund legen wird – um Leute zu diskreditieren, die gegen das System von Alexander Lukaschenko kämpfen, und besonders diejenigen, die er „Flüchtige“ nennt.

    Und natürlich wird mit dem Aufgreifen Protassewitschs das Ziel verfolgt „den Anführern der emigrierten Opposition einen Schreck einzujagen“, unterstreicht der Gesprächspartner von Naviny.by.

    Es sei noch hinzugefügt, dass dieser Plot, der so manchen Blockbuster aus Hollywood in den Schatten stellt, sicherlich den gesamten Protest der belarussischen Gesellschaft beeindrucken wird. Als wollten die Machthaber zeigen: Wenn wir sogar die kriegen, die sich mit der Ausreise in Sicherheit wähnten, dann können wir euch, liebe Täubchen, sowieso jederzeit in die Mangel nehmen.

    Über die Folgen dieser Geschichte, die bereits heftigen Widerhall in der Welt gefunden hat, hat man sich in den belarussischen Machtstrukturen nicht allzu viele Gedanken gemacht, besser gesagt „man erwartet nicht, dass es besonders weitreichende Folgen geben wird“, so Karbalewitsch.

    Lukaschenkos Krieg mit dem Westen spielt Moskau in die Hände

    Moskaus Reaktion auf diesen Skandal ist interessant: Die Sprecherin des russischen Außenministeriums hat in ihrer typischen Manier versucht, dem Westen die Leviten zu lesen. Dieser, so Maria Sacharowa, solle sich doch mal erinnern an die „Zwangslandung des Flugzeugs des Präsidenten von Bolivien in Österreich auf Ersuchen der Vereinigten Staaten; und an die Ukraine, wo ein belarussisches Flugzeug mit einem Antimaidan-Aktivisten elf Minuten nach dem Start zur Landung gezwungen wurde“.

    Doch so viel Whataboutism hat sich als tölpelhaft erwiesen: Denn damit gibt man indirekt zu, dass Minsk, als es das irische Flugzeug zur Landung zwang, eine Sonderoperation durchgeführt hat.
    Insgesamt hat Moskau allerdings zurückhaltend reagiert. Putins Pressesprecher Dmitri Peskow kommentierte den Ryanair-Vorfall nicht weiter: die internationalen Luftfahrtbehörden sollten die Situation bewerten, sagte er nur. Der russische Außenminister Sergej Lawrow plädierte dafür, „die Situation nicht im Eifer des Gefechts und nicht übereilt zu bewerten, sondern auf Grundlage aller verfügbaren Informationen“.

    Mit anderen Worten: Die russische Führung scheint nicht bereit zu sein, vorbehaltlos für ihren Verbündeten einzustehen. Warum nicht?

    Der Minsker Analyst Andrej Fjodorow schließt in seinem Kommentar für Naviny.by nicht aus, dass die belarussischen Behörden geplant hatten, Moskau in den Skandal mit der Zwangslandung und der Festnahme von Protassewitsch hineinzuziehen: „Wenn Moskau [in dieser Geschichte] Schulter an Schulter mit Minsk kämpfen würde, hätte es keine Handhabe, [die belarussische Regierung] bei Verfassungsreformen, Machttransfer und so weiter unter Druck zu setzen.“ So sieht der Analyst eine mögliche Logik der belarussischen Seite.

    Moskau würde nur ungern in eine Angelegenheit hineingezogen, in der die Minsker Argumente nicht sehr überzeugend klingen. Der Kreml will seine Vorteile in den Verhandlungen mit Lukaschenko nicht verlieren, sagt der Gesprächspartner von Naviny.by.

    Man muss jedoch anmerken, dass einige Kommentatoren meinen, dass bei der Verhaftung von Protassewitsch auch russische Geheimdienste ihre Hand im Spiel hatten. 

    So oder so, der Skandal mit dem Ryanair-Flugzeug und die Inhaftierung des ausgewanderten Oppositionellen ist für Moskau von Vorteil, glaubt Karbalewitsch: „Lukaschenko ist isoliert; neue Konfrontation mit dem Westen; die Brücken werden abgebrochen.“

    Minsk setzt noch auf Verhandlungen, doch vorläufig wächst sich der Konflikt weiter aus

    Im Prinzip sieht es wie ein politische Gesetzmäßigkeit aus: Je schlechter Lukaschenkos Beziehungen mit dem Westen sind, desto abhängiger ist er vom Kreml. Die Geschichte mit Protassewitschs Gefangennahme schwächt also potenziell Lukaschenkos Position in Richtung Osten.

    Das zieht allerdings auch die Europäische Union in Betracht, wenn sie Sanktionen gegen das belarussische Regime ausarbeitet. In Brüssel befürchtet man traditionell, dass übermäßiger Druck auf Belarus das Land immer stärker an Russland bindet.

    Die zweite Sorge des Westens gilt den möglichen Gegensanktionen: Das Regime könnte die Opposition, die zivilgesellschaftlichen Strukturen und die unabhängigen Medien im Land endgültig zerstören. Im April hat der belarussische Außenminister Wladimir Makei ein solches Szenario ganz offen umrissen: Falls die Sanktionen verschärft würden, „wird es diese Zivilgesellschaft nicht mehr geben, um die sich unsere europäischen Partner so sehr sorgen“.

    Die belarussischen Behörden rechnen offensichtlich damit, dass der Westen mit seinem „verfaulten Humanismus“ kalte Füße bekommt und keine härtere Gangart einlegen wird.

    Andere Kommentatoren meinen, dass die belarussische Führung, die die europäischen Politiker für Schwächlinge hält, mit dem Ryanair-Flugzeug dem kollektiven Westen auf den Zahn fühlt: Wird er auch diese Pille schlucken?

    Darüber hinaus könnte Protassewitsch, den belarussische Menschenrechtler bereits als politischen Gefangenen anerkannt haben, hinter Gittern (zusammen mit den anderen bekannten Persönlichkeiten) zu einem wertvollen Faustpfand werden in den voraussichtlichen Verhandlungen des Regimes mit dem Westen, in denen es um einen Ausweg aus der Isolation und das Auftauen der Beziehungen gehen wird. Darin liegt ein weiteres Motiv der Regierung, die Kosten für die sensationelle Landung des irischen Flugzeugs in Minsk in Kauf zu nehmen.

    Werden solche Berechnungen aber aufgehen? Wie ein Schneeball sammelt diese ganze Geschichte bis jetzt üble Konsequenzen an. Vor dem Hintergrund des Skandals mit dem Flugzeug entflammte ein diplomatischer Konflikt mit Lettland. Minsk gab bekannt, dass es nicht nur seinen Botschafter, sondern die gesamte Botschaft wegen des Vorfalls mit der belarussischen Staatsflagge in Riga abberuft. Lettland reagierte symmetrisch.

    Der Knoten des Konflikts mit dem Westen zieht sich immer fester zu. Und in Belarus wird alles noch düsterer.

  • „Der Zusammenbruch könnte unerwartet kommen“

    „Der Zusammenbruch könnte unerwartet kommen“

    Der Tag der Freiheit, der am 25. März zu Ehren der Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik im Jahr 1918 begangen wurde, war für die Opposition nicht der erhoffte Aufbruch in eine zweite große Protestwelle. Die belarussischen Machthaber hatten vor allem in Minsk massiv polizeiliches und militärisches Gerät und Sicherheitskräfte aufgefahren. Den ganzen Tag über sowie an den Folgetagen kam es im ganzen Land zu Hausdurchsuchungen bei NGOs und Medien und zu Festnahmen. Am 25. und 26. März waren es laut der Menschenrechtsorganisation Viasna 96 über 200 Menschen, am 27. sogar 247

    Der Journalist Alexander Klaskowski liefert in seiner aktuellen Analyse für das belarussische Medienportal Naviny.by Gründe für den ausgebliebenen großen Protest. Dabei kommt er auch zu der Feststellung, dass das System Lukaschenko trotz der Machtdemonstration zum Tag der Freiheit ziemlich ausgelaugt wirke.

    Direkt am Tag der Freiheit, am 25. März, gab es eine Reihe lokaler Aktionen – verhaftet wurden laut Angaben des Innenministeriums mehr als 200 Menschen. Für Samstag, den 27. März, sprechen zu dem Zeitpunkt, wo diese Zeilen geschrieben werden, Bürgerrechtler von knapp 190 Verhaftungen, darunter eine Vielzahl von Journalisten.

    Die Pressesprecherin des Innenministeriums Olga Tschemodanowa berichtete in ihrem Telegram-Kanal unter der Überschrift Die Protestbewegung in Belarus geht gen Null, dass es „in keiner Region des Landes eine nicht genehmigte Massenveranstaltung gab“. Nur in Minsk seien „vereinzelte Gruppen mit nicht offiziell registrierter Symbolik gesehen worden, ein paar Demonstranten wurden zur Klärung in Polizeireviere gebracht.“

    Tatsächlich – trotz der Aufrufe an die Belarussen in einigen Telegram-Kanälen und von Pawel Latuschko, einem Anführer der politischen Opposition, auf die Straße zu gehen – ist weder am 25. noch am 27. März ein fulminanter Start des heißen Frühlings gelungen. Diejenigen, die am Samstag versuchten, zum Treffpunkt vorzudringen, wurden präventiv festgenommen. Viele kreisten in der Nähe vom [im Laufe des Tages über Telegram bekannt gegebenen Treffpunkt – dek] Platz Bangalor und sorgten dafür, nicht erkannt zu werden.

    Die Machthaber hatten sich vor dem Tag der Freiheit gefürchtet. Die Sicherheitskräfte wurden intensiv vorbereitet. Die Richter schmiedeten in den vergangenen Wochen demonstrativ harte Urteile gegen Protestteilnehmer vom letzten Jahr. Angekündigt wurde auch eine Verschärfung der Strafgesetzgebung. Am 25. und 27. März war die Hauptstadt überflutet von Menschen in Uniform, Zivilpolizisten, Wasserwerfern, Gefängnistransportern und anderem technischen Gerät. Das zeigte Wirkung.

    Warum sind die Belarussen lieber zu Hause geblieben?

    Und nun, wo klar ist, dass die Situation ohne besondere Exzesse unter Kontrolle gehalten werden konnte, atmet da ein Alexander Lukaschenko erleichtert auf? Denn nach außen wirkt es ja so, als hätte er die Proteste erstickt. Ja, mit harten Methoden, viele Belarussen sind wütend, er ist heftig zerstritten mit dem demokratischen Teil der Welt – aber er hat sie erstickt. Oder nicht ganz?

    „Zu sagen, dass alles erstickt, gesäubert und zum Schweigen gebracht wurde, wäre falsch“, meint der Politikexperte Juri Drakochrust. Gegenüber Naviny.by betonte er, dass vom 25. bis 27. März unterschiedliche Demonstrationsformen zu beobachten gewesen seien: Feuerwerk, aus dem Fenster gehängte weiß-rot-weiße Flaggen, lokale Hofaktionen, „und manch einer hat auch versucht, auf den Bangalor zu kommen“.

    Wobei der Experte unterstreicht, dass der Tag der Freiheit bislang immer ein Höhepunkt der Protestaktionen war. Dass es dieses Mal so bescheiden ablief, lässt folgende „Trendprognose“ zu: „Wahrscheinlich wird der ganze Frühling so.“

    Wobei man festhalten muss: Im vorigen Jahr hatte fast niemand vorhergesehen, dass es im August solch heftige Proteste geben würde.
    Warum sind die Belarussen jetzt lieber zu Hause geblieben? Drakochrust sieht hierfür hauptsächlich zwei Gründe. Erstens haben die Machthaber ihnen Angst eingejagt und zweitens setze der Müdigkeitsfaktor ein: „Ein derartiger gesellschaftlicher Aufbruch, ein solcher Drive lässt sich auf diesem Niveau nicht ewig aufrechterhalten.“ Nach einer derartig heftigen Flut wie vergangenes Jahr, komm jetzt erstmal politische Ebbe, so Drakochrust. 

    Gewalt ist die Stütze des Systems

    Allem Anschein nach zu urteilen, habe Lukaschenko die Situation unter Kontrolle gebracht. Aktuell sei seine Macht durch das Volk nicht bedroht, so der Politikexperte des Zentrums Strategie in Minsk Waleri Karbalewitsch. Der denkt ebenfalls, dass die Proteste im aktuellen Frühling kaum mit denen im vergangenen Jahr zu vergleichen sein werden.

    Gleichzeitig, meint der Politologe, passe die gängige Metapher vom Moorbrand gut auf die heutige Situation in Belarus: Oben ist kein Feuer zu sehen, aber unten in der Tiefe lodert es.

    „Die Proteststimmung ist nirgendwohin verschwunden. Die Lage hat sich für Lukaschenko eklatant verändert, ihm ist klar, dass nicht die Gesellschaft seine Stütze ist, sondern die rohe Gewalt. Und das ist sein Problem“, meint Karbalewitsch.

    Speziell in den anstehenden Wahl- und Abstimmungskampagnen 2021 und 2022 sieht er eine Gefahr für das Regime. Nach Ansicht von Drakochrust könnten nicht nur diese Kampagnen einen neuerlichen Ausbruch der Protestaktivität hervorrufen, sondern auch wirtschaftliche Misserfolge der Regierung.

    Ferner, so der Experte, sei es schwer einzuschätzen, „wie schwerwiegend der Schock war, den die Staatsmacht im vergangenen Jahr erfahren hat, und wie brüchig und schwach das System heute ist.“ Man dürfe auch nicht vergessen, dass es während der Perestroika nicht so aussah, dass „das Volk revoltiert und die Macht der Kommunisten abgeschüttelt“ habe – das sowjetische System sei „quasi an jeder Stelle von innen heraus zerfallen.“ 

    Der Experte schließt nicht aus, dass die Ereignisse des vergangenen Jahres das System Lukaschenko enorm unterminiert und ins Wanken gebracht haben und „zum Vorspiel von dessen weiterer Destruktion“ geworden seien. Der Zusammenbruch könne unerwartet kommen, angestoßen beispielsweise durch wirtschaftliche Missstände.

    Drakochrust zieht eine Parallele zu den russischen Revolutionen: 1905 haben selbst die heftigen Kämpfe in der Krasnaja Presnja den Aufständischen nicht zum Sieg verholfen, während 1917 Brotkrawalle in Petrograd zur Abdankung des Zaren geführt haben.

    Der Machtapparat hat keine Antworten

    Lukaschenko hat bis spätestens Anfang 2022 ein Referendum zur neuen Verfassung versprochen. Die Volksabstimmung wird womöglich mit Regionalwahlen verknüpft und im Dezember durchgeführt, vor den Neujahrsfeierlichkeiten. Das bedeutet, dass die Abstimmungskampagne bereits im Herbst startet.

    Dann wird Lukaschenko vor einem Dilemma stehen: Falls er die Kampagne im brutalen Stil führt, werden die Legitimität der neuen Verfassung minimal, der Konflikt mit dem Westen verschärft und härtere Sanktionen wahrscheinlich. Falls er die Daumenschrauben lockert und dem Volk zumindest minimale Freiheiten in der Vorwahlzeit garantiert, dann könnte das System derart erschüttert werden, dass es aus den Fugen gerät. Eine gute Lösung gibt es für den Führer des politischen Regimes hier nicht.

    Auch in der Wirtschaft wird es keine guten Lösungen geben bei dem altmodischen, staatszentralistischen Ansatz, den Lukaschenko predigt. Wenn sie einfach Geld drucken, um den Staatssektor zu retten und die Haushaltslöcher zu stopfen (und diese geniale Idee scheint zu erstarken), dann wird ein großer Knall ähnlich dem von 2011 mit seiner enormen Devaluation und Hyperinflation sehr wahrscheinlich. So oder so wird die Wirtschaft ohne Reformen stagnieren oder schrumpfen.

    Schließlich ist auch der repressive Hammer eine riskante Methode. Eine über das Maß gespannte Sprungfeder kann plötzlich losschießen.
    Der Protest ist vorerst notdürftig niedergetreten. Aber auf die Fragen, die die Gesellschaft im vergangenen Jahr äußerst scharf gestellt hat, hat Lukaschenko keine Antworten. Das Regime wirkte noch nie so ausgelaugt wie jetzt. Genau so ausgelaugt war das sowjetische System in den 1980er Jahren – und sein Ende war bloß eine Frage der Zeit.

    Eine andere Sache ist, dass nach dem alten Sowok nicht das Paradies kam. Auch der Zerfall des Lukaschenko-Regimes bedeutet nicht, dass gleich die lichte Zukunft anbricht. Doch damit nicht genug, denn diese Perspektive birgt in sich ernsthafte Risiken, darunter auch eine russische Expansion. Aber das ist ein anderes Thema. 

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    Warum Lukaschenko nicht freiwillig gehen wird

    Auch vergangenen Sonntag, am 22. November 2020, gingen die Belarussen beim Marsch gegen den Faschismus wieder auf die Straße, um gegen Machthaber Alexander Lukaschenko zu protestieren. In der Hauptstadt Minsk hatten sich die Demonstranten eine andere Taktik ausgedacht, um der Strategie der Aufreibung durch OMON und andere Spezialeinheiten entgegenzuwirken. Diesmal formierten sich die Bewohner in den Bezirken selbst zu Kolonnen, waren ausschließlich in ihren Rajony unterwegs und zielten nicht darauf ab, sich im Zentrum mit anderen Menschenmengen zusammenzuschließen. Dennoch wurden fast 400 Personen festgenommen. Seit Monaten scheint das Regime nur eine Art der Konfliktlösung zu verfolgen: den der Gewalt und der Repressionen. Über diesen eindimensionalen Weg sagte die Belaruskennerin Astrid Sahm in einem Interview mit der Deutschen Welle: „Aber wenn dies der einzige Schritt ist, dann ist es ein Schritt ins Nirgendwo.“

    Lukaschenko hat seit August, als die Proteste im Zuge der Präsidentschaftswahl an Fahrt aufnahmen, auch immer wieder Dialogangebote oder Verfassungsreformen in den Raum gestellt. Für Januar ist eine sogenannte Allbelarussische Volksversammlung angekündigt, die Lösungsvorschläge erörtern soll. Gleichzeitig hat Lukaschenko häufig betont, dass er seinen Posten, den er bereits seit 1994 innehat, nicht freiwillig räumen werde. Sind die Dialogangebote von Seiten Lukaschenkos also ernst zu nehmen? Verstehen Machtvertikale und Silowiki-Strukturen überhaupt, wie ernst die Lage ist? Wie geht es weiter in Belarus?

    Diesen Fragen geht der renommierte Analytiker und Journalist Alexander Klaskowski in einem Beitrag für das belarussische Internetportal Naviny nach. Dabei zeigt er auch auf, wie umfassend und tiefgreifend die Krise in Belarus tatsächlich ist.

    „Ich werde diesen Posten verlassen, wenn es an der Zeit ist. Wozu denn ‚sofort‘? ‚Sofort‘ ist gefährlich. Mit Verabschiedung der Verfassung und so weiter plane ich jetzt präzise und fristgemäß auf einer landesweiten Volksversammlung öffentlich zu erklären, wie und unter welchen Umständen wir weiter vorgehen“, erklärte Lukaschenko.

    Mit wem will sich der Machthaber einigen? 

    Der Mann, der seit 27 Jahren [sic!] an der Macht ist, hatte vor nicht allzu langer Zeit schon einmal eingestanden, er würde „schon ein wenig zu lange auf diesem Posten sitzen“. Darüber, dass er die Macht satthabe, lamentiert er seit Anfang der 2000er Jahre. Nur ist nach seiner Auslegung nie der richtige Zeitpunkt, um zu gehen, weil innere und äußere Feinde das Land bedrohen. Obendrein ist der Machthaber ja großherzig und will seine Gefährten nicht den Wölfen zum Fraß vorwerfen. 

    Diese Haltung klang auch in einem Interview vom 13. November an: „Außer Belarus habe ich nichts. Ich habe mich daran festgeklammert und lasse es nicht los. Weil ich weiß, was ihm zustoßen könnte. Und ihr auch, ihr wisst, was ihm zustoßen wird. Ich kann die Menschen nicht verraten und im Stich lassen.“

    Nun ja, er sitzt dort schon zu lange, andererseits hat er Angst ums Land. Was ist die Lösung? Nach Auffassung des Machthabers „muss man sich in Ruhe einigen. Beim Abgang Lukaschenkos möge im Land Ruhe und Frieden herrschen. Alle Regierungsorgane mögen funktionieren. Es bedarf einer friedlichen und ruhigen Atmosphäre. Und fair möge es sein. Wählt das Volk diesen, so soll er es sein, wählt es jenen, so soll es jener sein …“

    Gut, aber mit wem will sich Lukaschenko einigen? Er äußerte sich positiv über die Initiative von Juri Woskressenski, der aus der Untersuchungshaft des KGB entlassen wurde: Der habe „schon ein paar Dutzend Leute um sich versammelt, die an dem Dialog teilnehmen werden“. Lukaschenko versprach, sich mit ihnen zu treffen.  

    Damit nannte er Punkte eines Projekts, hinter dem selbst ein Blinder den Geheimdienst sieht: ein Pseudodialog mit einer Pseudoopposition. Gleichzeitig verkündete der Machthaber, „mit Verrätern und Terroristen“ sei er zu keinem Dialog bereit. Unter diese Kategorie fallen offensichtlich alle, die beim Projekt „Woskressenski“ nicht mitmachen wollen. 

    Auch den Dialog mit seiner wichtigsten Gegnerin Swetlana Tichanowskaja hat Lukaschenko abgelehnt: „Was soll ich mit einem Menschen besprechen, der mich gebeten hat: ‚Helfen Sie mir, Belarus zu verlassen, ich möchte zu meinen Kindern (sie hatte ihre Kinder vorsorglich nach Litauen geschickt).‘ Sie hat Belarus verlassen und schadet dem Land mit allen Mitteln. Was soll ich mit ihr besprechen? Wir haben keine gemeinsamen Themen.“

    Wer soll denn das Affentheater glauben? 

    Lassen wir die Frage beiseite, warum Tichanowskaja in Vilnius ist (laut ihren Bekannten war sie schwerster Erpressung durch ranghohe Sicherheitsbeamte ausgesetzt).

    Wie dem auch sei, es gibt genug Beweise, dass am 9. August 2020 Millionen Belarussen für Tichanowskaja gestimmt haben. Sie vom Dialog auszuschließen, bedeutet, den Willen dieser Millionen Bürger zu ignorieren, die immer noch in Belarus sind und sich nicht damit abfinden werden, dass man ihre Stimmen stiehlt. 

    Gleichzeitig werden die Protestierenden dämonisiert, als Radikale oder Abfall der Gesellschaft verunglimpft. Hier widerspricht sich Lukaschenko allerdings selbst, wenn er im selben Atemzug verkündet, es gingen nur Bewohner aus Luxusbezirken auf die Straße, die völlig übersättigt seien. So oder so werden auch diese Menschen vom Dialog ausgeschlossen. Wie kann dann überhaupt noch von einer Befriedung der Gesellschaft die Rede sein?

    „Sie sollten Protestierende nicht mit Oppositionellen verwechseln. Die haben nichts gemeinsam“, erklärte Lukaschenko. Er plant also eine gemütliche Zusammenkunft unter Gleichgesinnten, und zur Augenwischerei sind ein paar Pseudo-Oppositionelle (mittlerweile sicher Spitzel beim Geheimdienst) mit von der Partie. Aber wer soll diesem Affentheater glauben?

    Weiterhin setzt er immer noch auf die einzig dekorativen Zwecken dienende Allbelarussische Volksversammlung, in der es gar keinen Widerstand gegen seinen Verfassungsentwurf geben kann. Anders gesagt: Lukaschenko will die neue Verfassung in tiefstem Eigeninteresse schreiben.  

    Ein Referendum unter Machtmissbrauch und Willkür?

    Zugegeben, der Machthaber verspricht Befugnisse abzugeben, einige davon sogar schon jetzt: „Wir haben 57 oder 70 Befugnisse des Präsidenten gezählt, die nach der jetzigen Verfassung auch anderen Regierungsorganen überantwortet werden können.“ Schon die Zahl dieser großzügig abzugebenden Befugnisse lässt vermuten, dass es sich dabei um Peanuts handelt. 

    Zudem soll die neue Verfassung durch ein Referendum bestätigt werden. Wohlgemerkt unter demselben Regime, das nicht einmal mehr seine eigenen, oftmals drakonischen Gesetze ausführt. Mit derselben Zentralen Wahlkommission, die zu 120 Prozent von Lukaschenko kontrolliert wird. Und höchstwahrscheinlich nach demselben Muster des Machtmissbrauchs wie die letzte Präsidentschaftswahl. Denn anders könnte Lukaschenko kein Referendum gewinnen, wenn man bedenkt, wie viele Belarussen seine Politik ablehnen. 

    Hält man das Referendum allerdings unter Machtmissbrauch und Willkür ab, könnte eine noch größere Protestwelle folgen. Zum anderen wäre eine Verfassung, die Lukaschenko durchbringt, indem er die Meinungsfreiheit erstickt, wertlos und sicher kein Ausweg aus der innenpolitischen Krise.

    Aus Lukaschenkos Aussagen vom 13. November geht außerdem klar hervor, dass die Repressionen nicht aufhören werden. Er prophezeit eine Wirtschaftskrise und einen heißen Frühling. Was mit der Wirtschaft zu tun ist, davon hat der Machthaber keine Ahnung, aber den heißen Frühling will er mit allen Mitteln verhindern. 

    „Es ebbt ab – sie brauchen gewichtige Ereignisse, um die Proteststimmung wieder anzuheizen und bis zum Frühling durchzuhalten, wie sie es vorhatten. Aber wir werden säubern, wir werden sie finden – wir kennen jeden einzelnen von ihnen“, versprach Lukaschenko. Wenn das mal keine Einladung zum Dialog ist!

    Was will die Gesellschaft nur bloß?

    Wichtig ist außerdem, dass Lukaschenko die Ereignisse im Land als einen vom Ausland befeuerten Aufstand darstellt. Er versichert, seine politischen Gegner wollten „Belarus zu einer Provinz Polens machen“. Während in ausländischen Zentren, die für Aufruhr sorgten, Amerikaner säßen, „die leider ein zweites Zentrum in der Ukraine errichtet haben. Damit sie gegen Belarus arbeiten können. Aber wir haben dieses Zentrum im Blick“.

    Die Interviewer haben leider nicht nachgehakt, was denn aus den militärischen Ausbildungszentren bei Pskow und Newel geworden sei, von denen die Silowiki vor den Wahlen gesprochen hatten. Damals kursierte noch die Legende, dass die Strippenzieher im imperialen Russland säßen. Und wohin sind eigentlich die zweihundert russischen Soldaten verschwunden, die sich angeblich in den belarussischen Wäldern versteckten?

    Aber wir wollen uns nicht an Details hochziehen. Wichtig ist hier die Denkweise. Lukaschenko und seine Clique halten es scheinbar für ausgeschlossen, dass die Belarussen ohne Strippenzieher etwas ganz Grundlegendes wollen, wovon schon Kupala vor hundert Jahren schrieb: „Sich Mensch Nennen.“

    In einem Interview erklärte Lukaschenko, in Belarus hätte es keine Gründe für Protest gegeben, nichts hätte auf ihn hingedeutet. Das zeugt davon, dass die Machthaber so in ihre Verschwörungstheorien verstrickt sind, dass sie die Gründe für die innenpolitische Krise und den Kern der Forderungen der Avantgarde (mittlerweile allerdings schon der Mehrheit) der Gesellschaft tatsächlich nicht verstehen. Bei einer solchen Diskrepanz der Auffassungen dürfte es grundsätzlich schwierig werden, sich auf einen Ausweg aus der Krise zu einigen.

    Lukaschenko und einige seiner hochrangigen Amtsträger (Natalja Kotschanowa, Wladimir Karanik und andere) scheinen aufrichtig nicht zu begreifen, warum diese wohlgenährten Menschen, die nicht in Lumpen herumlaufen, protestieren? Was wollen sie noch? Offenbar hat den Leuten in der Führungsriege nie jemand Maslows Pyramide auf den Schreibtisch gestellt. Weder im Weltbild noch im Wortschatz von Lukaschenko und seinem Umfeld gibt es den Begriff der Freiheit.

    Deswegen ist das heutige, nennen wir es, mit Verlaub, Establishment per se gar nicht in der Lage den Forderungen nach einem Wandel gerecht zu werden. Es sieht den Ausweg in der Erstickung dieser Forderung. Eine lästige Angelegenheit.

    Der Wandel wird sehr dramatisch

    „Auf den Bajonetten der NATO in Belarus wird das Glück des belarussischen Volkes nicht gründen“, erklärte Lukaschenko in belehrendem Ton. Ja – aber auf den Gummiknüppeln der OMON wird solches Glück erst recht nicht gründen.

    Auf Gummiknüppel zu setzen (zudem das Wirtschaftssystem vor die Wand gefahren ist) bedeutet, dass Belarus auch fürderhin zittern und schütteln wird. Und Lukaschenko wird es immer so vorkommen, dass es nicht an der Zeit ist zu gehen.

    In dem Interview am 13. November hat er dargelegt : „Was, wenn es keinen Lukaschenko geben würde? Dann würde heute niemand dieses Land zusammenhalten. Es würde in Stücke gerissen.“

    Er hat sich allerdings verplappert, dass er „unter ruhigen, friedlichen Umständen“ bereit sei, „nach Russland zu gehen“, um dort „zu leben und zu arbeiten“. Doch es sieht so aus, als hätte er das um der schönen Worte willen gesagt, denn anschließend war zu hören: „Doch Ihnen wird klar sein, was dann mit ihnen (das ist zu übersetzen als: seinen Mitstreitern, Anhängern, Staatsbeamten, Silowiki und so weiter – A. K.) passiert? Sie werden in Stücke gerissen.“

    Wir stecken hier in einer Sackgasse. Das Regime baut auf eine Befriedung der Gesellschaft mit Hilfe von Repressionen. Doch Tatsache ist, je länger und brutaler sie sind, desto mehr Zorn wird sich in der Gesellschaft anhäufen. Und desto schärfer und unentrinnbarer wird die Angst der Machtelite, der Silowiki (und nicht nur sie – derzeit sind alle staatlichen Strukturen an den Repressionen beteiligt) vor Vergeltung.

    Unter Lukaschenko ist keinerlei Stabilität mehr möglich. Auch Vertrauen in den morgigen Tag wird es mit ihm nicht mehr geben. Die Perspektive, dass er politischen Gegnern Platz machen, dass es eine ernsthafte (und keine, wie jetzt geplante, dekorative) Erneuerung des politischen Systems, einen Machtwechsel geben wird, wird sich zu einer Katastrophe auswachsen.

    Und wenn er emotional erklärt: „Kein Machtwechsel! Keine Amtsnachfolger!“, dann wirkt es so, als wolle er den ekelhaften Gedanken verjagen, dass er irgendwann irgendwem seinen Sessel wird überlassen müssen. Er ist zu verliebt in die Macht, zu misstrauisch und hat zu große Angst um seine und seiner Nächsten Sicherheit im Falle seines Abtretens.

    Und das heißt, dass der Wandel in Belarus sehr dramatisch wird.
     

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