Bis dato war Swetlana Tichanowskaja die unbestrittene Anführerin einer neuen belarussischen Opposition, die sich im Zuge der Proteste des Jahres 2020 in Belarus und in einer neu politisierten Diaspora gebildet hat. Eine Opposition, die gezwungenermaßen aus dem Exil heraus versucht, die Protestbewegung am Leben zu erhalten und weiterzuentwickeln. Seit diesem Jahr formiert sich allerdings eine Gruppe von belarussischen Oppositionellen, die sich immer mehr als Kritiker von Tichanowskajas Politik hervortut. Dazu gehört mitunter auch Veronika Zepkalo, die zusammen mit Tichanowskaja und der aktuell inhaftierten Maria Kolesnikowa im Sommer 2020 zum Gesicht der neuen Opposition wurde. In Berlin fand vor zwei Wochen das Forum der demokratischen Kräfte von Belarus statt, auf dem sich besagte Oppositionelle unter Führung von Zepkalo und ihrem Mann Waleri trafen und neue Taktiken in Bezug auf die Protestbewegung debattierten. Waleri wollte 2020 als Präsidentschaftskandidat zu den damaligen Wahlen antreten, war aber aus Angst vor einer Festnahme ins Exil gegangen.
Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski hat das Treffen und die Kritik an Tichanowskaja in seinem Beitrag für das Online-Medium Naviny analysiert. Und stellt sich dabei die Fragen: Wie ernst ist der Versuch, der Oppositionsführerin Konkurrenz zu machen? Verfällt die neue belarussische Opposition in die alten Marotten der Zwietracht? Und wie werden die Belarussen im Land auf mögliche Veränderungen der Oppositionsführung reagieren?
Unter den Masterminds der neuen Oppositionsausrichtung stach das Ehepaar Zepkalo besonders hervor – Waleri und Veronika. Im Sommer 2020 bildete Veronika zusammen mit Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa ein eindrucksvolles Politikerinnen-Trio, das in ganz Belarus gut besuchte Kundgebungen abhielt und das auch Menschen, die bisher wenig für Politik übrig hatten, mit der Idee des Wandels begeisterte.
Jetzt sitzt Kolesnikowa in Haft, und ihre beiden Kolleginnen scheinen auf keinen gemeinsamen Nenner zu kommen. Das schöne Bild von 2020 ist zerbröckelt.
In die Fußstapfen der alten Opposition?
Der Zerfall dieses Bildes ist symptomatisch, und er spiegelt tiefgreifendere Prozesse wider. Und dabei geht es ganz bestimmt nicht nur um persönliche Ambitionen. Was heute in der neuen Opposition passiert, die aus der Protestwelle 2020 hervorging, erinnert schmerzlich an das, was die Opposition alten Typs während Lukaschenkos jahrelanger Amtszeit lahmgelegt hat.
Da sie keine siegreiche Strategie hatte (die es möglicherweise gar nicht geben konnte, weil sich der erste Präsident auf eine recht breite Wählermasse stützte) und sie sich immer wieder an dem Bollwerk des Autoritarismus die Stirn blutig schlug, verlegte die Opposition die Hauptanstrengungen allmählich darauf, interne Reibereien auszufechten. Man stritt um die äußerst begrenzten finanziellen Ressourcen. Ihre Kräfte zersplitterten, die eilig geschmiedeten Koalitionen zerfielen. Gegenseitig warf man sich einen „Kuschelkurs“ gegenüber dem Regime vor, die anderen schossen zurück: „Und ihr seid Sektierer, abgekoppelt von den Massen!“ Und so fort in diesem Stil.
Das Regime rieb sich die Hände. Die Geheimdienste, davon kann man ausgehen, schliefen auch nicht und gossen noch Öl ins Feuer dieser Zwiste. Gegenseitige Beschuldigungen, für den KGB zu arbeiten, waren in den gespaltenen Oppositionskreisen ein Dauerbrenner.
Jetzt kann sich die belarussische Staatsmacht abermals ins Fäustchen lachen: Es läuft anscheinend. Zudem hat auch der Kreml Grund zur Freude, der vermutlich ebenfalls seine speziellen Methoden hat, die neue belarussische Opposition zu stören.
Die alte Opposition hat mit ihren inneren Streitigkeiten einen bedeutenden Teil ihrer Wählerschaft verprellt. Durchschnittsbürger kommentierten diese Auseinandersetzung ungefähr so: Klärt mal untereinander die Fronten, schließt euch zusammen und legt ein klares gemeinsames Programm vor – und dann ruft uns zum Kampf für eine strahlende Zukunft.
Wenn jetzt ein Kräftemessen zwischen den Gruppierungen der Opposition 2.0 entbrennt, könnte die Reaktion vieler Belarussen ähnlich ausfallen. Die Gesellschaft neigt nach der Niederschlagung des friedlichen Aufstands 2020 – angesichts anhaltender Repressionen und stalinistischer Haftstrafen für die Protagonisten des Protests und unter dem Totalitarismus des Regimes – ohnehin zu Apathie und Resignation, zu einem Gefühl der Aussichtslosigkeit. Die in der Soziologie „neutral“ genannte Bevölkerungsschicht wächst, und das Regime will diese jetzt auf seine Seite ziehen. Nicht umsonst betont Lukaschenko die sogenannte Arbeit mit der Bevölkerung und fordert von der Vertikalen Sensibilität für ihre alltäglichen Bedürfnisse zu demonstrieren.
Tichanowskaja in der Rolle der englischen Königin
Auf dem Forum in Berlin (wo sich Beobachtern zufolge so einige Randfiguren tummelten) wurden Tichanowskaja und ein paar Leute aus ihrem Umfeld gnadenlos zur Schnecke gemacht.
Stimmt, sie und ihr Team haben eine Reihe schwerwiegender Fehler gemacht, wurden oft von den Ereignissen überholt. Zum Beispiel zündete das Ultimatum nicht, das Tichanowskaja im Oktober 2020 der Staatsmacht stellte, der Versuch eines Generalstreiks geriet ins Stocken, weil die Protestwelle bereits abebbte und das Regime schon viele eingeschüchtert hatte. Im Frühjahr 2021 hing eine unrealistische Idee in der Luft, sich mit internationaler Vermittlung auf einen Dialog mit der Regierung einzulassen.
Auch die für das Referendum im Februar 2022 vorgestellte „Strategie der zwei Kreuzchen“ wirkte von Haus aus schwach. Es gab am 27. Februar zwar Demonstrationen, aber aus einem anderen Grund – die Menschen protestierten gegen den Krieg in der Ukraine, der ein paar Tage zuvor ausgebrochen war.
Tichanowskajas Gegner werfen ihr und ihren Anhängern vor, kontaktscheu zu sein, sich abzuschotten und bei der Organisation des Kampfes gegen das Regime einen Monopolstatus zu beanspruchen.
Gleichzeitig wissen auch Tichanowskajas Widersacher, dass sie seit den Wahlen 2020 über ein großes Kapital in Form von Wahlunterstützern verfügt. Nach Meinung vieler Belarussen hat sie damals de facto gewonnen. Sie ist es, die in demokratischen Ländern und internationalen Organisationen auf höchster Ebene empfangen wird. Diese Legitimität scheint jedoch allmählich zu erodieren, ein Teil ihrer früheren Unterstützer ist abgekühlt und enttäuscht.
Wadim Prokopjew, einer der leidenschaftlichsten Regimekritiker, schlug auf dem Berliner Forum für Tichanowskaja die Rolle der englischen Königin vor. Mit einem „Premier Churchill“ an ihrer Seite. Soll heißen, einem radikaleren, eigentlich einem „Kriegsminister (wir leben in einer Zeit des Krieges)“.
Zugleich betonen die Initiatoren des Forums demokratischer Kräfte ihre Offenheit: Wir haben ja auch Tichanowskaja eingeladen, aber sie ist nicht gekommen. Der Subtext ist klar: Seht doch selbst, wer für Vereinigung ist und wer für ein Monopol der eigenen Struktur.
De facto sieht die Sache aber so aus, dass man Tichanowskaja und andere Mitglieder ihres Teams lediglich dazu einlädt, sich einer alternativen Initiative anzuschließen. Und dass eine Person, die in unabhängigen Medien als nationale demokratische Leitfigur gehandelt wird, sich darauf nicht einlässt, überrascht wenig.
Welcher nationalen Befreiungsbewegung soll man sich anschließen?
Indessen versucht Tichanowskajas Büro in Zusammenarbeit mit dem Nationalen Antikrisen-Management von Pawel Latuschko (mit dem jedoch ebenfalls keine absolute Harmonie herrscht), die Initiative und Führung im Lager der Regimegegner zu bewahren.
In diesem Lager haben sie verstanden, dass es wirklich an der Zeit ist, die Strategie zu ändern, ideologische Positionen und geopolitische Prioritäten klarer zu formulieren und entschlossener zu handeln. Es wurde angedacht, im August in Vilnius einen Kongress der Belarussen zu veranstalten und eine nationale Befreiungsbewegung zu gründen. Außerdem eine Art alternatives Machtorgan zu bilden (manche Journalisten nennen das Exil- oder Schattenregierung, auch wenn diese Begriffe Tichanowskaja und ihren Anhängern wohl kaum gefallen).
Ähnliche Ideen, vor allem die Gründung einer nationalen Befreiungsbewegung, formuliert, nur radikaler verpackt, auch das Forum demokratischer Kräfte.
Es ist höchst zweifelhaft, ob diese im Grunde konkurrierenden Formationen in absehbarer Zeit (oder überhaupt irgendwann) in der Lage sein werden, eine gemeinsame Gesprächsbasis zu finden. Es mangelt eindeutig an gegenseitigem Vertrauen. Westliche Politiker werden zweifellos den Kontakt zu Tichanowskaja bevorzugen (und jene, die sich schon lange mit Belarus befassen, leise seufzen: Das kennen wir alles schon, wieder eine Runde Tauziehen untereinander).
Wie werden die Belarussen im Land reagieren?
Eine andere Frage ist, wie diese neuen Initiativen bei den Belarussen ankommen, die im Land geblieben sind, in der Höhle des Löwen. Das Bedürfnis nach Veränderungen ist bei aller Brutalität des Regimes nicht verschwunden. Viele können die drückende Atmosphäre in einem Land, in dem Rechte und Freiheiten mitsamt der Wurzel vernichtet werden, nicht mehr ertragen.
Zudem geht aus soziologischen Studien hervor, dass sich die beiden Pole – Lukaschenkos Kernwählerschaft und seine erbitterten Gegner – radikalisieren, der Hass aufeinander wird immer größer. Aber die meisten Leute, die eine Veränderung herbeisehnen, haben eine Heidenangst davor, sich einer Bewegung mit radikalen Losungen anzuschließen.
Momentan hat Lukaschenko die innenpolitische Situation eisern im Griff. Andererseits bergen die Beteiligung an der Aggression gegen die Ukraine, die Sanktionen, die die Wirtschaft zermürben, und eine Reihe anderer Faktoren für die Staatsmacht große Risiken. Noch kann sich das Regime jedoch im Sattel halten. Dem Präsidenten auf den Zahn fühlen, das kann eher Wladimir Putin als ins Exil gezwungene politische Gegner.
Jede Strategie wird erst dann funktionieren, wenn eine Reihe von Bedingungen erfüllt ist. So stehen heute jene, die eine führende Rolle im Kampf gegen Lukaschenkos Regierung einnehmen wollen, vor höllisch undankbaren, titanisch schweren Aufgaben. Und besonders schwer werden diese zu bewältigen sein, wenn man internen Querelen freien Lauf lässt.
Die Repressionen in Belarus gehen ungebremst weiter: Journalisten, Aktivisten und normale Bürger werden weiterhin festgenommen, auch immer noch für ihre Teilnahme an den Protesten im Zuge des 9. August 2020. Auch das Unternehmen tut.by Media, einst das größte Nachrichtenportal des Landes, wurde von einem Gericht als „extremistische Vereinigung“ eingestuft. Wie schon in den Jahren zuvor gerät die dissidente Kultur wieder einmal ins Blickfeld der Silowiki. Mitte Mai wurde die Buchhandlung Knihauka des Januschkewitsch-Verlages in Minsk durchsucht, der Verleger Andrej Januschkewitsch festgenommen und zu zehn Tagen Haft verurteilt. Am Tag der Eröffnung hatte sich die staatliche Propaganda auf den neuen Buchladen eingeschossen. Ljudmila Gladkaja von der Staatszeitung SB. Belarus segodnja und andere Propagandisten waren zur Eröffnung erschienen. Sie beklagte vor laufender Kamera, dass die Behörden die Eröffnung der Buchhandlung überhaupt erlaubt hätten: „Wenn sich 2020 wiederholt, werdet ihr euch fragen, wie das nur passieren konnte.“
Auch der Roman Die Hunde Europas des Schriftstellers Alhierd Bacharevič wurde als „extremistisch“ und staatsfeindlich eingestuft. Bacharevičs Bücher werden von Januschkewitsch verlegt. Erst kürzlich tauchte zudem eine Liste im Internet auf, die vom Kulturrat in Belarus stammen sollte. Darauf die Namen von 33 Autoren und Autorinnen – darunter die von Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, von Schriftsteller Viktor Martinowitsch oder dem Philosophen Valentin Akudowitsch. Deren Bücher, so die mutmaßliche Anweisung der Behörden, sollten aus den Schulbibliotheken landesweit verbannt werden.
Machthaber Alexander Lukaschenko ist in vielerlei Hinsicht ein Sowjetnostalgiker, gerade hinsichtlich seiner Vorstellung einer eingehegten Kultur, die dem Staat dienen soll, und eines Bildungs- und Erziehungssystems, das loyale Diener für den autoritären Staat hervorbringen soll. Entsprechend gibt es an den Bildungseinrichtungen des Landes sogenannte Ideologie-Beamte, die dafür sorgen, dass sich keine nonkonformistischen und kritischen Haltungen unter Schülern und Studenten breit machen. Außerdem existiert die staatliche Jugendorganisation BRSM, deren Mitglieder an Paraden und anderen Propagandaaktivitäten mitwirken und Vergünstigungen für das Studium erhalten.
In mehreren Artikeln beschäftigt sich der Journalist Alexander Klaskowski mit Lukaschenkos Wunsch, das Bildungssystem nach seinen Vorstellungen umzubauen. „Die traurige Ironie besteht darin”, schreibt er in einem Beitrag, „dass das Regime gegenwärtig Bereiche wahrer nationaler Kultur zerstört, die Geschichte aus Gründen politischer Opportunität einseitig interpretiert, die staatliche Souveränität zunehmend bedroht und die Menschen ihrer wahren Staatsbürgerschaft und ihres nationalen Geistes beraubt. Sie wollen die Menschen zu gehorsamen Robotern machen.”
Wie realistisch aber ist Lukaschenkos Plan eines gleichgeschalteten Bildungssystems, das ausschließlich ergebene Bürger hervorbringt? Damit setzt sich Klaskowski in einer Analyse für das Online-Portal Naviny auseinander.
Lukaschenkos Treffen mit Pionier-Aktivisten am 20. Mai war gewissermaßen ein rituelles und von PR-Überlegungen diktiert: Es sollte der hundertste Jahrestag der Pionierbewegung begangen werden. Zudem war es ein günstiger Moment, den menschlichen Führer zu spielen, den Freund der Kinder. Lukaschenko äußerte sich dabei zu programmatischen Dingen, die ihn tatsächlich bewegen.
Lukaschenko ist wegen der Loyalität der jungen Generation offensichtlich beunruhigt. Der friedliche Aufstand von 2020, bei dem viele junge Menschen in den Kolonnen mit den weiß-rot-weißen Flaggen marschierten, hat bei Lukaschenko Eindruck hinterlassen.
Ein Versuch, die kommunistische Matrix einzusetzen
Bei dem Treffen mit den Pionieren erklärte Lukaschenko, dass es „an der Zeit ist, mit dem Ausbau der Arbeit der Pionierorganisation und unserer gesamten Jugendorganisation ernst zu machen. Das größte Manko besteht darin, dass die Pioniere und die Pionierorganisation nur schwach an die Jugendorganisation, den BRSM [den Belarussischen Republiks-Jugendverband – dek], angebunden sind, und dass die BRSMler nicht besonders an eurem [dem Prionierleben – dek] Leben interessiert sind. Bei uns galt eisern: Die Komsomolzen sind der ältere Bruder. Die organisieren und nehmen einen an die Hand. Das heißt: Aus den Pionieren erwächst eine neue Generation von Jugendlichen“.
Im Grunde träumt Lukaschenko mit seiner unweigerlichen Nostalgie nach der „lichten Vergangenheit“ davon, ein System wiederaufleben zu lassen, das „Sowjetmenschen großzieht“, und das in kommunistischer Zeit damit schon im Kindergarten begann: Portraits von Großvater Lenin, Verse über den Feiertag des Großen Oktober, das Rote Banner usw. Erst wurde man bei den Oktjabrjata aufgenommen, dann bei den Pionieren, beim Komsomol und schließlich wurden die mit dem stärksten Bewusstsein Parteimitglieder. Es war ein Fließband intensiver Indoktrination.
Doch in der UdSSR basierte das alles auf einer ausgefeilten Ideologie, die in den Köpfen mitunter durchaus Wirkung zeigte. Der Sieg über Hitlerdeutschland, der erste Satellit im All, der Flug von Juri Gagarin, das alles hat viele geradezu beflügelt und dazu gebracht, an die „fortschrittlichste aller Gesellschaftsordnungen“ zu glauben.
Allerdings hat auch diese Ideologie den Realitätstest nicht bestanden, als das System vor sich hin rottete und bei den Massen keinen Enthusiasmus mehr entfachte. Viele wurden nur deshalb Komsomolzen, um auf die Hochschule zu gelangen, Karriere zu machen oder einfach um nicht als schwarzes Schaf dazustehen. In der Endphase der Sowjetunion traten die Leute massenweise (und oft demonstrativ) aus dem Komsomol und der KPdSU aus. Abschließend ein handfestes Beispiel wie aus dem Lehrbuch: Von den Dutzenden Millionen Kommunisten und Komsomolzen ist keiner aus Protest auf die Straße gegangen, als durch das Belowescher Abkommen im Dezember 1991 das Ende der UdSSR besiegelt wurde. Als das System ein moralisches Fiasko erlebte und sich vollkommen selbst diskreditiert hatte, fand sich niemand, der bereit gewesen wäre, es bis zum letzten Atemzug zu verteidigen.
Noch etwas ist zu beachten: Lukaschenko will nicht einmal eine eigene Partei gründen, um seine eifernden Anhänger zu formieren. Zu sehr hat er das System auf sich zugeschnitten. In dieser Hinsicht waren selbst die Kommunisten flexibler.
Halt die Füße still und sei gehorsam – das ist die ganze Ideologie
Lukaschenkos Gegner haben ihn 2020 mit einem Meme zum Thema 3 Prozent Rückhalt gedisst, was ihn sehr geärgert hat. Und mittlerweile sprechen die Oppositionsführer oft in einem vereinfachten Paradigma vom „Volk gegen Regime“. In Wirklichkeit ist das Stimmungsbild in der Gesellschaft natürlich sehr viel komplexer. Unabhängigen Meinungsforschungsinstituten zufolge besteht die Anhängerschaft Lukaschenkos ungefähr aus 20 bis 30 Prozent der Wahlberechtigten. Doch dürften dieser Bevölkerungsschicht nur wenige leidenschaftliche Anhänger zu finden sein, die zu Opfern bereit wären.
Die Menschen sind aus verschiedenen Gründen also der Ansicht, dass Veränderungen schlimmer wären als die gegenwärtige Lage der Dinge. Doch bei der massenweisen Indoktrinierung, bei der Erziehung von „wahrhaften Patrioten“, wie es die Führung gern nennt, gibt es große Probleme.
Lukaschenko verfügt aus Prinzip über keine Ideologie, was er mehrfach öffentlich zugegeben hat. Daher wird der Bevölkerungsmasse eine primitive Loyalität aufgenötigt: Halt die Füße still, halt den Mund und tu, was man dir sagt.
Diese Loyalität kann jedoch zutiefst vorgetäuscht sein, und insgeheim oft mit der Faust in der Hosentasche. Lukaschenko scheint das selbst zu spüren. Bei einem weiteren Personalkarussell am 13. Mai sprach Lukaschenko über die Stimmung in der Gesellschaft und betonte, dass es „genug Menschen gibt, die nicht einfach nur etwas anderes denken (denken ist ja nicht verboten), sondern auf den geeigneten Moment warten“. Wohlgemerkt: Es geht um den Moment eines Regimewechsels.
Im August 2020, als das Regime wankte, haben sich die regimefreundlichen Organisationen nicht sonderlich ins Zeug gelegt. Lukaschenko hat rückblickend mehrfach geklagt, dass viele Funktionäre sich seinerzeit „in Mauselöchern verkrochen“ hätten.
Für die Masse der Durchschnittsbürger ist die Mitgliedschaft in Organisationen wie dem Gewerkschaftsbund oder dem Jugendverband BRSM reine Formsache. Damit es keine Scherereien oder Schwierigkeiten mit den Vorgesetzten gibt. Die Hoffnung, dass diese „Säulen der Zivilgesellschaft“, als die Lukaschenko sie hinzustellen versucht, ihm in einer schweren Stunde Rückhalt bieten, ist illusorisch.
Ein Informationsmonopol lässt sich nicht mehr durchsetzen
Bei dem Treffen mit den Pionieren versprach Lukaschenko eine Geschichtsstunde für Schüler und Studierende im Minsker Museum des Großen Vaterländischen Krieges. Außerdem „befürwortete [er] die Aktivitäten von Pionieren und jungen Menschen zur Wahrung der historischen Erinnerung, unter anderem an die Heldentaten des Volkes und einzelner Helden in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges“. Und er unterstützte die Initiative zur Schaffung der Fernsehsendung „Erinnerung des Herzens“.
Mit dem Kult um den Großen Vaterländischen Krieg versucht die belarussische Führung offensichtlich, das Fehlen einer in sich geschlossenen ideologischen Doktrin zu kompensieren. Bezeichnend ist, dass versucht wird, den Begriff „Zweiter Weltkrieg“ zu vermeiden. Sonst würden ja Dinge wie die sowjetisch-hitlerdeutsche Parade 1939 in Brest hochkommen, was sich nicht mit der offiziellen manichäisch elitären Mythologie vertragen würde.
Die belarussische Regierung kopiert hier in vielem Russland. Der Unterschied ist jedoch, dass sich dort die Instrumentalisierung des Themas Großer Vaterländischer Krieg und Sieg stark mit dem in der Gesellschaft weit verbreiteten imperialen Denken und den gekränkten Großmachtambitionen verbindet (wir wurden erniedrigt, aber wir „können es wiederholen“). Die Belarussen haben eine andere Mentalität. Hier lautet das Leitmotiv: „Nie wieder!“
Durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine ist das staatliche Geschwätz der belarussischen Führung über den vergangenen Krieg („wir haben für unsere Friedfertigkeit büßen müssen“ usw.) besonders unglaubwürdig geworden: Schließlich haben wir de facto den Überfall auf ein Nachbarland mit den revanchistischen Parolen des Kreml unterstützt! Die Dienst-Rhetorik zur historischen Erinnerung (die einseitig und unbefriedigend interpretiert wird) wird für Lukaschenko kaum die doktrinäre Leere füllen oder zu einem starken Mobilisierungsfaktor werden können.
Es ist sogar so, dass das derzeitige Regime gar keine echte politische Mobilisierung oder ein wahrhaftiges bürgerliches Engagement benötigt; mehr noch: Diese wären für das Regime gefährlich. Also wird sich in der Praxis banale Unterwürfigkeit breit machen.
Einen aufrichtigen Glauben an die Vorteile der im Land geschaffenen Ordnung (der zu gewissen Zeiten vielen Sowjetbürgern hinter dem eisernen Vorhang eigen war) wird die belarussische Regierung ihrer Gesellschaft nicht aufnötigen können. Unter anderem, weil es selbst mit immer heftigeren Verboten (die irrwitzig angewachsene Liste „extremistischer Materialien“, die Sperrung nicht genehmer Internetseiten usw.) heute unmöglich ist, ein Informationsmonopol herzustellen. Besonders, wenn es um junge Menschen geht, die permanent an ihren Geräten hängen (worüber sich Lukaschenko ebenfalls beklagte).
Durch die Totalitarisierung des Staates können andere junge Köpfe zweifellos verkrüppelt werden. Doch insgesamt ist die Hoffnung der hohen Führung, der heranwachsenden Generation massenhaft das Hirn zu waschen und sie für das Regime gefügig zu machen, zum Scheitern verurteilt
In den Fernen Osten zog es Alexander Lukaschenko in der vergangenen Woche. Der belarussische Machthaber besuchte die Hafenstadt Wladiwostok und traf in der Oblast Amur seinen russischen Kollegen Wladimir Putin. Der Ort des Zusammentreffens: der Östliche Weltraumbahnhof (russ. Kosmodrom Wostotschny), der dort seit vielen Jahren rund 8000 Kilometer von Moskau entfernt entsteht. Während Putin sich in Bezug auf den von Russland entfachten Angriffskrieg gegen die Ukraine siegesgewiss gab, stand ihm Lukaschenko bei. Er erklärte das Massaker von Butscha zur „psychologischen Spezialoperation der Briten“.
Der Politikanalytiker Waleri Karbalewitsch sieht in der demonstrativen und „ultraloyalen“ Unterstützungsrhetorik den Versuch, Lukaschenkos Haltung zu verschleiern, „dass er nicht bereit ist, belarussische Truppen in die Ukraine zu schicken“. Der Krieg des Kreml ist in der belarussischen Gesellschaft extrem unpopulär, was sich unter anderem durch die Sabotageakte an den Eisenbahnstrecken des Landes zeigt. Zudem bedroht die langfristige Stationierung russischer Truppen auf belarussischem Staatsgebiet nicht nur die Souveränität des Landes, sondern womöglich auch die Macht Lukaschenkos selbst.
Kann es also sein, dass Lukaschenko in seiner scheinbar ausweglosen Lage versucht, auf mehreren Ebenen zu agieren, um sich neue Handlungsspielräume zu erschließen? Entsprechend breit wurde auch ein Brief von Wladimir Makei diskutiert. Der belarussische Außenminister hatte sich, ebenfalls in der vergangenen Woche, an die Europäische Union gewandt, mit dem Vorschlag, den Dialog wiederherzustellen, der seit den Repressionen und Eskalationen Lukaschenkos gegen die Protestbewegung und seiner Rolle im Krieg gegen die Ukraine aufgekündigt worden war. Man würde sich, so Makei sinngemäß, auch nicht weiter in den Krieg hineinziehen lassen. Offensichtlich macht sich Lukaschenko Gedanken darum, inwieweit er seine außenpolitischen Fähigkeiten wiederherstellen kann. Auch für den Fall, dass Putin den Krieg verliert. Zudem plagen ihn zweifelsohne die Folgen der Sanktionen für die belarussische Wirtschaft und in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit Russland, das selbst scharf sanktioniert wird, diese Folgen abfedern kann und will, und vor allem: zu welchem Preis.
Lukaschenko und Putin, deren Verhältnis trotz der aktuellen demonstrativen Einigkeit in der Vergangenheit alles andere als unkompliziert war, haben im November 2021 eine weitere Integration von Belarus in den sogenannten Unionsstaat beschlossen. Wäre dessen Vollendung und Belarus´ endgültige Inkorporation in die Russische Föderation eine für die beiden Sowjetnostalgiker vorstellbare Option? Auf was zielen Lukaschenkos verwirrende und scheinbar widersprüchliche Taktikspiele möglicherweise ab? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der belarussische Journalist Alexander Klaskowski in einer Analyse für das belarussische Online-Medium Naviny.
Alexander Lukaschenko thematisiert plötzlich eine mögliche Eingliederung der Republik Belarus in Russland, die er folgendermaßen kommentiert: „Putin und ich werden ja nicht so dumm sein, mit alten Methoden vorzugehen. Ich sage euch, wir werden eine solche Einheit zweier unabhängiger Staaten schaffen, dass sie von uns was lernen werden. Lernen werden sie von uns! Wie man Sanktionen überwindet und so weiter.“
Diese hochtrabende Tirade ließ Lukaschenko am 13. April in Wladiwostok bei einem Treffen mit dem Gouverneur der Region Primorje vom Stapel. Es sah nicht so aus, als würde ihn jemand dazu zwingen – dieses Thema scheint ihn einfach zu beschäftigen. Und seine Worte „Putin und ich werden ja nicht so dumm sein“ lassen sich dekodieren als „ich hoffe, Putin ist nicht so dumm“.
Das politische Lavieren als Strategie
Zwischen den beiden postsowjetischen Staatsoberhäuptern hat nie echtes Vertrauen geherrscht. Viele Beobachter sind der Meinung, Putin sei schon allein dadurch, dass er überraschend Russlands Präsident wurde, dem ambitionierten Ex-Direktor der Sowchose in Schklou in die Quere gekommen, der davon geträumt hatte, in Boris Jelzins Fußstapfen zu treten.
Heute erinnert sich kaum mehr jemand an den Konflikt, der 2002 zwischen Lukaschenko und Putin hochkochte. Damals trieb der Kremlchef die Frage der Eingliederung der Republik Belarus in Russland auf die Spitze. „Nicht einmal Lenin und Stalin sind auf die Idee gekommen, Belarus zu zerschlagen und es der RSFSR anzuschließen“, empörte sich damals der belarussische Präsident, der den souveränen Absolutismus zu schätzen gelernt und es sich in seiner Allmacht bereits bequem gemacht hatte.
Es folgte eine Zeit der Beziehungsschwierigkeiten, in der Lukaschenko mal Lobeshymnen auf Russland sang, um an billige Ressourcen zu kommen, mal Russlands imperialistische Allüren anprangerte, um das eigene Herrschaftsrecht in der ehemaligen Sowjetrepublik zu behaupten. Hin und wieder gelang es ihm, zu lavieren und mit dem Westen geopolitische Spielchen zu spielen. Eine richtige Annäherung an den Westen schaffte das belarussische Staatsoberhaupt allerdings nie, weil es ein auf seiner persönlichen Macht basierendes antidemokratisches Regime errichtet hatte.
Eine vollwertige Marktwirtschaft hingegen hat Lukaschenko nie errichtet. Während er behauptete, räuberische Reformen zu vermeiden, ging es ihm in Wirklichkeit nur darum, die staatliche (sprich, seine persönliche) Kontrolle über die materielle Basis nicht zu verlieren. Die ineffektive staatliche Wirtschaft erforderte aber permanent russisches Doping, sodass sich Lukaschenko bei allen Reibereien nie wirklich von Moskau lösen konnte.
Abhängigkeit jenseits der roten Linie
Eine Zeitlang – erinnern wir uns an die fetten Jahre der ersten Hälfte der 2000er – gelang dem belarussischen Staatschef der Tausch von, „Öl gegen Küsse“, und im Gegenzug gab er das Versprechen, sich vor die berüchtigten NATO-Panzer zu werfen.
Doch danach erhob sich das Imperium von den Knien und begann, für jedes verfütterte Vitamin reale Zugeständnisse einzufordern. Der Gipfel war im Dezember 2018 das berühmte Ultimatum von Dimitri Medwedew, damals Premierminister der Russischen Föderation: entweder „tiefgreifende Integration“, oder ihr könnt die spendablen Zuschüsse vergessen. Und wieder empörte sich Lukaschenko: „Uns zu erpressen, uns beugen zu wollen, uns das Knie auf die Brust zu drücken ist zwecklos.“
Und um der Falle zu entgehen, ließ er 2019 die Unterzeichnung der sogenannten Roadmaps für die Vertiefung der Integration platzen.
Doch die Ereignisse des Jahres 2020 – die Proteste gegen die gefälschten Wahlen und ihre brutale Niederschlagung – trieben den belarussischen Staatschef, der seine frühere Legitimität eingebüßt hatte, in eine solche Abhängigkeit von Moskau, dass er seinen alten Stolz begraben musste.
Lukaschenko unterschrieb 28 Bündnisprogramme (modifizierte Roadmaps der „vertieften Integration“) und ließ auf belarussischem Territorium russische Truppen stationieren, die am 24. Februar in der Ukraine einfielen. Das belarussische Staatsoberhaupt, das zuvor Kiew versprochen hatte, von seinem Land aus werde es keine Angriffe geben, fand sich in einer erbärmlichen Lage wieder: In den Augen der Ukrainer, des Westens und eines beträchtlichen Teils seiner Landsleute war er endgültig zu einer Marionette des Kreml geworden.
So hat die Logik des Machterhalts um jeden Preis den Regenten um einen beträchtlichen Teil seines politischen Subjektstatus gebracht und Belarus dem Risiko ausgesetzt, den letzten Rest seiner Souveränität zu verlieren, die das Regime ohnehin schon Stück für Stück verkauft hatte.
Nostalgien unterschiedlicher Machart
Lukaschenko hat, wie auch viele Beobachter, offenbar Putins Rationalität überschätzt. Und hat daher eine großangelegte Aggression gegen die Ukraine für unwahrscheinlich gehalten.
Dieser abenteuerliche Überfall, der die gesamte demokratische Gemeinschaft, die gesamte entwickelte Welt herausfordert, hat gezeigt, dass der Regent im Kreml den Kontakt zur Realität vollends verloren hat und sich rückhaltlos seinen imperialistischen Instinkten hingibt. Und das erhöht die Gefahr auch für Belarus.
Putin spricht der Ukraine das Recht auf einen eigenen Staat ab (mit dem Argument, Lenin habe sie künstlich erschaffen, die Kommunisten hätten ihr ur-russischen Boden abgetreten), doch alle diese großmächtigen Pseudoargumente können jederzeit auch auf Belarus angewandt werden. Auch die BSSR wurde von Bolschewiken in Smolensk ausgerufen, ihr Gebiet wurde durch Beschlüsse der sowjetischen Regierung festgelegt und erweitert.
Sowohl Putin als auch Lukaschenko trauern der UdSSR nach, wenn auch mit unterschiedlichen Arten von Nostalgie. Putin wünscht sich eine Wiedergeburt des Imperiums im klassischen Sinn. Er geißelt sogar Lenin dafür, dass dieser sich den „nationalen Randgebieten“ angebiedert, ihnen Souveränität verliehen habe, zwar eher pro forma, doch das sei das Pulverfass unter der Sowjetunion gewesen.
Lukaschenko hätte offenbar gern sowjetische Einigkeit, eine planmäßige Zufuhr billiger Ressourcen und einen garantierten Absatz für Erzeugnisse aus Belarus (die BSSR war einst die führende Montagewerkstatt der UdSSR). Plus einen atomaren Schutzschirm gegen den verfluchten Westen.
Doch dabei will er bestimmt nicht den Status eines Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der belarussischen Kommunistischen Partei, den Moskau befehligt und jederzeit absetzen kann. Lukaschenko will eine Reinkarnation der Sowjetunion, bei der er alle Vorteile aus dem Zentrum genießt und gleichzeitig auf seinem Territorium allmächtiger Zar bleibt.
Eine solche Idylle ist aber unmöglich. Und die Spielregeln diktiert der Stärkere. Heute, wo Lukaschenko geschwächt ist, macht Moskau ihn unverblümt zu seinem Vasallen.
Steht eine schleichende Eingliederung bevor?
Ein weiterer Punkt ist, dass Putin momentan eine klassische Inkorporation von Belarus mit Säbelrasseln und sonstigem Gedöns gar nicht haben will. Wozu sich noch mehr Scherereien einhandeln – von weiteren Sanktionen des Westens über den geschlossenen Widerstand eines Volkes, das mehrheitlich darauf verzichten möchte, Teil eines Imperiums zu werden, bis hin zur Notwendigkeit, mehr als neun Millionen Münder miteinzukalkulieren?
Die schleichende Inkorporation kommt Moskau heute gerade recht.
Lukaschenko aber fühlt sich in der Rolle des Vasallen schrecklich unwohl. Nomenklatur und Silowiki sehen ihren Boss, der so lange unbeugsam erschien, bereits in einem anderen Licht. Heute hat es der Kreml um einiges leichter, die Figur an der belarussischen Spitze bei Bedarf auszuwechseln.
Und seit dem Angriff auf die Ukraine ist die Unberechenbarkeit des Kremlherrschers in Lukaschenkos Augen wohl stark gestiegen. Der belarussische Staatschef sagt zwar „Putin und ich sind nicht so dumm“, hegt aber eigentlich die Hoffnung, dass „Putin nicht so dumm“ sein möge.
Weil es zwischen den Bündnispartnern de facto nie eine Parität gab, schon gar nicht jetzt. Lukaschenko konnte sich mit spitzfindigen Zügen lange halten, hat aber dieses Spiel mit dem Imperium erwartungsgemäß doch verloren. Die Perspektive des Kreml, sich heimlich, still und leise Belarus einzuverleiben, ist derzeit günstig wie nie zuvor.
Verhindern kann das wohl nur mehr eine schwere Niederlage des Kremlregimes in der Schlacht gegen die Ukraine und die progressive Welt. Na ja, und obwohl in Belarus alles Lebendige jetzt extrem unterdrückt ist, wird natürlich vieles von der mehrheitlichen Haltung seiner Bürger abhängen.
Die Ukrainer, von denen man eine rasche Kapitulation erwartet hatte, haben gezeigt, dass sie bereit und fähig sind, für die Freiheit zu kämpfen. Die belarussischen Truppen sind weitgehend deshalb nicht im ukrainischen Fleischwolf gelandet, weil die überwiegende Mehrheit der Belarussen kategorisch gegen den Krieg ist. Insofern können nicht nur die Staatschefs, sondern auch die normale Bevölkerung den Lauf der Geschichte entscheidend beeinflussen.
Am 27. Februar 2022 wird in Belarus ein Verfassungsreferendum stattfinden, von dem wohl nur die wenigsten glauben, dass es die präsidiale Macht Alexander Lukaschenkos entscheidend beschränken wird. Bei seiner alljährlichen „Rede an die Nationalversammlung und das belarussische Volk“, die Lukaschenko Ende Januar im Palast der Unabhängigkeit in Minsk hielt, schwörte der Autokrat die mehr als 2500 Parlamentarier, Politiker, Funktionäre und Gäste auch auf die anstehende Abstimmung und die zu erwartenden Änderungen im politischen System ein.
Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski hat sich die Rede für das Online-Medium Naviny.by genauestens angehört. In seinem Beitrag analysiert er, ob die Verfassungsreform überhaupt darauf ausgerichtet ist, Lukaschenkos eingeschlagenen Radikalisierungskurs einzudämmen und ob Opposition, Medien und Zivilgesellschaft entsprechend auf erleichterte Rahmenbedingungen hoffen können.
Seiner Rhetorik nach zu urteilen, sieht Lukaschenko die Lösung für die innenpolitische Krise und die gespaltene Gesellschaft in Belarus eindimensional: „Diese verrückten Unglaublichen“, wie er die Protestteilnehmer nannte, müssen sich der brutalen Gewalt des Regimes fügen.
Machtwechsel als Krankheit
Obwohl er Verfassungsänderungen immer als Demokratisierung bewarb, offenbarte sich seine tatsächliche Haltung zur Demokratie in der Aussage: „Wenn wir uns, so wie einige andere postsowjetische Staaten, dem Fieber der Machtwechsel ergäben [Hervorhebung des Autors], wenn wir ein politisches und ideologisches Zurückweichen zuließen, dann wäre ein unkontrollierbarer Sturzflug nicht mehr aufzuhalten.“ Also gilt der in Demokratien übliche Prozess des Machtwechsels als Anomalie, als Krankheit.
Der (aktuelle) Auftritt hat gezeigt, dass Lukaschenko nicht beabsichtigt, sein autoritäres System im Kern zu ändern. Das Publikum, das ihm zuhörte, bezeichnete er als Prototypen der zukünftigen Allbelarussischen Volksversammlung (WNS), an die er sich in Zukunft mit solchen Botschaften wenden wolle. Da stellt sich die Frage: War denn das Volk an der Zusammensetzung dieses Publikums beteiligt? Eine rhetorische Frage. Im Saal waren natürlich Beamte und erprobte Loyalisten versammelt, die eine breit aufgestellte Volksvertretung imitieren sollten. Ein Gesetz, das die Kompetenzen, den Entstehungsprozess und die Tätigkeiten der Allbelarussischen Volksversammlung festlegt, soll innerhalb eines Jahres nach dem Referendum verabschiedet werden. Man kann jedoch unschwer annehmen, dass dieses zu gründende Organ, das gemäß der neuen Verfassung mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet werden soll, auf genauso intransparente und volksferne Art zusammengeschustert wird.
Nie der richtige Zeitpunkt für den Rücktritt
Eigentlich geht es bei der Idee der Allbelarussischen Volksversammlung darum, die Bürger noch weiter vom Staat zu entfernen. Die aktuell regierende Elite will ein von den Willenserklärungen der Bevölkerung isoliertes politisches Konstrukt schaffen, das es ermöglicht, alle staatlichen Schlüsselfragen im intimen Kreis zu entscheiden. Wobei fast kein Zweifel besteht, dass Lukaschenko auch Vorsitzender der WNS sein wird (diese Option ist ausdrücklich in dem Verfassungsentwurf vorgesehen) und die beiden Ämter mindestens bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen 2025 zu behalten gedenkt.
Mit seiner Rede hat Lukaschenko zum wiederholten Mal thematisiert, wie lange er vorhat, im Amt zu bleiben. Und wieder ist er einer direkten Antwort ausgewichen: „Alles je nach Situation. Wenn sie uns einen Krieg anhängen – was soll es dann für Wahlen geben, wie soll ich da abdanken? Wenn’s sein muss, nehm ich eine MG, und gehe voran … Wenn alles ruhig bleibt, sei’s drum, wenn unser Volk friedlich lebt und sich entwickelt – jederzeit.“ Damit gibt Lukaschenko erstens de facto zu, dass die Lage in Belarus alles andere als stabil ist. Wenn er zweitens die unermüdliche Suche nach Feinden fortsetzt, die Dämonisierung der Opposition, der benachbarten NATO-Mitgliedsländer, der Ukraine und der USA, wenn er die Atmosphäre einer belagerten Burg weiter hochpeitscht (und speziell davon war seine Botschaft durchdrungen), dann wird er immer sagen können, jetzt sei nicht der richtige Zeitpunkt zu gehen.
Überhaupt strotzte Lukaschenkos gesamte Rede nur so von der Idee, er sei unersetzlich (oder gar von Gott erwählt). Als ob es ohne seine Entschlossenheit mit der MG in Händen im August 2020 am Höhepunkt der Proteste (die er Aufstand nennt) das Land gar nicht mehr gäbe: Die fünfte Kolonne hätte die Macht ergriffen und Belarus bereits dem Westen ausgeliefert (die NATO-Truppen „waren schon in Startposition“). Dieses Motiv – dass unter bedrohlichen Umständen ein erfahrener, starker Führer auf keinen Fall abdanken darf – wird er bestimmt weiter ausschlachten, zumal die Konfrontation mit dem Westen allem Anschein nach ernst werden und lang dauern wird. Und da eröffnet sich noch dazu die günstige Gelegenheit, dem Kreml zuzuspielen.
Echte Ideen zur Entwicklung fehlen dem Regime
Wobei die Redenschreiber sich offenbar bemüht haben, Ideen von Innovation und Entwicklung einzubauen, um den Redner nicht komplett rückschrittlich und reaktionär aussehen zu lassen. Allerdings mit wenig Erfolg. „Wir haben alle Möglichkeiten, Belarus zu einem sich dynamisch entwickelnden Land zu machen“, erklärte Lukaschenko. Doch hat er versucht eine Überarbeitung des Grundgesetzes, die das vom ersten Präsidenten geschaffene strenge und undemokratische System aufrechterhält, als politische Innovation zu verkaufen. Sogar in Bezug auf den kontrollierten Aufbau von Parteien (auf dessen Belebung sowohl der Kreml als auch ein Teil der Loyalisten gehofft hatten) verplapperte sich unser Staatsoberhaupt mit den Worten: „Wir werden diesen Prozess nicht forcieren.“
Desgleichen ließ er verlautbaren, dass in nächster Zeit ein Gesetz beschlossen werde, das definiert, was Zivilgesellschaft ist und was ihr Wesen, ihre Struktur ausmache. Doch die Formierung einer Zivilgesellschaft nach staatlichen Vorgaben ist per se Nonsens. Eine echte Zivilgesellschaft wächst von unten, auf Initiative der Bevölkerung. Noch dazu ist das wichtigste Ziel, wie ganz offen erklärt wurde, dass „die Basis der Zivilgesellschaft nicht schlafende Keimzellen nationaler Minderheiten werden, die 2020 das Land umstürzen wollten“. Mit anderen Worten, auf diesem durch die Repressionen verbrannten Feld sollen Attrappen geschaffen werden, GONGOs, die eine Zivilgesellschaft imitieren.
Kein Wort fiel zum Thema Wirtschaftsreformen. Im Gegenteil, Lukaschenko gab zu verstehen, dass er IT-ler und Unternehmer noch stärker in die Mangel nehmen kann – jene Berufsgruppen, die sich aktiv an den Protesten beteiligt hatten. Indessen sind es gerade diese fortschrittlichen Gesellschaftsschichten, die die Wirtschaft in Schwung bringen könnten. Aber wie wir sehen: Der Chef des Regimes will in erster Linie den Aufstand unterdrücken, wenn auch zum Schaden der wirtschaftlichen Entwicklung. Insofern sind Versprechungen dynamischer Transformationen schöne Worte und nichts dahinter. Faktisch opfert die Regierung, die um jeden Preis an der Macht bleiben will, die Entwicklung des Landes und versucht, jegliche Gegenstimmen in die Knie zu zwingen.
Für den Machtapparat von Alexander Lukaschenko sind die Staatsunternehmen, die über 60 Prozent des jährlichen Gesamtumsatzes und fast 50 Prozent der Beschäftigten des Landes auf sich vereinen, von essentieller Bedeutung. Denn, so urteilt der Politologe Waleri Karbalewitsch: „Der Staat ist der größte Arbeitgeber. Das ermöglicht der Regierung eine staatliche Kontrolle der Gesellschaft.” Entsprechend hat die Oppositionsbewegung seit dem Ausbruch der Proteste mit dem 9. August 2020 immer wieder versucht, Streiks zu initiieren, die sich allerdings zu keinem Zeitpunkt zum erhofften Generalstreik im ganzen Land ausweiteten. Ein neuerlicher Streik sollte am 1. November beginnen. Warum dieser mehr oder weniger versandete und damit weit davon entfernt war, die Wirkung zu entfalten, die sich die Organisatoren erhofft hatten, analysiert der Journalist Alexander Klaskowski für das belarussische Online-Medium Naviny.by.
Ungefähr so, im Stil alter Filmkomödien mit schwarzem Humor, streitet derzeit ein engagiertes Publikum über die Symptome des am 1. November in Belarus ausgerufenen Streiks. Betrachtet man die Tatsachen, ist das Regime nicht in seinen Grundfesten erschüttert. Analytiker meinen (und haben das bereits vor dem 1. November deutlich erklärt), dass die Lage jetzt nicht dazu geeignet sei, Menschen massenweise zu Aktionen zu bewegen, die das Regime zu Zugeständnissen nötigen könnten.
Kopf der Initiative ist der Chef der Belarussischen Arbeitervereinigung (BOR), Sergej Dylewski, der aus politischen Gründen emigriert ist. Zu seinen Unterstützern gehören Waleri Zepkalo, ein prominenter Gegner von Lukaschenko, Dimitri Bolkunez, der Russland aus Angst verlassen hat, dass er in die Fänge des belarussischen Regimes gerät, Andrej Sannikow, der fast schon in Vergessenheit geratene Präsidentschaftskandidat bei den Wahlen 2010 mit seiner Kampagne Europäisches Belarus und dem Medienportal Chartija 97. Sie kritisieren heftig diejenigen, die die Idee nicht aufgegriffen haben. Und das sind wohl die meisten Anführer und Strukturen der Opposition.
Dylewski erklärte, am ersten Streiktag hätten zwischen 10 und 30 Prozent der Arbeiter in Belarus aus unterschiedlichen Gründen bei der Arbeit gefehlt. Wobei die Initiatoren einräumen, dass diese Zahlen schwer zu prüfen sind. Ebenso schwer ist zu unterscheiden, wer einfach krank war oder aus ernsthaften medizinischen Gründen in Quarantäne saß, und wer dem Aufruf gefolgt ist und damit dem Regime den Kampf angesagt hat (oder ihm wohl eher insgeheim den Stinkefinger zeigte).
Mit anderen Worten: Wir können nur rätseln, wie viele von diesen angeblichen 10 bis 30 Prozent siechende Jabatkas waren, und wie viele ideelle Gegner Lukaschenkos.
Die Idee wird auf einen Flashmob reduziert
Die unbequemste Frage ist hier allerdings die nach den Zielen der Aktion und nach dem tatsächlichen Effekt. Es sieht so aus, als hätte man gewaltig Anlauf genommen und dann nur ganz schwach geschossen.
Dylewski verkündete bereits am 30. August eine Streikwarnung und formulierte dabei zehn Forderungen an die Regierung. Unter anderem das Ende der Repressionen und die Freilassung aller politischen Gefangenen und rechtswidrig Verhafteten. Außerdem sollten die Gehälter, Stipendien und Renten „an die tatsächliche wirtschaftliche Lage im Land angepasst“ werden (eine unglückliche Formulierung – man könnte sarkastisch einwenden: Ihr kläglicher Zustand entspricht eben genau der miesen wirtschaftlichen Lage). Schließlich war eine der Forderungen „die Aufnahme direkter Verhandlungen zwischen dem Regime und den demokratischen Kräften unter unbedingter Beteiligung der Arbeiterführer über Neuwahlen des Präsidenten und des Parlaments zur Überwindung der politischen und wirtschaftlichen Krise“.
Oho! Da wird sich Lukaschenko aber sowas von in Bewegung setzen! Über diese Forderungen verlieren jetzt selbst die Initiatoren kein Sterbenswörtchen mehr. Und die ursprüngliche Idee von einem Streik und einem Ultimatum an das Regime versucht man nun auf eine Art Volksquarantäne zu reduzieren, eine Aktion „Bleib zuhause“, auf einen Flashmob. So nach dem Motto: Wenn wir die Zahl der Corona-Toten reduzieren, kann das schon als Erfolg gelten.
Klingt edel, ist aber eine klare Profanisierung der ursprünglichen Idee. Ein Versuch, trotzdem gute Miene zu machen. Pawel Ussow, Leiter des Zentrums für politische Analysen und Prognosen in Warschau, meint hierzu ironisch: Man hätte das ganze Vorhaben nicht Generalstreik, sondern Anti-Corona-Aktion nennen sollen. „Einen Streik in dem Sinne, wie er angekündigt wurde, hat es nicht gegeben“, erklärte Ussow gegenüber Naviny.by.
„Proteste geschehen nicht auf Anweisung von Komitees“
Ganz ähnlich bewertete der Politologe Waleri Karbalewitsch in einem Kommentar für Naviny.by die Lage: „Offensichtlich hat es keinen landesweiten Streik gegeben.”
Er erinnerte daran, dass Swetlana Tichanowskaja im Oktober vergangenen Jahres versuchte, der Regierung ein Ultimatum zu stellen, und dazu einen Streik organisierte. Damals habe es zumindest einige Anzeichen gegeben, dass man dem Aufruf mit Aktionen folgte. Unter anderem hatten Dutzende privater Handels- und Dienstleistungsunternehmen geschlossen. Jetzt kam es nicht einmal dazu.
Zu ergänzen wäre, dass der Streikaufruf auch damals eine klare Fehlkalkulation der Regimegegner war. Er erfolgte nämlich, als die politische Aktivität bereits abnahm, und er lieferte der Regierung einen Vorwand, die Repressionen zu verstärken und nichtloyale Unternehmen „niederzumetzeln”, wie Lukaschenko sich ausdrückte.
„Revolutionen, landesweite Streiks und Ausbrüche von Protest geschehen nicht auf Anweisung von Komitees. Da müssen eine Reihe von Umständen zusammenkommen“, meint Karbalewitsch. Im August 2020 waren diese Umstände zusammengekommen. Aber auch damals seien nicht Proletarier die wichtigste Triebkraft der Proteste gewesen, sondern Angehörige der Mittelschicht, IT-Spezialisten, Unternehmer oder Mitarbeiter im nichtstaatlichen Sektor, betont er. „Die Epoche der proletarischen Revolutionen ist vorbei, weltweit schwindet das Gewicht der industriellen Produktion.“ Die Situation in Belarus ist zudem auch deshalb eine besondere, weil viele Arbeiter in Staatsunternehmen angestellt sind, die nicht effizient sind und Subventionen erhalten, also von der Gnade der Regierung abhängig sind. Das sei „ebenfalls ein Hemmfaktor“ für aktive Proteste, meint Karbalewitsch. Insgesamt gebe es jetzt in Belarus derzeit „eine Phase der Entpolitisierung“ der Bevölkerung, so der Experte.
Der Misserfolg hat „negative Folgen für die gesamte Opposition“
Die Initiative der Belarussischen Arbeitervereinigung war eindeutig nicht durchdacht. Dylewskis Gruppe sei es nicht gelungen, ihre Agenda durchzusetzen, erklärt Ussow. Mehr noch, es sei das Regime, das hier in gewissem Maße die Initiative ergriffen hat.
„Das Regime hat das unabhängige Kommunikationsnetzwerk in Belarus zerstört und macht das auch weiterhin“, sagt der Politologe. Heute haben viele Figuren und Gruppierungen, die im Kampf gegen das Regime eine Führungsrolle beanspruchen, eindeutig Probleme, den Zustand der Gesellschaft richtig einzuschätzen.
Gleichzeitig setze „die neue Opposition teilweise völlig unnötigerweise auf Populismus“. Im Vordergrund stehe die Bewegung, unabhängig von den Ergebnissen. Obwohl „die historische Erfahrung zeigt, dass unüberlegtes Handeln großen Schaden anrichten kann“, erklärt Ussow. Manche aus der neuen Opposition in Belarus würden gerade Fehler der alten Opposition wiederholen und ihr Ansehen stark gefährden.
Allerdings haben längst nicht alle Akteure und Strukturen der Opposition die Idee von Dylewski und seinen Mitstreitern (oder Ideengebern) unterstützt. Mitarbeiter von Tichanowskajas Team und auch sie selbst haben sich zurückhaltend zu der Idee geäußert (weswegen sie umgehend heftige Kritik der Befürworter einstecken mussten). Auch Pawel Latuschko, Leiter des Nationalen Anti-Krisen-Managements, ging zum Streikaufruf auf Distanz.
Der Misserfolg des Streiks habe aber „negative Folgen für die gesamte Opposition“, erklärt Ussow. Die erbitterte Debatte (um nicht zu sagen: das heftige Gezänk) um dieses Unterfangen bedeute eine „innere Entkonsolidierung der Opposition“, die de facto schon erheblich früher eingesetzt habe. Dabei „wird auch Tichanowskajas Autorität offen in Frage gestellt“, betont Ussow.
Hat Lukaschenko das Referendum schon gewonnen?
Über die Motive der Initiatoren des Streiks können wir nur rätseln. Leiden sie derart unter Realitätsverlust? Haben sie aus Ehrgeiz und mit Blick auf Konkurrenten beschlossen, Tichanowskajas Monopol zu erschüttern? Böse Zungen verweisen auf Fristen für Fördermittel. Dylewski und seine Mitstreiter sagen, sie würden sich um das schwere Los der Belarussen sorgen, die unter dem Joch des Regimes ächzen, und sie würden lieber handeln als ewig palavern.
Gleichzeitig betont Dylewski immer wieder, dass er kein Politiker sei, sondern ein echter Malocher. Dabei ist eine solche Initiative Politik, sogar große Politik. Naiv-Tun bringt einen hier nicht weiter. Politik ist bekanntlich die Kunst des Möglichen. Unbedachte Schritte können da schlimmer sein als durchdachte Pausen (allerdings wäre da noch die Frage, worum es sich bei den anderen handelt – um eine wohlüberlegte Pause oder elementare Ohnmacht?).
Jedenfalls ist offensichtlich, dass das Scheitern des Streiks unter Führung der Belarussischen Arbeitervereinigung dem Regime propagandistische Trümpfe an die Hand gibt und der gesamten Bewegung für Veränderungen im Land schadet.
Die Regimegegner klären jetzt also anhand des Streiks ihre Konflikte, auch wenn das letztendlich eher ein Zersägen von Sägespänen ist. Mit dieser Geschichte ist alles klar.
Unterdessen rückt das Referendum näher. Und dazu ist bei denen, die im Kampf gegen das Regime Führung beanspruchen, nicht nur keine überzeugende Strategie, sondern nicht einmal eine ernsthafte Diskussion zu erkennen.
Ussow schätzt, dass derweil allein das Regime mit seinem unvorhersehbaren Vorgehen – erinnert sei nur an die erzwungene Landung der Ryanair-Maschine – dafür sorgen könnte, dass es zu kritischen Situationen rund um das Referendum kommt. Sollten Erschütterungen aber ausbleiben, dann „wird das System nach dem Referendum noch härter und noch verschlossener“, betonte Ussow gegenüber Naviny.by.
Von all dem mal ganz abgesehen könnte es ein Referendum auf ein Tor werden ohne aktive Spielbeteiligung der gegnerischen Mannschaft. Und dann kann Lukaschenko damit trumpfen, um Wladimir Putin endgültig zu überzeugen: Alles Okay, nicht nur beim Eishockey, die Mauer steht, niemand und nichts in Belarus muss ausgewechselt werden.
2000 bis 4000 Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien sitzen im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus bei Temperaturen um den Gefrierpunkt fest. Immer wieder versuchen Gruppen, die Zäune und Grenzvorrichtungen in Richtung EU zu durchbrechen. Mittlerweile stehen rund 15.000 polnische Soldaten an der Grenze, die ein Durchkommen der Flüchtlinge zu verhindern versuchen, sie immer wieder in Richtung Belarus zurückdrängen. Belarussische Grenzer treiben die Flüchtlinge dagegen immer wieder in Richtung Polen. In Minsk protestierte eine große Gruppe von Migranten am Sportpalast im Zentrum der Hauptstadt.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wirft den belarussischen Machthabern vor, mit der Flüchtlingskrise „einen hybriden Angriff” auf die EU gestartet zu haben. Polen wertet Alexander Lukaschenkos Rolle in der Krise als „Staatsterrorismus”, der deutsche Außenminister Heiko Maas nennt ihn einen „Schleuser”. Der belarussische Außenminister Wladimir Makej dagegen hält die Krise an der Grenze für eine Provokation durch die NATO und droht mit Vergeltung. Kreml-Sprecher Dimitri Peskow sagte: „Die Lage ist definitiv angespannt, alarmierend – sie erfordert ein verantwortungsvolles Handeln aller Beteiligten.” Unterdessen telefonierte Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Wladimir Putin und bat ihn, auf Lukaschenko einzuwirken. Die Lage an der östlichen EU-Grenze spitzt sich weiter zu. Weitere EU-Sanktionen sollen den belarussischen Machthaber zusätzlich unter Druck setzen. Lukaschenko droht im Gegenzug, den Warenverkehr durch sein Land und den Transit von Öl und Gas in Richtung EU zu blockieren.
In Politik und Medien wird derweil auch in Belarus debattiert, wie der Konflikt zu lösen und zu bewerten sei. In der staatlichen Zeitung SB.Belarus segodnjameint der Politikanalyst Juri Schewzow ganz im Sinne der offiziellen Rhetorik des Machtapparats, dass Polen die Schuld an dem Konflikt trage: „Dieses Land lebt mit monströsen Vorstellungen von sich selbst und der Realität. Und deshalb haben die Polen kein Recht, sich als Europäer zu bezeichnen. Indem sie an der Grenze Gräueltaten begehen, verletzen sie europäische und christliche Werte.” Die belarussische Führung inszeniert sich in einer Krise, die sie selbst geschaffen hat, als „Beschützerin von humanitären Werten”. Darauf spielte die Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja mit ihrer Aussage auf Twitter an: „Erinnern wir uns: Die Migrantenkrise an der Grenze zwischen Belarus und der EU hat nicht erst gestern oder vor einem Monat begonnen. Sie begann mit der politischen Krise in Belarus im letzten Jahr.” Im eigenen Land geht Lukaschenkos Machtapparat seitdem brutal gegen die eigene Bevölkerung vor. Die polnische Regierung hat sich schon früh auf die Seite der Protestbewegung in Belarus gestellt. Polen war einer der EU-Staaten, die die Sanktionen gegen Lukaschenko vorangetrieben haben. Durch den Flüchtlingsstrom, der von den belarussischen Machthabern seit Anfang Juli lanciert und flankiert wird, soll also nicht nur die EU, sondern auch Polen abgestraft werden. Polen erwägt nun, seine Grenzen zu Belarus vollständig zu schließen. Auch die Ukraine, die auf 1000 Kilometern an Belarus grenzt, überlegt, ihre Grenzvorrichtungen zu verstärken.
In seinem Text für das Medium Naviny.by rückt der Journalist Alexander Klaskowski vor allem die belarussische Sichtweise auf den Konflikt in den Vordergrund. Dabei fragt er, ob es Lukaschenko gelingen kann, die EU mit seiner Taktik zu schwächen, welche Rolle Putin in Lukaschenkos Eskalationsplan spielt und ob der Kreml überhaupt Interessen an einer weiteren Eskalation der Krise hat.
Schadenfreude ist bekanntlich die schönste Freude. Aber hat Minsk auch rationale Gründe, diese Krise zu eskalieren? Wird es Lukaschenko gelingen, Europa „zu beugen“, wie er es ausdrückt? Und wie wird sich Russland angesichts dieser Eskalation verhalten – das Land, das zweifellos weit mehr Einfluss auf die belarussische Führung hat als die anderen Beteiligten?
„Und ihr Halunken, ihr Verrückten, wollt, dass ich euch beschütze?“
Die belarussische Führung gibt sich unschuldig: Die Menschen aus den Problemländern seien legal eingereist, sie begingen keine Verstöße und so weiter und so fort. Das ist natürlich pure Heuchelei.
Lassen wir die Frage, wie diese Leute nach Belarus gebracht wurden einmal beiseite. Zumindest gibt es strenge Regeln für das Betreten von belarussischen Grenzgebieten durch Ausländer. Doch während Hunderte von Belarussen, die in geschlossenen Kolonnen durch die Straßen liefen, das mit Gefängnis bezahlen mussten, wird es dahergelaufenen Gestalten aus irgendeinem Grund nicht verwehrt. Die belarussischen Sicherheitskräfte präsentieren sich bei solchen unerlaubten Aktionen als reinste Knuddelbären.
Lukaschenko hat am 9. November ein Interview mit Igor Korotschenko, dem Chefredakteur der russischen Zeitschrift Nazionalnaja oborona (Nationale Verteidigung) genutzt, um ziemlich durchsichtige Botschaften an Europa zu übermitteln: „Ihr habt Sanktionen gegen mich verhängt, gegen die Belarussen. Ihr habt einen hybriden Krieg gegen Belarus angezettelt – Medien, Wirtschaft, Politik, jetzt seid ihr schon beim Militärischen und der Sicherheit angelangt. Und ihr Halunken, ihr Verrückten, wollt, dass ich euch beschütze, und das auch vor Migranten?“
Nach Lukaschenkos Meinung ist es von der EU ein wenig töricht, „von mir zu verlangen, dass ich, wie bislang, das aus eigener Tasche bezahlen und stoppen soll“. Kurz und gut: Ändert eure Politik gegenüber dem Regime, setzt euch an den Verhandlungstisch und zahlt, wenn ihr dieses Problem loswerden wollt. Die Propagandisten des Regimes erklären klipp und klar, Lukaschenko könne diesen Albtraum „mit einem Fingerschnippen“ beenden.
Bislang scheint Europa jedoch nicht geneigt, vor Minsk in die Knie zu gehen. Polen und Litauen verhalten sich trotz Kritik von der UN und Menschenrechtlern hart gegenüber den ungebetenen Gästen und schlagen ihnen die Tür vor der Nase zu.
Zudem arbeitet Brüssel an einem fünften Sanktionspaket, um Minsk für diese Politik zu maßregeln. Das Image des Regimes auf der internationalen Bühne wird immer abstoßender; es wird vom Westen immer deutlicher als Bedrohung der Sicherheit in der Region wahrgenommen, als Quelle der Instabilität für die Gemeinschaft der demokratischen Länder.
Das Regime setzt auf die Schwäche der europäischen Politiker
Kann man also sagen, dass Lukaschenkos Spiel zum Scheitern verurteilt ist? Wie lässt sich die Hartnäckigkeit des Regimes bei der Eskalation der Migrationskrise erklären?
Die belarussische Regierung, die darauf abzielt, Europa zu verärgern, wendet hier „dieselbe Logik an wie bei ihren inländischen Gegnern“, so der Politikexperte Waleri Karbalewitsch in einer Stellungnahme gegenüber Naviny.by. Seiner Meinung nach ist die Regimeführung vor allem von einem Bedürfnis nach „elementarer Rache“ getrieben.
Es gebe aber auch ein rein rationales Kalkül – nämlich, Europa zu den Bedingungen des Regimes an den Verhandlungstisch zu zwingen. „Lukaschenko hält europäische Politiker für Schwächlinge“, so Karbalewitsch. Und wenn etwa der österreichische Bundeskanzler Alexander Schallenberg im Vorfeld einer Konferenz zu Belarus in Wien erklärt, man könne mit Minsk nicht nur in der Sprache der Sanktionen sprechen, gibt er der belarussischen Führung Grund zu der Annahme, dass es sinnvoll sei, den Druck auf Europa zu verstärken. Zwar sei es Lukaschenko bisher nicht gelungen, die EU „zu beugen“, aber es gebe auch keine starke Reaktion aus Europa. „Die Europäische Union ist ratlos“, so Karbalewitschs Fazit.
Auch Pawel Ussow, Leiter des Zentrums für politische Analyse und Prognose in Warschau, äußerte gegenüber Naviny.by die Meinung, dass „es zurzeit in Europa keine politischen Führer gibt, die die volle Verantwortung übernehmen und die willensstarke Entscheidung treffen könnten, das Lukaschenko-Regime ohne Rücksicht auf die Folgen zunehmender Spannungen zu bezwingen“.
Lukaschenko, so der Politologe, „handelt nach dem Prinzip der maximalen Spannungseskalation“. Er setze auf die Erfahrung, dass europäische Politiker bei steigendem Leidensdruck dazu neigen, „den Weg des Kompromisses zu gehen, eine Möglichkeit zum Dialog zu suchen“. Zudem habe der belarussische Regent „nichts mehr zu verlieren“, was das Image eines zivilisierten Politikers angeht.
Putin spielt sein eigenes Spiel
Im Kontext dieser Eskalation wird klar, dass Moskau Minsk die Bälle zuspielt. Am 10. November versuchte die weiterhin amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Migrationskrise mit Wladimir Putin zu besprechen. Dieser jedoch, so teilt der Pressedienst des Kreml mit, „schlug vor, eine Erörterung der entstandenen Probleme im direkten Kontakt der offiziellen staatlichen Vertreter – der EU-Mitglieder und Minsk – in die Wege zu leiten“. Kurz gesagt, er hat Europa gepflegt zu Lukaschenko geschickt.
Tatsächlich wäre es eine starke Vereinfachung anzunehmen, dass Putin nur daran denkt, wie er in seinem Konflikt mit dem Westen am besten Lukaschenkos Interessen vertreten kann. Moskau spielt sein eigenes Spiel. Ussow weist unter anderem darauf hin, dass mittlerweile Kampfflugzeuge vom Typ Tu-22M3 der russischen Luftstreitkräfte im belarussischen Luftraum patrouillieren.
„Ist die Migrationskrise vielleicht nur ein Deckmantel, um russisches Militär nach Belarus zu schicken?“, fragt der Leiter des Zentrums für politische Analyse und Prognose Pawel Ussow. Ihm zufolge könnte Putin höchstpersönlich der Europäischen Union die Vermittlerrolle in der Lösung der Krise aufnötigen und daran die Aufhebung der westlichen Sanktionen gegen Russland knüpfen, indem er eine Art Normandie-Format einfordert, in dem Moskau als vollwertiger Partner für Europa agiert.
Mit anderen Worten, der Kreml wäre auf diese Art in der Lage, sein Problem der politischen Kontrolle über Belarus zu lösen und gleichzeitig „Lukaschenko zur Realisierung der eigenen Außenpolitik im Hinblick auf die EU zu instrumentalisieren“, erklärt Ussow zusammenfassend.
Die Führungselite ist es nicht gewöhnt, Schritte vorauszuberechnen
Generell ist die Behauptung, in dieser Situation würde der Schwanz mit dem Hund wedeln, zumindest bestreitbar. Ja, Lukaschenko trumpft mit dem russischen Atomschild auf und muss sich tatsächlich, trotz all seiner Kunststücke, nicht vor einer Intervention des Westens fürchten (obwohl man immer wieder – auch im Gespräch mit Korotschenko – an die Schicksale von Saddam Hussein und Muammar Gaddafi denkt, die die westlichen „Halunken“ „einfach getötet“ haben).
Die Hoffnungen anderer Gegner Lukaschenkos, Putin könne ihn zähmen oder gar ganz absetzen, sind derweil naiv. Die beiden autoritären Regime sind artgleich und geistesverwandt, zudem hat der Kreml bislang weder einen wirklichen Ersatz für den belarussischen Führer noch ein zuverlässiges Instrumentarium für einen solchen Machtwechsel.
Auf einem anderen Blatt steht, dass der Kremlchef seine Mission keinesfalls in der Schaffung möglichst bequemer Bedingungen für den belarussischen Problempartner sieht, und auch nicht in seiner Rettung um jeden Preis. Im Gegenteil, Moskau nutzt dessen wachsende Konfrontation mit dem Westen aus und verstärkt seine militärische Präsenz in Belarus (was nicht in Lukaschenkos Interesse und noch weniger im Interesse der belarussischen Souveränität liegt). Erweitert man den Blick, wird klar, dass die russische Führung Belarus in ein Netz von Abhängigkeiten verstrickt hat, aus dem es auch eine neue Führung nicht herauslösen kann.
Gleichzeitig ist der Kreml bereit, den skandalträchtigen Verbündeten beim Wort zu nehmen: Ah, du sagst, die Polen und andere Aggressoren werden gleich mit ihren „Leoparden“ in den Unionsstaat einfallen? Dann lass uns doch mit ein paar Militärbasen und einigen „Iskander“-Raketensystemen an den Grenzen zum heimtückischen NATO-Monster aushelfen. Und du könntest dann eigentlich, nachdem du bezüglich der Krim-Anerkennung schon A gesagt hast, endlich mal B sagen (was die Beziehungen zur Ukraine automatisch erheblich verschlechtern und Minsk weiter isolieren würde).
Hinzu kommt noch, dass die fortgesetzte strikte Abweisung der illegalen Migranten durch Polen und Litauen zu einer Ansammlung dieser Menschen in Belarus führen kann, die zum innenpolitischen Problem für das Regime würde. Dadurch wäre die belarussische Regierung, so Karbalewitsch, notgedrungen zu einer „Drosselung dieser Operation“ gezwungen.
Doch aktuell beobachten wir noch immer eine Erhöhung der Einsätze. Die belarussische Führungselite ist es nicht gewöhnt, viele Schritte vorauszuberechnen und hofft scheinbar nach wie vor darauf, Europa „beugen” zu können. Im Endeffekt riskiert Minsk, sich in jeder Hinsicht zu verrechnen. Die Beziehungen zum Westen werden endgültig begraben und Belarus rutscht noch tiefer in Moskaus imperiale Falle.
In Belarus wütet weiter die vierte Corona-Welle. Während der Staat in den vergangenen Wochen proaktiver auf die Herausforderungen der Pandemie zu reagieren schien und beispielsweise erstmals eine Maskenpflicht verfügte, forderte Alexander Lukaschenko bei einer Tagung zur aktuellen Covid-Lage, keinen Druck auf die Menschen auszuüben, Schutzmasken tragen zu müssen oder sich impfen zu lassen. Prompt wurde die Maskenpflicht wieder abgeschafft.
In einem Text für das Online-Medium Naviny.by analysiert der Journalist Alexander Klaskowski die widersprüchlichen Aussagen und Entscheidungen von staatlicher Seite und hinterfragt generell den Schlingerkurs der Autoritäten in Bezug auf die Pandemie im Land. Zudem geht er der Frage nach, in welchem Zusammenhang das Misstrauen der Bevölkerung bei der Impfbereitschaft mit dem Protestwillen und der Kritik der Belarussen an den Machthabern stehen könnte. Schließlich kam es kürzlich wieder mal zu einer Rochade in den Strukturen der Silowiki, als Lukaschenko zwölf Posten neu besetzte. Für Klaskowski möglicherweise ein Zeichen dafür, dass sich die Machthaber doch nicht so siegesgewiss fühlen, wie es das harte Vorgehen gegen Proteste, Widerstand, Medien und NGOs glauben machen könnte.
Obwohl die vierte Welle noch heftiger ist als die zuvor, kam Lukaschenko nicht einmal auf der Corona-Konferenz am 19. Oktober ohne Seitenhiebe auf die Feinde aus, die niemals schlafen. Um so mehr, da er schon am Vortag ihre Bedeutung betont hatte, als er, wie sein Pressesprecher bekanntgab, „Personalentscheidungen im System der staatlichen Sicherheit“ getroffen hatte (es spricht Bände, dass die ernannten Personen anonym bleiben).
Als am 19. Oktober die Rede auf den Westen kam, verkündete Lukaschenko: „Unsere Protestler werden von denen permanent mit Geld und sonstwas angetrieben, von wegen: Kommt, macht Belarus nieder, stürzen wir die Machthaber bei diesen Anti-Corona-Veranstaltungen.“
Am 18. Oktober, dem Tag der Personalentscheidungen, rief der Führer des politischen Regimes allen ins Gedächtnis, dass „die Situation immer noch angespannt ist und wir uns nicht zurücklehnen dürfen.“
„Sie wissen besser als alle anderen“, sagte Lukaschenko zu den Leuten mit Schulterklappen, deren Gesichter im TV-Bericht verpixelt wurden, „dass sich an den Plänen des Gegners durch den missglückten Umsturzversuch nichts geändert hat. Der kollektive Westen mischt sich auch weiterhin in die inneren Angelegenheiten unseres Landes ein und zielt auf einen Machtwechsel.“
Lukaschenko enthüllte zudem die konkreten Pläne der Feinde: „Als ein mögliches Datum für den nächsten Revolutionsversuch (Tag X, wie es heißt) ziehen sie die Zeit des Verfassungsreferendums in Betracht.“
Versuch mal, vom Tiger abzusteigen
Der Führer des politischen Regimes schlug zwar bezeichnenderweise mehr als einmal selber vor, ein neues Kapitel aufzuschlagen, und versicherte, die Proteste seien zuverlässig niedergeschlagen. Dennoch mahnte er seine Untergebenen immer wieder, nicht nachzulassen, denn der Feind schlafe nicht und spinne neue Intrigen.
Die Regierungsspitze glaubt also selbst nicht an den zweifellosen und endgültigen Sieg über die „Protestheinis“. Dabei scheint doch alles unterdrückt: Von den Regierungsgegnern werden die einen eingesperrt, die anderen aus dem Land gedrängt, und die, die noch da sind, sitzen mucksmäuschenstill und bauen darauf, dass man sie vergisst.
Und trotzdem ist da diese innere Unruhe. Man kann mit Schlagstöcken auf Leute einprügeln (wovon die Sicherheitskräfte im vergangenen Jahr auch reichlich Gebrauch machten), man kann sie einschüchtern, aber die kritischen Gedanken kann man aus ihnen nicht rausprügeln. Menschen, die den Sturz der Regierung und faire Wahlen wollen, beißen die Zähne zusammen und warten auf die nächste Stunde, in der es die Chance gibt, dass sich die Situation grundlegend verändert.
Kein Wunder, dass die unabhängige Meinungsforschung im Land mundtot gemacht wurde. Denn sie könnte womöglich zeigen, dass die vermeintlich einstimmige Unterstützung des Volkes für den Machthaber (und die angeblich mickrige Minderheit der Weißrotweißen, die eigentlich gar keine Menschen sind, wenn man es genau nimmt) nichts als ein Mythos der Propaganda darstellen.
Deswegen traute sich die Regierung auch nach den niedergeknüppelten Protesten nicht, die Lokalwahlen und das Verfassungsreferendum gleichzeitig durchzuführen, wie es eigentlich geplant war. Als scheinheilige Begründung für einen Aufschub der Wahlen um fast zwei Jahre, auf den Herbst 2023, musste ein Gesetz zum einen Wahltag herhalten. Zu diesem Zweck haben die Parlamentarier sogar extra (ohne viel Aufsehen) eine Verfassungsänderung vorgenommen, und natürlich stellte das Verfassungsgericht in der Vertagung der Wahlen keine Verletzung der Wählerrechte fest.
Und doch ist die Führungsriege offenbar beunruhigt. Dabei halten unabhängige Experten Massenproteste während des Referendums, das für Ende Februar angesetzt ist, für unwahrscheinlich. Das derzeitige Regime, das jegliche Moral längst über Bord geworfen hat, hätte keinerlei Hemmungen, jeden zu zerschmettern, der es wagt, nur einen Fuß auf die Straße zu setzen. An Brutalität und Hass würde es ihnen in den kommenden Monaten sicher nicht mangeln.
Dabei scheint es unter den Regierungsgegnern gar keinen Plan zu geben, wie man beim Referendum vorgehen soll. Eine alternative „Volksverfassung“ würde die Regierung gar nicht erst zur Wahl stellen. An einem Boykott sind die Leute schon einmal gescheitert, und Boykotts haben in den belarussischen Verhältnissen sowieso noch nie funktioniert.
Soll man die Stimmzettel beschädigen, fotografieren und auf einer online-Plattform sammeln, um eine parallele Auszählung zu machen? Die Regierung scheut vor nichts zurück, sie könnte sogar so weit gehen, Wahlkabinen ohne Vorhänge einzuführen. („Ich fotografier dich hier gleich“, sagt dann ein Polizist mit Nachdruck.) Die alternative Plattform würde sicherlich gesperrt und die parallele Auszählung sowieso als Lüge diffamiert.
Kurz gesagt, Lukaschenko scheint über den Tag X mehr zu wissen als die Leute, die ihn loswerden wollen. Und obwohl das alles nur Phobien sind, werden sie dazu führen, dass die Daumenschrauben nochmal angezogen und der letzte Rest an Kritik bis hin zum Referendum ausgemerzt werden.
Anschließend wird die Regierungsspitze eventuell darüber nachdenken, wie sie mit dem Westen umgehen soll. Aber dieselben Phobien werden sie auch hier daran hindern, auch nur die geringsten Zugeständnisse zu machen.
Es ist ein Teufelskreis: Die Regierung hat sich in permanente Repressionen manövriert, und je brutaler die Repressionen werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass selbst homöopathische Lockerungen Prozesse in Gang setzen, die für die Regierung verheerend wären. Ganz wie in dem chinesischen Sprichwort: Wer auf dem Tiger reitet, kann schlecht absteigen.
Der Versuch, das Image eines Corona-Leugners loszuwerden
Bei der Corona-Konferenz räumte Lukaschenko ein, die Pandemie hätte bei der letzten Präsidentschaftswahl das politische Verhalten der Belarussen beeinflusst: „Der wichtigste Trigger war Covid. Hat dazu noch jemand Fragen?“ Aber „bei der aktuellen Welle beginnt grad politische Erpressung und eine Instrumentalisierung [der Pandemie gegen die Regierung]“.
Man muss hinzufügen, dass die Regierung im vergangenen Jahr selbst für die Unzufriedenheit der Menschen sorgte, auch derer, die eigentlich unpolitisch waren. Alle wissen noch, wer den Leuten geraten hatte, das Virus mit Banja, Wodka, Traktorfahren und Streicheln weißer Zicklein zu bekämpfen, und wer behauptet hat, die Verstorbenen seien selbst schuld: Der eine war zu dick, der andere hat sich auf der Straße rumgetrieben (wobei die Menschen zur Arbeit gehen mussten, weil es keinen Lockdown gab).
Bei der Konferenz am 19. Oktober versuchte Lukaschenko nun, das Image des Corona-Leugners, das sich als unvorteilhaft erwiesen hat, loszuwerden. Er wies den Gesundheitsminister und weitere Beamte an, strenge Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung und insbesondere alter Menschen zu ergreifen, versprach etwas Geld aus dem Fonds des Präsidenten beizusteuern, „um unsere Ärzte zu unterstützen und reichlich Medikamente und sonstiges Material einzukaufen“.
Gleichzeitig trugen die meisten Konferenzteilnehmer keine Masken („Maulkörbe“, wie der Machthaber sie mal bezeichnet hat). Obendrein rügte Lukaschenko seine Untergebenen, die vorgehabt hatten, Maskenverweigerer zu verfolgen: „Wer gibt euch denn das Recht, Geldstrafen zu verhängen? Wo, in welchem Gesetz steht, dass ihr Menschen zu Geldstrafen verdonnern dürft?“
Er empörte sich darüber, dass Menschen „schon mit Gewalt, mit dem Knie auf der Brust, zur Impfung gezwungen werden“. Eine maßlose Übertreibung. Zudem war das Knie auf der Brust wohl eher ein typisches Bild von den Protesten, die niedergeknüppelt wurden.
Die Menschen glauben der Regierung einfach nicht
Kurzum, der strenge Machthaber demonstrierte plötzlich einen untypischen Hauch von Menschlichkeit und Liberalismus (die ihm auch in anderen politischen Kernfragen nicht schaden würden): „Keinerlei Druck auf die Menschen. Wenn ich mitbekomme, dass Menschen aus Einkaufszentren, U-Bahnen oder Bussen rausgeschmissen werden, gibt’s Ärger. Dann wird es ein politisches Problem.“
Der Innenminister Iwan Kurbakow musste rhetorische Fragen über sich ergehen lassen: „Haben Sie nichts Besseres zu tun? Warum verstoßen Sie gegen Gesetze? So ein Gesetz haben wir nicht. Wem spielen Sie da in die Hände?“
Wobei Lukaschenko im Herbst letzten Jahres selbst noch den Staatsanwälten erklärt hatte: Wenn es Proteste zu unterdrücken gilt, „sind Gesetze zweitrangig“. Diesen Freifahrtschein haben die Spezialeinheiten dann auch kräftig ausgenutzt. Man will sich gar nicht vorstellen, welch heilloses Chaos nun in den Köpfen unter den Polizeimützen tobt (und den Hüten der Beamten in zivil). Denn eigentlich schien die Linie ja klar zu sein: Je härter, desto besser. Und plötzlich verkündet der Chef, man solle nicht übertreiben und behutsam mit den Menschen umgehen.
Aber Lukaschenko hat natürlich immer die potenzielle Bedrohung seiner Macht im Auge. Er betonte, dass Feinde aus dem Ausland versuchten, das Land zu destabilisieren, indem sie Fakes und Gerüchte über die Situation in Belarus verbreiten.
Aber das Problem ist nicht, dass die Feinde sich so ins Zeug legen, sondern dass die Bürger ihrer Regierung nicht glauben: Zu oft haben sie diese bei, milde gesagt, Schwindeleien ertappt. Glaubt man den sozialen Netzwerken und Alltagsdebatten, halten viele die offiziellen Corona-Zahlen für stark untertrieben.
Im Grunde genommen brachte auch das Misstrauen an offiziellen Zahlen, den Wahlergebnissen, die Menschen im August letzten Jahres auf die Straße. Und wie hat die Regierung das Vertrauen wieder „gestärkt“? Mit Schlagstöcken und Gefängnis.
Darum wird jetzt auch keine Konferenz – mit noch so besorgten Gesichtern ohne Masken – einen plötzlichen Vertrauenszuwachs und ein positives Verhältnis zur Obrigkeit bewirken.
Bei einer Wohnungsdurchsuchung in Minsk durch eine Einheit des belarussischen KGB wurden am 28. September zwei Menschen getötet. Andrej Selzer, Mitarbeiter eines IT-Unternehmens, erschoss mit einem Gewehr einen der Geheimdienstler. Beim darauf folgenden Schusswechsel wurde auch Selzer selbst getötet. Die obskure Durchsuchung, die offizielle Stellen damit begründeten, dass Selzer angeblich zu einer terroristischen Vereinigung gehört haben soll, löste in den sozialen Medien Wut und Trauer aus und wirft viele Fragen auf.
Nach der Schießerei wurden bis zum heutigen Tag über 100 Personen festgenommen, viele angeblich, weil sie in den sozialen Medien kritische Kommentare in Bezug auf den KGB und die Wohnungsdurchsuchung hinterlassen hatten. Auch wurde die Webseite des belarussischen Ablegers der russischen Zeitung Komsomolskaja Prawda (KP) geblockt, die Einschätzungen zur Schießerei von einer ehemaligen Mitschülerin Selzers in einem Artikel veröffentlicht hatte. Dann wurde der Autor und KP-Journalist Gennadi Mosheiko festgenommen. Am 5. Oktober gab die Zentrale des Blattes in Moskau bekannt, die Redaktion für die belarussische Ausgabe in Minsk zu schließen. Zur selben Zeit setzten die belarussischen Behörden die Schließung von weiteren Organisationen fort, so wurde auch die letzte im Land verbliebene Menschenrechtsorganisation Zvyano aufgelöst. Insgesamt beläuft sich die Zahl der liquidierten NGOs damit auf 275. Ales Bjaljazki, Träger des Alternativen Nobelpreises und Gründer der ebenfalls liquidierten Menschenrechtsorganisation Wjasna, der sich bereits seit Juli in Untersuchungshaft befindet, soll der Steuerhinterziehung im großen Stil angeklagt werden. Ihm drohen bis zu sieben Jahre Haft.
Der Journalist Alexander Klaskowski analysiert in einem Text für das belarussische Medium Naviny.by die neuerlichen Vorgänge in Belarus und fragt sich, welche Strategie die Machthaber in Bezug auf die fortwährende Krise im Land verfolgen.
Manche hatten schon die Ausrufung des Ausnahmezustandes und die Aussetzung des Verfassungsreferendums prophezeit, andere vertraten die Meinung, dass der Mord an dem KGB-Mitarbeiter flächendeckende Säuberungen nach sich ziehen sollte – dazu äußerte sich Lukaschenko folgendermaßen: „Hört mal zu, wir sind doch nicht so dumm, unter den gegenwärtigen Umständen flächendeckend vorzugehen. Wenn wir flächendeckend vorgehen (und das können wir), könnten unschuldige Menschen zu Schaden kommen.“ Dann fügte er noch hinzu, sie würden „gezielt und präzise mithilfe der Geheimdienste und anderer Abteilungen des Innenministeriums und so weiter gegen diverse Leute, diverse Organisationen und verschiedene Varianten vorgehen“.
Plötzlich ist da ein Schatten des IS
Derweil wirft das Video von dem Vorfall in der Uliza Jakubowskaja immer mehr Fragen auf. Insbesondere, warum die Beamten keine bei solchen Einsätzen üblichen kugelsicheren Westen und sonstige Ausrüstung trugen. Laut Lukaschenko sollten die Menschen nicht beunruhigt werden, weil sie auf Beamte in voller Montur nicht gut reagieren.
Übrigens tragen mit lautem Gebrüll eingetretene Türen auch nicht gerade zur Beruhigung der Bevölkerung bei (sind aber, o weh, im heutigen Belarus leider fast Alltag). Viele fragen sich bloß noch, wann und unter welchem Vorwand man bei ihnen gewaltsam eindringen wird. Solch massive Repressionen wie in den letzten anderthalb Jahren hat es in Belarus wohl seit der Stalinzeit nicht gegeben. Wobei man es damals vorzog, die Leute im Stillen zu verhaften.
Bislang haben im Zusammenhang mit dem tragischen Vorfall in der Uliza Jakubowskaja vor allem die Menschen etwas abbekommen, die gewagt hatten, für die Regierung unzulässige Kommentare zu den Ereignissen zu posten. Der stellvertretende Innenminister Nikolaj Karpenkow, der auch die Inneren Polizeieinheiten befehligt, erklärte sogar, die Verfasser von negativen Kommentaren über den Tod des Beamten „gehören physisch vernichtet und sonst nichts“.
Menschenrechtler sprechen von 83 Personen, die am 29. und 30. September festgenommen wurden. Lukaschenko erklärte gar, dass „schon mehrere Hundert einsitzen“. Vielleicht übertreibt er, vielleicht wissen die Menschenrechtler aber auch noch nicht alles.
Von den prominenten Regierungsgegnern wurde der sich derzeit im Ausland aufhaltende Waleri Zepkalo, mit Aufmerksamkeit bedacht. Gegen ihn wurde wegen seines Kommentars zur Schießerei in Minsk ein weiteres Verfahren eingeleitet – nach Paragraph 361 Strafgesetzbuch Absatz 3 (Anstiftung zu Handlungen, die die nationale Sicherheit von Belarus gefährden). Lukaschenko, der es sonst vermeidet, die Namen seiner Gegner auszusprechen, erklärte diesmal, „wenn diese Mistkerle wie Zepkalo und Konsorten glauben, wir könnten ihnen im Ausland nichts anhaben, dann haben sie sich geirrt“.
Zudem behauptet Lukaschenko, es gäbe Verbindungen zwischen dem Schützen und dem Netzwerk Rabotschy ruch, dessen Arbeit mittlerweile unterbunden ist, wie der KGB kürzlich berichtete. Lukaschenko zufolge sei es nämlich „eine einfache IS-Zelle nach europäischer Provenienz auf dem Gebiet von Belarus“.
Das Stichwort hier lautet „IS“, wobei die Festgenommenen sicher keine radikalen Islamisten sind. Man benutzt es als psychologisches Schreckgespenst für den Westen, wo der IS und Terrorismus als das absolut Böse gelten. Für das Inland setzt man eher auf das Narrativ, die Opposition hätte sich radikalisiert und der Westen führe einen hybriden Krieg gegen Belarus. Außerdem sollen alle eingeschüchtert werden, die sich angewöhnt haben, die Regierung online, in den sozialen Netzwerken zu kritisieren.
Bleibt die Frage, ob die breite Masse die offizielle Version glaubt. Das Vertrauen zur Regierung ist ja grundsätzlich nicht groß. Zumal Lukaschenko obendrein erklärte, Rabotschy ruch hätte mit den amerikanischen Geheimdiensten in Verbindung gestanden, „allem voran mit dem FBI“ – das sich bekanntermaßen mit Ermittlungen im Inland befasst.
Zivilgesellschaft ohne Nicht-Regierungsorganisiationen
Alles in allem versucht die Regierung offenbar, die Situation in der Gesellschaft mit den üblichen polizeilichen und bürokratischen Mitteln (nach ihren Maßstäben) zu normalisieren. Was die bürokratischen Mittel angeht, spricht Lukaschenkos Vorschlag Bände, gesetzlich festzulegen, wer künftig im Land zur Zivilgesellschaft gehört.
„Es ist an der Zeit, ein Gesetz zu verabschieden und festzuschreiben, dass zu unserer Zivilgesellschaft keine NGOs, NPOs und sonstiger Scheiß gehören. Sondern dass wir gemeinnützige Organisationen haben. Und gleich festschreiben, welche. Dass wir Gewerkschaften haben und die BRJU [Belarussische Republikanische Junge Union]. Dass wir Veteranen- und Frauenvereine haben.“
Eigentlich sind NPO und NGO ja völlig neutrale Abkürzungen. Aber für die belarussische Führung sind es offenbar mittlerweile Schimpfwörter geworden.
Die Idee einer Zivilgesellschaft, die aus regierungsfreundlichen Organisationen besteht, äußert Lukaschenko nicht zum ersten Mal. Aber plötzlich gibt es ein pikantes Detail: Bei derselben Sitzung gibt er in einem Anflug von Ehrlichkeit zu: „Die Zusammenarbeit mit den gemeinnützigen Organisationen ist komplett gescheitert. Vor allem mit solchen wie der Jungen Union und der Belaja Rus.“
Und diese gescheiterten ideologischen Projekte sollen jetzt also per Gesetz zu den Grundpfeilern der Zivilgesellschaft erklärt werden. Gleichzeitig wurden funktionierende, eigenständige Organisationen fast vollständig zerschlagen. So zum Beispiel hat der Oberste Gerichtshof am 30. September das belarussische Helsinki-Komitee (BHK) aufgelöst.
Doch der Leiter des Komitees, Oleg Gulak, gab bekannt, dass das BHK seine Arbeit auch ohne staatliche Zulassung fortsetzen wird: „Immer vorwärts.“ So oder so ähnlich äußerten sich auch die Leiter der anderen Organisationen, die von den Säuberungen betroffen sind.
Offenbar versucht die Regierung, durch solchen juristischen Schnickschnack die Autorität der BRJU, der Belaja Rus und so weiter zu stärken. Das sind allesamt Organisationen, die auf administrativem Wege erschaffen wurden und deren Hauptaufgabe darin besteht, Sprachrohr der Regierung zu sein und die Loyalität der Massen zu gewährleisten. Als könnte ein normativer Akt den kritisch denkenden Bürger dazu bringen, die Augen vor der Regierungsnähe dieser Organisationen zu verschließen.
Der Regierung scheint nicht klar zu sein, dass sich eine echte Zivilgesellschaft von unten herausbildet und von der Reife ihrer Bürger abhängt. Die Ereignisse des letzten Jahres haben gezeigt, dass ein Großteil der Belarussen diese Reife hat, horizontale Verbindungen zu knüpfen und sich zu organisieren. Die offizielle Auflösung bestimmter Organisationen wird diese Fähigkeiten und Bestrebungen nicht vernichten.
Wahrscheinlich ist das der Regierung durchaus klar; sie tut es einfach, um ihre Gegner leichter verfolgen zu können.
Die große Frage: Wer verleiht dem Oberst seine Schulterklappen?
Insgesamt ist klar, dass die Regierung es immer noch darauf anlegt; gesellschaftliche Probleme durch rohe Gewalt und Einschüchterung zu lösen. Doch zufällig zeigte Lukaschenko jetzt Interesse an der ideologischen Ausrichtung der Kader. Man scheint sich also zusätzlich auch über eine subtile Beeinflussung der Menschen Gedanken zu machen.
Davon zeugen auch die Äußerungen von regierungsfreundlichen Experten, die vorschlagen, den weniger radikalen Teil der Opposition in „konstruktive“ Projekte wie den runden Tisch von Juri Woskressenski zu integrieren. Lukaschenko regte seine Untergebenen dazu an, Diskussionsplattformen für Studenten zu gründen.
Wie geeignet jedoch ist dieses, nach spezifischen Kriterien – allem voran regimetreue – ausgesuchte Personal zur subtilen Arbeit mit dem Geist der Bürger? Dadurch, dass man den Gewerkschaftsbund FBP und die BRJU zur Basis der Zivilgesellschaft erklärt, wird ihre Arbeit noch nicht weniger staatsnah. Das politische System ernsthaft zu modernisieren und das Gesellschaftsmodell zu transformieren, hat Lukaschenko definitiv nicht vor. Heute ist ihm rausgerutscht: „Hätte man die Machtbefugnisse zur rechten Zeit neu verteilt, bräuchte man heute über die Verfassung vielleicht gar nicht reden.“
Diese Bemerkung bestätigt die Meinung vieler Beobachter, dass Lukaschenko die Verfassungsreform nicht gerade unter den Nägeln brennt und er es vorzöge, nur ein paar kosmetische Änderungen vorzunehmen. Und was die Verteilung der Macht betrifft, ist Lukaschenkos Aussage vom 28. September bei der Versammlung der Verfassungskommission bezeichnend: „Heute stellt sich dann die Frage, ob ich als Staatsoberhaupt den Rang des Oberst verleihen oder mich auf die Generäle beschränken soll.“
Das sind die kolossalen Änderungen, die uns erwarten: das Recht, einem Oberst die Schulterklappen zu verleihen, könnte an den Verteidigungsminister übergehen. Die Neuerungen in den anderen Bereichen werden wahrscheinlich ähnlich radikal.
Wir brauchen also nicht darauf zu hoffen, dass solch eine Systemtransformation die Spannungen in der Gesellschaft auflöst.
Anfang September 2020 trafen sich Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko, der sich mit der größten Krise seiner Amtszeit konfrontiert sah, in Sotschi. Dort sagte der russische Präsident seinem angeschlagenen belarussischen Kollegen die Unterstützung des Kreml zu, was durch einen Milliardenkredit untermauert wurde. Mit der Rückendeckung durch die russische Führung, die in drei weiteren Treffen manifestiert wurde, gingen die belarussischen Machthaber seit dem mit aller Gewalt gegen die Protestbewegung vor, gegen unabhängige Medien, gegen Kulturschaffende oder gegen die Zivilgesellschaft, um jeglichen Widerstand im Land zu ersticken. Der Repressionsapparat folgt bis heute konsequent seiner Linie, erst vor zwei Wochen wurde der unabhängige belarussische Journalistenverband BAJ von den Behörden liquidiert. Und Anfang dieser Woche wurde Maria Kolesnikowa, eine der führenden Oppositionsfiguren, zu elf Jahren Haft verurteilt. Viele Belarussen haben das Land im Zuge der Erstarkung des Machtapparates verlassen.
Am heutigen 9. September 2021 steht in Moskau das fünfte Treffen der beiden autokratischen Staatsführer seit dem Bündnisschluss am Schwarzen Meer vor einem Jahr an. Dort sollen Medienberichten zufolge unter anderem auch weitere Integrationspläne zwischen Belarus und Russland besprochen werden. Der Journalist Alexander Klaskowski analysiert in seinem Stück für das belarussische Medium Naviny.by, welche Strategien der Kreml in Bezug auf Lukaschenko, der kürzlich Geburtstag hatte, und Belarus verfolgen könnte.
Vor einem Jahr musste Alexander Lukaschenko seinen Geburtstag in kugelsicherer Weste und mit Kalaschnikow in der Hand feiern. Die protestierenden Belarussen brachten beleidigende „Geschenke“ zum Präsidentenpalast (z. B. einen Spielzeughubschrauber mit der Aufschrift „Nach Den Haag“) und riefen wenig schmeichelhafte Wünsche. Und obwohl niemand den Palast zu stürmen gedachte, fühlte es sich für die Führungsriege doch recht ungemütlich an. Dass das Regime in jenen Augusttagen standhielt, verdankt es in großem Maße der Unterstützung des Kreml.
Heute, ein Jahr später, fühlt sich der Führer des Regimes ungleich selbstbewusster. Und Wladimir Putin, der im August 2020 Vertreter der Streitkräfte für den Unterstützungsfall an der belarussischen Grenze zusammengezogen hatte, versicherte in seinem Geburtstagsgruß an Lukaschenko: „Die belarussischen Freunde können immer auf die Unterstützung Russlands zählen.“
Doch wer sind denn Putins Freunde?
Stellt sich die Frage, wer eigentlich zu Putins Freunden gehört. Sicher nicht Swetlana Tichanowskaja oder gar Viktor Babariko (wobei dieser politische Feind Lukaschenkos, der zu 14 Jahren Strafkolonie verurteilt wurde, eine Bank mit Gazprom-Kapital leitete).
Noch im August letzten Jahres ließ Putin verlauten, dass keine in der Verfassung nicht vorgesehenen Organe gegründet werden dürften, vermutlich mit Blick auf den auf Tichanowskajas Initiative hin entstandenen Koordinierungsrat. Im Großen und Ganzen hat Moskau der belarussischen Opposition noch nie vertraut – weder der alten, noch der neuen.
Grundsätzlich hat sich Putin damals klar hinter Lukaschenko gestellt und erklärt, dass es Einflussversuche von außen auf die Prozesse in Belarus gäbe (sprich: westliche Puppenspieler). Damit unterstützte er letztlich die Interpretation der Ereignisse, die die belarussischen Machthaber und ihre Propaganda vertraten.
Putin und Lukaschenko hatten nicht nur einmal Meinungsverschiedenheiten (und sie werden sie wohl auch in Zukunft haben), doch in diesem kritischen Moment überwog die Klassensolidarität. Für den russischen Präsidenten war das Wichtigste, dass der autoritäre Amtsbruder im Nachbarland (das zudem noch als Aufmarschgebiet von Bedeutung gilt) nicht von der aufbegehrenden Straße gestürzt wird. Zumal dies ein schlechter Präzedenzfall wäre, dessen Beispiel die Russen anstecken könnten.
Die Oberhäupter beider Regime fürchten das politische Erwachen des Volkes, wenn es in Massen den Wunsch zum Ausdruck bringt – um mit Janka Kupala zu sprechen – „sich Menschen zu nennen“.
Gab es einen Putin-Patruschew-Plan?
Man sollte nicht vergessen, dass zu Beginn der belarussischen innenpolitischen Krise Putin und andere Moskauer Politiker sofort die Bedeutung von Verfassungsreformen und dem gesellschaftlichen Dialog bekräftigten.
Einige Kommentatoren sprachen damals von einem Putin-Patruschew-Plan (Nikolai Patruschew, Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, war angeblich nach Minsk geflogen, um Lukaschenko mit dem Plan vertraut zu machen.)
Dieser Version zufolge bestand Moskau auf einem sanften Machttransit in Belarus im Anschluss an eine Verfassungsreform. Einfacher gesagt, Lukaschenko sollte abgelöst werden, indem er nicht bei vorgezogenen Neuwahlen antritt, sondern durch einen beliebteren Kandidaten ersetzt wird, der dem Kreml zusagt und dem Westen nicht aufstößt. Zusätzlich sollte zu einer parlamentarisch-präsidentiellen Regierungsform übergegangen, politische Gefangene befreit und ein Dialog mit den Gegnern, inklusive Tichanowskaja, geführt werden.
Wir wissen nicht, ob es diesen Plan tatsächlich gegeben hat. Doch wenn es ihn gab, so liegt er heute schon in Schutt und Asche. Lukaschenko wird keinen Dialog mit politischen Gegnern führen. Sie kommen hinter Gitter, werden in die Emigration gedrängt, als Terroristen und Faschisten dargestellt. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind unters Messer gekommen, unabhängige Medien werden mit Napalm weggeätzt. Der Führer des Regimes hat entschieden, die Situation mit Gewalt und Verbreitung totaler Angst zu zementieren.
Die neue Verfassung wird voraussichtlich keine Voraussetzungen für eine Demokratisierung des Landes schaffen. Ganz im Gegenteil, sie sieht sogar ein Organ mit Sonderstatus vor, das als zusätzliche Absicherung der gegenwärtigen Machtriege vor unerwünschten Veränderungen dient: die Allbelarussische Volksversammlung.
Auch eine Freilassung der politischen Gefangenen ist derzeit nicht in Sicht. Zwar wird ab und zu jemand aus der Haft entlassen. Doch erstens kann nicht von voller Freiheit gesprochen werden (der ehemalige Diplomat Igor Leschtschenja teilte mit, dass er weiterhin als Verdächtigter in einem Strafverfahren gilt und ist damit kein Einzelfall). Zweitens werden vornehmlich jene freigelassen, die Gnadengesuche geschrieben haben oder auferlegte Geldstrafen beglichen haben (wie im Fall des Press Club Belarus).
Die Behörden spielen also mit den politischen Häftlingen Katz und Maus. Ein Schuldeingeständnis, dass die Menschen unschuldig gelitten haben, die Freilassung aller oder gar die Bestrafung ihrer Peiniger kommt für das Regime nicht in Frage.
Absolut nichts äußert Lukaschenko über Termine für Neuwahlen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er darauf zählt, bis zum Ende der Amtszeit – also 2025 – auf seinem Thron zu bleiben.
Lukaschenko tut, was Moskau dient
Seit August 2020 kam unter Politologen die Mode auf, Lukaschenko als zu „toxisch“ für den Kreml zu bezeichnen. Sind denn Baschar al-Assad oder Nicolas Maduro nicht toxisch? Moskau unterstützt bereitwillig die fragwürdigsten Machthaber auf der ganzen Welt, besonders, wenn es dabei Washington eins auswischen kann.
Ja, vermutlich hätte der Kreml im Idealfall nichts dagegen, Lukaschenko mit einer eigenen Kreatur zu ersetzen, einem weniger schwierigen und skandalösen Menschen.
Doch das ist nicht so einfach, solange Lukaschenko kein Interesse hat abzutreten. Und im Moment hat er ein starkes Gegenargument: Die Proteste sind niedergeschlagen, die Gewalt wirkt, er ist wieder Herr der Lage. Kein Grund also, die Pferde scheu zu machen und das System zu zerschlagen.
Schließlich spielt Moskau in die Hände, dass Lukaschenko selbst Belarus in noch größere Abhängigkeit von Russland treibt. Er setzt die Konfrontation mit dem Westen fort und nimmt sich so die Möglichkeit, zwischen den Machtzentren zu manövrieren, wie das vormals der Fall war. Minsk drohen neue Sanktionen, die den Bedarf der belarussischen Wirtschaft an russischer Unterstützung verschärfen. Die Zerstörung einer nationalbewussten Zivilgesellschaft und unabhängiger Medien erleichtert es dem Kreml zudem, seine Großmachtsbestrebungen in Richtung Belarus zu expandieren.
In Moskau erkennt man vermutlich, dass es einen so antiwestlichen Führer mit solcher Leidenschaft für die Unterdrückung der nationalen Idee in Belarus so bald nicht mehr geben wird.
Des Weiteren hat die belarussische Führung angestrebt, das Neutralitätsgebot aus der Verfassung zu streichen und mit dem Leitsatz der kollektiven Verteidigung (also dem militärischen Bündnis mit Russland) zu ersetzen.
Wichtig ist zudem, dass Lukaschenko faktisch bereits zugesagt hat, bis Jahresende ein Paket von Bündnisprogrammen zu unterzeichnen – diese Road Maps zur Vertiefung der Integration hatte er im Dezember 2019 noch abgelehnt. Ende August wurde bekanntgegeben, dass bei dem für den 9. September angesetzten Treffen zwischen Lukaschenko und Putin in Moskau die Bündnispläne zu den zentralen Punkten auf der Agenda gehören werden.
Der belarussische Führer sträubt sich mittlerweile also weniger, und tut, was dem Kreml dient. Warum sollte man sich also damit beeilen, ihn abzusetzen? Zumal jeder Machtwechsel, vor allem in einem so überausgeprägt personalistischen Regime, auch ein Risiko birgt.
Der Kreml treibt seine Interessen voran
All das heißt natürlich nicht, dass im Verhältnis zwischen Lukaschenko und Putin Idylle herrscht. Das belarussische Regime braucht Geld und erschwingliche Rohstoffpreise, Moskau zeichnet sich nicht durch besondere Großzügigkeit aus.
Lukaschenko gab kürzlich zu, dass die Frage des Gaspreises im Rahmen der Abstimmung des Unionsprogramms weiter für Diskussion sorge. Den durch das eigene Steuermanöver verursachten Anstieg des Ölpreises ist Russland gegenüber Minsk nur bereit, in Form von Krediten auszugleichen, nicht durch Abstandszahlungen, wie die belarussische Seite es wünscht.
Geheimnisvoll bleiben die stundenlangen bilateralen Gespräche zwischen Putin und Lukaschenko. Unwahrscheinlich, dass sie verbissen um den Gaspreis streiten. Wahrscheinlicher ist, dass der Kreml doch die Idee einer gewissen Modernisierung des belarussischen politischen Systems in Gang bringen möchte, um mit einem weniger selbstherrlichen Präsidenten und mehr Machtverteilung zwischen einzelnen Organen die Möglichkeit zu haben, prorussische Parteien zu installieren und so in Parlament und Regierung mitspielen zu können.
Interessant wird sein, ob Lukaschenko vor seinem Besuch bei Putin einen eigenen Vorschlag für die Verfassungsänderung vorstellen wird (ein Entwurf soll am 1. September auf seinem Schreibtisch liegen). Wenn er sich weiter bedeckt hält und Zeit schindet, deutet das mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass mit dem Kreml noch bei Weitem nicht alles abgestimmt ist.
Auf jeden Fall versteht man in Moskau, dass Lukaschenko nicht ewig ist und steckt die eigenen Positionen in Belarus mit Weitblick ab, um auch in Zukunft die eigenen Interessen gesichert zu wissen. Und für diese Aufgabe benötigt Moskau Lukaschenko noch.
Dabei scheint der Kreml aber nicht gewillt, den aktuellen Präsidenten um jeden Preis und in kürzester Zeit loszuwerden. Ebenso offensichtlich ist, dass Putin keine tatsächliche Demokratisierung von Belarus gebrauchen kann.
Gleichwohl kann man kaum von echtem Vertrauen zwischen Putin und Lukaschenko sprechen. Letzterer versteht sehr gut, dass der Familienname des Herrschers von Belarus für den Kreml nicht von Belang ist – die Hauptsache ist die Kontrolle über dieses strategisch wichtige Territorium. Und deshalb kann irgendwann der Moment kommen, in dem auf einen anderen Spieler gesetzt wird.
Was macht es mit dem Journalismus, wenn der Staat immer schärfer gegen unabhängige Medien vorgeht? In der zweiten Folge des Mediamasterskaja-Podcast diskutieren der russische Journalist Maxim Trudoljubow und sein belarussischer Kollege Alexander Klaskowski diese Frage.
In Russland wie Belarus geraten unabhängige Medien derzeit unter immer stärkeren Druck – wenn auch unter unterschiedlichen Vorzeichen. In Russland haben nach den Solidaritätsprotesten für Alexej Nawalny im Januar/Februar 2021 und vor der Dumawahl im September die Maßnahmen gegen unabhängige Medien und Journalisten dramatisch zugenommen: Erst am vergangenen Freitag haben Behörden das Investigativmedium The Insider zum sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt. Zuvor waren der Chefredakteur und weitere Redakteure des Onlinemagazin Projektebenfalls auf die Liste der „ausländischen Agenten“ gesetzt worden. Genauso wie das Onlinemagazin VTimes und das reichweitenstarke unabhängige Portal Meduza. Gegen Journalisten anderer unabhängiger Medien wurden mitunter Strafverfahren eingeleitet, etwa gegen vier Redakteure des Studierendenmagazins Doxa – sie hatten zu Solidaritätsprotesten für Nawalny aufgerufen, die Staatsanwaltschaft wertet das als „Aufruf an Minderjährige, an rechtswidrigen Handlungen und illegalen Demonstrationen“ teilzunehmen.
Die Situation in Belarus ist noch zugespitzter als in Russland: Die belarussischen Machthaber gehen seit mehr als einem Jahr gezielt gegen unabhängige Medien und Journalisten vor. Auch in den vergangenen zwei Wochen hat es in ganz Belarus wieder Durchsuchungen gegeben, sowie zahlreiche Festnahmen. 27 Journalisten befinden sich derzeit noch in Haft oder unter Hausarrest. Viele Medienschaffende haben das Land bereits verlassen, weil es nahezu unmöglich geworden ist, in Belarus seiner Arbeit nachzugehen. Es ist zu befürchten, dass Alexander Lukaschenko die Strukturen des unabhängigen Journalismus vollständig zerschlagen will.
In unserer Podcast-Reihe Mediamasterkaja (dt. Medienwerkstatt) begleiten wir Medienprozesse in Russland und Belarus kritisch und erörtern sie mit unterschiedlichen Akteuren. In der ersten Folge diskutieren die belarussische Philosophin Olga Shparaga und die Gender-Forscherin Lena Ogorelyschewa, inwieweit die Rolle der Frauen bei den Protesten auch die belarussische Medienwelt geprägt hat.
In der zweiten Folge fragen wir den russischen Journalisten Maxim Trudoljubow und seinen belarussischen Kollegen Alexander Klaskowski, inwiefern der starke Druck auf Medien den unabhängigen Journalismus in beiden Ländern beeinflusst. Wir bringen einige Auszüge aus dem russischsprachigen Podcast in deutscher Übersetzung.
Alexander Klaskowski: Ich bin Alexander Klaskowski und arbeite bei der Nachrichtenagentur BelaPAN. Das ist eine unabhängige Nachrichtenagentur, was für Belarus untypisch ist, weil man den nichtstaatlichen Medien bei uns, offen gesagt, bereits den Todesstoß versetzt. Bei BelaPAN leite ich die analytischen Projekte, außerdem gelte ich als Medienexperte. Seinerzeit habe ich an der Europäischen Geisteswissenschaftlichen Universität in Vilnius unterrichtet und Workshops unter der Schirmherrschaft des Belarussischen Journalistenverbands geleitet. Manchmal gebe ich Kommentare zu Themen, die mit Medien zusammenhängen.
Maxim Trudoljubow: Mein Name ist Maxim Trudoljubow. Ich habe viele Jahre für die Zeitung Vedomostigearbeitet. Das ist ein Wirtschaftsblatt, das wir 1999 gegründet haben. Vor ein paar Jahren habe ich wegen des Gesetzes, das im Wesentlichen ausländischen Verlegern und Konzernen verbietet, Eigentümer von Medienunternehmen in Russland zu sein, dort gekündigt. Ich habe für ausländische Verlage, unter anderem für die New York Times, geschrieben. Später fing ich an, mit Meduza zusammenzuarbeiten, wo ich seit über einem Jahr das Projekt Idei [dt. Ideen] leite. Als Redakteur des Projekts The Russia File arbeite ich außerdem mit dem amerikanischen Kennan Institute zusammen.
Einerseits ist der Bereich der unabhängigen Medien in Russland ziemlich aktiv und entwickelt sich selbst heute noch weiter, aber er ist nicht sehr groß. Unabhängige Medien überleben zum Großteil dank privater Spenden, das gilt auch für das unabhängige Onlinemedium Meduza, mit dem ich zusammenarbeite. Als Meduza zum sogenannten ausländischen Agenten erklärt wurde, war das ein harter Schlag für das Budget [Meduza waren damit unter anderem wichtige russische Werbekunden weggebrochen – dek]. Die Verleger haben darüber nachgedacht, die Zeitung zuzumachen, aber dann gingen sie das Risiko ein und veranstalteten eine Spendenkampagne. Kurzum, bislang konnte das Medium überleben.
Mediamasterskaja: Unser heutiges Thema ist Objektivität im Journalismus, die nächste Frage richtet sich vermutlich vor allem an Alexander: Alexander, wie ist Ihre Einschätzung, kann der Journalismus unter den derzeit gegebenen Umständen in Belarus objektiv bleiben?
Alexander: Wenn ich mir einen Schlenker in die Theorie erlauben darf: Ich denke, Objektivität im Journalismus ist ein Mythos. Ich will jetzt nicht zu sehr in die Tiefe gehen, aber völlig objektiven Journalismus gibt es nicht. Außerdem gibt es sehr unterschiedlichen Journalismus. Es gibt einen Journalismus der Fakten und einen Journalismus der Meinungen. Wenn wir von einem Reporter sprechen, dann ja, aber er sollte meiner Meinung nach weniger objektiv, sondern vor allem unvoreingenommen sein. Also keine Fakten verschweigen, nichts verfälschen und so weiter. Das ist eine etwas anders gelagerte Forderung. Ein Reporter sollte sich also bemühen, unvoreingenommen zu sein. Meinetwegen, objektiv zu sein. Einigen wir uns auf diesen Begriff. Wenn es sich aber um einen Kolumnisten handelt, dann versteht es sich von selbst, dass es lächerlich wäre, von ihm Objektivität zu verlangen. Der Clou seiner Texte ist ja gerade der subjektive Blick, die Meinung eines Menschen, der den Nagel auf den Kopf trifft. Und die Menschen, seine Leser schätzen gerade das – wie er die Dinge wahrnimmt, beurteilt, Prognosen für gesellschaftliche Ereignisse stellt.
Was den Einfluss der politischen Situation betrifft: Ja, sie hat einen Einfluss, kurz gesagt, einen negativen, wie man an den belarussischen Medien sieht. Es ist allgemein bekannt, dass Journalisten freiheitsliebende Menschen sind, und wenn man sie in die Ecke treibt … Wenn das Regime sie, umgangssprachlich ausgedrückt, fertigmacht, dann ist klar, dass sie dieses Regime nicht gerade lieben werden. Und das schlägt sich natürlich auch in den Texten nieder.
Ja, die politische Situation hat einen Einfluss, kurz gesagt, einen negativen, wie man an den belarussischen Medien sieht
Ich sehe in einer Reihe von Medien eindeutig expressive Überschriften, die in Hinsicht auf die Regierung klar negativ aufgeladen sind. Obwohl das im Idealfall nicht so sein sollte. Aber Menschen, die Tag für Tag fertiggemacht werden – kurzum, rein menschlich kann ich es verstehen. Der professionelle Anspruch verlangt, dass man sich unbefangen verhält, aber das klappt nicht.
Maxim, verfolgen Sie die Situation in Belarus? Halten Sie es für möglich, unter dem Regime, unter dem Ihre Kollegen gerade arbeiten, unbefangen zu bleiben?
Maxim: Als erstes möchte ich im Namen der russischen Medien unser Mitgefühl und generell unser allgemeines Verständnis ausdrücken. Wir machen uns natürlich große Sorgen wegen all dem, was in Belarus passiert. Ich verfolge es mit, soweit es mir möglich ist.
Ich bin mir nicht sicher, ob man in dieser Situation völlig objektiv bleiben kann. Ich denke auch, dass es psychologisch wirklich schwer ist. Allein schon aufgrund des großen Drucks auf alles, was im weitesten Sinne unabhängig ist: Sei es politischer Aktivismus, Medien oder irgendeine ehrenamtliche Tätigkeit, die nicht unmittelbar vom Staat genehmigt wurde. Im Prinzip ist es in existentieller Hinsicht eine sehr schwierige Situation, deswegen kann man auch keine überragende Objektivität fordern.
Ich bin mir nicht sicher, ob man in dieser Situation völlig objektiv bleiben kann
Zur Objektivität als solcher würde ich gern noch sagen, dass sie in der Form, wie wir sie heute überwiegend aus den westlichen Medien kennen, noch nicht lange existiert. Als die ersten Medien entstanden, die noch nicht so genannt wurden, konnten sie politische Pamphlete oder irgendwelche Blättchen sein – unabhängig und unvoreingenommen waren sie nie. Ganz im Gegenteil. Es waren immer sehr scharfe politische Statements. Und das zog sich über knapp 200, 300 Jahre lang so hin. Erst im 20. Jahrhundert, hauptsächlich nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Mittelstand sehr schnell wuchs und die Wirtschaft sich entwickelte, entstand vor allem in den USA ein großer Markt an Menschen, denen objektive Information wichtig war.
Es ist also eine ziemlich junge Tradition, die erst einige Jahrzehnte besteht. Deswegen lässt sich schwer behaupten, die Objektivität sei eine immanente Eigenschaft von Medien. Objektivität ist eine komplizierte Sache. Es ist eine philosophische Frage, ob es sie überhaupt geben kann. Wir sind alle Menschen mit eigenen Ansichten und Meinungen.
Im Großen und Ganzen lässt sich sagen, dass ich mich der Tradition objektiver Medien verpflichtet fühle und bei dem, was ich mache, versuche, auf Quellen zu verweisen und alle zu Wort kommen zu lassen: Bei einem Konflikt müssen alle Parteien zu Wort kommen, bei einer Story verschiedene Blickwinkel aufgezeigt werden. Geht es um den Staat, wird auch der Blickwinkel des Staates erwähnt, und so weiter. Insgesamt pflegt man also auch in Russland weiterhin diese Arbeitstradition, die schon nach Objektivität strebt. Hauptsächlich in unabhängigen Medien. Auch wenn dieser Sektor sehr klein ist, wird diese Tradition im Großen und Ganzen bewahrt. Und sie wird weiterleben, wie mir scheint.
Liebe Kollegen, wenn Sie vom Journalismus der Fakten und nicht der Meinungen sprechen, könnten Sie vielleicht eine Art Checkliste für Journalisten nennen, wie man objektiv bleibt, unabhängig von der Situation, die gerade entsteht? Wie schafft man es, dass die eigene politische Haltung die „trockenen“ Fakten nicht überwiegt?
Alexander: Banal gesprochen, ist es eine Frage der Professionalität. Wir alle haben irgendwo irgendwas gelernt. Dort wurde uns aus professioneller Sicht erklärt, was Fakten sind, wie man mit ihnen umgeht, dass man sie nicht manipulieren darf und so weiter. Kurzum, es ist einfach wichtig, sich an diese Kriterien zu halten und seine Emotionen davon zu trennen.
Etwas anderes ist es, wenn es – wie im heutigen Belarus – schon eine politische Haltung ist, die Wahrheit zu sagen. Beispielsweise ist das Berichten über die Proteste bereits eine politische Haltung , denn das geht mit Risiko einher.
Im heutigen Belarus ist es schon eine politische Haltung, die Wahrheit zu sagen
Derzeit wird ein Beschluss vorbereitet, demzufolge das gesamte Material von tut.by – eines bereits zerschlagenen und gesperrten Portals, 15 Mitarbeiter sind bereits in Haft – als extremistisch eingestuft werden soll. Das bedeutet zum Beispiel, dass jemand, der vor zehn Jahren einen Artikel von tut.by abgetippt oder verlinkt hat, von heute auf morgen zum Extremisten erklärt werden kann.
Aber ich schweife ab. Worauf ich hinaus will, ist, dass es heute schon ein Risiko darstellt und von politischer Haltung zeugt, einfach nur ehrlich und objektiv zu berichten über das, was passiert, und an Themen zu rühren, die der Regierung nicht passen.
In diesem Zusammenhang möchte ich betonen, dass es sehr wichtig ist, den Kontext des Materials professionell darzustellen. Ein konkretes Beispiel ist die Pressekonferenz mit Roman Protassewitsch neulich. Hier kommt die Ethik mit ins Spiel – der Journalist der BBC ist gegangen. Einige westliche Diplomaten sind gegangen, weil sie fanden, dass da ein Gefangener vor laufender Kamera gefoltert werde. Demnach sei es unethisch, überhaupt etwas zu senden. BelaPAN, wo ich arbeite, hat das Material gesendet, wofür uns sowohl einige Kollegen als auch einfach ein politisiertes Publikum auf Facebook attackiert haben.
Es ist sehr wichtig, den Kontext professionell darzustellen
Aber wir haben in unseren Berichten immer den Kontext betont: Wer ist Protassewitsch, wie ist er in diese Pressekonferenz hineingeraten? Wir haben Details wie die Meinung seines Vaters ergänzt, der erklärt, dass er einige Dinge, milde ausgedrückt, nicht aus freien Stücken sagt. Sprich, wir haben die Information gesendet, denn sie zu verschweigen, wenn es doch den Fakt, die Pressekonferenz vor unserer Nase, gibt – das wäre doch unprofessionell.
Maxim: Da stimme ich Alexander zu. Es ist zweifellos eine sehr schwierige Situation, wenn so ein Druck vonseiten des Staates ausgeübt wird. In Russland ist es nicht ganz so schlimm, aber die Situation ist sehr dynamisch, und sie entwickelt sich im Großen und Ganzen in dieselbe Richtung.
Eigentlich hindert merkwürdigerweise die Regierung die Journalisten sehr oft selbst daran, objektiv zu berichten. Indem sie beispielsweise ein Medium zum ausländischen Agenten erklärt, hindert sie es einfach daran, seine Arbeit zu machen. Das ist ja quasi auch ihr Ziel. Das leuchtet ein. Aber das Medium wird weniger objektiv, weil es viel schwieriger wird, Kommentare von Staatsbeamten zu bekommen oder sogar von Wirtschaftsvertretern, die Angst haben, mit den falschen Leuten in Verbindung gebracht zu werden. Im Endeffekt wird die journalistische Arbeit erschwert.
Es wird immer schwieriger professionelle Standards zu befolgen
In dieser Situation war beispielsweise die Zeitung VTimes. Das sind meine Kollegen, die früher bei Vedomosti gearbeitet haben. Nachdem Vedomosti von einem kremlnahen Verleger aufgekauft wurde, hatten sie ihre Unabhängigkeit eingebüßt, die Leute haben gekündigt, angefangen wieder zu arbeiten und „wurden kürzlich zu ausländischen Agenten“. Sie haben zugemacht. Nicht nur, weil sie kein Geld verdienen konnten, sondern weil ihnen bewusst war, dass sie nicht objektiv sein konnten. Das sind alles Menschen, die in der Tradition eines objektiven, faktenbasierten Journalismus stehen, der zwingend voraussetzt, dass man bei jeder Story mit allen Seiten spricht. Deswegen haben sie zugemacht. Diese Standards, diese Regeln zu befolgen, wird immer schwieriger.
Alexander: Genau, ich würde Maxims Gedanken gern noch weiterführen. Rein technisch oder technologisch läuft es folgendermaßen: Wenn in Belarus Webseiten gesperrt oder andere Medien dicht gemacht werden, wandert die journalistische Arbeit, der Content, zu anderen Plattformen. Insbesondere zu Telegram (der beliebtesten Plattform unter diesen Umständen), weil man es nicht nicht einfach dichtmachen kann. Aber auf Telegram herrscht ein ganz anderer Stil. Ein viel schärferer. Und weniger Faktencheck. Ich möchte den Gedanken, den Maxim schon formuliert hat, nochmal betonen: Die Regierung drängt den Journalismus tatsächlich dahin, bei bestimmten Formen schärfer, radikaler zu werden. Sie wollen die professionellen Webseiten nicht haben und bekommen dafür Telegram, was überhaupt keine Diplomatie kennt und grob gesagt, das Regime einfach kurz und klein hackt, es von vorn bis hinten zerlegt.
Die Regierung drängt den Journalismus tatsächlich dahin, bei bestimmten Formen schärfer, radikaler zu werden
Maxim: Ja, die sozialen Medien sind noch ein Thema für sich.
Die Statements in den sozialen Medien, ein aufgenommenes Video, ein Podcast – das alles verlagert den Schwerpunkt auf eine möglichst große Reichweite, auf die Idee, die Fakten dem Publikum – einem großen Publikum – möglichst zugänglich zu präsentieren. Dafür muss vereinfacht werden, müssen Ecken und Kanten abgeschliffen werden, Dinge eher attraktiv und anziehend, statt scharfsinnig und genau dargestellt werden. Die Entwicklung geht, objektiv betrachtet, auf der ganzen Welt in diese Richtung. Bei Weitem nicht nur in Russland oder Belarus.
Aber vor dem Hintergrund der Ereignisse bei uns bekommen wir gewissermaßen eine Verdopplung aller Effekte, weil wir nämlich noch den staatlichen Druck haben, neben dem Marktdruck, der Veränderung des Publikumsgeschmacks, dem Auftauchen neuer Plattformen, die ausgesprochen verlockend sind, auch für Journalisten. Das steht außer Frage. Weil sie nämlich einen sehr schnellen und wirkungsvollen Auftritt bieten. Aber all diese Dinge schaden den ursprünglichen Standards. Deswegen verwischen die Standards, leider.
Alexander: Ich möchte noch Folgendes sagen: Wenn wir mit einer gewissen Skepsis über die Objektivität und andere Standards sprechen, bedeutet das nicht, dass diese nicht wichtig wären. Ich würde folgende Parallele ziehen: Es gibt die Normen der Moral, aber wir befolgen sie nie zu hundert Prozent, ansonsten wären uns allen längst Engelsflügelchen gewachsen. Wir sündigen, wir verstoßen immer gegen irgendwelche Regeln. Aber das bedeutet nicht, dass man die moralischen Normen in die Tonne treten kann. Es existieren trotzdem Begriffe wie „ein anständiger Mensch“ oder ein „niederträchtiger Mensch“, mit dem niemand etwas zu tun haben möchte. Genauso ist es mit dem Journalismus. Du kannst nicht immer zu hundert Prozent den Standards entsprechen, aber das bedeutet nicht, dass du dich nicht darum bemühen solltest.
Soziale Netzwerke, Blogs, Telegram-Kanäle – das alles senkt einerseits die journalistischen Standards. Andererseits könnte man sie doch auch als Quellen glaubwürdiger Information betrachten, gerade vor dem Hintergrund, dass die Redaktionen der unabhängigen Medien schließen und die Menschen trotzdem irgendwoher ihre Information beziehen, Nachrichten lesen müssen. Können die neuen Medien die Redaktionen ersetzen, die uns in den vergangenen 10, 20 Jahren auf dem Laufenden gehalten, Analysen und nicht nur Nachrichten geliefert haben?
Maxim: Qualitativ hochwertige Information wird immer mehr zu einer „Luxusware“. Wirklich gute Qualität kostet. Menschen, für die sie lebenswichtig ist, sind bereit zu zahlen. Menschen, für die sie nicht wichtig ist, werden nie dafür zahlen. Und dann gibt es noch die Menschen, die aus Prinzip sagen, sie würden nie für Inhalte aus dem Internet zahlen. In diesem Bereich ist es wirklich die persönliche Entscheidung eines jeden einzelnen.
Du kannst nicht immer zu hundert Prozent den Standards entsprechen, aber das bedeutet nicht, dass du dich nicht darum bemühen solltest
In der modernen Welt, wo es keine großen Zeitungen mehr gibt, naja, es gibt sie natürlich schon, aber ihr Einfluss ist nicht vergleichbar mit dem von früher. Nirgendwo. Nicht nur in Russland. Nicht nur in Belarus. Das ist überall so. Die Welt ist sozusagen in Stückchen zerfallen und jeder entscheidet selbst, wie er leben möchte, wie er mit Information umgehen möchte.
Jemand, der den Wert von Information und von einer qualitativ hochwertigen Analyse kennt, wird dafür bezahlen. Ich habe aber den Verdacht, dass die meisten es nicht tun werden. Im Endeffekt finden sich die Menschen umgeben von qualitativ immer schlechterer Information wieder, immer weiter von der Welt der Fakten entfernt, in der wir mehr oder weniger existieren. Und dann wundern wir uns noch, warum sich Menschen beispielsweise nicht impfen lassen wollen. Warum sie irgendwelche komischen Geschichten, Verschwörungstheorien und so weiter glauben.
Jemand, der den Wert von Information und von einer qualitativ hochwertigen Analyse kennt, wird dafür bezahlen
So ist die moderne Welt. In ihr gibt es zum einen harte Fakten und Analysen, Information von höchster Qualität, die nur wenigen zugänglich sind. Und dann geht es immer weiter nach unten. Außerdem gibt es noch die Propaganda, die auf Hochtouren läuft. Ganz unterschiedliche Propaganda. Nicht nur bei uns im Land, das ist eine sehr verbreitete Erscheinung auf der ganzen Welt.
Das Bild, das wir bekommen: Von der höchsten bis zur niedrigsten Qualität gibt es alles in ein und derselben Welt, in ein und derselben Stadt, bis ins Private hinein. Einer konsumiert das eine, der andere das andere. Kurzum, jeder entscheidet für sich selbst.
Alexander: Ich möchte sagen, dass ich ein Anhänger des klassischen professionellen Journalismus bin und überzeugt, dass er unersetzlich ist. Und zwar nicht aus beruflichen Ambitionen oder Stolz, sondern aufgrund dessen, was ich beispielsweise bei der Arbeit sehe.
Ich ergreife nochmal die Gelegenheit für die Nachrichtenagentur BelaPAN zu werben. Kollegen aus anderen Häusern haben in den letzten Jahren angefangen, von einer Monetarisierung des Contents zu sprechen. Darüber können wir nur lachen, weil wir vom ersten Tag an Information verkaufen – wir leben davon. Andere Medien hatten uns abonniert, solange es sie in Belarus noch gab, jetzt sind es vor allem ausländische Botschaften. Wenn ich mit den Diplomaten spreche, sagen sie: „BelaPAN – das ist verifizierte Information, das schätzen wir, und dafür zahlen wir.“ Es gibt also Blogger wie Sand am Meer, aber sie entscheiden sich für BelaPAN, weil ihnen diese Blogger gestohlen bleiben können.
Ich bin ein Anhänger des klassischen professionellen Journalismus und überzeugt, dass er unersetzlich ist
Ich breche es natürlich etwas herunter, weil es eine Reihe von Bloggern gibt, die eigentlich professionelle Journalisten sind, aber das Leben zwingt sie einfach dazu, sich als Blogger „auszugeben“, bei Telegram oder in sozialen Netzwerken zu veröffentlichen. Aber dort produzieren sie exakt dasselbe, was sie gewohnt sind und gelernt haben zu produzieren.
Für manche ist das sicher zugänglicher und es imponiert ihnen mehr, wie Maxim schon sagte. Aber ich sehe auch, dass eigenverantwortliche, selbstständige Menschen, die es gewohnt sind, die Wirklichkeit kritisch zu durchdringen und selbst Entscheidungen zu treffen – dass sie zu den klassischen Medien tendieren, oder zu Bloggern, die in Wirklichkeit professionelle Journalisten sind.
Lassen Sie uns ein Jahr nach vorn springen und uns vorstellen, was mit dem belarussischen und dem russischen Journalismus sein wird, wenn man die Krisen berücksichtigt, die sie gerade durchleben. Lassen sich Prognosen machen? Und wenn ja, welche?
Alexander: Was Belarus betrifft, sind die Prognosen leider nicht sehr erfreulich. Denn die Repressionen dauern an, die Gerichtsprozesse dauern an, knapp 30 Journalisten befinden sich gerade in Haft.
Vieles hängt von der Entwicklung der politischen Lage ab. Wenn die Regierung doch noch versucht, mit der EU und Washington das Gespräch zu suchen, wird es vielleicht ein kleines bisschen leichter, obwohl mit einer Liberalisierung natürlich nicht zu rechnen ist. Deswegen werden die Medien – ich rede von den unabhängigen Medien (den staatlichen Journalismus klammere ich gleich aus, denn ich würde ihn nicht als Journalismus bezeichnen, es ist die reinste Propaganda, die immer tiefer sinkt, sodass sie überhaupt nicht mehr Gegenstand einer professionellen Diskussion sein kann), also die nichtstaatlichen Medien, die noch da sind, werden vermutlich auf andere Plattformen ausweichen, sprich, lernen in diesem aggressiven, hochaggressiven Umfeld zu überleben, irgendwelche neuen Kanäle zur Informationsvermittlung erfinden, weil das in der Gesellschaft gefragt ist.
Die nichtstaatlichen Medien, die noch da sind, werden vermutlich auf andere Plattformen ausweichen, sprich, lernen in diesem hochaggressiven Umfeld zu überleben
Die Belarussen haben bewiesen, dass sie eine, wenn auch noch nicht gänzlich so doch zunehmend politische Nation sind. Und Bürger brauchen keine Propaganda, sondern professionelle, durchdachte, vielseitige Information. Das ist gefragt, und deswegen werden die belarussischen Medien weiterarbeiten, wenn auch in einer etwas partisanischen Form.
Positive Aussichten sind nur bei einem Regimewechsel denkbar, bei einem Wandel des gegenwärtigen Systems, das sich mittlerweile schlicht in einen Polizeistaat verwandelt hat.
Alexander, was denken Sie, wenn wir die positiven politischen Szenarien annehmen – wird tut.by in irgendeiner Form wieder zum Leben erwachen?
Alexander: Die Regierung tut gerade alles, um die Plattform zu vernichten, sie verpassen ihr gerade den Todesstoß. Deswegen wird die Regierung erstmal versuchen tut.by vollends zu erwürgen, die waren ein zu großer Reizfaktor für sie.
Die belarussischen Medien werden weiterarbeiten, wenn auch in einer etwas partisanischen Form
Ich denke, es gibt die Möglichkeit, dass dieses Portal teilweise, natürlich nicht ganz, im Ausland wiederentstehen wird. Denn jetzt wurde tut.by ja lahmgelegt, weil sich der Content, soweit ich weiß, rein physisch auf einem Server in Belarus befand, den man ganz plump ausschalten konnte. Aber wenn der Server im Ausland wäre, wenn die Leute – und die Belarussen haben in dieser Hinsicht im vergangenen halben Jahr einen enormen Fortschritt gemacht – mit VPN, Psiphon und all diesem Schnickschnack umgehen können, dann werden sie, wie die Erfahrung Chinas, des Irans und anderer repressiver Regimes beweist, die Information finden. Das lässt sich nicht mehr unterbinden.
Maxim, vielleicht könnten Sie abschließend noch ein paar Prognosen über die Entwicklung des objektiven Journalismus in Belarus und Russland geben?
Maxim: Es ist etwas traurig, Prognosen zu machen, denn ausgehend von dem, was wir jetzt haben, bekommen wir in der Zukunft exakt dasselbe, minus noch ein paar Zeitungen. Das war’s. Das ist nicht besonders interessant.
Ich mache mir eher Gedanken über das Schicksal des faktenbasierten Weltbildes. Eines Weltbildes, das die Analytik ernstnimmt, das auf dem fußt, was man beweisen, und nicht auf dem, was man erfinden kann. Bis vor kurzem waren wir der Ansicht, dass Fakten existieren. Aber in den vergangenen 10, 15 Jahren beobachten wir, wie diese Überzeugung schwindet. Es ist seltsam, das zu sehen, aber es passiert vor unseren Augen, die Menschen finden es zuweilen viel interessanter, die Welt ganz anders zu sehen, als wir es früher mal, teils in der sowjetischen Schule, gelernt haben.
Es ist etwas traurig, Prognosen zu machen, denn ausgehend von dem, was wir jetzt haben, bekommen wir in der Zukunft exakt dasselbe, minus noch ein paar Zeitungen
Das ist ein globaler Prozess. Er hängt von unterschiedlichen Faktoren ab: dem politischen Populismus, der Demokratisierung des Zugangs zu jeglicher Information, der Entwicklung der sozialen Medien, wo jeder Mensch längst selbst Autor, Journalist und Verfasser von Texten, Statements, Bildern und Tönen ist.
Qualitativ hochwertige Information – das, was wir gewohnt sind als Standard zu setzen, als das einzig Wichtige zu betrachten, nennen wir es provisorisch „objektiver“, faktenbasierter Journalismus – wird heutzutage zu einem Gut für ein sehr kleines Segment der Gesellschaft. Wir leben in einer Welt, in der darüber gestritten wird, ob es überhaupt Fakten gibt, ob es überhaupt Objektivität gibt. In Wirklichkeit ist das das fundamentale Problem – weitaus mehr als das Schicksal der Medien in autoritären Staaten. Die autoritären Staaten sind in diesem Fall einfach ein Teil des Weltgeschehens und der Veränderungen auf der Welt.