дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Das Imperium muss sterben“

    „Das Imperium muss sterben“

    Belarus ist nahezu vollständig aus der Diskussion um den russischen Krieg gegen die Ukraine verschwunden. Dabei ist das Schicksal des Landes eng mit dem Ausgang des Krieges verbunden. Die demokratische belarussische Opposition hat im Dezember 2023 ein lang angekündigtes Strategiepapier vorgelegt, in dem sie verschiedene Szenarien für einen Regimewechsel formuliert. Ausgehend von der Annahme, dass Russland den Krieg verliert oder in seinen Handlungsmögichkeiten stark eingeschränkt wird. 

    Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski hat sich das Papier für das Online-Medium Pozirk genau angeschaut – und er fragt sich, ob ein Machtwechsel in seiner Heimat tatsächlich unausweichlich ist, wenn Russland im Zuge des Krieges entscheidend geschwächt wird.

    Im Dezember, kurz vor Jahresende, haben die demokratischen Kräfte um Swetlana Tichanowskaja endlich einen Strategieentwurf für den Übergang zu einem neuen Belarus vorgelegt. In dem Dokument wird umrissen, wie der Staat neu geordnet werden soll, wenn die demokratischen Kräfte an die Macht kommen. Für jene, die sich Veränderungen herbeisehnen, ist aber vielmehr die Frage wichtig, wie die derzeitige Tyrannei zu beenden wäre, damit der Weg in diese lichte Zukunft beschritten werden kann. Diese Frage wird jedoch nur sehr spärlich in Anhang 1 des umfangreichen Dokuments behandelt. Vier denkbare Szenarien werden skizziert.

    Ist ein Dialog zwischen Opposition und Regime überhaupt denkbar?

    1. Gehen wir die Szenarien einmal durch. Das erste geht davon aus, dass „Russland durch den Krieg geschwächt wird und dann nicht mehr in der Lage ist, Belarus im gleichen Maße wirtschaftlich, militärisch und politisch zu unterstützen“. Dadurch würde sich in Belarus die soziale und wirtschaftliche Lage verschlechtern. Die Nomenklatura würde versuchen, „Verhandlungen mit den Ländern des Westens und den demokratischen Kräften aufzunehmen, um ein Ende der Sanktionen und eine Wiederaufnahme der Beziehungen zu erreichen“. Es würde ein nationaler runder Tisch eingerichtet und eine Übergangsregierung gebildet, zu der laut dem Szenario Vertreter der Nomenklatura wie auch der demokratischen Kräfte gehören würden.

    Hier stellt sich umgehend die Frage, ob es die Nomenklatura eilig haben wird, diejenigen zum runden Tisch einzuladen, die jetzt verächtlich als „Abtrünnige“ bezeichnet werden, und sie zudem noch an der Macht zu beteiligen. Die Einführung wie auch die Aufhebung der Sanktionen hängt in erster Linie von den Staaten des Westens ab. Die belarussische Opposition hat hierauf nur einen sehr mittelbaren Einfluss. Somit wäre wohl eher ein Deal mit den Führungen westlicher Staaten wahrscheinlich. Die Vertreter des Regimes dürften dabei eher auf Realpolitik setzen und versuchen, eine Demokratisierung zu vermeiden.

    Es hat zwar auch 1989 in Polen einen runden Tisch zwischen der kommunistischen Regierung und der Gewerkschaft Solidarność gegeben. Doch stellte die Solidarność da eine einflussreiche Kraft dar. Das damalige Regime dort wurde durch wirkungsmächtige Streiks erschüttert.

    In Belarus sind die Schrauben heute derart fest „angezogen“, dass nicht einmal eine individuelle Mahnwache möglich ist. Ganz zu schweigen von einem Massenstreik. Der ist undenkbar. Die oppositionellen Kräfte sind – anders als die Solidarność – ins Ausland verdrängt worden. Sie können kaum auf die Situation im Land einwirken, wo die Bevölkerung zunehmend entpolitisiert wird.

    Wie wahrscheinlich ist ein Volksaufstand?

    2. Das zweite Szenario geht davon aus, dass in Russland nach einer Niederlage im Krieg gegen die Ukraine ein Regimewechsel erfolgt: „Russland ist durch den Krieg und die Sanktionen erschöpft, und es kann sich nicht mit Belarus befassen“. Auch hier würde sich in Belarus die soziale und wirtschaftliche Lage drastisch verschlechtern, Streiks würden aufflammen und sich ausbreiten, was zu Zusammenstößen mit Truppen des Innenministeriums führen würde. Das Militär würde jedoch „seine Neutralität wahren“, „in den Sicherheitsstrukturen“ würde „eine Spaltung erfolgen“, Protestierende würden die Präsidialadministration und andere Objekte der kritischen Infrastruktur stürmen. Alexander Lukaschenko würde „entweder verhaftet oder ins Exil fliehen“.

    Auch dieses Szenario wirft viele Fragen auf. Die Angst vor Repressionen ist jetzt in Belarus derart groß, dass es selbst bei einem beträchtlichen Absacken des Lebensstandards nicht viele sein werden, die sich den Schlagstöcken der OMON entgegenstellen. In Nordkorea ist das Leben mehr als aussichtslos, und dennoch probt die Bevölkerung nicht den Aufstand. Und Lukaschenkos Regime bewegt sich jetzt in Richtung Nordkorea.

    Darüber hinaus sind die Sicherheitskräfte gut ausgebildet und ausgerüstet. Viele, besonders die mit Blut an den Händen, sind überzeugt, dass sie nach einem Machtwechsel vor Gericht landen (oder gar das Ziel von Selbstjustiz) würden. Sie würden erbittert um ihr Schicksal und das ihrer Familien kämpfen.

    Und wenn die Armee, die schon 2020 an den Repressionen beteiligt war, nicht neutral bleibt? Lukaschenko hatte ja seinerzeit Schützenpanzer vor seinem Palast auffahren lassen und gezeigt, dass er bereit ist, auf Menschenmassen zu schießen. Und dass er nicht das Land verlassen werde, wie einst Janukowitsch die Ukraine. Der Ausgang eines solchen hypothetischen Maidan in Belarus ist also keineswegs ausgemacht.

    Und wer sagt schließlich, dass nach einem Machtwechsel in Russland ein Liberaler oder Friedenswilliger in den Kreml einzieht? Was wäre, wenn dann ein völlig archaischer Imperialist an die Macht kommt, der beschließt, den Misserfolg in der Ukraine durch einen Anschluss von Belarus wettzumachen?

    Was, wenn Belarus die Unabhängigkeit tatsächlich an Moskau verliert?

    3. Das dritte Szenario geht davon aus, dass Lukaschenko – aus welchem Grund auch immer – nicht mehr das Präsidentenamt ausüben kann (wegen schwerer Krankheit oder durch sein Ableben) und sein aus der Nomenklatura stammender Nachfolger angesichts der Last der ererbten Probleme eine Deeskalation im Verhältnis zum Westen und einen Systemwandel unternimmt. Hierbei wird vorausgesetzt, dass „Russland durch den Krieg geschwächt ist und nicht mehr das volle Repertoire seiner Instrumente einsetzen kann, um auf Belarus einzuwirken“.

    Aber halt! Wenn nun aber Lukaschenko stirbt und Russland noch stark genug ist? Und was, wenn der Nachfolger prorussisch gesinnt ist und beschließt, sich der ererbten Probleme dadurch zu entledigen, dass die Reste der belarussischen Souveränität einfach dem Kreml übertragen werden?

    4. Das vierte Szenario postuliert, dass „die belarussische Armee sich unmittelbar und auf Seiten Russlands an dem Krieg in der Ukraine beteiligt und auf ukrainisches Territorium vorrückt“. Dann werde es Lukaschenko voll erwischen: „Ukrainische Truppen würden, mit belarussischen Freiwilligenverbänden an der Spitze, nach Belarus einmarschieren“, und die Zerschlagung des Regimes wäre dann nur noch eine Frage der Technik.

    Mag sein, doch bislang hat es der belarussische Herrscher erfolgreich verstanden, eine direkte Beteiligung seiner Streitkräfte am Krieg zu vermeiden. Und es ist ja nicht so, dass Putin ihm deswegen an die Kehle geht. Im Gegenteil: Moskau ist so großzügig wie noch nie. Das heißt, es ist zufrieden mit den anderen Diensten seines Verbündeten.

    Wie gefällt Ihnen diese Variante: Lukaschenko schließt sich der „militärischen Spezialoperation“ Russlands symbolisch in einer Phase an, in der Kyjiw am Rande einer Niederlage steht, nicht die Kraft zu einer Gegenoffensive hat und die beiden Verbündeten dann gemeinsam ihre Ziele erreichen?

    Die Opposition hat kaum Einfluss auf das Geschehen 

    Ich kritisiere natürlich bewusst an diesen Szenarien herum, um aufzuzeigen, dass sie alle viel zu glatt sind und auf einer Menge Annahmen beruhen, die für die Regimegegner günstig sind. Es mag ja tatsächlich zu dieser Verkettung von Umständen kommen. Allerdings wäre es besser, von Anfang an auch höchst wahrscheinliche negative Hindernisse zu berücksichtigen.

    Es fällt auf, dass sämtliche Szenarien mehr oder weniger auf der Annahme beruhen, dass Russland durch den Krieg geschwächt sein wird oder überhaupt eine Niederlage erleidet, also kurz gesagt, dass es sich überhaupt nicht mit Belarus befassen kann. Der Krieg ist jetzt aber in einer Phase, in der sich – seien wir ehrlich! – viele bereits fragen, ob die Ukraine standhalten wird. Also verdüstert sich die Aussicht auf ein Fenster der Möglichkeiten für einen Wandel in Belarus noch stärker.

    Es stimmt zwar, dass sich die Lage in einer für die demokratischen Kräfte günstigeren Richtung verändern kann. Doch rechnen all diese Szenarien vor allem mit externen Faktoren wie etwa großen Erfolgen der Streitkräfte der Ukraine, einer durchschlagenden Wirkung der westlichen Sanktionen usw. Die demokratischen Kräfte können diese Faktoren aber nur unwesentlich beeinflussen. Es liegt auf der Hand, dass das Büro von Tichanowskaja die ukrainischen Streitkräfte nicht mit Storm Shadow-Raketen, Patriot-Systemen oder mit F-16 versorgen kann. Der Westen verhängt seine Sanktionen nach eigenem Gutdünken, flammende Aufrufe des Leiters des Nationalen Anti-Krisen-Management, Pawel Latuschka, spielen da keine große Rolle. Und es ist heute erkennbar, dass der Westen nicht in der Lage ist, Sanktionen gegen die [russische – dek]  Atomwirtschaft durchzusetzen.

    Hier ist zu erwähnen, dass auch Vertreter des Kalinouski-Regiments versuchen, eine Strategie zur Befreiung von Belarus zu entwickeln. Die Konferenz, die Ende November in Kyjiw stattfand, hat diese Aufgabe nicht bewältigt. Es wurde lediglich beschlossen, eine Arbeitsgruppe zur Entwicklung einer Strategie einzurichten. Auch das Kalinouski-Regiment macht keine großen Sprünge. Es gibt zwar die belarussischen Freiwilligen dort, doch ist es ein Teil der ukrainischen Streitkräfte. Kyjiw hat derzeit nicht Absicht, gegen Lukaschenko zu kämpfen, solange dieser nicht selbst vorrückt.

    Wenn der Rückhalt durch den Kreml tatsächlich bröckelt

    Mit der Präsentation der Strategie für den Übergang zu einem neuen Belarus hat sich Tichanowskajas Team deutlich Zeit gelassen. Logischer wäre es gewesen, dieses Werk auf der Konferenz Neues Belarus 2023 im August vorzustellen. Dort wurden aber lediglich einige Deklarationen verabschiedet. Gleichzeitig muss man verstehen, dass es grundsätzlich nicht möglich ist, sich eine Wunder wirkende Strategie einfach aus den Fingern zu saugen.

    Putin und Lukaschenko sitzen derzeit fest im Sattel und feiern (wenn auch eindeutig zu früh). Die russische Wirtschaft hat den Schlag der Sanktionen überstanden und ist eine Stütze für die belarussische Volkswirtschaft. Die russischen Streitkräfte gehen in der Ukraine zum Gegenangriff über, während der Westen Zeichen der Ermüdung offenbart, was die Unterstützung der Ukraine angeht. Mehr noch: Ein Teil der westlichen Politiker möchte nicht, dass der Kreml eine ernste Niederlage erfährt, weil sie einen Zerfall Russlands und eine Verbreitung von Atomwaffen befürchten.

    Auch dem Westen geht es letztendlich nicht um Belarus

    Die Welt befindet sich heute in der dramatischen Phase einer Konfrontation der Autokratien mit den Demokratien. Die genannten Szenarien der demokratischen Kräfte gehen davon aus, dass es Russland nicht mehr um Belarus geht. Wir können es aber offen aussprechen: Auch dem Westen geht es letztendlich nicht um Belarus.

    Die demokratischen Kräfte sollten einerseits – geb’s Gott – dafür sorgen, dass die belarussische Frage auf der Agenda des Westens bleibt. Andererseits sollten sie wenigstens irgendein Interesse der protestbereiten Bevölkerung für sich wecken. Es wäre gut, wenn sich die politisch motivierten Emigranten nicht untereinander überwerfen und sich endgültig marginalisieren würden, wenn die demokratischen Kräfte sich die nötigen Ressourcen zum Selbsterhalt sichern sollten, damit ihre Mission zur Stunde X denn erfüllt werde. Zudem ist es wichtig, nicht in ein klischeehaftes Pathos zu verfallen, dessen bereits viele Anhänger eines Wandels müde sind.

    Wenn denn die Zeit eines Wandels anbricht, so werden sich zweifellos Führer finden, und das können ganz neue Leute sein. Aber sonst: Es wühlt sich der Maulwurf durch die Geschichte. Lukaschenko hat zwar die Kontrolle über die Gesellschaft verloren und das Land eingefroren. Bislang steht der Kreml hinter ihm. Das Regime zu zerstören ist kaum denkbar. Es ist ein Fest der Finsternis; das Böse könnte länger dauern.

    Russland wird wohl früher oder später den Weg anderer Imperien gehen. Die Herausforderung, die Putin dem Westen entgegenschleudert, ist abenteuerlich. Sie verdammt Russland zum Niedergang und ist für den Kreml letztlich tödlich. Das Imperium muss sterben. Wichtig ist, dass für Tichanowskaja und ihr Team ein antiimperiales Narrativ zum Axiom wird.

    Weitere Themen

    FAQ #5: Welche Rolle spielt eigentlich Belarus im Ukraine-Krieg?

    Kampf der Oppositionen

    Lukaschenko auf den Spuren des Totalitarismus

    Der Abgrund ist bodenlos

    Von wegen russische Besatzung

    Warum Lukaschenko von einer Pattsituation in der Ukraine profitiert

    Im Netz der Propaganda

  • Von wegen russische Besatzung

    Von wegen russische Besatzung

    Belarus sei „de facto unter Militärbesatzung“ sagte die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja im November 2022 in Bezug auf Russlands erdrückenden Einfluss auf ihre Heimat. Auch deutsche Medien und internationale Politiker oder Beobachter sprechen nicht selten davon, dass der Kreml das osteuropäische Land faktisch okkupiert habe und dass Alexander Lukaschenko eigentlich nur noch eine Marionette Putins sei – ohne eigenen politischen Handlungs- und Entscheidungsraum. Zweifelsohne war und ist die politische Abhängigkeit von der russischen Führung groß, und sie ist seit den Protesten von 2020 noch größer geworden. Ohne Frage hat diese Abhängigkeit auch dazu geführt, dass Russland Belarus als Aufmarschgebiet für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine nutzen konnte. Aber kontrolliert der Kreml wirklich die Geschicke der belarussischen Machtzentrale, hat er es geschafft, die Kontrolle über Silowiki-Strukturen und Meinungsbildung im Nachbarland zu erlangen? Bleibt Lukaschenko tatsächlich nur noch das untertänige Nicken, wenn der große Bruder ruft? 

    Der belarussische Journalist und Analyst Alexander Klaskowski hält diese Sichtweisen für allzu einfach und deswegen für gefährlich. Für das Online-Medium Pozirk zeigt er anhand aktueller Entwicklungen, dass man Lukaschenko – der es seit 1994 in scheinbar ausweglosen Situationen gewohnt ist, seine Handlungsspielräume zu erweitern – nicht abschreiben sollte.

    Es gab eine Zeit, da vertrat ein Teil der Opposition vehement die These, Belarus sei von Russland besetzt. Jetzt aber scheint kaum mehr eine Handvoll russischer Truppen auf belarussischem Territorium zu stehen. Sollen wir also von einem Ende der Okkupation und Truppenabzug sprechen? 

    Wie immer ist die Wirklichkeit viel komplexer als die Politik, vor allem, wenn eine ordentliche Portion Propaganda im Spiel ist.

    Lukaschenko ist selbst in die imperialistische Falle getappt

    Den Daten des Monitoring-Projekts Belaruski Hajun zufolge (die von Kyjiw bestätigt werden) befinden sich derzeit in Belarus nicht mehr als 2000 russische Soldaten. Davon gehören 1450 zu der Funkstation Wolga bei Baranowitschi und zur Meldezentrale bei Wileika. In diesen zwei Anlagen ist schon jahrzehntelang russisches Personal im Einsatz. Weitere 600 Mann verteilen sich auf die beiden Flughäfen. Es liegt nahe, dass diese Kontingente auf die Betreuung und Bewachung von Objekten ausgerichtet sind und nicht darauf, Alexander Lukaschenkos Residenz in Drosdy zu stürmen. 

    Das hat nichts mehr zu tun mit dem Februar 2022, als der Kreml für angebliche gemeinsame Militärübungen zigtausende Soldaten mitsamt schwerer Kampftechnik in Belarus positionierte, um in Kyjiw einzumarschieren. Es gibt auch keine Trainingslager für mobilisierte Russen mehr, und die Luftwaffe der Russischen Föderation ist praktisch vollständig abgezogen. 

    Dass Moskau mit diesen paar tausend Soldaten nicht in der Lage ist, seinen Verbündeten rein militärisch in Schach zu halten, ist klar. Es gibt auf belarussischem Gebiet auch keine klassische Besatzungsverwaltung. Lukaschenko sitzt bereits das dreißigste Jahr auf seinem Thron und steuert alles über die von ihm selbst erschaffene Machtvertikale. Dass viele seiner Beamten und vor allem die Silowiki prorussisch eingestellt sind, ist ein anderes Thema.

    Allerdings ist die Abhängigkeit des Regimes vom Kreml durch die Niederschlagung der Proteste im Jahr 2020 und die Beteiligung an der Aggression [gegen die Ukraine – dek] zweifellos angewachsen. Doch nicht das Imperium hat Belarus an sich gerissen, sondern der belarussische Regent hat sich dazu entschieden, sein Land enger an das Imperium zu binden, um an der Macht zu bleiben. Er ist selbst in diese Falle getappt. 

    Marionette – hin oder her, aber … 

    Jetzt kann man sagen: Ist doch egal, wenn das Ergebnis ist, dass Lukaschenko eine Marionette von Putin ist – Unabhängigkeit gibt es nicht (Belarus ist de facto bereits eine Provinz der Russischen Föderation, sagt der litauische Präsident Gitanas Nausėda).

    Nun, Marionette hin oder her – jedoch hat Lukaschenko in den ganzen eineinhalb Jahren Krieg keinen einzigen seiner Soldaten dorthin losgeschickt. Obwohl diverse prominente Kommentatoren beherzt davon gesprochen haben, wie Putin seinen „kleinen Bruder“ angeblich auspresst. Als hätten sie das aus einer Ecke im Kreml oder einem Gebüsch in Sotschi heimlich beobachtet. 

    Ja klar, so fest presst er, dass alle wirtschaftlichen Leckerbissen sich über Minsk ergießen wie aus einem Füllhorn. Lukaschenko ist es nämlich gelungen, sein mächtiges Gegenüber davon zu überzeugen, dass das aktuelle Symbiose-Modell ihrer beiden Regime optimal ist und keine gefährlichen Experimente erforderlich sind.  

    Und sogar Kyjiw, das gern über die russische Besatzung von Belarus spricht, scheint hinter den Kulissen sein Spiel mit dessen Führungsmacht fortzusetzen (worüber dieser sich schon ein paar mal verplappert hat). Wieso sollten sie mit einer Marionette verhandeln?

    Es stimmt zwar, dass Lukaschenkos politische Eigenständigkeit geschwächt ist, doch ganz außer Acht zu lassen ist sie nicht. Erinnern wir uns an den Abzug der Söldnertruppe Wagner nach Belarus. Verschwörungen zufolge sei das Putins schlauer Plan gewesen für einen neuen Angriff auf die Ukraine vom Norden her oder überhaupt auf Europa. Mit der stillschweigenden Annahme, dass in einem solchen Fall der „kleine Bruder“ gar nicht mal gefragt würde. Aber diese Verschwörung fällt jetzt in sich zusammen, wie vom Autor dieser Zeilen vorhergesagt. Es wird immer offensichtlicher, dass die Aufnahme der Aufständischen in Belarus ein spontaner Entschluss war. Jetzt zerlegen sie Prigoshins Baby. Das Lager bei Ossipowitschi schrumpft, und überhaupt stand es unter der Fuchtel der Silowiki von Lukaschenko, der an einer Konfrontation mit der NATO wenig interessiert ist.

    Ebenso offensichtlich ist, dass er nicht will, dass die Grenzen in Richtung EU dichtgemacht werden. In den letzten Wochen gab es immer weniger Flüchtlinge aus Drittländern, die dort hinüberwollen, immer weniger; offenbar hat Minsk Regulierungsmaßnahmen ergriffen. Obwohl sehr oft und viel zu hören war, dass der Kreml diese Sache lenkt, und der „kleine Bruder“ nur brav mitspielt. 

    Atomwaffen: Putins Pläne passen zu Lukaschenkos Ambitionen 

    Indes gelangen einige Komponenten taktischer Kernwaffen aus der Russischen Föderation nach Belarus. Bestätigt wurde das jüngst von der Belarussischen Eisenbahnergesellschaft. Und dieser Tage erklärte der stellvertretende russische Außenminister, Sergej Rjabkow, dass die Stationierung der taktischen Kernwaffen in Belarus „nach Plan laufe“. 

    Allerdings wurden laut dem ukrainischen Nachrichtendienst die ersten Atomsprengköpfe erst Ende August geliefert, davor fanden nur „großangelegte Trainings mit Kernwaffen-Attrappen“ statt. Putin und Lukaschenko hingegen waren der Welle vorausgeschwommen und hatten geprotzt, dass dieser Prozess bereits in vollem Gang sei. 

    Einerseits kann man auch diesen Prozess als eine Art hybride Besatzung interpretieren. Moskau macht Belarus durch die Stationierung von taktischen Kernwaffen zu seiner atomaren Geisel. Andererseits kann auch hier keine Rede von schmerzhaftem Druck sein. Während Lukaschenko 2022 bezüglich des russischen Angriffs auf die Ukraine von belarussischem Territorium aus noch so tat, als hätte er nichts gewusst (und hätte es selbst aus dem Fernsehen erfahren), so betont er bezüglich der Kernwaffen gern, dass das seine Initiative war. 

    Es ist nicht ausgeschlossen, dass der schlaue Herrscher die Idee im Hinterkopf hat, Russland dieses Arsenal abzupressen, sollte dort nach einer Niederlage in der Ukraine alles zu bröckeln beginnen. In einer solchen Situation könnte er sogar mit dem Westen aushandeln, dass die Sanktionen aufgehoben werden und er nicht nach Den Haag muss. 

    Analysieren statt hypen

    All das ist natürlich mit Mistgabeln auf Wasser geschrieben. Noch wirkt die Anbindung des Regimes an Moskau beinahe fatal. Und die russische Militärpräsenz in Belarus kann auch bald wieder verstärkt werden. Aber obwohl der Grat viel schmaler geworden ist, fährt Lukaschenko innen- und außenpolitisch seine Manöver. Bisweilen sieht das ungelenk aus, aber in vielen Fällen durchaus geschickt.

    Manche Regimegegner wollen den Usurpator so unbedingt brandmarken, dass sie ihren Refrain über die Okkupation, die Marionettenhaftigkeit und den kompletten Verlust der Unabhängigkeit beinahe genüsslich wiederholen. Eine solche Sichtweise verhindert eine objektive Analyse der Situation im Land und um das Land herum. Immerhin ist der Umstand, dass die Staatlichkeit noch nicht vollends verloren ist, ein wichtiges Plus für einen möglichen Wandel. 

    Jedenfalls sollten jene, die sich Gedanken zur belarussischen Frage machen (und vor allem nach einer Lösung suchen), ihre Reflexionen nicht auf verschwörungstheoretische Seifenblasen reduzieren, die sich nur allzu leicht als Hype entpuppen. 

    Weitere Themen

    Lukaschenkos Furcht vor der Mobilmachung

  • Debattenschau № 89: Prigoshin tot?

    Debattenschau № 89: Prigoshin tot?

    Am Mittwochabend ist ein Privatjet der Wagner-Gruppe in der Region Twer abgestürzt, alle zehn Insassen sind laut russischen Medien ums Leben gekommen. An Bord soll sich der Chef der Söldnergruppe Jewgeni Prigoshin befunden haben, ebenso deren Kommandeur und Mitbegründer Dimitri Uktin.

    Genau vor zwei Monaten hatte Jewgeni Prigoshin seinen Aufstand der Wagner-Söldner gegen die russische Militärführung angeführt: Sie hatten die Millionenstadt Rostow am Don besetzt, Militärkolonnen rollten bereits auf Moskau zu, doch dann wurde der spektakuläre „Marsch der Gerechtigkeit“ überraschend abgeblasen. Vermittelt hatte das nach außen Alexander Lukaschenko, Alexej Djumin soll dabei eine zentrale Rolle gespielt haben. Putin hatte noch am Morgen des 24. Juni öffentlich von „Verrat“ und einer unweigerlichen Bestrafung gesprochen. Doch im Endeffekt konnte sich Prigoshin weiterhin frei in Russland bewegen, die Wagner-Söldner sind zum Teil wie vereinbart nach Belarus gegangen oder wurden in die russische Armee eingegliedert. 

    Angesichts dieser Vorgeschichte halten es viele Beobachter für ausgeschlossen, dass der Flugzeugabsturz ein Unfall war. dekoder hat erste Reaktionen von russischen und belarussischen Kommentatoren übersetzt.

    Alexander Baunow/Facebook: Mafia-Methode

    Russland wird schon seit über eineinhalb Jahrzehnten als ein Mafia-Staat beschrieben. Aus dieser Logik heraus erklärt auch der Analyst Alexander Baunow auf Facebook den Tod von Prigoshin.

    [bilingbox]Eine Bestrafungsmethode in Diktaturen besteht darin, den Feind/Verräter vor seiner Vernichtung für sich zu gewinnen oder sich zumindest mit ihm zu versöhnen, um so zu tun, als sei ihm vergeben worden. Das ist wie in Mafia-Filmen, wo sich rivalisierende Gruppen und ihre Bosse zusammentun, und anschließend die einen die anderen aus einer Torte erschießen, oder wie in Der Pate, wo sich alle versöhnen, bevor sie sich auslöschen.~~~Одна из технологий  наказания внутри диктатуры – приблизить врага/предателя перед уничтожением, или хотя бы помириться сделать вид, что прощен. Это как в фильмах про мафию, враждующие группы и их боссы собираются вместе, чтобы потом одни расстреляли других из торта, или в «Крестном отце» всё мирятся прежде чем  уничтожать.[/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Tatjana Stanowaja/Telegram: Eine Lehre für potenzielle Nachfolger

    Nicht einmal die russischen Propagandaorgane verbreiten die Version, dass der Absturz ein Unfall war. Die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja argumentiert auf Telegram, dass Prigoshins Ermordung eine Signalwirkung hat.

    [bilingbox]

    Was auch immer die Gründe für den Flugzeugabsturz sein mögen, jeder wird ihn als einen Akt der Rache und Vergeltung ansehen – und der Kreml wird das nicht groß verhindern. Aus der Sicht Putins – und vieler Silowiki und Militärs – soll der Tod Prigoshins allen potenziellen Nachfolgern eine Lehre sein […]

    Prigoshins Tod ist eine direkte Bedrohung für alle, die ihm bis zum Schluss treu geblieben sind oder ihn offen unterstützt haben. Dies wird eher abschrecken als zu Protesten anregen. Deswegen ist keine besondere Reaktion zu erwarten. Es wird Empörung und Unzufriedenheit geben, aber keine politischen Konsequenzen.

    ~~~

    Каковы бы ни были причины крушения самолета, все будут видеть это как акт возмездия и расправа, и Кремль не будет особенно мешать этому. С точки зрения Путина, а также многих среди силовиков и военных – смерть Пригожина должна быть уроком любым потенциальным последователям. […]

    Смерть Пригожина – прямая угроза для всех, кто оставался с ним до конца или открыто поддерживал. Это скорее напугает, чем вдохновит на протесты. Поэтому никакой особой реакции ждать не стоит. Негодование и недовольство будет, политических последствий – нет.

    [/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Ekaterina Schulmann/Telegram: Tarnung zum Untertauchen 

    In einer ersten Reaktion erinnert die russische Politologin Ekaterina Schulmann auf ihrem Telegram-Kanal daran, dass auch eine Inszenierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden kann.

    [bilingbox]Aber ein ausgebranntes Flugzeug ist auch eine gute Tarnung, um mit einem der vielen Ersatzpässe für immer unterzutauchen. Ab in die Pampa, wo keiner einen findet, bis Gras über die Sache gewachsen ist und die Spuren kalt sind. Mein Leben – ein Roman!~~~Но и для того, чтобы скрыться навсегда, взяв один из многочисленных запасных паспортов, сгоревший самолёт – тоже подходящий повод. Ворон костей не соберёт, концы в пепел, след простыл. Quel roman que ma vie![/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Michael Naki/Telegram: Alles ist so, wie es scheint 

    Manche witzeln über Michael Naki, er sei ein Prigoshinologe. Tatsächlich hat der populäre YouTuber und Militäranalyst schon im Februar 2023 vorhergesagt, dass Prigoshin keines natürlichen Todes sterben wird. Auf Telegram wendet er sich nun gegen die These, dass der Absturz eine Inszenierung sei. Für Naki ist alles in Wirklichkeit genauso, wie es auch scheint.

    [bilingbox]

    Erinnert ihr euch noch daran, als die Drohnen in den Kreml flogen? Da gab es alle möglichen Hypothesen, etwa dass der FSB da seine Finger mit drin hatte. Nichts davon konnte bestätigt werden, und ich denke, heute ist allen klar, dass es ukrainische Drohnen waren.

    Erinnert ihr euch noch an Prigoshins Meuterei? Damals hat kaum einer versäumt, sie als Inszenierung zu bezeichnen. Allerdings konnte niemand erklären, was der Zweck dieser Inszenierung war. Ich glaube, heute gibt es nur noch wenige Menschen, die an eine Inszenierung glauben.

    Jetzt haben wir die gleiche Situation. Ich kann weder zu 100 Prozent sagen, dass Prigoshin wirklich tot ist, noch, dass da irgendein raffinierter Plan dahintersteckt. Aber ich bin mir mehr als sicher, dass alles genauso ist, wie es auch aussieht. Putin hat Prigoshin demonstrativ getötet, und zwar auf eine Art und Weise, die keinen Raum lässt für Fantasien über einen Unfall oder Beteiligung der ukrainischen Streitkräfte.

    ~~~

    Помните, когда дроны прилетели в Кремль? Сколько там было всевозможных гипотез, что, мол, это дело рук ФСБ. Ни одна не подтвердилась, и, думаю, что сейчас всем очевидно, что это были украинские дроны.

    Помните мятеж Пригожина? Который только ленивый не назвал инсценировкой. Правда, никто не мог объяснить, в чем цель этой инсценировки. Думаю, что сейчас мало людей, которые все еще полагают, что это была инсценировка.

    Та же ситуация и здесь. Я не могу на 100% утверждать, что Пригожин точно мертв, и что нет каких-то хитрых планов. Но я более чем уверен, что всё именно так, как выглядит. Путин демонстративно убил Пригожина, причем способом, который не оставляет места фантазии на тему случайности или действий ВСУ.

    [/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Alexander Friedman/Telegram: Der Mann, der zuviel wusste

    Der belarussische Historiker und Analyst Alexander Friedman glaubt, dass der Tod Prigoshins auch als Warnung an Lukaschenko verstanden werden kann.

    [bilingbox]Auf jeden Fall wird Lukaschenko sagen können, dass seine Garantien für Prigoshin nur auf dem Territorium von Belarus und nicht für andere Teile des Unionsstaates galten. Der Tod von Jewgeni Prigoshin macht Alexander Lukaschenko in gewisser Weise zu einem „neuen Prigoshin”. Einerseits gibt ihm sein Tod die Möglichkeit (sollte der Kreml zustimmen), Teile der Gruppe Wagner unter seine Kontrolle zu bringen. Andererseits ist es die typische Geschichte eines Mannes, der zuviel wusste. Und das wird, wie wir heute gesehen haben, im Kreml nicht verziehen.~~~Александр Лукашенко в любом случае сможет сказать, что его гарантии Пригожину действовали только на территории Беларуси и не распространялись на другие части Союзного государства. Смерть Евгения Пригожина делает самого Александра Лукашенко в какой-то степени «новым Пригожиным». С одной стороны, она дает ему возможность (если будет на то согласие Кремля) поставить под свой контроль части ЧВК «Вагнер» в Беларуси. С другой стороны, это типичная история человека, который слишком много узнал. А такое, как мы сегодня увидели, в Кремле не прощают.[/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Alexander Klaskowski/Pozirk: Jede Menge Probleme für Lukaschenko

    Was passiert nun mit den Wagner-Söldnern in Belarus? Mit dieser Frage beschäftigt sich der belarussische Journalist Alexander Klaskowski auf Pozirk.

    [bilingbox]

    Lukaschenko kann den Tod des Wagner-Chefs nutzen, um die Spannungen in den Beziehungen zu den Nachbarländern der Europäischen Union und der NATO etwas zu senken.
    Eine andere Frage ist, ob Putin es eilig hat, diese toxische Mannschaft [die Wagner-Söldner – dek] einzusammeln oder dem belarussischen Machthaber zumindest Geld für den Unterhalt dieser problematischen Gäste zu geben. […]
    In jedem Fall hat der „kleine Bruder”, der in diesem Stück einen PR-Coup als Retter Russlands beim blutigen Aufstand leisten wollte, ordentlich viele Probleme übergeholfen bekommen.

    ~~~

    Лукашэнка можа скарыстаць смерць кіраўніка ПВК, каб трохі разрадзіць напружанне ў дачыненнях з суседнімі краінамі Еўразвязу і НАТО.
    Іншае пытанне, ці паспяшаецца Пуцін забіраць гэты таксічны актыў або хаця б даць грошай на ўтрыманне гэтых праблемных для беларускага правіцеля гасцей.

    В любом случае «младший брат», который хотел пропиариться в этом сюжете как спаситель России от кровавого бунта, получил на свою голову кучу проблем. 

    [/bilingbox]

    erschienen am 24.08.2023, Orignal

    Weitere Themen

    Mörder mit Tapferkeitsorden

    Wie Nowy Burez lebt – und stirbt

    Prigoshins Aufstand gegen den Kreml: Was war das?

    Prigoshins Aufstand: eine Chronologie der Ereignisse

    „Aus Putins Sicht ist das Problem gelöst“

    Lukaschenko und Wagner: Wer hat das Sagen?

  • Lukaschenko und Wagner: Wer hat das Sagen?

    Lukaschenko und Wagner: Wer hat das Sagen?

    Die Spannungen zwischen Polen und der belarussischen Führung steigen, seitdem Alexander Lukaschenko Wagner-Söldnern in Belarus Unterschlupf gewährt hat. Was die polnische Regierung als Bedrohung empfindet. Zudem kam es kürzlich zu einer Verletzung des polnischen Luftraums durch belarussische Militärhubschrauber. Und seit Herbst 2021 schwelt ein massiver Konflikt aufgrund von Migranten an der polnisch-belarussischen Grenze.

    Polen hat mittlerweile seine Truppenpräsenz an der Grenze zu Belarus verstärkt, was wiederum Wladimir Putin zu Drohungen veranlasste. Und zu einer Aussage, die in Polen als Affront aufgefasst wurde. Der russische Präsident meinte, dass die Polen nicht vergessen sollten, dass der Zugewinn vormals deutscher Gebiete im Westen infolge des Zweiten Weltkrieges „ein Geschenk Stalins“ gewesen sei. Dabei unterschlug Putin den Hitler-Stalin-Pakt, in dessen Folge die Sowjetunion 1939 die östlichen Gebiete der Zweiten Polnischen Republik besetzte.

    Ist es wirklich denkbar, dass die Wagner-Truppen gegen ein NATO-Mitglied wie Polen eingesetzt werden könnten? Was steckt hinter den Drohungen und Aussagen Lukaschenkos, die wie gewohnt paradox sind? Alexander Klaskowski geht diesen Fragen in seiner Analyse für das belarussische Online-Medium Pozirk auf den Grund und sucht dabei nach einer stringenten Logik in den jüngsten Entwicklungen.

    Bei einem Treffen mit Wladimir Putin am 23. Juli in Sankt Petersburg erklärte Lukaschenko, die nach Belarus verlegten Wagner-Einheiten würden ihn „langsam belasten“ und angeblich einen „Ausflug nach Warschau und Rzeszów“ planen / Foto © president.gov.by
    Bei einem Treffen mit Wladimir Putin am 23. Juli in Sankt Petersburg erklärte Lukaschenko, die nach Belarus verlegten Wagner-Einheiten würden ihn „langsam belasten“ und angeblich einen „Ausflug nach Warschau und Rzeszów“ planen / Foto © president.gov.by

    Nachdem Alexander Lukaschenko Polen mit der Wagner-Gruppe gedroht hatte, ruderte er nun zurück. Er betonte, Prigoshins Leute seien in Belarus unter Kontrolle, und den Suwałki-Korridor hätte Minsk „seit tausend Jahren nicht gebraucht“.

    Diese neuen Erkenntnisse verlautbarte er am 1. August anlässlich eines Treffens mit Bewohnern des Agrostädtchens Beloweshski im Rajon Kamenez. Lukaschenko hielt sich dennoch nicht mit Drohgebärden zurück – die Rede war sowohl von den Wagner-Truppen als auch von Atomwaffen und sogar dem „friedlichen Atom“, einer möglichen Beschädigung des Belarussischen Kernkraftwerks (BelAES).

    Wird der belarussische Führer zum Sündenbock gemacht?

    Bei einem Treffen mit Wladimir Putin am 23. Juli in Sankt Petersburg hatte Lukaschenko ein breites Publikum, vor allem in Polen und Litauen, mit der Äußerung in Aufruhr versetzt, die nach Belarus verlegten Wagner-Einheiten würden ihn „langsam belasten“ und angeblich einen „Ausflug nach Warschau und Rzeszów“ planen. (In Rzeszów befindet sich ein wichtiger Umschlagplatz für Militärlieferungen in die Ukraine). 

    Offensichtlich wollte der belarussische Gast dem „großen Bruder“ in die Hände spielen, indem er eine psychologische Attacke an das ihm verhasste Warschau richtete, das Kyjiw aktiv unterstützt. Doch die Polen ließen sich nicht einschüchtern und drohten stattdessen damit, in Absprache mit Litauen und Lettland endgültig die Grenze zu Belarus zu schließen. Das wäre für das Regime kein unbedeutendes wirtschaftliches Risiko. 

    Unterdessen diskutierten unabhängige Analytiker, aber auch Politiker und Militär in den NATO-Staaten, ob Putin die nach Belarus verlegten Wagner-Gruppe dazu einsetzen könnte, einen wenn nicht offenen, so doch hybriden Krieg gegen Europa zu entfesseln. Um sich danach auf seine Tschekistenart die Hände in Unschuld zu waschen, indem er beteuert: Diese  „Wildgänse“ unterstehen mir nicht, sie haben unlängst sogar einen Putsch angezettelt, weil sie keine Verträge mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu schließen wollten. Deshalb hätte man sie auch zum „kleinen Bruder“ geschickt. Und die Waffen für ihren Feldzug auf Rzeszów hätten sie bestimmt auf dem belarussischen Waffenmarkt gekauft. 

    Natürlich weiß jedes Kind, dass es in Belarus keinen unkontrollierten Waffenmarkt gibt und geben kann, solange alles unter Lukaschenkos Fuchtel steht. Seine Weste würde also im Falle eines Wagner-Feldzugs gegen die NATO-Nachbarstaaten keinesfalls weiß bleiben. 
    Bereits 2021 hatte er vorgegeben, nichts mit dem Massenandrang von Geflohenen an der belarussischen Grenze zur EU zu tun zu haben, was ihn jedoch nicht vor Sanktionen gerettet hat. Wenn also jetzt Diversions- und Spionagegruppen (DRG) der Wagner-Armee von belarussischem Boden aus in Polen oder Litauen eindringen, dürfte die Reaktion um einiges härter ausfallen. 

    Denn für die Nachbarländer und den gesamten Westen wird absolut klar sein, dass diese Gruppen ihre Ausrüstung per Handschlag vom belarussischen Oberbefehlshaber bekommen haben, und dass es Prigoshins Truppen nur mithilfe des belarussischen Militärs, des Grenzschutzes und der Geheimdienste möglich gewesen sein kann, auf fremdes Territorium vorzudringen. So zu tun, als hätte man nichts damit zu tun, wäre vollkommen sinnlos. Mehr noch, Lukaschenko wäre der Sündenbock, während Putin tatsächlich den Ahnungslosen spielen könnte. 

    Derweil hat der belarussische Regent höchstwahrscheinlich keine Lust, die Folgen der Scharmützel seiner aggressiven Gäste mit der NATO auszubaden. Während der Kreml an imperialem Phantomschmerz leidet und globale Ambitionen hegt, will Lukaschenko vor allem, dass seine Alleinherrschaft auf seinem „Fleckchen Erde“, wie er Belarus nennt, unangetastet bleibt. Also versucht der belarussische Führer, die Atmosphäre auf seine Art ein wenig zu entschärfen und seine politische Eigenständigkeit zu demonstrieren. 

    „Sie sind es gewohnt, Befehle auszuführen“ – bloß wessen Befehle?

    Lukaschenko entpuppte sich als großer Humorist. Am 1. August sagte er im Kreis Kamenez: „Das war ein Scherz, dass die Wagner-Leute untereinander tuscheln: Wir machen einen Ausflug nach Rzeszów.“ Dann gab er wiederum zu verstehen – in dem ihm eigenen paradoxen Stil – Prigoshins Leute seien wirklich kriegerisch eingestellt und führten gegen Polen Böses im Schilde. Dort solle man, so sagte er, „ruhig beten“, dass Belarus sie „aufhält und versorgt“. Andernfalls wären sie längst in Warschau und Rzeszów eingefallen, und die Polen hätten „ihr blaues Wunder erlebt“.

    Was für eine Logik: „Ich habe diese terroristische Organisation an eure Grenzen geholt, und ihr sollt mir gefälligst dankbar sein“. 

    Lukaschenko ließ sich natürlich auch den Trumpf mit den Atomwaffen nicht nehmen und sagte beiläufig, mehr als die Hälfte der von Russland zugesagten Menge sei bereits geliefert und im Land verteilt („Guckt ruhig nach“). Darüber hinaus sei das Kernkraftwerk von Astrawez ein großer Sicherheitsfaktor: „Sollte es, Gott bewahre, beschädigt werden, dann wird das auch dort [in den NATO-Nachbarstaaten] schlimme Folgen haben“, sagte Lukaschenko.

    Lukaschenko hat also wie immer nicht mit Drohungen gespart, diesmal aber die Akzente anders verteilt: Anstatt auf Angriff setzte er auf Verteidigung: „Wir steigen niemandem in den Garten, also klettert gefälligst auch nicht über unseren Zaun“. Mit anderen Worten: „Lasst mein Regime in Ruhe!“

    Lukaschenko hat außerdem davon abgesehen, die westlichen Nachbarn übermäßig zu verteufeln: „Die Polen sind nicht dumm, diese Leute sind uns ähnlich, sie nehmen ihre Regierung gerade schon in die Mangel …“ Die Verlegung polnischer Truppeneinheiten an die belarussische Grenze bezeichnete er verächtlich als „Ränkespiel“. „500 Soldaten hier abgezogen, 500 Soldaten dort […]. Ich glaube nicht, dass sie uns wirklich einschüchtern wollen.“

    Das steht einerseits im Widerspruch zum Mantra der belarussischen Generäle von der wachsenden Bedrohung durch die NATO und andererseits zu früheren Äußerungen Lukaschenkos, die polnischen Militaristen würden schon mit ihren Kettenraupen rasseln und nur darauf warten, halb Belarus einzukassieren.

    In der Geschichte um Wagner stellte sich Lukaschenko nun als absoluter Herr der Lage dar und hob hervor, dass er die Situation unter Kontrolle habe: „Die Truppe befindet sich in Ossipowitschi, mitten in Belarus, und ist nirgendwohin unterwegs. Die Jungs sind es gewohnt, Befehle auszuführen.“

    Die Frage ist nur, wessen Befehle sie ausführen werden, wenn der Tag X eintritt.   

    Wie eigenständig sind Prigoshin und Lukaschenko?

    Es war kein anderer als der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der russischen Duma, General a. D. Andrej Kartopolow, der die Schließung des Suwałki-Korridors (der in Moskau als Achillesferse der NATO betrachtet wird) im passenden Moment als Mission der in Belarus abgestellten Wagner-Truppen benannte. 

    Wenn Lukaschenko jetzt also hervorhebt, dass er diesen Korridor eintausend Jahre lang nicht gebraucht hätte, dann tritt er in einen offenen Meinungsstreit mit den Moskauer Kriegstreibern, um seine politische Eigenständigkeit zu behaupten. Diejenigen, die eine Anti-NATO-Mission der Prigoshin-Truppe in Belarus postulieren, lassen diese Eigenständigkeit Lukaschenkos praktisch völlig außer Acht. 

    Diese Hypothesen weisen einige Schwachstellen auf. Erstens ist es zweifelhaft, ob Jewgeni Prigoshins Putschversuch eine scharfsinnige Inszenierung war, mit dem Ziel, die Wagner-Truppen nach Belarus zu verlagern, um dann einen Angriff oder Sabotageaktionen gegen die NATO-Länder durchführen zu können. Wie es in einem alten Witz treffend heißt: „Das ist zu subtil für unseren Zirkus“. 

    Eine ganze Reihe von Fakten, Anzeichen und Informationsleaks sprechen dafür, dass der russische Präsident während des Putschversuchs tatsächlich erschrocken und irritiert war. Infolgedessen trug er einen riesigen Imageverlust davon. Das wäre schon eine sehr subtile Inszenierung. Zur Vergeltung und um eine Wiederholung zu vermeiden, schwächt der Kreml offen Prigoshins Wirtschaftsimperium. Zudem ist unklar, inwieweit Putin seinem ehemaligen Koch aktuell überhaupt Befehle erteilen kann. Prigoshins Eigenständigkeit sollte keinesfalls schon abgeschrieben werden.

    Er und der russische Machthaber versuchen zwar, ihren Konflikt auf ihre Weise aus der Welt zu schaffen, aber aller Voraussicht nach werden sie Feinde bleiben. Und welches Interesse sollte Prigoshin haben, seine Kämpfer in einen wahnwitzigen Sturm des Suwałki-Korridors oder in einen tödlichen Feldzug nach Warschau und Rzeszów zu schicken? Wenn unerwünschte Gäste so weit auf fremdes Territorium vordringen, wird aus ihnen sehr schnell Hackfleisch gemacht. 

    Schon eher möglich wären schnelle hybride Operationen im feindlichen Grenzgebiet (zum Beispiel ein wenig Unruhe in Terespol stiften), mit guten Überlebens- und Rückkehrchancen, doch welchen Nutzen hätten sie? Schließlich geht es hier um Söldner, die für ihre sehr spezielle Arbeit sehr gutes Geld gewöhnt sind. Auch Prigoshin selbst ist in erster Linie ein Geschäftsmann, keinesfalls ein Kamikaze. Für ihn ist es günstiger, seine „Adler“ ​ für Projekte in Afrika zu schonen (wo alle möglichen Goldminen und Diamanten zu bewachen sind). Dass Afrika Priorität hat, sagte er selbst bei seiner berühmten Ansprache im Lager bei Ossipowitschi.

    Lukaschenko sagte heute nun, er wolle einen Teil „dieser Jungs“ im belarussischen Militär behalten und „mit ihrer Unterstützung eine Vertragsarmee aufbauen“. Die belarussische Staatskasse ist jedoch kaum üppig genug, um die Wagner-Söldner nach deren üblichen Sätzen zu vergüten. Nehmen wir trotzdem einmal an, dass einige Söldner als Berufssoldaten in die belarussische Armee wechseln würden. Sich mit dem Rest der Gruppe aber die Anarchie ins Haus zu holen, die Wagner-Gruppe zu einer (wilden?) Raubkatze zu machen, die frei durch Belarus spaziert, und darüber hinaus noch die Schließung des Suwałki-Korridors zu bezahlen (plus im Nachhinein die Folgen dieses Abenteuers zu verantworten), das will Lukaschenko ganz sicher nicht. Putin teilte unterdessen mit, dass Prigoshins Gruppe in Russland keine Zuwendungen mehr erhalten würde. Wer trägt also eigentlich die Kosten für dieses Theater?

    Sollten die Wagner-Truppen also wirklich in Polen und Litauen einmarschieren, dann würde das erstens bedeuten, dass der Kreml sie vollständig kontrolliert, zweitens, dass er ihre Aktionen bezahlt, und drittens, dass er Lukaschenko tatsächlich zu einem Diener ohne jegliche Entscheidungsgewalt gemacht hat.

    Es bleibt spannend.

  • Unter dem Einfluss der russischen Welt

    Unter dem Einfluss der russischen Welt

    In seiner Amtszeit seit 1994 hat Alexander Lukaschenko mit dem Einfluss Russlands in Belarus geschickt gespielt, den Kreml auch teilweise immer wieder ausgespielt, wenn er zumindest zeitweise der EU entgegengekommen ist. Der russischen Führung ist es nie gelungen, eine wirkliche Kontrolle über den Machtapparat Lukaschenkos aufzubauen. Im Zuge der Niederschlagung der Proteste im Jahr 2020, der Radikalisierung des politischen Systems in Belarus oder der Rolle der belarussischen Führung im russischen Krieg gegen die Ukraine hat Russland potentielle außenpolitische Ausweichmanöver für den belarussischen Machthaber aber deutlich eingeschränkt. 

    Kann Russland diese Situation soweit nutzen, um seinen ideologischen Einfluss in Belarus zu stärken? Mit dieser zentralen Frage beschäftigt sich der belarussische Journalist Alexander Klaskowski in seiner Analyse für dekoder.

    Das russische private Militärunternehmen Wagner hat eine finstere Reputation. Es ist in einer Reihe von Staaten als verbrecherische oder terroristische Organisation eingestuft. Seine Söldner sind jetzt in der Ukraine am Werk. Der Vorschlaghammer ist zu einem Symbol der Abrechnung mit jenen geworden, die die Wagner-Leute für „Verräter“ halten.

    Diese spezifische Reliquie der Russki Mir wird nun – signiert von einem der Wagner-Männer – in einem belarussischen Museum als Exponat ausgestellt. Dabei empören sich nur jene Belarussen laut, die sich in der politischen Emigration befinden. Wer vor Ort ist, schweigt lieber. Es wird gemunkelt, dass Wladimir Gabrows Initiativen unter der Schirmherrschaft des belarussischen KGB stehen.

    Der ehemalige Angehörige der Fallschirmjäger steht jedenfalls in der Gunst der Regierung und taucht regelmäßig im Staatsfernsehen auf. Ende vergangenen Jahres überreichte Bildungsminister Andrej Iwanez ihm die Urkunde Für die aktive Beteiligung an der militärisch-patriotischen Erziehung der jungen Generation. Gabrow kann sich auch mit der Dankbarkeit von Alexander Lukaschenkos Präsidialadministration brüsten.

    Das Experiment einer „sanften Belarussifizierung“ ist gescheitert

    Dabei hatten sich glühende Verfechter der Russki Mir in Belarus vor wenigen Jahren noch längst nicht so wohl gefühlt. Lukaschenko hatte zwar dem Kreml die Treue geschworen, war aber auch auf der Hut geblieben. Er widersetzte sich nach Kräften dem Vormarsch der russischen Soft Power, die er zu Recht als Bedrohung für seine Herrschaft ansah.

    Unter anderem bemühten sich die belarussischen Behörden, die Märsche am Tag des Sieges, die Moskau im Rahmen des Unsterblichen Regiments im gesamten nahen Ausland initiierte, wenn nicht zu verbieten, so doch möglichst klein zu halten. So verweigerte die Minsker Stadtverwaltung einem Verein mit diesem Namen die Registrierung. Lukaschenko erklärte, dass es in Belarus seit langem schon die Aktion Belarus gedenkt gebe und die Russen die Idee „einfach geklaut“ hätten.

    Die Geheimdienste des Regimes erstickten im Keim Kosakeninitiativen, mit denen belarussische Jugendliche geködert werden sollten. Lukaschenko erklärte klipp und klar: „Das sind gar keine Kosaken. Es gibt Menschen, denen ist völlig egal, wie sie ihr Geld verdienen. Die werden von jemandem in Russland bezahlt. Wir sehen das …“ Ende 2017 verurteilte ein Gericht in Minsk drei belarussische Autoren der russischen Nachrichtenagentur Regnum zu fünf Jahren Freiheitsentzug auf Bewährung. Sie wurden der Volksverhetzung angeklagt, weil sie – so die Gutachter – in ihren Beiträgen die Souveränität von Belarus in Frage gestellt und beleidigende Aussagen über das belarussische Volk sowie dessen Geschichte, Sprache und Kultur gemacht hätten.

    Eine Weile liebäugelte Lukaschenko sogar mit einer „sanften Belarussifizierung“. Dabei bemühte er nationale Narrative, um ein Gegengewicht zum Druck aus dem Kreml zu bilden. Die Regierung ließ etwas mehr Freiheit für Kultur- und Bildungsinitiativen des nationalbewussten Teils der Gesellschaft. 2018 wurden im Zentrum von Minsk sogar eine Demonstration und ein Gedenkkonzert anlässlich des hundertsten Jahrestages der Belarussischen Volksrepublik genehmigt. Zehntausende versammelten sich mit den historischen weiß-rot-weißen Flaggen.

    Als dann aber 2020 gleich Hunderttausende mit diesen Flaggen auf die Straße gingen, um gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen zu protestieren, verstand Lukaschenko, dass er einen Geist aus der Flasche gelassen hatte. Er griff zu brutalen Repressionen, und die historische Flagge wurde zu einem Symbol des Faschismus erklärt. Bis heute werden Teilnehmer der friedlichen Demonstrationen ausfindig gemacht und hinter Gitter gebracht.

    Aktivistin Bondarewa gegen Socken, Lateinisches und Denkmäler 

    Dafür sahen einige Adepten der Russki Mir ihre Zeit als gekommen. Ein Beispiel hierfür ist die unermüdliche Aktivität von Olga Bondarewa aus Hrodna. Unabhängigen Medien zufolge ist Bondarewa in Polen wegen Zigarettenschmuggels vorbestraft. 2020 jedoch kamen ihre Hasstiraden gegen Protestierende der Regierung ganz gelegen.

    Nachdem Bondarewa ein „aufrührerisches“ Gemälde in einer Ausstellung von Ales Puschkin, einem dezidiert nationalbewussten Künstler, gemeldet hatte, wurde der Künstler angeklagt und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Bondarewa erreichte auch, dass von dem Gelände des Privatmuseums von Anatoli Bely in der Stadt Staryja Darohi die Skulpturen einer Reihe belarussischer historischer Persönlichkeiten entfernt wurden.

    Sie führte einen leidenschaftlichen Feldzug gegen Socken mit belarussischen Aufschriften; gegen nicht genehme Bücher; gegen Exkursionsleiter, die Belarussisch sprachen und deren Auslegung der belarussischen Geschichte, die angeblich von der offiziellen abwich; gegen einen Priester, der eine Andacht „für die Krieger und Verteidiger der Ukraine“ abgehalten hatte. Die rastlose Aktivistin machte auch vor der lateinischen Schrift nicht Halt, die unter anderem für das Belarussische verwendet wird und die sie als Instrument der Polonisierung anprangerte.

    Irgendwann ging die übereifrige Aktivistin selbst den Bürokraten und Propagandisten des Regimes auf die Nerven. Umso mehr, als sie begann, führende Repräsentanten und Mitarbeiter staatlicher Medien, die ihren Kriterien nicht genügten, grob zu beschimpfen. „Was geht in ihrem kranken Hirn vor?“, empörte sich über Bondarewas Ausfälle Swetlana Warjaniza, stellvertretende Vorsitzende der Gebietsorganisation Hrodna der regimetreuen Bewegung Belaja Rus.

    Nicht, dass die Funktionäre unbedingt gegen Bondarewa wären. Aber sie wollen wegen ihrer Aufrufe auch nicht von ihren Vorgesetzten eins auf die Mütze bekommen. Nach dem Motto: Warum habt ihr sie nicht im Auge gehabt? Warum habt ihr den Aufruhr zugelassen? Also haben wohl einige von ihnen damit begonnen, diese Aktivistin dezent in die Schranken zu weisen.

    Im Februar verweigerte die Miliz Bondarewa die Einleitung eines Strafverfahrens, nachdem sie angeblich in einem Telegram-Kanal beleidigt worden sei. Auch könnte ihr Rechtsstreit mit dem Parlamentsabgeordneten Igor Marsaljuk in einem Fiasko enden. Der hatte ihre Ausfälle nicht länger ertragen und sich an den Generalstaatsanwalt gewandt, damit dieser eine rechtliche Bewertung der Aktivitäten von „pseudopatriotischen Bloggern“ vornimmt.

    Auf der anderen Seite scheinen sich lokale Behörden wohl doch ein wenig vor Bondarewa zu fürchten und ihren „Signalen“ lieber Folge zu leisten. So wurde kürzlich bekannt, dass in der Ortschaft Selwa auf geheimnisvolle Weise das Denkmal der Dichterin Laryssa Henijusch verschwand, die unter Stalin zu 25 Jahren Gulag verurteilt worden war.

    Die Propaganda des Kreml hat zusätzliche Freiräume bekommen

    Allerdings gibt es in Belarus nur wenige Verfechter der Russki Mir, die so besessen sind wie Bondarewa. Man kann sich denken, dass diese Leute in den Augen der meisten Belarussen wie skurrile Freaks wirken. Der Soziologe Filipp Bikanow, der im vergangenen Jahr eine Studie zur nationalen Identität durchführte, stufte lediglich vier Prozent der Befragten als „Russifizierte“ ein. Zahlreiche weitere Studien haben bereits festgestellt, dass die Wenigsten für einen Beitritt von Belarus zu Russland sind. Die erklärten Anhänger der Russki Mir bilden in Belarus also keine kritische Masse. Ganz anders als 2014 auf der Krim und im Donbass.

    Bikanows Kategorisierung zufolge gibt es im Land jedoch nicht wenige „sowjetische“ Belarussen (nach seinen Berechnungen rund 29 Prozent), die ebenfalls für russische Propaganda empfänglich sein könnten. Und für die gibt es seit 2020 mehr Freiräume. 

    Lukaschenkos Medien wiederholen zahlreiche Narrative des Kreml. Unabhängige belarussische Medien werden systematisch als extremistisch eingestuft und aus dem Land vertrieben; wer sie innerhalb des Landes liest, wird bestraft. Die Miliz überprüft bei ihren Opfern, welche Telegram-Kanäle sie abonniert haben, um „Aufrührer“ aufzuspüren. Es ist jedenfalls sicherer, nur konforme Inhalte zu konsumieren. Umfragen zufolge gewinnen die kremltreuen und die staatlichen belarussischen Medien, die ihnen nach dem Mund reden, infolge durchaus an Einfluss.

    Der Führer schaufelt der Unabhängigkeit des Landes ein Grab

    Nach 2020 haben die Verfechter der Russischen Welt ihre Position auch im Verwaltungsapparat merklich gefestigt, sowohl in Lukaschenkos unmittelbarer Umgebung als auch – und insbesondere – in den Sicherheitsbehörden.

    Der ehemalige politische Gefangene Konstantin Wyssotschin erinnert sich an seinen Aufenthalt in der GUBOPiK, der Hauptverwaltung zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität und Korruption, einer Abteilung des Innenministeriums, die sich zur politischen Polizei gemausert hat: „Was mich verblüffte: An allen Bürotüren hängen Flaggen mit dem Z, und in den Räumen hängen zwei Portraits – eins von Lukaschenko und eins von Putin.“ Das Z nutzen die russischen Militärs zur Markierung ihres Geräts beim Einmarsch in die Ukraine. Es wurde auch zu einem propagandistischen Symbol der Aggressoren.

    Viele belarussische Offiziere erhielten ihre Ausbildung in Russland und haben dort noch Freunde. Manch einer, so wird gemunkelt, ist neidisch auf die Bezahlung der russischen Offiziere und Generäle. Verteidigungsminister Viktor Chrenin bezeichnete Lukaschenko und Putin öffentlich als „unsere Präsidenten“. Es stellt sich also die Frage, auf welcher Seite die Befehlshaber der belarussischen Armee und anderer Sicherheitsstrukturen (und nicht nur dort) im kritischen Moment stehen werden, wenn ihre Hirne von der Propaganda des Kreml gewaschen sind und sie praktisch in imperialen Kategorien denken.

    Als prorussisch gelten unter anderem der stellvertretende Innenminister Nikolaj Karpenkow (der früher die erwähnte GUBOPiK leitete), Oleg Romanow, der Chef der vor kurzem gegründeten Partei Belaja Rus, der Staatssekretär des belarussischen Sicherheitsrates Alexander Wolfowitsch sowie die Vorsitzende des Rates der Republik Natalja Kotschanowa. Letztere genießt das uneingeschränkte Vertrauen Lukaschenkos, der ihr verantwortungsvolle und heikle Aufgaben überträgt. Sie gilt sogar als mögliche Nachfolgerin des alternden Führers.

    Zum orthodoxen Weihnachtsfest entzündete Lukaschenko eine Kerze in der Kirche des am Stadtrand von Minsk gelegenen St. Elisabeths-Klosters, das als Hochburg von Anhängern der Russki Mir bekannt ist. Unter anderem wurden hier Spenden(gelder) für die russischen Aggressoren gesammelt, was bei den Opponenten des Regimes für Empörung sorgte. Das Staatsoberhaupt nahm das Kloster jedoch in Schutz: „Ihr macht das richtig. Achtet nicht auf dieses Dutzend gekaufter Leute.“

    Dabei ist offensichtlich, dass Lukaschenko Bauchschmerzen hat, den Aggressor uneingeschränkt zu unterstützen, weil ihm dafür perspektivisch ein Platz auf der Anklagebank im Internationalen Gerichtshof droht. Aber was soll er tun? Die Zeiten, da der belarussische Herrscher, wenn ihn der Kreml zu sehr bedrängte, die Zähne fletschen und sogar Wirtschaftskriege führen konnte, sind vorbei.

    Der Wendepunkt war die gewaltsame Niederschlagung der Proteste 2020. Um sich im Sattel zu halten, bat Lukaschenko Putin um Hilfe. Der bot ihm die starke Schulter und erntete dafür Begeisterung von Lukaschenkos Gefolgsleuten und Silowiki. Doch dann forderte Putin für die Rettung des verbündeten Autokraten einen grausamen Preis: Moskau nutzte Belarus als Aufmarschgebiet für den Überfall auf die Ukraine, beschmutzte das Regime durch die Beteiligung an seinem Eroberungskrieg und will jetzt in Belarus taktische Atomwaffen stationieren, wodurch der Nachbar noch stärker an Russland gefesselt wird.

    Angesichts dieser höheren Gewalt wählte Lukaschenko den Weg der Zugeständnisse an den Kreml – Zugeständnisse an den Westen und die Opposition kamen für ihn grundsätzlich nicht in Frage.

    Der belarussische Herrscher hat sich selbst in eine Zwickmühle gebracht: Obwohl er sich der Gefahr einer schleichenden imperialen Expansion durch Russland sehr wohl bewusst war, ist er jetzt dazu gezwungen, der Russki Mir immer weiter die Tür zu öffnen, damit er sich selbst hier und jetzt an der Macht halten kann. Somit schaufeln nicht die „prorussischen Freaks“ der belarussischen Unabhängigkeit das Grab, sondern der Führer des Regimes selbst.

    Weitere Themen

    Bystro #15: Warum ist Belarus wichtig für den Kreml?

    Video #33: „Wir haben eine Reservetruppe für Belarus eingerichtet“

    Bystro #26: Ist die belarussische Unabhängigkeit in Gefahr?

    Nichthumanitäre Hilfe

    Der Abgrund ist bodenlos

    Geburt und Tod der Russischen Welt

  • Zukunftsflimmern in Belarus

    Zukunftsflimmern in Belarus

    Laut Verfassung steht in Belarus 2025 die nächste Präsidentschaftswahl an. Angesichts der Proteste nach der Wahl 2020 und der anschließenden Radikalisierung des Systems von Alexander Lukaschenko lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt allerdings nur schwer eine wirkliche Wahl vorstellen. Schließlich sind mittlerweile auch alle Oppositionsparteien in Belarus verboten, die Repressionen gehen ungebremst weiter. 

    Für die Machthaber könnte eine Wahlinszenierung allerdings ein Mittel sein, der Exil-Opposition um Swetlana Tichanowskaja einen Bedeutungsverlust zuzufügen. Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski schaut für das Telegram-Medium Pozirk in die Zukunft und analysiert auch vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine, welche Rolle die Opposition bei der Wahl spielen könnte.

    Bereits 2020 hatte Alexander Lukaschenko herablassend erklärt, die „äußeren Feinde“ hätten nach „venezolanischem Szenario eine belarussische Guaidó gefunden“. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa sagte voraus, dass die Vereinigten Staaten genau wie Juan Guaidó auch Tichanowskaja „fallen lassen“ würden.

    Der Vergleich hinkt natürlich. Guaidó hat ein totales Fiasko erlebt. Die venezolanische Opposition hat ihre Übergangsregierung Ende letzten Jahres selbst beseitigt. Swetlana Tichanowskaja wird zwar von anderen Oppositionellen kritisiert (wobei Senon Posnjak ihr „im neuen Belarus“ gar Gefängnis prophezeit), doch sie können sie nicht vom Podest stoßen. Ihre persönliche Lage und die ihres Büros in Litauen stellt sich als recht stabil dar, niemand will sie von dort fortjagen.

    Die Kritiker Tichanowskajas sind zahlreich. In den unabhängigen Medien und den sozialen Netzwerken wird zu allem Überfluss jetzt auch noch die Frage breitgetreten, wie es mit ihrer Legitimität nach den Präsidentschaftswahlen 2025 aussehen wird.

    Der Herrscher will am Ruder bleiben, um seine Feinde zu ärgern

    Legitimität ist eine heikle Angelegenheit. Längst nicht jeder, der darüber streitet, versteht den Sinn dieses Begriffs. Kurz gefasst geht es um die freiwillige Anerkennung des Rechts auf Herrschaft einer Person durch die Bevölkerungsmehrheit. Im Falle von externer Legitimität wird dieses Recht durch das Ausland anerkannt.

    Nach den Wahlen von 2020 hat Lukaschenko, dem Wahlfälschungen vorgeworfen wurden, sowohl aus Sicht von Regimegegnern als auch aus Sicht des Westens seine Legitimität verloren. Tichanowskaja hingegen, die Daten der Plattform Golos zufolge mindestens drei Millionen beziehungsweise 56 Prozent der Stimmen errang, also de facto siegte, sahen viele im demokratischen Lager als legitime Anführerin des belarussischen Volkes. Die westlichen Staaten hatten es allerdings nicht eilig mit ihrer Anerkennung als legitim gewählte Präsidentin.

    Nach der Wahl im Jahr 2020 sahen viele im demokratischen Lager Swetlana Tichanowskaja als legitime Anführerin des belarussischen Volkes / Foto © Jakub Porzycki/NurPhoto/imago images
    Nach der Wahl im Jahr 2020 sahen viele im demokratischen Lager Swetlana Tichanowskaja als legitime Anführerin des belarussischen Volkes / Foto © Jakub Porzycki/NurPhoto/imago images

    Dabei wuchs in dem Maße, in dem die Niederlage des friedlichen Aufstands immer offensichtlicher wurde, unter den politisch aktiven Belarussen die Enttäuschung über Tichanowskaja und ihr Team, also gewissermaßen die Opposition 2.0 (die alte Opposition war schon 2020 kaum in Erscheinung getreten). In einer Umfrage von Chatham House aus dem Juli und August 2021 gaben nur 13 Prozent an, dass sie Tichanowskaja für würdig hielten, die belarussische Präsidentin zu werden (dabei konnten die Befragten zwischen verschiedenen Personen wählen: für Viktor Babariko sprachen sich 33 Prozent aus, für Lukaschenko 28 Prozent).

    Lukaschenko konnte zwar die Proteste zerschlagen, gewann dadurch aber nicht an Legitimität. Für den Westen ist er eine toxische Figur, ein Usurpator. Und jetzt ist er nach Ansicht vieler zudem noch jemand, der kein politisches Subjekt, sondern nur mehr eine Marionette Putins darstellt.

    Unabhängige Meinungsforscher (wie etwa im Rahmen von BEROC) stellen zwar einen gewissen Anstieg des Vertrauens in die Regierung fest. Doch betonen die Soziologen, dass bei den Umfrageergebnissen der Faktor Angst nicht zu unterschätzen sei. Also könnte es in Wirklichkeit sehr viel mehr Gegner des Regimes geben. Dabei zeigen die Umfragen zugleich, dass die Kernwählerschaft Lukaschenkos (die ja keine Angst haben muss, sich zu ihrer Loyalität zu bekennen) deutlich in der Minderheit ist.

    Die Gruppe der Unentschlossenen ist also größer geworden, doch sind das wohl eher Menschen, die sich in ihrem Schneckenhaus verkriechen, als solche, die mit der politischen Realität zufrieden sind. Die überzeugten Gegner des Regimes beißen sich derweil auf die Lippen und warten auf bessere Zeiten, ohne dabei freilich Lukaschenkos Recht zu regieren anzuerkennen.

    Um die Legitimität ist es für den Herrscher also schlecht bestellt. Was ihn jedoch nicht daran hinderte, bei seiner Rede zur Lage der Nation am 31. März Ansprüche auf eine weitere Amtszeit anzumelden: „Viele würden es gern sehen, wenn es Lukaschenko nicht mehr gibt. Und weil sie wollen, dass ich weg bin, werde ich das Gegenteil tun […]. Ich werde niemals eine lahme Ente sein …“

    Das Risiko, außen vor zu bleiben

    Es ist durchaus möglich, dass Lukaschenkos Gegner im Kontext des „Wahlkampfes“ 2025 de facto außen vor bleiben werden und ihn nicht daran hindern, eine weitere Amtszeit zu besiegeln. Ein Boykott wäre lediglich Ausdruck einer Position, dürfte das Regime aber nicht zu Fall bringen.

    Was wird dann aus Tichanowskajas Legitimität, die bereits heute für einen Teil des politisch aktiven Publikums nicht unumstritten ist? Tichanowskaja und ihr Berater Franak Wjatschorka sagen sinngemäß, wir Belarussen hätten 2020 den Zyklus der Wahlen verlassen, wodurch es keinen Sinn mehr habe, sich daran gebunden zu fühlen. Dahinter steht der Gedanke, dass ihre Mission erst mit einem Sieg der Demokratie in Belarus beendet sein wird.

    Es ist in der Tat unangemessen, das Problem von Tichanowskajas Legitimität mit den Wahlen 2025 in Verbindung zu bringen, sofern das Regime nicht fällt und im gleichen Geiste weitermacht. Ja, für einen Teil der Belarussen und der westlichen Politiker könnte das Jahr 2025 zu einer psychologischen Schwelle werden, was das Verhältnis zu Tichanowskaja angeht. Aber im Kern geht es um etwas anderes.

    Wenn im Kampf gegen die Diktatur Erfolge ausbleiben, dürften die Hoffnungen auf eine „Präsidentin Sweta“ und ihr Team in jedem Fall schwächer werden. Auf gleiche Weise war seinerzeit das Interesse an dem oppositionellen Teil des Obersten Sowjets erloschen, der Legitimität für sich beanspruchte und 1996 von Lukaschenko aufgelöst wurde. Jene Gruppe geächteter Abgeordneter wurde schlichtweg an den Rand gedrängt und übte keinen Einfluss mehr auf die Politik aus.

    Ein anderes Beispiel, das Pessimisten gerne anführen, ist das historische Schicksal der Rada der Belarussischen Volksrepublik (BNR), die zu einer rein symbolischen Instanz verkam. Und die erklärten Gegner beschwören eben Parallelen zu Guaidó herauf.

    Falls die Opposition 2.0 es nicht schafft

    Tichanowskaja und ihre Anhänger befinden sich allerdings in einer grundsätzlich anderen Lage als die Rada der BNR. Und auch der Vergleich mit Venezuela hinkt. In unserem Teil des Planeten entfaltet sich ein eigenes Szenario: Putin und Lukaschenko haben die zivilisierte demokratische Welt allzu dreist herausgefordert. Und jetzt werden sie vorsichtig, aber langsam, aber sicher von ihr erwürgt.

    Kyjiws Erfolge auf dem Schlachtfeld sind in der Lage, die Macht dieser beiden verhassten Regime zu unterwandern. Viele der Belarussen, die 2020 an den Protesten beteiligt waren, haben sich mit dem Triumph des Bösen nicht abgefunden und warten auf eine Gelegenheit, um wieder auf die Straße zu gehen. Diese Revolution könnte sehr viel weniger samten ausfallen. Mitunter fallen grausame Diktaturen augenblicklich.

    Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass es eine relativ lange Transformationsphase geben wird. Wie bei der nordkoreanischen Variante, wo die Zeit auf Jahrzehnte stillsteht. Und selbst die Variante, bei der Belarus von Russland geschluckt wird, ist heute keine unwahrscheinliche Wendung des Szenarios.

    Von Tichanowskaja und ihrem Team wird, wenn wir ehrlich sind, in diesem Strudel von globalen historischen Ereignissen nicht allzu viel abhängen. Das bedeutet jedoch nicht, dass es das Beste wäre, sich entspannt zurückzulehnen und abzuwarten, bis die Leiche des Feindes vorbeischwimmt. Im Grunde hängt der Lauf der Geschichte von jedem einzelnen Menschen ab. Tichanowskaja wurde durch einen historischen Moment in riesige Höhen gehoben. Gleichzeitig ist sie aber auch nicht in der Situation, sich auf ihren Lorbeeren ausruhen zu können. Im demokratischen Milieu sollte es Konkurrenz geben. Es wäre allerdings unvernünftig, sich in innere Fehden zu verstricken und das zu zerstören, was Tichanowskaja und ihre Mitstreiter erreicht haben, und was heute das gemeinsame Kapital der demokratischen Bewegung ist.

    Dabei wage ich zu behaupten, dass es denen, die einen Fall des Regimes herbeisehnen, relativ egal sein dürfte, wer nun triumphierend in Minsk einzieht, Tichanowskaja im weißen Jeep oder, sagen wir, das Kalinouski-Regiment in schlammverdreckten Militärfahrzeugen.

    Die Zukunft liegt im Dunkeln und entspricht oft, allzu oft nicht den Erwartungen. Wenn die Opposition 2.0 scheitert, dann könnten im entscheidenden historischen Moment ganz andere Figuren an die Spitze katapultiert werden – Akteure, die wir jetzt noch gar nicht kennen. Ganz wie wir vor 2020 Tichanowskaja nicht kannten.

    Weitere Themen

    „Diese Regime werden alle untergehen”

    Krisendämmerung

    Ich werde euch gleich zeigen, woher die belarussische Zukunft kommt!

    Warum die ukrainische Politik Tichanowskaja ignoriert

    Nebel und Utopie

  • Welchen Preis hat der Krieg für Belarus?

    Welchen Preis hat der Krieg für Belarus?

    Das kürzlich veröffentlichte „offizielle Strategiepapier“, in dem die schrittweise Einverleibung von Belarus bis 2030 durch Russland skizziert wird, scheint weiteres Unheil für Alexander Lukaschenko zu bedeuten. Auch wenn viele der darin enthaltenen Pläne alles andere als neu sind. Die Integration von Belarus in den Unionsstaat wird vor allem seit 2021 auf wirtschaftlicher und militärischer Ebene mit Nachdruck umgesetzt. Entsprechend zurückhaltend äußerte sich der belarussischen Machthaber zu dem bekannt gewordenen Papier: „Russland hat seine eigene Strategie, so auch in Bezug auf Belarus – um mit seinen Brüdern in Frieden und Freundschaft zu leben.“ Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine vor einem Jahr, der gerade am Anfang auch vom belarussischen Territorium aus geführt wurde, sehen nicht wenige Analysten die Souveränität von Belarus ohnehin als höchst gefährdet an. Lukaschenko hat sein Land seit den historischen Protesten von 2020 in eine Situation manövriert, in der es aus dem Zugriff von Russland kaum noch ein Entrinnen zu geben scheint.

    Was bedeutet diese Situation und insgesamt der Krieg, in den sich Lukaschenko heillos verstrickt hat, für Belarus und die Zukunft des Landes? Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski zieht ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion für das Online-Medium Pozirk umfassend Bilanz.

    Vor einem Jahr hat Russland versucht, von belarussischem Territorium aus Kiew einzunehmen. Der am Morgen des 24. Februar begonnene „Blitzkrieg“ wuchs sich zu einem langwierigen Krieg aus, der zur Gefahr für Russland wurde und in dem Lukaschenkos Regime sich als Unterstützer des Aggressors wiederfand. Trotz allem gelingt es dem belarussischen Präsidenten aber bislang, einer Entsendung eigener Truppen in den Kampf gegen die Ukrainer auszuweichen.

    Darüber hinaus hat die belarussische Regierung sogar einigen finanziellen Gewinn aus dem Status des einzigen Verbündeten der Russischen Föderation gezogen. Der Preis dafür ist im Gegenzug jedoch die immer stärkere wirtschaftliche und politische Bindung an den Kreml

    Die Wirtschaft hält stand, doch der Preis ist die immer größere Abhängigkeit von Moskau

    Der westliche politische Mainstream neigt zu der Einschätzung, dass Lukaschenko die Eigenständigkeit praktisch verspielt hat und vollständig zur Marionette Moskaus geworden ist. Dem Anführer des belarussischen Regimes selbst ist das unangenehm, er versucht, sich als potentieller Friedensstifter darzustellen.

    Heute zeichnet sich ab, dass Belarus dank russischer Unterstützung die Auswirkungen der westlichen Sanktionen für die Kriegsbeteiligung abmildern konnte. Die apokalyptischen Prognosen einer Reihe von Experten sind nicht eingetreten: Das BIP fiel im vergangenen Jahr nur um 4,7 Prozent. Das ist unangenehm, aber längst keine Katastrophe für das Regime, ein wirtschaftlicher Spielraum bleibt erhalten. Staatsbeamte prahlen mit einem „historisch hohen“ Außenhandelsüberschuss von etwa 4,5 Milliarden Dollar.

    Minsk erhält von 2023 bis 2025 günstiges Gas (128,52 USD pro 1000 Kubikmeter) – früher mussten in der Weihnachtszeit stets aufs Neue Preiskämpfe geführt werden. Außerdem wurden Steuererleichterungen für die Erdölraffinerien (deren Rentabilität sich dadurch erhöht) sowie ein Aufschub der Schuldenrückzahlungen erwirkt. 

    Lukaschenko klammerte sich euphorisch an die Idee der Importsubstitution. Belarus erhielt in diesem Kontext einen Kredit in Höhe von 105 Milliarden Russischer Rubel (1,3 Milliarden Euro). Dafür bietet Minsk beispielsweise seine Mikroelektronikprodukte an und ist gar bereit, Kampfflugzeuge vom Typ Su-25 zu produzieren. 

    Belarussische Mikrochips, das gibt Lukaschenko zu, sind im weltweiten Produktvergleich ziemlich klobig. Doch Moskau ist durch die Sanktionen und den Weggang westlicher Firmen im Moment nicht in der Position, die Nase zu rümpfen. Deshalb nehmen die russischen Nachbarn viele belarussische Waren – sowohl für den militärischen, als auch für den zivilen Bedarf – mit Kusshand.

    Dank Moskau konnte Belarus einen Teil seines Exports retten, nachdem ein ordentliches Stück des Handels mit Europa und der gesamte Handel mit der Ukraine weggefallen waren. Kalium geht zum Beispiel nun nach China, auf dem Landweg und per Schiff über Russland. Minsk wurde sogar großzügig ein Liegeplatz im Hafen Bronka bei Sankt Petersburg zugesprochen. 

    Doch all das geschieht zum Preis einer stärkeren Abhängigkeit von Russland, mit dem bereits mehr als 60 Prozent des Außenhandels laufen. Auch die Abhängigkeit im Transitbereich erhöht sich fatal. Minsk muss 28 Unionsprojekte umsetzen, die auf eine stärkere, auch institutionelle, Anbindung der belarussischen Wirtschaft an die russische abzielen. 

    Der Krieg hat dem Prozess der „Unionsintegration“ die Sporen gegeben, an dessen Ende die Einverleibung droht. Auch für eine neue belarussische Regierung würde es höchst kompliziert, diese Schlinge zu lösen. 

    In Belarus walten russische Generäle

    Besonders traurig steht es um die militärische Souveränität und die Außenpolitik (von der vielgepriesenen Multivektoralität ist kaum noch etwas geblieben). Lukaschenko bleibt zwar Oberbefehlshaber der Streitkräfte, faktisch walten auf belarussischem Territorium jedoch russische Generäle. Unter dem Vorwand des Aufbaus einer gemeinsamen regionalen Armee-Einheit holen diese russischen Generäle jetzt ihre „Mobilisierten“ nach Belarus, um morgen (vielleicht nicht direkt morgen, die Formation einer Angriffstruppe braucht Zeit) wieder einen Angriff auf die Ukraine von Norden her zu starten.

    Unabhängige Analytiker sind sich einig, dass der belarussische Präsident, sollte Wladimir Putin ihm die entscheidende Frage stellen, die eigene Armee in den Krieg schicken würde, ob er will oder nicht. Damit kann man gleichzeitig die gängige These anzweifeln, der Kreml würde Belarus in dieser Frage ohnehin schon in den Schwitzkasten nehmen wollen. Wenn er das wirklich wollte, hätte er es schon längst getan. 
    Putin demonstriert seinen Standpunkt offen: Im Dezember flog er nach Minsk, machte viele teure Geschenke finanzieller und wirtschaftlicher Natur. Das erweckt nicht gerade den Anschein eines weiteren Konflikts zwischen den Erbverbündeten. Zu Konfliktzeiten hat Moskau den Geldhahn zugedreht. 

    Vermutlich konnte Lukaschenko seinem Moskauer Gegenüber bislang überzeugend vermitteln, dass Belarus besser als Aufmarschgebiet, Truppenübungsplatz und Lieferant dringend nötiger Produkte dienen kann, anstatt die belarussischen Spezialeinsatzkräfte (andere kampfbereite Einheiten gibt es kaum) an der ukrainischen Front in Hackfleisch zu verwandeln. Und außerdem, lieber Wolodja, schützen wir deine Spezialoperation davor, dass das niederträchtige NATO-Messer im Rücken landet! Ein Kriegseintritt, ganz ehrlich, könnte auch die innenpolitische Situation auf unserer kleinen Insel der Stabilität kippen lassen. 

    Natürlich kann Putin, dessen Rationalismuslevel viele Analytiker bis zum 24. Februar 2022 stark überschätzten, diese Argumente jederzeit vom Tisch wischen und seinem Verbündeten sagen: Nein, Bruder, genug der Umschweife und genug im Hinterland herumgedrückt! Wir gehen gemeinsam in die entscheidende Schlacht! Und Lukaschenko hat immer weniger Ressourcen, sich dem imperialen Draufgänger zu widersetzen. 

    Der Opposition fehlen starke Hebel, dem Regime die Manövrierfähigkeit

    Auch die politische Opposition, die seit den Ereignissen 2020 ihre Geschäfte im Ausland führt, hat kaum Möglichkeiten, einen belarussischen Kriegseintritt abzuwenden. Von den Möglichkeiten, einen Regimewechsel zu bewirken, ganz zu schweigen. 

    Unter den Bedingungen der irrsinnigen Repressionen, in einer von unmäßiger Angst gezeichneten Gesellschaft, ist es unrealistisch, einen Partisanenkampf zu führen oder den Plan Peramoha [dt. Sieg] umzusetzen. Das gibt auch das Übergangskabinett von Swetlana Tichanowskaja zu. Das belarussische Freiwilligenkorps Kastus Kalinouski, das auf Kiews Seite kämpft, verspricht, später auch das eigene Land von der Diktatur zu befreien. Doch aus heutiger Sicht ist das eine poröse und nebulöse Perspektive.

    Dabei ist offensichtlich, dass das Kalinouski-Korps nicht nur die belarussische Ehre auf dem Schlachtfeld gegen das Imperium rettet, sondern bereits zum politischen Phänomen geworden ist. Das Gerangel um die Sympathie des Korps (der politische Veteran Senon Posnjak will im Verbund mit dem Korps ein neues Zentrum der Opposition, den „Sicherheitsrat“, gründen) droht die Spannungen in der politischen Emigration nur zu vergrößern. Kiew seinerseits spielt mit dem Korps und ignoriert Tichanowskaja faktisch. Lukaschenko wiederum versucht diese Realpolitik der ukrainischen Regierung auszunutzen, um sein eigenes Spiel mit ihr zu spielen (vor Kurzem ließ er versehentlich einen geheimen Nichtangriffspakt durchblicken). Doch auch der Kreml überwacht dieses Spiel und ließ dem gerissenen belarussischen Partner aus dem Mund des Außenministers Sergej Lawrow eine verdeckte Notiz zukommen. 

    Die Knute des Kreml, das Etikett des Ko-Aggressors, aber auch der politische Terror im eigenen Land (den der Führer nicht beenden mag), begrenzen die Manövrierfähigkeit des Minsker Regimes in Richtung Westen. Wenngleich einige in Europa (erwähnt sei hier der kürzliche Besuch des ungarischen Außenministers Péter Szijjártó in Minsk) eine Sondierung des Feldes nicht ablehnen. Doch die Zeiten, in denen Lukaschenko die geopolitische Schaukel flott anschob, sind vorbei. Die Schwelle zum Westen liegt für den toxischen belarussischen Regenten momentan außerordentlich hoch. 

    Der Kriegsausgang kann ein Fenster für Veränderungen öffnen

    Wenngleich dieser Krieg für viele unerwartet hereingebrochen ist, nähert sich Lukaschenkos langjähriges Spiel mit dem Imperium einem vorhersehbaren Finale. Er hat sich im imperialen Casino glattweg verzockt. Der Krieg wurde dabei zu einem mächtigen Katalysator für den zerstörerischen Prozess der schleichenden Einverleibung, vergrößerte die Kluft zwischen dem belarussischen Zarenregime und der demokratischen Welt.

    Darüber hinaus hat die Reputation der Belarussen, deren Image durch die starken Proteste 2020 aufgewertet worden war, stark gelitten, das Verhältnis der Ukrainer zu ihnen hat sich verschlechtert, im Ausland ist Diskriminierung zu beobachten. Dank verdienen Tichanowskajas Team und andere demokratische Kräfte, die zeigen, dass Lukaschenkos Regime nicht mit dem belarussischen Volk gleichzusetzen ist. 

    Der Herrscher aber, auch wenn ihn wohl das Gespenst von Den Haag plagt, beweist auch in der aktuellen Situation der höheren Gewalt virtuosen Einfallsreichtum. Sollte Putins Regime durch eine Niederlage in der Ukraine ins Wanken geraten, wird sein Verbündeter wohl versuchen, sich so weit wie möglich von der leckgeschlagenen russischen Titanic zu entfernen. Ein Sieg der Ukraine würde auch ein Fenster für einen Regimewechsel in Belarus eröffnen. Denn das Regime stützt sich nur auf zwei Dinge – die schrecklichen Repressionen und Moskau. Wird Moskau schwächer, leiden auch die Ressourcen der belarussischen Diktatur. 

    Doch der Ausgang dieses Krieges ist bislang schwer vorhersehbar. Das erste blutige Jahr hat geendet, das zweite verspricht bislang, nicht weniger blutig zu werden.

    Weitere Themen

    Brief an die Ukraine

    „Der Krieg mit uns selbst“

    Einigkeit der Uneinigen

    „Jeder, der der Ukraine irgendwie helfen kann, sollte es tun“

    „Auf dass wir niemals aufeinander schießen“

    „Putin will das Imperium wiedererrichten – das steht außer Frage“

  • Kampf der Oppositionen

    Kampf der Oppositionen

    2020 traten, für viele unerwartet, neue politische Anführer und Aktivisten in Belarus auf den Plan, die umgehend mit dem Label „Opposition 2.0“ versehen wurden. Die alte Garde, die sich jahrzehntelang auf den Moment des Umbruchs vorbereitet hatte, war mehr oder weniger aus dem Spiel.

    Allerdings konnten auch die neuen Anführer nicht erreichen, dass die Proteste sich durchsetzen und zu einem politischen Wandel führen. Viele Vertreter der Opposition, der alten wie der neuen, kamen ins Gefängnis oder wurden ins Ausland vertrieben.

    Zwei Jahre später scheint es, als ob die neue Opposition in die gleiche Falle tappt wie die alte: Sie wird von Fehden und Skandalen erschüttert. Vor allem hat sie keinen Einfluss auf das Geschehen in Belarus selbst. Die Umfragewerte für die Teams der demokratischen Kräfte im Ausland sinken. Es besteht die Gefahr, dass sie sich zerreiben wie einst ihre Vorgänger. Was aber ist mit der alten Opposition? Wie sehen die Aussichten der neuen Opposition aus? Diesen und anderen Fragen geht der Politanalyst Alexander Klaskowski nach.

    Русская Версия

    Die stürmischen Ereignisse des Jahres 2020 führten dazu, dass in Belarus eine neue Opposition entstand. Die alte Garde der ideellen Opponenten des Regimes, die viele Jahre lang davon geredet hatte, dass eine revolutionäre Situation unabdingbar sei, war auf paradoxe Weise in jenem historischen Moment, da die Massen erwachten, praktisch aus dem Spiel. Allerdings gelang es auch den neuen Anführern nicht, für einen Sieg der Proteste zu sorgen.

    Ist die alte Opposition politisch noch am Leben? Hat sie eine Chance, im Kampf gegen das Regime von Lukaschenko das Wort zu führen, in einem Kampf, bei dem die Aussichten nach der Erstickung der Proteste erneut unklar sind?

    Das Regime hat die alte Opposition schrittweise marginalisiert

    Der Urtypus einer demokratischen Revolution in Belarus war die gegen Ende der Sowjetunion in den Jahren der Perestroika entstandene Belarussische Volksfront (BNF), die nach Vorbild der Bewegungen geschaffen wurde, die in den baltischen Ländern für eine Loslösung von der UdSSR kämpften. In den ersten Jahren der Unabhängigkeit gab es keinen Präsidenten, und das Parlament, der Oberste Sowjet, war relativ pluralistisch (damals wurden bei Wahlen noch die Stimmen gezählt). Dort saß auch die zwar nicht große, doch energische Fraktion der BNF um ihren Anführer Senon Posnjak. 

    Die Volksfront büßte allerdings allmählich ihre Popularität ein. Vielen Belarussen, deren Bewusstsein einer starken Russifizierung unterworfen war, erschien das von der Volksfront vorgelegte Programm zur nationalen Wiedergeburt zu radikal. Ein beträchtlicher Teil der Wählerschaft empfand bald Nostalgie für die UdSSR, was von dem talentierten Populisten Lukaschenko ausgenutzt wurde, der 1994 bei den ersten Präsidentschaftswahlen an die Macht kam. 

    Unterdessen war Anfang der 1990er Jahre angesichts der relativ liberalen Haltung der Regierung ein ganzes Spektrum politischer Parteien entstanden. Einigen Parteien gelang es, sich offiziell registrieren zu lassen, bis zu dem Punkt, da das erstarkte autoritäre Regime von Lukaschenko diesen Prozess wieder einfror (seit 1999 wurde vom Justizministerium keine einzige neue Partei registriert).

    Das Regime war da noch nicht so brutal wie jetzt. Es bandelte von Zeit zu Zeit mit dem Westen an. Die Oppositionsparteien wurden zwar diskriminiert, konnten aber legal agieren. Sie konnten Versammlungen abhalten, ihre Kandidaten nominieren und Wahlkampf machen.

    Für die Opposition war es jedoch nicht möglich, die Machthaber durch einen Urnengang abzulösen. Zum einen hatte Lukaschenko einstweilen noch einen breiten Rückhalt bei den Wählern. Er konnte einen Anstieg des Lebensstandards gewährleisten, der nach postsowjetischen Maßstäben nicht schlecht war (und das in vielem durch die finanzielle und wirtschaftliche Hilfe Moskaus). Die Masse der durchschnittlichen Belarussen war dem Führer dankbar für Speck und Schnaps.

    Zweitens schanzte sich die Regierung bei den Wahlen Stimmen zu; dafür wurden die Wahlkommissionen mit den „eigenen Leuten“ besetzt. Und mit jedem Wahlgang nahmen die Fälschungen (die sich unter anderem durch unabhängige Sozialforschung ermessen lassen) immer größere Dimensionen an.

    Drittens wurden Opponenten Lukaschenkos systematisch in ein Ghetto getrieben, durch Propaganda und Repressionen (die damals noch dosiert waren). Sie wurden als Loser und Agenten des Westens diffamiert.

    Kurzum, die Opposition, die später die „alte Opposition“ genannt wurde, wurde schrittweise marginalisiert. Innerhalb der Opposition nahmen die Streitigkeiten zu. Deswegen brachte sie im Frühjahr 2020 sogar die eigenen „Primaries“ zum Scheitern, den Prozess zur Festlegung eines gemeinsamen Kandidaten, der der Gegenkandidat Lukaschenkos werden sollte.

    Die Präsidentschaftswahlen, die für den 9. August 2020 angesetzt waren, hätten grau und blutleer sein können, doch warfen plötzlich neue Figuren dem Führer den Fehdehandschuh hin, Figuren ohne eine Aura aus Niederlagen und Skandalen: der Blogger Sergej Tichanowski, der ehemalige Banker Viktor Babariko und der ehemalige Leiter des Hightech-Parks Waleri Zepkalo.

    Als man Tichanowski (und dann Babariko) verhaftete, zog unerwartet Swetlana Tichanowskaja, die Frau des Bloggers, mit in den Kampf. Diese Frau, die gestern noch Hausfrau gewesen war, machte einen phänomenalen Wahlkampf. Ihre Gestalt verkörperte die Hoffnungen auf einen Wandel. Also stimmten Millionen für Tichanowskaja. Sie hat, mittelbar erlangten Daten zufolge, de facto über den Führer gesiegt.

    Die Zentrale Wahlkommission verkündete jedoch einen Sieg Lukaschenkos mit 80 Prozent der Stimmen. Die massenhaften spontanen Proteste empörter Verfechter von Veränderungen wurden brutal unterdrückt. Tichanowskaja wurde in die Emigration gezwungen, ein Teil ihrer Mitstreiter ebenfalls, ein anderer Teil wanderte ins Gefängnis.

    Innerhalb des Landes wird jetzt alles Lebendige niedergebrannt

    Die neuen Anführerinnen konnten den friedlichen Aufstand jedoch nicht wirklich leiten, sie hatten keine Strategie. Wenn man jedoch genauer hinschaut, hatte auch die alte, klassische Opposition nie eine wirksame Strategie. In ihren Kreisen herrschte folgende stereotype Vorstellung: Wenn hunderttausend Protestierende auf die Straße gehen, wird die Miliz auf die Seite des Volkes wechseln, und die Sache ist geritzt – das Regime stürzt.

    2020 kamen jedoch mehrere hunderttausend Menschen zu den Kundgebungen. Dennoch gewannen die wohltrainierten und gut ausgerüsteten Sicherheitskräfte mit ihren von der Propaganda gewaschenen Hirnen die Oberhand. Lukaschenko fand Gefallen an der Gewalt und machte sie zu seinem wichtigsten politischen Instrument. Jetzt steckt die neue Opposition in der gleichen Sackgasse, in der die alte gesteckt hat: Gegen Gewalt helfen keine Pillen.

    Unterdessen befahl Lukaschenko eine Neuregistrierung der Parteien, was praktisch eine Auflösung der alten Oppositionsprofile bedeutet. Es ist ein neues Parteiengesetz in Arbeit, dem zufolge nur zutiefst loyale Parteien auf die politische Bühne gelassen werden, als Attrappen.

    Formal bestehen die Parteien der alten Opposition – unter anderem die Vereinigte Bürgerpartei (OGP), die Partei der BNF, die Belarussische Sozialdemokratische Partei (Hramada) (BSDP) und Gerechte Welt – zwar noch, doch de facto sind sie in einer Atmosphäre des absoluten Terrors gelähmt.

    Der wohl letzte Versuch, legal eine öffentliche Aktion zu veranstalten, war der Antrag der Partei der Grünen vom April, den traditionellen Gedenkmarsch Tschernobylski schljach abzuhalten. Wie vorherzusehen, wurde er von den Behörden abgelehnt. Wer auf nicht genehmigte Veranstaltungen geht, landet mit Sicherheit im Gefängnis.

    Einige Anführer der traditionellen Opposition, die sich den Protesten von 2020 angeschlossen haben, wurden zu wahrhaft stalinistischen Freiheitsstrafen verurteilt: der Christdemokrat Pawel Sewerinez zu sieben Jahren, der Sozialdemokrat Nikolaj Statkewitsch zu 14 Jahren. Der Leiter der Partei der BNF, Grigori Kostussew, erhielt zehn Jahre, nachdem er der „Verschwörung zum Zwecke der Machtergreifung“ beschuldigt worden war.

    Heute wird jede Aktivität im Land, die nicht unter der Kontrolle des Staates steht, kriminalisiert: Rühr dich und erhebe deine Stimme gegen das Regime, und schon wanderst du ins Gefängnis, wegen Volksverhetzung, „Beleidigung der Regierung“, „Extremismus“, „Vorbereitung von Massenunruhen“ oder nach irgendeinem anderen fadenscheinigen Paragrafen des Strafgesetzbuches.

    Ein Beispiel hierfür ist die OGP, die versucht hatte, in gewissem Maße aktiv zu bleiben. Daraufhin wurde die gesamte Parteispitze verhaftet. Anfang November erhielt Parteichef Nikolaj Koslow zweieinhalb Jahre Straflager. Formal wegen Beteiligung an einem Protestmarsch im August 2020, in Wirklichkeit jedoch, weil er versucht hatte, unter den aktuellen harten Bedingungen das Parteileben in Gang zu bringen. Vor kurzem ist Koslow von einem Parteitag als Vorsitzender wiedergewählt worden, aber das ist ein rein symbolischer Schritt. Aus dem Gefängnis heraus wird er die Partei nicht führen können. Und was genau soll er eigentlich leiten? Alle sitzen mucksmäuschenstill herum.

    Andere Vertreter der alten Opposition waren gezwungen, sich vor dem Damoklesschwert der Repressionen ins Ausland zu retten. So befindet sich der Vorsitzende der BSDP, Igor Borissow, jetzt mit seiner Familie in Belgien. Die meisten emigrierten nach Litauen und Polen. Dabei schloss sich ein Teil der alten Oppositionsgarde in der Emigration Strukturen der neuen Opposition an. Einige werden sogar als graue Eminenzen betrachtet. Auf jeden Fall konnten die politischen Neulinge eindeutig die organisatorische und sonstige Erfahrung von Leuten gebrauchen, die sich dem Regime schon viele Jahre entgegenstellen.

    Im Team von Tichanowskaja arbeiten die Vertreter der OGP Alexander Dobrowolski, Anatoli Lebedko und Anna Krassulina. Olga Kowalkowa von der Belarussischen Christdemokratie ist eine der prominenten Figuren des Koordinationsrates, der als Urparlament eines zukünftigen Belarus betrachtet wird. Dem Anführer der Bewegung für die Freiheit, Juri Gubarewitsch, wurde im Vereinigten Übergangskabinett, einer Art Exilregierung, die Aufgabe anvertraut, die „Kaderreserven für ein neues Belarus auszubilden“.

    Protestveranstaltung gegen Lukaschenko am 23. August 2020, Minsk, Belarus / Foto © Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

    Wird Lukaschenko von einer Opposition 3.0 überwunden werden?

    Die alte Opposition liegt also zum Teil am Boden und ist nicht mehr dabei. Zum Teil ist sie gewissermaßen in der „Opposition 2.0“ aufgegangen. Gleichzeitig sind die Vorstellungen der alten Garde nicht verschwunden. Ein markantes visuelles Symbol der Proteste 2020 ist das Meer der historischen weiß-rot-weißen Flaggen. Die Bestrebungen der BNF und anderer oppositioneller Gruppen der „ersten Welle“, die das nationale Bewusstsein stärken wollten, haben Früchte getragen.

    Vertreter der alten Opposition hatten Tichanowskaja und die anderen politischen Neulinge von 2020 anfangs kritisiert, weil die Plattform schwammig sei, weil man Referenzen Richtung Moskau mache, weil man der Frage aus dem Weg gehe, wem die Krim gehört, weil man sich nicht genug um das Belarussische und das historische und kulturelle Erbe der Nation kümmere. Die neue Opposition formuliert jetzt immer deutlicher Parolen von einer nationalen Wiedergeburt, einem Widerstand gegen die imperialistische Politik des Kreml und einem europäischen Weg. Man tastet also auf der Suche nach Rückhalt das ideelle Fundament ab, das de facto von der traditionellen Opposition gelegt wurde. Allerdings tappte die neue Opposition in die gleiche Falle wie die alte. In den letzten Monaten 2022 wird die nach 2020 entstandene politische Diaspora von Fehden und Skandalen erschüttert.

    Kritiker sind der Ansicht, dass das Team von Tichanowskaja den ganzen Kuchen will, sich gegen die Bildung einer starken Koalition wendet, zu wenig transparent ist und keine klare, überzeugende Strategie hat. Einige Mitglieder ihres Teams versuchen, die berechtigte Kritik und die Recherchen unabhängiger Medien als Wühlarbeit des Regimes und seiner Geheimdienste hinzustellen.

    Das größte Problem besteht darin, dass die politische Diaspora keine Hebel in der Hand hat, um auf das Geschehen in Belarus selbst Einfluss zu nehmen. Der politische Terror, den das Regime entfesselt hat, wirkt. Lukaschenko hat mit seinen barbarischen Methoden die Lage im Land betoniert.

    Schwer zu sagen, wie lang dieser Alptraum andauern wird, aber es bleibt eine Tatsache: Die Massen zu einem Aufstand gegen das Regime zu mobilisieren (das nach Ansicht einer Reihe von Politologen in eine totalitäre Phase getreten ist) ist heute undenkbar. Also hängen sämtliche Strategien seiner Opponenten in der Luft. Viele Anhänger von Veränderungswünschen sind frustriert. Die Umfragewerte der Teams der demokratischen Kräfte im Ausland gehen zurück. Dort riskiert man, sich in Streitereien zu verheddern, in eine Imitation stürmischer Aktivität abzugleiten und letztendlich marginalisiert zu werden, wie es einst mit der alten Opposition geschah.

    Natürlich wird das Regime von Lukaschenko nicht ewig währen. Aber auch das Mandat und der Vertrauensvorschuss für Tichanowskaja, ihr Team und für die ganze neue Opposition sind nicht auf ewig. Und wenn sie die Herausforderungen nicht bewältigt, dann könnte es sein, dass im Moment des Wandels nicht sie an der Spitze steht, sondern ganz andere, deren Namen wir heute noch nicht kennen. Wahrscheinlich wird es eine Opposition 3.0 geben, die letztendlich nicht mehr Opposition, sondern Regierung sein wird.

    Weitere Themen

    „Wer gehen will, geht leise“

    Bystro #38: Proteste in Belarus 2020. Was ist vom Widerstand geblieben?

    „Für alle, die in Gefangenschaft sind“

    In Belarus leben

    Nächster Halt: BSSR 2.0

    Gefängnis oder Emigration, das ist hier die Frage

  • Tod eines Handlungsreisenden

    Tod eines Handlungsreisenden

    Wladimir Makei, belarussischer Außenminister, verstarb unerwartet am vergangenen Samstag. Eine bestätigte Todesursache gibt es noch nicht; verschiedene Quellen aus seinem Umfeld vermuten, der hochrangige Diplomat könnte einem Herzinfarkt erlegen sein. 

    Makei war vor allem für westliche Staaten das langjährige außenpolitische Gesicht des Systems von Alexander Lukaschenko, dem er bis zuletzt loyal diente. Bis zu den historischen Protesten im Jahr 2020, über die sich Makei vielfach abfällig äußerte, galt er in Teilen der Bevölkerung, die sich für ein unabhängiges und demokratisches Belarus einsetzte, als „progressiv“. Makei sprach fließend Belarussisch und betonte immer wieder die kulturhistorische Unabhängigkeit von Belarus, was ihm Argwohn von russischer Seite einbrachte. Allerdings hatte er in seiner früheren Funktion als Leiter der Präsidialverwaltung auch mitgetragen, dass die Proteste infolge der Präsidentschaftswahlen 2010 niedergeschlagen wurden. Zudem hatte er so die darauf folgende Welle der Repressionen mitverantwortet.

    In einem Beitrag für Posirk, dem Nachfolgemedium von Naviny, analysiert der belarussische Journalist Alexander Klaskowski das diplomatische Vermächtnis einer widersprüchlichen Figur im autokratischen Machtapparat Lukaschenkos.

    Als das Lukaschenko-Regime noch einen auf „sanfte Belarusifizierung“ machte, posierte Außenminister Makei vor den Kameras gerne im Folklorehemd [Wyschywanka]. Unter anderen historischen Bedingungen hätte er vermutlich eine wichtige Rolle bei der Stärkung der belarussischen Unabhängigkeit und der europäischen Integration des Landes spielen können.

    Doch in diesem von Lukaschenko geschaffenen System waren Makeis Möglichkeiten begrenzt. Er diente anstandslos einer Diktatur, die zum heutigen Tag eine europäische Ausrichtung des Landes blockiert, es zu einer katastrophalen Abhängigkeit vom Kreml verurteilt und zum Mittäter einer imperialen Aggression gemacht hat. 

    Meisterhaftes Spiel auf einem Feld mit vielen Vektoren

    Als Makei 2012 zum Leiter der belarussischen Diplomatie ernannt wurde, hatte er bereits Arbeitserfahrung als Gehilfe Lukaschenkos, dessen Präsidialverwaltungsleiter er war. Der Führer des Regimes  musste damals die Beziehungen zum Westen auftauen, nachdem im Jahr 2010 die Demonstrationen gewaltsam aufgelöst und einige Dutzend politische Gegner inhaftiert worden waren (heute wirken diese Zahlen vor dem Hintergrund von fast 1500 politischen Gefangenen blass). 

    Und Makei gelang das nahezu Unmögliche. Natürlich wurden die grundlegenden Entscheidungen vom Machthaber getroffen, doch anzunehmen ist, dass auch die Rolle des Chefs des Außenministeriums nicht unbedeutend war.

    Minsk konnte sich von der russischen Annexion der Krim distanzieren. Das Treffen des Normandie-Quartetts in Minsk im Februar 2015 wurde zu Lukaschenkos Sternstunde: „auf ein Käffchen“ (nachher prahlte er, man habe „mehrere Kübel Kaffee getrunken“) kamen die Regierungschefs der wichtigsten EU-Staaten zu ihm, Angela Merkel und François Hollande. 

    Danach wurden die EU-Sanktionen aufgehoben und der Staatschef gefiel sich im Gewand des Friedensstifters, versprach Belarus eine Perspektive als „Schweiz des Ostens“. Das Außenministerium machte sich daran, Belarus als Garanten regionaler Stabilität zu vermarkten und trieb die Idee eines neuen Helsinki-Prozesses in Minsk voran. Für ein Land am Rande eines geopolitischen Bebens war dies geradezu ein außenpolitischer Triumph.

    Minsker Außenpolitik: Triumph und Tragödie

    Den multivektoralen Ansatz beförderte die – gelinde gesagt – komplizierte Beziehung zum Kreml. Bei all der falschen Rhetorik über die Jahrhundertbruderschaft, uneigennützige Freundschaft und leuchtende Perspektiven der Unionspartnerschaft spürte die belarussische Regierungselite stets die Moskauer Schlinge am Hals und sondierte Möglichkeiten, diese zu lockern

    Makei war ein wichtiger Spieler auf dem Feld der Multivektoralität. In Moskau mochten ihn viele nicht, hielten ihn für einen Agenten unter westlichem Einfluss. Die Personalpolitik Makeis war zumindest nicht anrüchig. 2020 verließ, erschüttert von den Repressionen, eine Reihe von Mitarbeitern zum Zeichen des Protests das Außenministerium,  – sie traten auf die Seite des Volkes, wie oppositionelle Medien damals pathetisch schrieben. Diese Leute erwiesen sich als nationalbewusst und schlicht als Bürger mit Gewissen. 

    In den Jahren der Entspannung leistete das Außenministerium viel. Heute schwer zu glauben, aber am 1. Februar 2020 empfing Lukaschenko in Minsk den US-amerikanischen Außenminister Mike Pompeo und man einigte sich auf Lieferungen amerikanischen Erdöls (Moskau hatte gerade wieder einmal den Hahn zugedreht).

    Am 4. Februar desselben Jahres konnte der Autor dieses Textes mit eigenen Augen beobachten, wie offen sich Makei mit den Botschaftern Polens und der USA sowie dem Außenminister Litauens unterhielt, bei einem Festempfang in Minsk anlässlich des 274. Geburtstags Tadeusz Kościuszkos – dem Anführer des Aufstandes gegen den russischen Zarismus. Der antiimperialistische Subtext der Veranstaltung war offensichtlich. Makei hielt eine Rede über die Notwendigkeit der Vertiefung der Partnerschaft mit Polen, Litauen und den USA. 

    Heute dämonisiert die belarussische Führung all diese Staaten, den gesamten „kollektiven Westen“, beschuldigt sie des Nazismus und aggressiver Pläne. Ein Wunder ist nicht geschehen. Als Millionen Belarussen Freiheit forderten, wählte die Führungselite den Weg des Selbstschutzes und unterdrückte diesen Ausbruch. Dies führte zur Isolation des Landes aus der demokratischen Staatengemeinschaft und zu neuen Sanktionen. Die Moskauer Schlinge zog sich noch fester zu.

    Letztlich zeigte das Regime sein wahres Gesicht, opferte nationale Interessen dem Machterhalt. Makei blieb dabei stets ein treuer Diener des Systems. Es war seine Stimme, die im Frühjahr 2021 das Urteil über die Strukturen aussprach, in denen sich freidenkende Bürger des Landes organisierten: „Jegliche weitere Verschärfung der Sanktionen wird dazu führen, dass die Zivilgesellschaft aufhört zu existieren.“

    Im Zeichen der Niederlage

    Die Ereignisse des Jahres 2020 brachen der belarussischen Außenpolitik das Rückgrat – sie begann praktisch zu Makeis Lebzeiten zu sterben. 

    Es ist bezeichnend, dass ihn sein letzter Amtsbesuch im ferneren Ausland in den Iran führte. Minsk bleibt nicht viel übrig, als Brücken zu anderen international Geächteten zu bauen.

    Vor Kurzem musste Makei zum OVKS-Gipfel nach Jerewan mit einer militärischen Transportmaschine fliegen. In der Boeing von Lukaschenko hatte sich kein Platz gefunden. Auch das hat Symbolcharakter.

    Auch verschwörungstheoretische Ansätze zu Makeis Todesursache machen bereits die Runde. Stellt man die klassische Frage „Cui bono?“, neigen sich die Köpfe in östliche Richtung. 

    In jedem Fall ist es wahrscheinlich, dass an der Spitze des Außenministeriums eine weniger talentierte und stärker prorussisch orientierte Person auftauchen wird. Bedauerlicher ist jedoch: Wen auch immer Lukaschenko zum Nachfolger bestimmt, und sei es der erfahrenste, begabteste Diplomat – es ist so viel Porzellan zu Bruch gegangen, dass an eine multivektorale Politik nicht mehr zu denken ist. Für ein Spiel mit dem Westen gibt es praktisch keine Ressourcen.

    Theoretisch gibt es sie natürlich noch. Tatsächlich hatte Makei im September am Rande der UNO-Versammlung in New York bei Treffen mit Vertretern des Westens die Grundlagen für eine Wiederbelebung des Dialogs sondiert. Doch Wurzeln geschlagen haben die offensichtlich nicht. Für den Führer des Regimes ist die Schwelle für den Eintritt in einen Dialog mit dem Westen im Moment unrealistisch hoch. Die politischen Gefangenen zu entlassen macht ihm Angst, dem Kreml gegenüber den Rückzug der russischen Truppen von belarussischem Territorium anzusprechen – noch viel mehr. Die Anbindung des Regimes an den imperialen Streitwagen wirkt zunehmend fatal. 

    Die Epoche Makei in der belarussischen Diplomatie endet unter dem Vorzeichen einer kapitalen Niederlage. Makei selbst war ein außergewöhnlicher Mensch und hätte in anderem Kontext in die belarussische Geschichte eingehen können. Doch er erwies sich als treuer Diener eines bösartigen Systems.

    Weitere Themen

    Hier kommt Belarus!

    Die Beziehungen zwischen Belarus und Russland seit 1991

    Die Beziehungen zwischen Belarus und der EU

    Die Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine seit 1991

    Sound des Aufbruchs: Rockmusik im Belarus der 1990er Jahre

    Diktatur ohne allmächtigen Diktator

  • Lukaschenkos Furcht vor der Mobilmachung

    Lukaschenkos Furcht vor der Mobilmachung

    Auch beim neuerlichen Treffen in Sotschi demonstrierte Alexander Lukaschenko wieder einmal laut seine Loyalität gegenüber Russland. Wie bei den letzten Aufeinandertreffen folgte der belarussische Machthaber dabei auch den gängigen Narrativen des Kreml. Er forderte „Respekt“ von den westlichen Staaten. Zudem sagte er: „Niemand hält Erniedrigungen aus.“ Was die beiden Staatsführer besprochen oder womöglich beschlossen haben, blieb hinter verschlossenen Türen.

    Klar dürfte sein, dass Putin weiterhin versucht, Druck auf Lukaschenko auszuüben, Russland noch aktiver im Angriffskrieg gegen die Ukraine zu unterstützen. Bisher konnte sich Lukaschenko erfolgreich dagegen wehren, eigene Truppen in den Krieg zu schicken. Mit der „Teilmobilmachung“, die Russlands Führung vollzieht, dürfte der Druck auf den belarussischen Machthaber jedoch nochmals zunehmen. 

    Wie realistisch ist eine Mobilmachung in Belarus? Würde diese Lukaschenko nicht in seiner eigenen Macht gefährden? Welche Möglichkeiten hat Putin noch, Lukaschenko in die Verpflichtung zu nehmen? In einem Beitrag für das Online-Medium Naviny gibt der Journalist Alexander Klaskowski auf diese und andere Fragen Antworten.  

    Lukaschenko konnte es auch diesmal nicht lassen, seinen politischen Opponenten eins auszuwischen, die versuchen, „eine Brücke zu schlagen“ zwischen der Mobilmachung in Russland und der Möglichkeit, dass etwas Ähnliches in Belarus geschehen könnte.

    „Wir planen keine Mobilmachung. Das ist eine Lüge“, sagte der Führer des Regimes am 23. September in der Gedenkstätte Chatyn.

    Tatsächlich sind die Belarussen nicht wegen der Rhetorik der Oppositionsführer alarmiert, sondern wegen der offensichtlich engen Bindung zwischen Kreml und Minsk im militärischen Bereich. Und das umso mehr, da Lukaschenko noch vor ein paar Tagen betont hatte: „[…] wir haben gemeinsame Streitkräfte, faktisch“.

    Belarussische Eliteeinheiten hätten kaum eine Chance gegen ukrainische Kämpfer

    Die Frage, ob Lukaschenko mit seinen Truppen in den Krieg gegen die Ukraine eintritt, wird mittlerweile wie ein Sakrament behandelt. Noch weicht der Führer des Regimes dem geschickt aus, was verständlich ist.

    Die August-Umfrage von Chatham House ergab: Nur drei Prozent der Befragten meinen, Belarus solle sich auf der Seite Russlands an den Kriegshandlungen beteiligen. Das ist weniger als die statistische Fehlerwahrscheinlichkeit der Stichprobe (3,5 Prozent). Und das bedeutet, dass sogar eine Mehrheit von Lukaschenkos Kernwählerschaft eine solche Idee nicht unterstützt.

    Die Belarussen glauben auch nicht an eine starke Moral ihrer Armee, falls diese in die Ukraine geschickt wird. Nur 18 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass sich ihre Landsleute in Uniform aktiv an dem Krieg gegen die Nachbarn im Süden beteiligen würden. Hier einige andere Antworten: „würden sich weigern zu kämpfen oder Befehle auszuführen, würden die Waffen niederlegen“ (20 Prozent), „würden auf jede erdenkliche Weise aus dem  Kriegsgebiet fliehen“ (17 Prozent), „würden ihren Armeedienst quittieren“ (14 Prozent), „würden sich den ukrainischen Soldaten ergeben“ (8 Prozent).

    Die Stimmung in der Armee selbst können wir nur indirekt beurteilen. Da aber, wie es in einer landläufigen Redewendung heißt, Armee und Volk eins sind, können wir annehmen, dass es unter den Militärs nicht allzu viele gibt, die bereitwillig den Kopf hinhalten würden, wenn die ukrainischen Geschosse fliegen (oder wenn einen die Rakete eines amerikanischen HIMARS in Stücke reißen kann).

    Diese Umfragewerte werden sicherlich auf Lukaschenkos Tisch landen. Die nicht veröffentlichten Befragungen „seiner“ Soziologen, davon können wir ausgehen, liefern wohl ähnliche Zahlen. Außerdem funktioniert der Instinkt des Regimeführers. Er versteht sehr gut, dass eine Beteiligung seiner Armee an diesem Krieg ein äußerst hartes Schicksal für ihn als Politiker besiegeln würde.

    Die Zinksärge, die aus der Ukraine zurückkommen, könnten selbst jene zu Protesten motivieren, die solchen stets ferngeblieben waren. Und selbst die „Prachtkerle“ des Führers (so hatte er liebevoll die Sicherheitskräfte genannt, die die Proteste von 2020 niederschlugen), die sich wie der Terminator vorkommen, wenn sie ungestraft unbewaffnete Bürger mit anderen Ansichten zusammenprügeln, werden kaum von der Rolle als Kanonenfutter begeistert sein.

    Für die ukrainischen Krieger, die im realen Kampf abgehärtet wurden und dabei auch ihre Häuser, ihre Mütter, ihre Frauen und Kinder verteidigen, dürfte es nur eine Frage der Technik sein, Eliteeinheiten der belarussischen Streitkräfte, von denen es nur wenige gibt und die kaum echten Pulverdampf gerochen haben, zu zermalmen. Lukaschenko würde so die Kräfte verlieren, die er unter anderem für den Einsatz gegen Aufstände [im eigenen Land] getrimmt hat. Seine Wählerschaft würde noch stärker zusammenschrumpfen, und die Lage im Innern wäre so wackelig wie ein alter Hocker.

    Putin kann es sich nicht leisten, seinen letzten Verbündeten unter Druck zu setzen

    Lukaschenko dürfte wissen, dass es für Russland in diesem Krieg wohl keinen glänzenden Sieg geben wird. Im Großen und Ganzen zeichnet sich für Russland ein kapitaler, historischer Reinfall ab. Und jetzt ist es wohl höchste Zeit, für den mit dem Imperium verstrickten Verbündeten darüber nachzudenken, wie man dieser Titanic entkommen kann.

    Wladimir Putin ist sichtbar außer Rand und Band; er versucht va banque zu spielen. Dabei lautet die Prognose vieler Experten, dass die Mobilmachung wenig Wirkung zeigen wird: Zum einen könnte die nötige Anzahl der Eingezogenen nicht erreicht werden (viele Russen mögen zwar das Imperium mit einem Gläschen vor dem Fernseher unterstützen, entziehen sich aber, wie wir jetzt deutlich sehen, auf jede erdenkliche Weise der „heiligen Pflicht“). Zweitens ist die Kampffähigkeit der eilig zusammengewürfelten Einheiten sehr fraglich.

    Also könnte für Putin die Versuchung, auf die Kräfte des Verbündeten zurückzugreifen, größer werden. Allerdings ist es nicht sicher, dass es gelingen wird, den Verbündeten in dieser Hinsicht derart unter Druck zu setzen. Und es ist unklar, ob solch ein starker Druck überhaupt erzeugt werden kann.

    Zum einen betont Lukaschenko als Ausrede die Notwendigkeit, mit seinen Streitkräften einen Schutzschild gegen die NATO zu gewährleisten. Ansonsten könnte die NATO schließlich den russischen Brüdern in den Rücken fallen. Und Putin, der in Verschwörungsnarrativen denkt, könnte dieser Mythenerzählung zumindest teilweise Glauben schenken.

    Zweitens dürften die Strategen im Kreml schon rein rechnerisch erkennen, dass der einigermaßen kampffähige Teil der belarussischen Armee nicht groß ist (die Eliteeinheiten der Sondereinsatzkräfte zählen nur einige Tausend Kämpfer). Diese Handvoll wäre nicht in der Lage, einen wesentlichen Einfluss auf den Kriegsverlauf zu bewirken.

    Drittens könnte Putin (noch) nicht gewillt sein, seinen letzten Verbündeten übers Knie zu brechen. Und dass sich Lukaschenko wiederum noch stärker vor einer direkten Kriegsbeteiligung drücken wird, ist offenkundig.

    Jeder ist sich selbst der Nächste

    Im Zusammenhang mit den „Referenden“ in den besetzten Gebieten der Ukraine entwickelt sich allerdings ein neuer Kontext. Es ist offensichtlich, dass diese Territorien zu russischen Gebieten erklärt werden. Und dann könnte der belarussische Verbündete aufgefordert werden, die Grenzen des „Unionsstaates“ zu schützen.

    Allerdings ist dies im Vertrag von 1999 über die Gründung des Unionsstaates, dieses dünnen Scheingebildes einer „brüderlichen Integration“, sehr vage formuliert: „Die Mitgliedsstaaten gewährleisten die territoriale Integrität des Unionsstaates“. Wie genau das gewährleistet wird, lässt sich unterschiedlich auslegen. Und Minsk wird es wahrscheinlich vorziehen, diese Verteidigung als Bereitschaft zu definieren, einen Dolchstoß in den Rücken der russischen Brüder durch die NATO zu verhindern. Einfacher gesagt: Unsere Truppen sitzen sicher auf ihrem Allerwertesten.

    Natürlich gibt es auch die Verpflichtungen im Rahmen der OVKS. Doch erstens sind auch die Regelungen im Vertrag über kollektive Sicherheit schwammig formuliert: Im Falle einer Aggression gegen einen der Vertragsstaaten „gewähren [die anderen] diesem die notwendige Hilfe, einschließlich militärische“. 

    Lukaschenkos Regime leistet aber jetzt schon, wenn man es genau betrachtet, eine solche militärische Hilfe: Die Russen können für den Krieg belarussisches Territorium, die Infrastruktur, Krankenhäuser und so weiter nutzen. Und damit reicht es. Wie hieß es doch in jenem alten Lied: Auf mehr solltest du nicht hoffen.
    Zweitens hat die OVKS bereits bei den Ereignissen in Kirgistan und Armenien ihre Kraftlosigkeit offenbart. Und im Falle Armeniens hatte beispielsweise vor allem Moskau eine Willenslähmung gezeigt. Und auch Minsk hat es nicht eilig, sich hinter Jerewan zu stellen, weil es mit Baku lukrative Geschäftsbeziehungen unterhält. Kurzum: Alles loser Tabak. Das postsowjetische Bündniswesen erweist sich bei genauerer Prüfung als verfault, prinzipienlos und opportunistisch.
    Auch wenn sich Lukaschenko im Kontext dieses Krieges immer unwohler fühlt, ist es also alles andere als sicher, dass die belarussischen Truppen noch in den Krieg eintreten. Der listige Fuchs wird vor allem sein politisches Überleben im Sinn haben.

    Weitere Themen

    Bystro #16: Gefechte in Bergkarabach – welche Rolle spielt Russland?

    NATO-Russland Beziehungen

    Lukaschenkos Macht und Putins Krieg

    Krieg um Bergkarabach

    Moskau, hör die Signale!