Alexander Gronsky ist einer der wenigen Fotografen, die nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine in Russland geblieben sind. Er arbeitet an einer Serie von Bildern, auf denen der scheinbar kaum veränderte Moskauer Alltag untergründig im Zeichen unterschiedlicher Formen aggressiver militaristischer Propaganda verläuft.
dekoder sprach mit dem berühmten Moskauer Stadtlandschaftsfotografen über sein aktuelles Arbeiten, das anschließt an Moskau während des Krieges, eine Sammlung vom Juli 2022.
dekoder: Hast du das Gefühl oder beobachtest du, dass sich die Atmosphäre auf den Straßen Moskaus in diesen eineinhalb Jahren Krieg verändert hat?
Alexander Gronsky: Es wirkt, als hätte sich gar nichts verändert. Nur die Kriegspropaganda ist mehr geworden, aber davon gab es eigentlich auch vor dem 24. Februar 2022 schon viel, nur hat sie niemand ernst genommen. In vielerlei Hinsicht waren diese fehlenden sichtbaren Veränderungen in meinem Umfeld für mich der Ausgangspunkt meiner Arbeit. Ich befinde mich gewissermaßen inmitten der Prozesse und Ereignisse, doch die sind als solche fast unsichtbar.
Was bringen dir deine Streifzüge durch Moskau mit dem Fotoapparat persönlich, wofür nimmst du das alles auf, welchen Sinn siehst du darin?
Für mich persönlich ist das eine Möglichkeit, mich zu konzentrieren und weniger in Panik zu geraten. Die Frage nach dem Sinn ist schwieriger, die verschiebe ich in die Zukunft. Das heißt, für mich ist klar, dass das Geschehen zur „unbequemen Geschichte“ gehören wird, die man lieber vergessen wollen wird, also müssen wir jetzt „unbequeme Archive“ für die Nachwelt anlegen.
Fallen dir auf den Straßen Moskaus, abgesehen von den Propagandaplakaten und anderen „neuen“ Elementen „städtischer Ausgestaltung“ in Kriegszeiten, die deine Fotos zeigen, noch andere Spuren des Kriegs auf? Kriegsversehrte, Z-Aufkleber, Kriegsgerät, Folgen von Drohnenattacken, „Z-patriotische“ T-Shirts und dergleichen? Sind auf der Straße oder an sonstigen öffentlichen Orten Gespräche über den Krieg zu hören?
Die Drohnenattacken sind die ersten Zeichen eines realen Kriegs, die in Moskau aufgetreten sind. Doch ich glaube, die, die hier geblieben sind, haben sich gedanklich schon auf das Schlimmste vorbereitet – diese Explosionen haben niemanden wirklich schockiert. Ansonsten ist alles wie immer, man geht shoppen und Cocktails trinken.
Ist es im Vergleich zu den Jahren davor schwieriger geworden, auf der Straße zu fotografieren? Hat sich die Reaktion der Passanten oder vielleicht auch der Polizei auf einen Mann mit Fotoapparat verändert?
Nein, den Eindruck habe ich nicht.
Wofür lebt derzeit die Moskauer oder generell die russische Fotografenszene?
Die russische Fotografenszene lebt jetzt im Ausland. Die paar Fotografen, die geblieben sind, leisten eine wichtige Arbeit, aber sie bilden keine Szene. Es fühlt sich leer an. Allerdings hilft das, die Faulheit zu überwinden, auf einmal wirkt das Argument: „Wenn ich das jetzt nicht fotografiere, wird es womöglich keiner je fotografieren.“
Alexander Gronsky ist einer der berühmtesten russischen Landschaftsfotografen. Er fotografiert seit vielen Jahren Straßen, Brachflächen, Höfe und Plattenbauten. Seine Fotos werden in Berlin, Paris, Riga und New York gezeigt. Gronsky blieb nach dem 24. Februar in Russland und fotografierte: in Stadtstraßen und Randgebieten. Der Fotograf sagt gegenüber Meduza, dass er gar nicht anders kann, als an Bekanntem anzudocken und so einen Weg aus der Starre zu finden. Was hat sich in Russland über diese Monate verändert? „Im Grunde nichts. Und gleichzeitig alles“, sagt Gronsky. „Allein das Datum verändert das Verhältnis zu den Bildern, verleiht einem normalen Motiv enorm viel mehr an Kontext.“
Die folgenden Fotografien sind in Moskau entstanden, und zwar während der ersten drei Monaten des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Alexander Gronsky schreibt dazu:
„Ich habe geträumt, dass ein Atomkrieg begonnen hat, in Moskau drei Explosionen. Es ist klar, das war’s. Das war’s einfach. Ich kriege im Traum keine Panik, ich denke einfach nur, okay, dann geh ich los und knipse, wie sich alles verändert hat.
Für mich ist dieser Traum wortwörtlich zu nehmen. Seit Anfang des Krieges fotografiere ich Moskau und spende die Fotos für Hilfsprojekte in der Ukraine. Dahinter steht kein besonderes künstlerisches Konzept, es ist einfach ein fassungsloses Sich-im-Kreis-Drehen.
Nichts hat sich geändert, und alles hat sich geändert.
Ich fotografiere, verschicke das Foto, jemand hängt es sich an die Wand und schickt jemandem, der es braucht, 150 Euro. Ganz schlichte Handlungen, die mir sehr helfen.“
„За мир“ ( „Sa mir“) – „Für den Frieden“„Frühling – der Tag des Sieges naht“
Fotos: Alexander Gronsky Übersetzung: Friederike Meltendorf Veröffentlicht am: 07.07.2022
Dieses Material ist Teil des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder
In seinen international ausgezeichneten Serien erkundet Fotograf Alexander Gronsky die Peripherie. Er zeigt die Städte abseits der Zentren und jenseits der Idylle, den Übergang zwischen Beton und Grün in einer Serie wie Pastoral. In der Serie 2018 geht er in die Vororte zweier Städte: Moskaus und Sankt Petersburgs. Und wirft in urbanen Triptycha sehr gegenwärtige Fragen auf.
„Wenn früher jemand in eine fremde Stadt kam, fühlte er sich einsam und verloren: andere Häuser, andere Straßen, ein anderes Leben. Aber heute ist alles anders. Wer in eine ihm unbekannte Stadt kommt, fühlt sich dort wie zuhause. In welchen Unsinn sich doch unsere Vorfahren verstiegen. Sie mühten sich mit jedem architektonischen Projekt wieder [von Neuem] ab. Aber heute bauen sie in jeder Stadt ein typisches Kino Raketa, in dem man einen typischen Spielfilm sehen kann.“
Beginn der sowjetischen Neujahrskomödie Ironie des Schicksals (Ironija sudby, 1975)
Der sowjetische Kultfilm Ironie des Schicksals (Ironija sudby) von Eldar Rjasanow, der am Neujahrsabend spielt und an diesem Abend fest im Fernsehprogramm etabliert ist, zeigt schon im kurzen Zeichentrick-Vorspann die Eroberung des Sowjetimperiums durch die Chruschtschowki, die Plattenbauten. Die Auswechselbarkeit der Platte wurde bald zur Metapher der sowjetischen Gesellschaft. Der vielschichtige Neujahrsklassiker Ironie des Schicksals aber greift die Allgegenwart der Platte humoristisch auf und macht sie zur Grundlage einer schicksalhaften Verwechslung.
In seiner Serie 2018 zeigt Alexander Gronsky in urbanen Triptycha und Diptycha Moskauer und Petersburger Vororte von Heute – ein Ironija sudby der Fotografie. Die Fotografien funktionieren als strenge Kompositionen des immer Gleichen genauso wie als spielerische Suchbilder (finde den Unterschied!).
Wie oft in seinen Arbeiten ist Gronsky in der Peripherie, an den Rändern unterwegs und lässt die Grenzen verschwimmen: Moskau oder Petersburg? Ernst oder Ironie? Monotonie oder Vielfalt, die im Detail liegt? Alltag oder Kunst? Wie viel Sowjetunion ist noch? Und was ist Schönheit? „Gute Fotografie“, sagte Gronsky mal in einem Interview, „ist jene, die Fragen aufwirft.“
Wenige haben die aktuelle russische Fotografie der letzten Jahre so sehr geprägt wie Alexander Gronsky. Seine ruhigen, oft malerisch wirkenden Bilder, die seiltänzerisch an mehreren Grenzen zugleich entlangwandeln – der Grenze zwischen Stadt und Land, Romantik und Trostlosigkeit, Ernst und Ironie – sind längst zu einer Inspiration für die noch jüngere Generation geworden, die sich aus der visuellen Kultur Russlands nicht mehr wegdenken lässt.
Gronsky ist 1980 im estnischen Tallinn geboren, begann als Autodidakt, wurde Reportagefotograf und siedelte nach Moskau um, an dessen ausgefransten Rändern die hier gezeigte Serie von 2008 bis 2012 auch entstand. Ihr Titel lautet Pastoral, doch anstatt von idealisierten Schäferszenen in bukolischer Idylle zeigt Gronsky Menschen im wüsten Raum des Phasenübergangs von Beton zu Grün: bald Inseln der heimatlichen Selbstverständlichkeit erschaffend, bald verloren wie Wanderer auf einem fernen, fremden Planeten.
Die Personen auf seinen Bildern wirken oft wie Modellfiguren, die von unsichtbarer Hand in die Szenerie hineinarrangiert sind, als Spielende, Speisende, Badende, Betende … Manche der Bilder könnte man geradezu für Collagen halten. Es ist hier aber alles echt: Gronsky ist auf endlosen Streifzügen mit einer analogen Mittelformatkamera unterwegs, seine Aufnahmen überarbeitet er nur minimal in technischen Parametern.
Ein Fotograf der Grenzen: auch jener zwischen Ost und West. Im Baltikum aufgewachsen, war Gronsky die Geschichte der westlichen Fotografie präsenter als die der russischen, wie er selbst im Interview berichtet. Und sicherlich werden seine Bilder im Osten und im Westen auch ganz unterschiedlich gesehen. Für den Bewohner einer russischen Großstadt sind Gronskys Sujets der Alltag – „Der Blick aus meinem Fenster“, wie er im gleichen Interview sagt – ein Anblick, der so vertraut ist, dass es erst einen Fotografen braucht, um sich seiner bewusst zu werden.
Wir westlichen Betrachter hingegen sind vielleicht erst einmal frappiert vom Unerwarteten, können kaum glauben, dass sich all dies wirklich an ein und demselben Ort befindet: Wie kommt der Strand zwischen die Plattenbauten? Stehen die Kühltürme tatsächlich auf der Streuobstwiese? Wieso ragt hinter der Urwald-Tarzanschaukel der Siebzehnstöcker vor? All das lässt den Betrachter in einer gewissen Ratlosigkeit zurück, stachelt aber auch die visuelle Neugier an in einer Weise, wie es keine wirklich exotische Landschaft zu tun vermöchte.
Alexander Gronsky gewann 2010 den Paul Huf Award des Amsterdamer Fotomagazins Foam. Er ist Träger des Aperture Portfolio Prize 2009 und wurde beim World Press Photo Award 2012 mit einem 3. Platz der Kategorie daily life stories ausgezeichnet. Seine Werke wurden in Einzelausstellungen in Paris, Amsterdam, New York und natürlich in Moskau gezeigt.
Fotos: Alexander Gronsky Bildredaktion: Nastya Golovenchenko, Text: Martin Krohs Veröffentlicht am 01.03.2016