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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Russland ist ein einziges großes Meme“

    „Russland ist ein einziges großes Meme“

    Eigentlich ist Rap in Russland Teil der Massenkultur. Timati, der als reichster Rapper des Landes gilt, besang auch schon mal Putin. Ansonsten zelebriert er wie viele andere genau das, was auch europäische und US-amerikanische Rapper tun: einen Lifestyle mit Benz, Bitches und viel Bling-Bling. 

    Auch Face gehörte bis vor Kurzem dazu. Mit seinen sexistischen Texten fand er durchaus Anklang bei der russischen Jugend. Sein neues Album ist anders, es führt gewissermaßen back to the roots: Rap wird zur Gegenkultur, wie zu den Entstehungszeiten in den USA. Unzufriedenheit mit Politik kommt dabei zu Tage, Protest und Wut.

    Meduza befragte Face zu seinem neuen Album und wie es dazu kam. Eschtschkere!

    „Ein russischer Rapper hat einfach die Pflicht, ein Album über soziale Probleme zu schreiben“. Foto: Alexander Anufriev / Meduza

    Alexander Gorbatschow: Du hast gesagt, du würdest Meduza ein Interview geben, weil wir nicht übertrieben russophob sind. Was meinst du damit?

    Iwan Face Drjomin: Es gibt einen Grad der Russophobie, der ist keine Russophobie, sondern gesunder Menschenverstand. In diesem Staat – und nicht nur in diesem, eigentlich in jeder Gemeinschaft – gibts das. Wenn du die Wahrheit sagst, wirst du unter Umständen sofort zum Gegner dieser Gemeinschaft, zum Oppositionellen. Es reicht doch schon zu sagen: „Es gibt Scheißbullen, die Geld abzocken.“ Wenn du eine mediale Person bist, kannst du sofort zum Volksfeind werden.

    Leute, die Schwarze oder Schwule hassen – das sind verfickte Faschisten!

    Gemeinschaften haben ihr Wesen, haben Regeln, die sie befolgen, damit es sich bequemer lebt und die Menschen nicht nachdenken müssen, denn Gedanken machen das Dasein zur Qual. Außerdem haben die Menschen eine sehr starke Bindung an ihre Eltern. Die Menschen wollen nicht genauer nachdenken, ob die Eltern ihnen Feind oder Freund sind, wollen sie nicht gleichsetzen mit anderen Menschen, die ihnen zum Beispiel Schmerzen zugefügt haben. Warum schalten die Leute nicht ihren Kopf an? Weil die Eltern das so gesagt haben.

    Wie soll man einem Durchschnittsrussen zum Beispiel erklären, dass Afroamerikaner oder Afrorussen, Chinesen, Japaner, Usbeken Menschen sind? Ein banales Beispiel, aber das ist oft ziemlich schwer. Und dann denkst du, du hast es ihm erklärt, und er nickt, aber dann gehts von vorne los: „Überall laufen hier diese Tschurken und Neger rum, hahaha, hihihi.“ Von Schwulen darf man gar nicht erst anfangen. Hier wird man Homosexuelle wahrscheinlich nie als Menschen betrachten. Wieso hackt man auf diesen Menschen rum? Wieso frikassiert man sie, nur weil sie sind, wie sie sind? Leute, die Schwarze oder Schwule hassen – das sind verfickte Faschisten!*

    Ist das ein russisches Problem oder ein allgemeines?

    Ein allgemeines. Und ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was besser ist: Seinen Hass zu verstecken oder ihn zu zeigen. Es ist natürlich schlecht, ihn auf radikale Weise zu äußern. Wenn man nur eine Meinung formuliert, ist das eher besser, würde ich sagen. In Europa ist es oft ziemlich verfickt: Viele hassen Minderheiten und Migranten und verstecken das. Hier würde ich Russland gern freisprechen – Russland verdient mehr Respekt als ein Land mit aufgesetzter Toleranz. Es gibt sicher auch Länder mit echter Toleranz. Die haben meinen vollsten Respekt. Ich will Bürger einer solchen Polis sein.

    Mich würde deine persönliche Beziehung zu Gott interessieren. Das scheint in deinem neuen Album eine große Rolle zu spielen.

    Als Kind war ich krass gläubig. Wir waren gehirngewaschen, weil unsere Mutter tief gläubig ist. Dir wird keine Wahl gelassen, du darfst nicht selber nachdenken. Du bekommst ein Kreuz umgehängt und fertig: Du glaubst!

    Wir waren gehirngewaschen, weil unsere Mutter tief gläubig ist

    Für mich ist das Faschismus. Psychische Gewalt. Das ist wie mit der Musikschule. Ich weiß nicht, was ich mit sechs machen wollte, aber ich musste zur Musikschule, und ich habe es verdammt gehasst. Genauso ist es mit der Kirche, wenn man da um 9 Uhr morgens hingeschleift wird, obwohl man nicht will. Dafür habe ich null Verständnis. Aber ja, als ich Molitwa [dt. „Gebet”] schrieb, dachte ich daran, wie ich als Kind gebetet habe. Und ich habe selbst ein Gebet geschrieben. Aber in dem Song geht es eigentlich um etwas anderes. Ich habe Gott geliebt, aber wir sind zu verschieden. Das ist die letzte Zeile auf der Platte.

     
    „Ich habe den Herrgott geliebt, aber wir sind zu verschieden“ – Molitwa (dt. „Gebet“, 2018)

    Vorhin hast du gesagt, die Gemeinschaft reagiert negativ, wenn man die Wahrheit sagt. Jetzt hast du ein Album veröffentlicht, auf dem du – in deinen Augen – die Wahrheit sagst. Gibt es negative Reaktionen?

    Klar gibt es die. Es gibt Menschen, die sagen, was soll das, sing lieber über Burger. Dann gibt es welche, die sagen: „Fuck, sowas hab ich vor zehn Jahren schon gemacht, das Zentrum E hat mich auf den Index gesetzt, man bin ich krass.“ Warum sagen die das, wenn es um meinen Release geht? Weil sie sich auf Twitter feiern wollen. Aber so wie ich hat das noch niemand gemacht. Vor allem, wenn man mein Alter bedenkt und wer ich bin. Das war mutig, und ich bin stolz, dass ich dieses Album geschrieben und rausgebracht habe. Ich musste das einfach tun, um mich von meinen Kindheitstraumata zu befreien. Das habe ich gemacht – wie ich finde, erfolgreich.

    Meine Wahrheit liegt im Rahmen des Gesetzes. Nicht irgendein absurdes Gesetz, sondern das echte, menschliche

    Dann gibt es noch die Fraktion „Wieso erzählst du uns das? Wissen wir auch ohne dich“. Und so Clowns, die finden, ich wär russophob und würde auf die Heimat spucken, ein Volksfeind.

    Gut, Hater gab es bei uns wohl schon immer. Was ist mit dem Staat? BBC berichtete von Anrufen aus der Präsidialadministration, in denen es um deine Tweets geht. Wenn sie die Tweets lesen, wird ihnen nicht ein ganzes Album entgangen sein?

    Naja, es gibt schon Anfragen zu Konzerten, Gerüchte über Durchsuchungen, irgendwer hat von irgendwem irgendwas gehört … Aber ich versuche, das locker zu sehen, weil ich weiß, dass ich sauber bin. Ich sage meine Wahrheit, und die bewegt sich im Rahmen des Gesetzes. Nicht irgendein absurdes Gesetz, sondern das echte, menschliche. Aber auch im Rahmen des geltenden Gesetzes kann man mir nichts vorwerfen. Das würde ich auch nicht wollen. Wenn ich Krieg führen wollte, würde ich andere Wege gehen. Aber ich bin immer auf alles vorbereitet. Ich weiß, dass ich in dieser Situation nichts falsch gemacht habe und mache.

     

    „Ich fahr zu Gucci in Sankt Petersburg // Sie frisst meinen Schwanz als wärs ein Burger“ – Burger (2017)

    Wie ist die Musik zu Puti neispowedimy [dt. „Die Wege sind unergründlich”] entstanden? Sie ist etwas anders als früher – schwerer, ruheloser vielleicht.

    Diese acht Songs sind das Ergebnis der letzten zwei, drei Monate und der seelischen Krisen, mit denen ich zu kämpfen hatte, ich habe viel gerungen und ausprobiert. Der Sound ist hundertpro Meek Mill. Und Drake. Gemischt mit gesellschaftskritischem Rap. Ziemlich originell. Aber ich betrachte rezitativen Rap nicht wirklich als Musik, deswegen will ich nicht damit rumprotzen, was für gute Musik ich geschrieben habe. Guten Rap – ja, auf jeden. Wer was anderes behauptet, der kann mir verfickt noch mal den Schwanz lutschen. Weil die Zeile „Ein russischer Dichter, das ist einer, der eine spitze Feder trägt“ genial ist. Nochmal, ich bin 21. Ihr alten Säcke könnt euch verpissen, zum Arsch.

    Ein russischer Dichter, das ist einer, der eine spitze Feder trägt

    Man kann meine lyrischen Triumphe abtun und sagen: Alles Hype, Show, Performance, Pose, zu einfach usw. Aber es ist viel schwieriger, einfach und genial zu schreiben als umgekehrt. Ich sage nicht, dass ich genial bin, aber das Album ist eine 1-, mindestens eine 2+. Es ist ein wirklich gutes Rap-Album, mit dem ich im Grunde zufrieden bin.

    Warum nennen Sie keine Namen? Staatsbeamte, Putin meinetwegen?

    Das würde die ganze Geste entwerten. Wenn ich das wegen Knete machen würde, hätte ich das gemacht, aber es war nicht wegen Knete. Ich glaube nicht, dass man mit Namedropping von Politikern ein cooles Album machen kann. Ich könnte das nicht. Das würde nur prollig klingen.

    Wenn wir schon bei Kritik sind. Ich kenne Leute, die deine früheren Lieder als frauenfeindlich bezeichnen. Kannst du das nachvollziehen?

    Natürlich, denn es ist so. Diese Songs sind absolut frauenfeindlich. Ich musste sie singen, um dank ihnen und ein paar anderen Umständen dahinterzukommen, dass Frauen wundervolle Wesen sind, die man lieben muss.

    Diese Songs sind absolut frauenfeindlich. Das war meine Rache am weiblichen Geschlecht

    Ich war aus meiner Kindheit traumatisiert, war unglücklich verliebt. Außerdem hat eine Rolle gespielt, dass wir meiner Mutter megascheißegal waren. Das kam alles zusammen, natürlich war ich ein Frauenhasser. Ich habe sogar eine EP gemacht, Revenge – das war meine Rache am weiblichen Geschlecht. Meine Idee war: Ihr habt mich nicht geliebt, und jetzt hüpft ihr um mich rum, weil ich Geld und Ruhm hab und das alles. Ihr könnt euch alle mal verpissen!

     
    „Spiel nur keine Spielchen mit mir, du verlierst unter Garantie“ – Revenge (2017)

    Wirst du deine alten Songs noch performen?

    Ja, warum nicht? Die Leute sollen meine Entwicklung, den Weg sehen, den ich gegangen bin. Er soll sie dazu inspirieren, dass man aus Scheiße zum Künstler werden und statt über irgendeinen Bullshit zu singen was Wichtiges erzählen kann. Aus einem einfachen Typen aus Ufa, der seine Songs selbst zusammengebastelt und mit dem Geld seiner Oma aufgenommen hat, kann jemand werden, der ein glückliches Leben führt, im Reinen mit sich ist und etwas tut, das tausenden von Menschen gefällt. Oder auch nicht, aber jedenfalls ist er im Reinen mit sich, es fehlt ihm an nichts.

    Mein Weg soll sie inspirieren, dass man aus Scheiße zum Künstler werden kann

    Ich schäme mich nicht für diese Songs, falls das irgendwer denken sollte. Ich versuche das so zu sehen – auch wenn ich mir das vielleicht zurechtbiege, weil mir diese Legende gefällt: In diesen Songs bin ich ein Spiegel der Jugend. Ich habe das erst viel später verstanden, aber genauso ist es. Das ist die Gesellschaft. Frauenfeindlichkeit liegt in der Luft, alle wollen sich aufblasen, was beweisen – ich bin so reich, so cool, so berühmt. Das ist normal. Ich habe mit solchen Songs angefangen, dann habe ich ein Album aufgenommen, um mir die Seele zu erleichtern, wie man das als Russe manchmal eben tun muss. Ein russischer Rapper hat einfach die Pflicht, ein Album über soziale Probleme zu schreiben.

    Warum gibt es dann so wenig gesellschaftskritischen Rap?

    Weil die Leute Angst haben. Erstens vor Problemen mit den Staatsorganen. Zweitens, Geld zu verlieren, weil Konzerte verboten werden. Drittens, Geld zu verlieren, weil keiner zum Konzert kommt. Viertens, Geld zu verlieren, weil sich alle abwenden. Daher kommt auch diese ganze Schulterklopf-Rhetorik. Eigentlich gibt es nur einen Menschen, auf dessen Meinung wir was geben.

    Und wer ist das?

    Oxxxymiron.

    Warum ausgerechnet er?

    Oxxxymiron ist ein wirklich guter Rapper, eine bedeutende Persönlichkeit. Wir haben ein Rap-Album gemacht, und uns interessiert die Meinung des einzigen bedeutenden Rappers, der technisch echt was draufhat, was von Lyrik versteht, der interessant ist, originell. Er ist gut in dem, was er tut. Sehr gut sogar.

    Ich fühle, dass ich mit diesem Album rausgegangen bin und mit Kreide eine Linie gezogen habe. Mich abgesetzt habe. Ich bin wirklich der einzige. Wenn mir irgendjemand künstlerisch nahesteht, dann ist das Oxxxymiron.

     

    „Ich knocke den Westen aus, auf meinem Schwanz steht die gesamte Industrie der USA“ – Ja ronjaju Sapad (2017)

    Früher gab es in deinen Songs Sex, Geld und keine Politik. Und jetzt gibt es nur Politik und keinen Sex. Haben diese Themen für dich nichts miteinander zu tun?

    Was soll ich dazu sagen? Erstens habe ich seit einem Jahr nichts mehr veröffentlicht. In meinem Alter kann sich in einem Jahr viel verändern. Auf einmal war ich mit Geld und Popularität konfrontiert, einer ernsten Beziehung. Das alles hat mich geflasht, in ein emotionales Loch gestürzt, mich zum Nachdenken gezwungen. Ich habe bekommen, was ich wollte. Worüber habe ich früher gesungen? „Ich bin reich, ich bin berühmt“. Warum? Weil ich nicht reich und berühmt genug war, um darüber zu schweigen. Das habe ich jetzt geschafft. „Ich werd euch alle ficken, ficke alle“. Ich wollte einfach ein Mädchen kennenlernen. Ich war traurig, daher die Texte.

    Und dann? Ich wusste nicht, worüber ich singen sollte. Darüber, dass es mir schlecht geht mit meiner Liebsten? Ne, es geht mir ja verfickt gut mit meiner Liebsten. Darüber, dass ich jetzt scheiße viel Geld habe, dass ich berühmt bin? Wozu? Ich bin ja wirklich berühmt, ich habe wirklich Geld.

    Der hatte alles und keinen Schiss, es zu verlieren

    Ich habe so eine Ahnung: Wenn sich irgendwann mal die Spreu vom Weizen trennt, werden die Leute nicht denken: „Erinnerst du dich an den Vollpfosten, der dieses eine Jahr so gehyped wurde?“ Sie werden in anderen Kategorien denken: „Weißt du noch, dieser Typ, der immer noch verfickt gute Mucke macht: Als der Die Wege sind unergründlich rausgebracht hat, und niemand hat auch nur annähernd mitgeschnitten, was das für eine Hammergeste war? Ich mein, der hatte verfickt noch mal alles und hatte keinen Schiss, das alles zu verlieren.“

    „Ich fühle, dass ich mit diesem Album rausgegangen bin und mit Kreide eine Linie gezogen habe.“ Foto: Alexander Anufriev / Meduza

    Ein anderer möglicher Kritikpunkt: Du hast schon erwähnt, dass du ein relativ gutes Leben hast. Du wohnst mitten in Moskau, hast eine tolle Wohnung, isst in teuren Restaurants – und singst von Abgründen und Hölle, obwohl dein Leben heute ein ganz anderes zu sein scheint.

    Von den 21 Jahren meines Lebens hab ich nur das letzte Jahr so gelebt. Die 20 davor (und 17 davon – wirklich krass) habe ich gelebt wie jeder andere und habe jedes verschissene Recht darüber zu reden. Die, die sowas sagen, leben momentan im Durchschnitt schlechter als ich, und sagen: Du lebst hier dein Dolce Vita und lässt hier so nen Scheiß los. Aber den größten Teil ihres Lebens haben die besser gelebt als ich 20 Jahre. Das sind die von der Sorte: Wenn du nicht gesessen hast, bist du kein Russe. Du musst erst im Gefängnis gewesen sein, bevor du schreiben darfst, wie beschissen es den Leuten da drin geht.

    Ich habe gelebt wie jeder andere und habe jedes verschissene Recht darüber zu reden

    Es gab einen Moment, da hatte ich plötzlich, was ich wollte. Mir war alles scheißegal, das war alles ein einziges Meme für mich. Du kannst dir mein Interview mit [Juri] Dud angucken, da wird dir klar, dass das alles nur Memes für mich sind, Jokes.

    Vor einem Jahr war also alles nur ein Witz – und was ist dann passiert?

    Ich habe angefangen nachzudenken, als Bürger eine Haltung zu entwickeln. Und ich bedauere das nicht, denn je weniger Haltung du hast, desto weniger Sinn hast du im Leben. Du stehst für nichts ein, höchstens für das Stück Brot auf deinem Teller.

    Ist etwas schlecht an politischen Aktionen?

    Sie sind ein Instrument zur Einschüchterung und Kontrolle. Warum sind da so wenig Leute? Weil sie wissen: Du gehst hin und kriegst eins aufs Maul. Normalfall in Russland.

    Die Welt ist nunmal so geschaffen. Und hier ist es ganz deutlich: Der Stärkere hat Recht, und alle scheißen drauf. In diesem Land wird alles über rohe Gewalt, Geld und Beziehungen entschieden. Sonst nichts.

    Politische Aktionen sind ein Instrument zur Einschüchterung

    So läuft das doch: Wenn du in der Schule einen auf Macker machst, dann musst du damit rechnen, dass du nach der Schule eins aufs Maul kriegst. Hier [auf den Demos] ist das genau so: Du läufst herum, schreist irgendwas und und wirst durchgenudelt. Die Leute gucken sich das an und sagen sich, warum soll ich da hingehen. Sie haben Schiss.

    Du gehst auch nicht hin – hast du Schiss?

    Wir haben keinen Schiss. Als ich dieses Album geschrieben habe, habe ich darüber nachgedacht, wie weit ich bei diesem Thema gehen kann. Und weißt du, ich bin ziemlich weit gegangen. So weit, wie es Sinn macht. Weiter wäre sinnlos. Es macht nur Sinn, sich auszudrücken und anderen diese Möglichkeit zu geben – wenn jemand sich die Songs zu Hause anhört und mit dem Kopf nickt. Zu mehr sind die Leute nicht im Stande.

    Wenn du ein Held bist, macht es keinen Sinn, rauszugehen und im Namen der großen Gerechtigkeit zu sterben

    Wenn du ein Held bist, macht es keinen Sinn, rauszugehen und im Namen der großen Gerechtigkeit zu sterben. Was für Gerechtigkeit überhaupt, wenn die Leute drauf scheißen? Wenn ich jetzt rausgehe und irgendwas mache, wofür ich in Schwierigkeiten komme, werden alle drauf scheißen.

    Das heißt, wenn man versuchen würde dich einzusperren, würde sich niemand für dich einsetzen?

    Ich bin zu folgendem Schluss gekommen. Wenn du Business machen willst und Geld verdienen, dann geh verfickt noch mal Geld verdienen, du musst nicht Musik machen. Wenn du Politik machen willst, geh und mach Politik. Wenn ich auf die Barrikaden gehen würde, wäre das so, als würde Nawalny ein Album machen. Das wäre doch völlig absurd, oder?

    Überhaupt ist Russland ein einziges großes Meme. Genau deswegen stehen hier alle auf Meme-Interpreten und so Zeugs. Die Leute hier stehen auf billige Jokes. Das Leben ist viel zu kompliziert, und die Menschen nehmen das hin. Sie haben sich längst damit abgefunden, dass man nichts dagegen unternehmen kann, sie sind schwache, verängstigte Schäfchen.

    Alles, was wir können, ist über Memes lachen und in allem einen großen Witz sehen. Wenn ein Typ in den Knast kommt – ist das ein Meme, Nawalny – ist ein Meme. Nawalny – der ist kein ernstzunehmender Politiker, weil er das mitmacht. Echt mal, ein Typ, der sein Logo von Supreme abgekupfert, wird niemals Präsident.

    Ist es schlecht, dass Russland ein Meme ist? Oder hat das auch was Schönes?

    Es hat Charme. Aber erstens kann man in allem das Schöne sehen. Zweitens, auf der menschlichen Ebene … Spaß hin oder her, aber die Leute denken nicht darüber nach: Einmal kann man über etwas lachen – aber wenn es einfach so weitergeht, dann muss man etwas tun. Kaum jemand von denen lacht doch über einen Behinderten ohne Beine? Aber das hier ist dasselbe! Worüber die lachen, ist verfickt noch mal kein Stück witzig. Das Leben hier ist nicht witzig. Und sie leben dieses verfickte Leben. Sie sind einfach nur schwach, richtig schwach. Das einzige, was denen noch bleibt, ist ne Psychowaffe.

    Worüber die lachen, ist verfickt noch mal kein Stück witzig. Das Leben hier ist nicht witzig

    Genau, wie man meine früheren Songs als Psychowaffe gegen dieses Scheißleben sehen kann. Das ist alles, was dir bleibt. Ich habe Mitleid mit den Leuten, genau wie ich Mitleid mit dem kleinen Jungen, dem jungen Erwachsenen habe, der ich war. Es sind krass unglückliche Menschen, bei denen alles so zum Kotzen ist, dass ihnen nichts mehr bleibt, als darüber zu lachen. Und genau deswegen lieben sie diesen ganzen Entertainmentscheiß.

    Wie siehst du dich in einem anderen Land? Deine Songs schreibst du ja auf Russisch.

    Vielleicht schreibe ich irgendwann auf Englisch. Aber es ist kein Problem, für Konzerte nach Russland zu kommen. Ich bin Russe, mit meiner Sprache bin ich in voller Harmonie und habe auch weiterhin vor, auf Russisch zu schreiben, egal wo ich mich befinde. Is okna [Aus dem Fenster] habe ich zum Beispiel in Japan geschrieben, im Bus nach Osaka. Ich glaube also nicht, dass das was ändern würde.

    Gibt es schon konkrete Pläne?

    Wir haben noch kein konkretes Land im Blick, aber sind dabei.

    Ich finde, in dem Staat, in dem wir leben, ist das einzig Vernünftige, nicht auf die Barrikaden zu gehen, weil das einfach sinnloser Selbstmord ist, sondern ein Leben irgendwo anders auf unserem schönen Planeten zu suchen. Sich mit Leuten zu umgeben, die dir mit ihren Scheißvisagen zumindest nicht die Laune vermiesen und sich etwas Mühe geben, was gegen ihre sauren Fickfressen zu tun.

    Ich fordere niemanden zu irgendetwas auf. Ich erkläre nur, warum ich emigrieren will. Wie soll ich das sagen? Die größte Revolution, die du machen kannst, ist die Revolution in dir selbst, als Persönlichkeit. Das ist alles, was du für die Gesellschaft tut kannst. Aber es ist sauschwer, sich weiterzuentwickeln, wenn du selbst in die Höhe wächst und die Leute um dich herum verfickt langsam wachsen, oder eben gar nicht. Das zieht mich runter. Außerdem hab ich die Schnauze verfickt voll von der Kälte und der wenigen Sonne. Das ist alles. Für mich, mit meinen Depressionen und psychischen Problemen, an denen ich arbeite (und an denen alle arbeiten müssen), ist es einen Versuch wert. Der Rest wird sich zeigen.


    * Seit 2013 ist die Benutzung nicht-normativer Lexik (Mat) in russischen Medien gesetzlich verboten. Der stellenweise Gebrauch von Mat ist im Original durch Sternchen gekennzeichnet.

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  • „Krieg bedeutet vor allem Opfer“

    „Krieg bedeutet vor allem Opfer“

    Am 22. Juni 1941 überfiel NS-Deutschland die Sowjetunion. Der Historiker Alexander Etkind spricht im Interview über die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg, den sowjetischen Sieg und über die Doppelrolle Stalins. Und er sagt, warum er es heute so wichtig findet, sich daran zu erinnern, dass der Kalte Krieg nie gänzlich eskaliert ist.

    Alexander Gorbatschow: Sie haben eingehend die Erinnerung an die Stalinschen Repressionen erforscht und auch, wie der Schmerz und die Trauer um die Opfer des Gulag in der heutigen Kultur weiterleben. Die Erinnerung an den Krieg überschneidet sich gewissermaßen mit dieser anderen Erinnerung – zumindest chronologisch und im Schicksal tausender Menschen, die sowohl im Lager als auch im Krieg waren.

    Foto © Andrej Romanenko/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    Foto © Andrej Romanenko/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0

    Alexander Etkind: Dieses Phänomen ist komplizierter, als es scheint. Es ist klar, dass sich die beiden Geschichten überschnitten haben: Mitunter haben Menschen im Gulag gesessen, dann an den Fronten des Zweiten Weltkriegs gekämpft, und sind schließlich wieder ins Lager gewandert. Oder die Überschneidung fand sich innerhalb der Familie: väterlicherseits saßen sie, mütterlicherseits waren sie an der Front – und allen soll gedacht werden.

    In der Kultur und im historischen Gedächtnis stehen diese Themen jedoch getrennt, wie zwei Kontinente, die sich zudem weiter voneinander entfernen. Und das, denke ich, ist ein Problem.

    Wie ist es dazu gekommen?

    Die Gründe hierfür sind wie immer politischer Art. Die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg ist das Einzige, worauf die offizielle Historiographie zur Sowjetära weiterhin stolz ist. Dabei gibt es im Grunde nichts, worauf man stolz sein sollte. Nun, ja, der Krieg war siegreich, obwohl das nur so kam, weil der Krieg ein Weltkrieg war, und nicht nur ein Vaterländischer. Das heißt, alle Opfer, auch die sinnlosen, waren gerechtfertigt, denn am Ende stand der Sieg.

    Der Große Vaterländische Krieg ist das Einzige, worauf die offizielle Historiographie zur Sowjetära weiterhin stolz ist. Dabei gibt es nichts, worauf man stolz sein sollte

    Der Gulag, das waren nur sinnlose Opfer und keinerlei Siege, es gibt kein Mittel, hierfür eine Rechtfertigung oder Sühne zu finden. Und deshalb sind diese beiden Erinnerungsräume voneinander getrennt.

    Was meinen Sie, erfolgt das aufgrund einer zielgerichteten Tätigkeit des Staates, der diese beiden Räume gleichsam getrennt hält, oder kommen da dezentere, natürlichere gesellschaftliche Mechanismen zum Tragen?

    Ich glaube allgemein nicht an schöpferische Fähigkeiten des Staates. Der Staat ist in der Regel geistlos, dumm und verschwenderisch. Natürlich gibt es dort auch Leute, die man heute als creatives bezeichnen würde, die staatliche Förderungen erhalten und versuchen, die kreativen Kräfte der Bevölkerung irgendwie zu steuern, doch diese Gelder laufen in der Regel ins Leere oder richten Schaden an.

    Und wenn ich mir überlege, was wir jetzt beobachten können … Zum Beispiel die Ausstellung Russland – meine Geschichte. Die Ergebnisse sind mehr als jämmerlich. Deswegen glaube ich nicht an den Begriff „Geschichtspolitik“.

    Es kommt nicht auf den Staat an, sondern auf das Bemühen von Einzelpersonen mit unterschiedlichen Berufen und Bestrebungen – Historiker, Schriftsteller, Filmregisseure, Museumsmitarbeiter oder einfach Enthusiasten. Diese Menschen schaffen im Dialog miteinander, durch gemeinsame Anstrengungen, einen Sinnzusammenhang, den wir rückwirkend „historisches Gedächtnis“ nennen.

    Wir sagen, dass voneinander losgelöst zwei Typen der Erinnerung existieren. Und doch gibt es eine Figur, durch die diese beiden Typen miteinander verbunden sind, nämlich die Figur Stalins. Und es scheint mir, dass immer dann die Funken fliegen, wenn diese beiden Rollen Stalins gleichsam aufeinanderprallen: die des Oberkommandierenden und die des Organisators der Massenmorde.

    Chruschtschow hat seinerzeit den Begriff „Personenkult“ eingeführt. Zum damaligen Zeitpunkt passte der, aber es ist längst an der Zeit, ihn zu überdenken. Es geht hier nämlich um einen Staatskult.

    Es gibt Leute und ganze politische Gruppierungen, für die es wichtig ist, den Glauben an die machtvolle und lebensstiftende Rolle des Staates zu befördern. Dieser Staat manifestiert sich in der Führerfigur.

    Stalin ist die ideale Verkörperung dieses Kultes, weil er so viel Macht hatte, entschlossen und grausam war und militärische Siege errang. Und – so merkwürdig das erscheinen mag – weil er ein Fremdstämmiger war.

    In der russischen Tradition fügt sich dieser Umstand in den Kult vom Staat als einer fremden, mystischen Kraft, die von irgendwoher aus anderen Ländern kommt, für Ordnung sorgt und Siege bringt.

    Das heißt, Stalin ist nicht an sich wichtig, sondern als Schnittpunkt dieser Parameter?

    Genau, als Verkörperung der Ideale russischer Staatsgläubiger. Als oberster Führer, dem alles Gute zugeschrieben wird, der aber in keinster Weise für das Schlechte verantwortlich ist. Eine solche Figur wird natürlich auch jetzt im Massenbewusstsein konstruiert, auch wenn diese Figur kein Stalin ist.

    Der Krieg ist vor 73 Jahren zu Ende gegangen. Gleichwohl bleibt er weiterhin das zentrale Ereignis in der neueren Geschichte Russlands – sowohl für den Staat als auch, so wie es aussieht, für die Gesellschaft. Zumindest ist der Tag des Sieges von allen historischen Feiertagen eindeutig derjenige, der die Massen berührt, der am stärksten sakralisiert ist, und verbindet.

    Wissen Sie, der Feiertag in Russland, der die Menschen am stärksten verbindet, das ist Neujahr. Und warum Neujahr? Weil das kein religiöser Feiertag ist, sondern, grob gesagt, ein astronomischer, oder noch einfacher: ein recht sinnfreier. Da wird kein Geburtstag begangen, kein Todestag; das ist ein Ritual, zu dem sich die Menschen leicht vereinigen lassen.

    Auch der Tag des Sieges ist so ein Ereignis. Es ist bezeichnend, dass es ausgerechnet der Tag des Sieges ist, nicht der Tag des Kriegsbeginns, nicht der Gedenktag für die Kriegsopfer.

    Das heißt: So, wie die Rituale des Tages des Sieges gestaltet sind, ist das Trauma zwar da, doch betont wird hauptsächlich das Triumphierende. Wie korreliert das damit, dass der Krieg für die meisten seiner Teilnehmer vor allem Schmerz bedeutete?

    Krieg, das bedeutet vor allem Opfer. Um des Sieges willen werden Opfer gebracht. Ein Mensch, der im Krieg kämpft und an die Ziele des Krieges glaubt, geht davon aus, dass die Opfer einen Sinn hatten, dass sie gerechtfertigt und richtig waren. Und er feiert dann dieses Gerechtfertigtsein.

    Rückkehr sowjetischer Soldaten aus dem Krieg im Jahr 1945 / Foto © skaramanga_1972/livejournal
    Rückkehr sowjetischer Soldaten aus dem Krieg im Jahr 1945 / Foto © skaramanga_1972/livejournal

    Hätte sich in Russland auch ein anderer verbindender Feiertag ergeben können? Oder war es unausweichlich, dass gerade der Sieg zum bestimmenden, sakralen Ereignis der neueren Geschichte wird?

    Ich denke, es gibt Dinge, auf die das postsowjetische Russland stolz sein kann. So kann man zum Beispiel auf die Ereignisse von 1991 stolz sein, auf den unblutigen Zerfall eines Riesenreiches. In Russland ist oft die Ansicht zu hören, dass der Zerfall des Imperiums eine Tragödie war, ein Verbrechen, eine Katastrophe. Gut: Wenn es eine Katastrophe war, dann führt einen Gedenktag zu Ehren des verlorenen Sowjetstaates ein und gedenkt seiner feierlich. Aber das passiert nicht.

    Die Menschen empfinden keine Trauer um die verlorene Sowjetunion. Sie trauern um Verwandte und Vorfahren, die zu Sowjetzeiten ums Leben kamen, das waren viele Millionen

    Es werden Reden gehalten, Ausstellungen organisiert, doch daraus entwickelt sich kein Ritual. Und ich denke, das hat einen Grund: Die Menschen empfinden keine Trauer um die verlorene Sowjetunion. Sie trauern um Verwandte und Vorfahren, die zu Sowjetzeiten ums Leben kamen, das waren viele Millionen. Die Menschen empfinden Schuld und Befremden – darüber, wie das alles geschehen, wie es dazu kommen konnte. Warum und wozu?

    Es gibt die Geschichte zweier totalitärer Staaten, die, verwickelt in ein diplomatisches Spiel, einen Krieg begannen. Ihre irrsinnigen Staatsführer schmiedeten politische Bündnisse und kündigten sie wieder auf, wechselten innerhalb weniger Jahre mehrmals Allianzen. All das endete in einer globalen Katastrophe; letztendlich errang eine der Seiten den Sieg.

    Aber auch das Bündnis, das um des Sieges willen entstanden war, zerfiel sofort wieder, und es begann ein weiterer Krieg, Gott sei Dank ein kalter. Dessen relativ unblutiger Charakter ist wohl auch etwas, worauf man heute stolz sein kann: Trotz bergeweise rostiger Waffen ist es nicht zur Explosion gekommen, wurde nicht aus Versehen ein Krieg ausgelöst. Das erforderte riesige Anstrengungen, mitunter auch Heldentaten Einzelner.

    Stolz sollte man nicht darauf sein, dass etwas in die Luft gegangen ist und Tod gebracht hat, sondern umgekehrt auf das, was man geschafft hat zu verhindern.

    Meinen Sie, dass es Mechanismen gibt, die es ermöglichen, etwas kollektiv zu erfahren und zu erleben, was gar nicht gewesen ist?

    Gute Frage. Natürlich ist das schwer: Wie ließe sich dazu eine Ausstellung machen oder eine Parade abhalten? Die Leistungen der namenlosen Offiziere oder Beamten, die die Katastrophe abwendeten, bleiben vergessen. Wir kennen in der Regel nicht einmal ihre Namen. Oder wir erfahren nur aus purem Zufall von jemandem, der sich entschied, eine Rakete mit Atombomben nicht loszuschicken, obwohl er etwas dabei riskierte.

    Stolz sollte man nicht darauf sein, dass etwas in die Luft gegangen ist und Tod gebracht hat, sondern umgekehrt auf das, was man geschafft hat zu verhindern

    Man sagt, so sei die Erinnerung strukturiert. Aber wessen Erinnerung ist es, die so strukturiert ist? Ich denke, es ist die Erinnerung des Staates, die so funktioniert, dass sie den Menschen ihren eigenen, staatlichen Hierarchien folgend einen Platz zuweist, ihnen Ränge und Posten verleiht, Museen einrichtet und Ehrentafeln schafft. Und durch dieses Verhalten des Staates bleiben die wirklichen Helden oft ohne Gedenken.

    Der Staat hat kürzlich die Aktion Das Unsterbliche Regiment im Grunde genommen vereinnahmt …

    Ja, die Initiative wurde vom Staat vereinnahmt und wird nun für dessen Zwecke instrumentalisiert. Das muss jedoch nicht immer schlecht sein.

    Man muss von Fall zu Fall den eigenen Verstand einschalten, man kann keine generelle Strategie verkünden. Ich kann nichts Schlimmes daran erkennen, dass die Aktion Das unsterbliche Regiment eingesetzt wurde, um ein staatliches Ritual zu etablieren. Ja, mehr noch: Ich würde mich freuen, wenn beispielsweise die Aktion Die unsterbliche Baracke ebenfalls vom Staat aufgegriffen und Teil eines bewussten, durchdachten staatlichen Rituals würde.

    „Die Aktion ,Das unsterbliche Regiment‘ wurde eingesetzt, um ein staatliches Ritual zu etablieren“ / Foto © Nikolaj Semzow/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    „Die Aktion ,Das unsterbliche Regiment‘ wurde eingesetzt, um ein staatliches Ritual zu etablieren“ / Foto © Nikolaj Semzow/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0

    Was denken Sie, hat die konsequente Sakralisierung des Großen Vaterländischen Krieges in irgendeiner Art Einfluss auf die Haltung zu heutigen Kriegen? Nutzt der Staat den Sieg von damals zur Legitimierung heutiger Konflikte?

    Die Kriege heute haben natürlich einen anderen Charakter. Der Gesellschaft ist das aber nicht ganz so bewusst. Und wenn man aus irgendeinem unglücklichen Zufall dann doch den Fernseher einschaltet, stellt man fest, dass sehr viel von dem, was dort zu hören ist, entweder ein direkter Kriegsaufruf ist (was ja übrigens eine Straftat darstellt), oder – das ist eher die dezente Form – die Furcht vor einem Krieg abschwächen, die Empfindsamkeit für dieses Thema senken soll.

    In der Psychologie gibt es den Begriff der „Desensibilisierung“, der meiner Ansicht nach hier zutreffend ist: Er beschreibt eine zielgerichtete Verringerung von Empfindsamkeit. Und so etwas wird zweifellos auch erreicht, indem man einem siegreichen Krieg huldigt, der vor sehr vielen Jahren stattfand.

    Wie stellt sich das aus Ihrer Sicht dar: Wohin kann die derzeitige verstärkte Kontrolle des Kriegsgedenkens führen? Bis hin zu Strafverfahren wegen „Entstellung der Geschichte“ oder wegen Hakenkreuzen in Videos aus den Archiven? Welche Ergebnisse wird es geben?

    Ich denke, gar keine. Diese Versuche werden nicht weit führen. Wenn man von der Zukunft spricht, muss man sich bemühen, sich auf minimale, aber relevante Voraussagen zu beschränken, und die allgemeinen tektonischen Verschiebungen in den Blick zu nehmen. Die können nämlich – im Unterschied zu einzelnen Ereignissen – vorausgesagt werden.

    Eine solche Verschiebung stellt meines Erachtens jene Desensibilisierung dar, von der die Rede war; die verringerte Sensibilität gegenüber Gewalt, Krieg, Verhaftungen, Folter, Leiden und dem Tod als solchen. Das ist eine tektonische Verschiebung, die von Krieg kündet, ihn vorbereitet. Natürlich bedeutet das nicht, dass der Krieg tatsächlich eintreten wird. Es ist aber eine schwerwiegende Verschiebung. Und es ist eine Bewegung, die nur schwer zu stoppen ist.

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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