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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Debattenschau № 89: Prigoshin tot?

    Debattenschau № 89: Prigoshin tot?

    Am Mittwochabend ist ein Privatjet der Wagner-Gruppe in der Region Twer abgestürzt, alle zehn Insassen sind laut russischen Medien ums Leben gekommen. An Bord soll sich der Chef der Söldnergruppe Jewgeni Prigoshin befunden haben, ebenso deren Kommandeur und Mitbegründer Dimitri Uktin.

    Genau vor zwei Monaten hatte Jewgeni Prigoshin seinen Aufstand der Wagner-Söldner gegen die russische Militärführung angeführt: Sie hatten die Millionenstadt Rostow am Don besetzt, Militärkolonnen rollten bereits auf Moskau zu, doch dann wurde der spektakuläre „Marsch der Gerechtigkeit“ überraschend abgeblasen. Vermittelt hatte das nach außen Alexander Lukaschenko, Alexej Djumin soll dabei eine zentrale Rolle gespielt haben. Putin hatte noch am Morgen des 24. Juni öffentlich von „Verrat“ und einer unweigerlichen Bestrafung gesprochen. Doch im Endeffekt konnte sich Prigoshin weiterhin frei in Russland bewegen, die Wagner-Söldner sind zum Teil wie vereinbart nach Belarus gegangen oder wurden in die russische Armee eingegliedert. 

    Angesichts dieser Vorgeschichte halten es viele Beobachter für ausgeschlossen, dass der Flugzeugabsturz ein Unfall war. dekoder hat erste Reaktionen von russischen und belarussischen Kommentatoren übersetzt.

    Alexander Baunow/Facebook: Mafia-Methode

    Russland wird schon seit über eineinhalb Jahrzehnten als ein Mafia-Staat beschrieben. Aus dieser Logik heraus erklärt auch der Analyst Alexander Baunow auf Facebook den Tod von Prigoshin.

    [bilingbox]Eine Bestrafungsmethode in Diktaturen besteht darin, den Feind/Verräter vor seiner Vernichtung für sich zu gewinnen oder sich zumindest mit ihm zu versöhnen, um so zu tun, als sei ihm vergeben worden. Das ist wie in Mafia-Filmen, wo sich rivalisierende Gruppen und ihre Bosse zusammentun, und anschließend die einen die anderen aus einer Torte erschießen, oder wie in Der Pate, wo sich alle versöhnen, bevor sie sich auslöschen.~~~Одна из технологий  наказания внутри диктатуры – приблизить врага/предателя перед уничтожением, или хотя бы помириться сделать вид, что прощен. Это как в фильмах про мафию, враждующие группы и их боссы собираются вместе, чтобы потом одни расстреляли других из торта, или в «Крестном отце» всё мирятся прежде чем  уничтожать.[/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Tatjana Stanowaja/Telegram: Eine Lehre für potenzielle Nachfolger

    Nicht einmal die russischen Propagandaorgane verbreiten die Version, dass der Absturz ein Unfall war. Die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja argumentiert auf Telegram, dass Prigoshins Ermordung eine Signalwirkung hat.

    [bilingbox]

    Was auch immer die Gründe für den Flugzeugabsturz sein mögen, jeder wird ihn als einen Akt der Rache und Vergeltung ansehen – und der Kreml wird das nicht groß verhindern. Aus der Sicht Putins – und vieler Silowiki und Militärs – soll der Tod Prigoshins allen potenziellen Nachfolgern eine Lehre sein […]

    Prigoshins Tod ist eine direkte Bedrohung für alle, die ihm bis zum Schluss treu geblieben sind oder ihn offen unterstützt haben. Dies wird eher abschrecken als zu Protesten anregen. Deswegen ist keine besondere Reaktion zu erwarten. Es wird Empörung und Unzufriedenheit geben, aber keine politischen Konsequenzen.

    ~~~

    Каковы бы ни были причины крушения самолета, все будут видеть это как акт возмездия и расправа, и Кремль не будет особенно мешать этому. С точки зрения Путина, а также многих среди силовиков и военных – смерть Пригожина должна быть уроком любым потенциальным последователям. […]

    Смерть Пригожина – прямая угроза для всех, кто оставался с ним до конца или открыто поддерживал. Это скорее напугает, чем вдохновит на протесты. Поэтому никакой особой реакции ждать не стоит. Негодование и недовольство будет, политических последствий – нет.

    [/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Ekaterina Schulmann/Telegram: Tarnung zum Untertauchen 

    In einer ersten Reaktion erinnert die russische Politologin Ekaterina Schulmann auf ihrem Telegram-Kanal daran, dass auch eine Inszenierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden kann.

    [bilingbox]Aber ein ausgebranntes Flugzeug ist auch eine gute Tarnung, um mit einem der vielen Ersatzpässe für immer unterzutauchen. Ab in die Pampa, wo keiner einen findet, bis Gras über die Sache gewachsen ist und die Spuren kalt sind. Mein Leben – ein Roman!~~~Но и для того, чтобы скрыться навсегда, взяв один из многочисленных запасных паспортов, сгоревший самолёт – тоже подходящий повод. Ворон костей не соберёт, концы в пепел, след простыл. Quel roman que ma vie![/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Michael Naki/Telegram: Alles ist so, wie es scheint 

    Manche witzeln über Michael Naki, er sei ein Prigoshinologe. Tatsächlich hat der populäre YouTuber und Militäranalyst schon im Februar 2023 vorhergesagt, dass Prigoshin keines natürlichen Todes sterben wird. Auf Telegram wendet er sich nun gegen die These, dass der Absturz eine Inszenierung sei. Für Naki ist alles in Wirklichkeit genauso, wie es auch scheint.

    [bilingbox]

    Erinnert ihr euch noch daran, als die Drohnen in den Kreml flogen? Da gab es alle möglichen Hypothesen, etwa dass der FSB da seine Finger mit drin hatte. Nichts davon konnte bestätigt werden, und ich denke, heute ist allen klar, dass es ukrainische Drohnen waren.

    Erinnert ihr euch noch an Prigoshins Meuterei? Damals hat kaum einer versäumt, sie als Inszenierung zu bezeichnen. Allerdings konnte niemand erklären, was der Zweck dieser Inszenierung war. Ich glaube, heute gibt es nur noch wenige Menschen, die an eine Inszenierung glauben.

    Jetzt haben wir die gleiche Situation. Ich kann weder zu 100 Prozent sagen, dass Prigoshin wirklich tot ist, noch, dass da irgendein raffinierter Plan dahintersteckt. Aber ich bin mir mehr als sicher, dass alles genauso ist, wie es auch aussieht. Putin hat Prigoshin demonstrativ getötet, und zwar auf eine Art und Weise, die keinen Raum lässt für Fantasien über einen Unfall oder Beteiligung der ukrainischen Streitkräfte.

    ~~~

    Помните, когда дроны прилетели в Кремль? Сколько там было всевозможных гипотез, что, мол, это дело рук ФСБ. Ни одна не подтвердилась, и, думаю, что сейчас всем очевидно, что это были украинские дроны.

    Помните мятеж Пригожина? Который только ленивый не назвал инсценировкой. Правда, никто не мог объяснить, в чем цель этой инсценировки. Думаю, что сейчас мало людей, которые все еще полагают, что это была инсценировка.

    Та же ситуация и здесь. Я не могу на 100% утверждать, что Пригожин точно мертв, и что нет каких-то хитрых планов. Но я более чем уверен, что всё именно так, как выглядит. Путин демонстративно убил Пригожина, причем способом, который не оставляет места фантазии на тему случайности или действий ВСУ.

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    erschienen am 23.08.2023, Original

    Alexander Friedman/Telegram: Der Mann, der zuviel wusste

    Der belarussische Historiker und Analyst Alexander Friedman glaubt, dass der Tod Prigoshins auch als Warnung an Lukaschenko verstanden werden kann.

    [bilingbox]Auf jeden Fall wird Lukaschenko sagen können, dass seine Garantien für Prigoshin nur auf dem Territorium von Belarus und nicht für andere Teile des Unionsstaates galten. Der Tod von Jewgeni Prigoshin macht Alexander Lukaschenko in gewisser Weise zu einem „neuen Prigoshin”. Einerseits gibt ihm sein Tod die Möglichkeit (sollte der Kreml zustimmen), Teile der Gruppe Wagner unter seine Kontrolle zu bringen. Andererseits ist es die typische Geschichte eines Mannes, der zuviel wusste. Und das wird, wie wir heute gesehen haben, im Kreml nicht verziehen.~~~Александр Лукашенко в любом случае сможет сказать, что его гарантии Пригожину действовали только на территории Беларуси и не распространялись на другие части Союзного государства. Смерть Евгения Пригожина делает самого Александра Лукашенко в какой-то степени «новым Пригожиным». С одной стороны, она дает ему возможность (если будет на то согласие Кремля) поставить под свой контроль части ЧВК «Вагнер» в Беларуси. С другой стороны, это типичная история человека, который слишком много узнал. А такое, как мы сегодня увидели, в Кремле не прощают.[/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Alexander Klaskowski/Pozirk: Jede Menge Probleme für Lukaschenko

    Was passiert nun mit den Wagner-Söldnern in Belarus? Mit dieser Frage beschäftigt sich der belarussische Journalist Alexander Klaskowski auf Pozirk.

    [bilingbox]

    Lukaschenko kann den Tod des Wagner-Chefs nutzen, um die Spannungen in den Beziehungen zu den Nachbarländern der Europäischen Union und der NATO etwas zu senken.
    Eine andere Frage ist, ob Putin es eilig hat, diese toxische Mannschaft [die Wagner-Söldner – dek] einzusammeln oder dem belarussischen Machthaber zumindest Geld für den Unterhalt dieser problematischen Gäste zu geben. […]
    In jedem Fall hat der „kleine Bruder”, der in diesem Stück einen PR-Coup als Retter Russlands beim blutigen Aufstand leisten wollte, ordentlich viele Probleme übergeholfen bekommen.

    ~~~

    Лукашэнка можа скарыстаць смерць кіраўніка ПВК, каб трохі разрадзіць напружанне ў дачыненнях з суседнімі краінамі Еўразвязу і НАТО.
    Іншае пытанне, ці паспяшаецца Пуцін забіраць гэты таксічны актыў або хаця б даць грошай на ўтрыманне гэтых праблемных для беларускага правіцеля гасцей.

    В любом случае «младший брат», который хотел пропиариться в этом сюжете как спаситель России от кровавого бунта, получил на свою голову кучу проблем. 

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    erschienen am 24.08.2023, Orignal

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  • Bystro #37: Ist das „Genozid-Gesetz“ in Belarus Geschichtsklitterung?

    Bystro #37: Ist das „Genozid-Gesetz“ in Belarus Geschichtsklitterung?

    Belarus und seine Bevölkerung haben im Zweiten Weltkrieg immens gelitten: unter der Nazi-Besatzung zwischen 1941 und 1944, dem Holocaust, der Vernichtungspolitik und der sogenannten Partisanenbekämpfung sowie unter den Schlachten selbst. Insgesamt gab es auf dem Territorium der damaligen BSSR mehr als zwei Millionen Opfer. Ein Gesetz, das der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko Anfang 2022 unterschrieben hat, stellt die Leugnung des „Völkermordes am belarussischen Volk“ nun unter Strafe – es drohen bis zu fünf Jahre Haft, bei Wiederholung bis zu zehn. „Die Umsetzung des Gesetzes wird dazu beitragen“, verlautbarte die staatliche Nachrichtenagentur Belta, „dass die Ergebnisse des Großen Vaterländischen Krieges nicht mehr verfälscht werden und der Zusammenhalt der belarussischen Gesellschaft gewahrt bleibt.“ 

    Was hat es mit dem Vorhaben auf sich? Schon im Vorfeld ist um das umstrittene Gesetz unter Historikern eine Debatte entbrannt. Was wird überhaupt unter dem „belarussischen Volk“ verstanden? Ist dieses weitreichende Gesetz selbst ein Versuch, Geschichte zu verfälschen? Geht es um echte Aufarbeitung oder darum, Geschichte zu instrumentalisieren und abweichende Meinungen im Keim zu unterdrücken? 

    Diese und andere Fragen beantwortet der belarussische Historiker Alexander Friedman in einem Bystro.

    1. Am 5. Januar 2022 hat Alexander Lukaschenko das Gesetz „Über den Völkermord am belarussischen Volk“ unterzeichnet. Worum geht es darin genau?

    In diesem Gesetz wird die offizielle Sicht der belarussischen Führung auf den Zweiten Weltkrieg und die NS-Verbrechen auf dem Territorium von Belarus formuliert. Damit wurde politisch beschlossen, diese Verbrechen zum „Genozid am belarussischen Volk“ zu erklären. Die Verabschiedung des Gesetzes wurde von langer Hand vorbereitet und kam nicht überraschend. Der Zweite Weltkrieg ist sowohl in Putins Russland als auch in Lukaschenkos Belarus ein historisches Schlüsselthema und wird seit Langem für politische, ideologische und propagandistische Zwecke instrumentalisiert. In der aktuellen Situation – nach den Protesten gegen das Lukaschenko-Regime im Jahr 2020 und mit Blick auf Russlands Krieg gegen die Ukraine – dient es dazu, die Bevölkerung in der Konfrontation mit den USA und der EU um die Diktatoren zu scharen.  
    Das Gesetz hat repressiven Charakter und zwingt der Gesellschaft ein Narrativ auf, das seit der Sowjetzeit bekannt ist und jetzt an die Bedürfnisse der Lukaschenko-Diktatur angepasst wurde, als verzerrtes Schwarz-Weiß-Bild der Welt: hier das „Gute“ – die UdSSR und ihr geistiges Erbe in Gestalt der Russisch-Belarussischen Union –, dort das „Böse“ – die Nazis und der „kollektive Westen“ als ihr geistiges Erbe. Im Großen Vaterländischen Krieg, so heißt es, hat das Böse versucht, das Gute zu vernichten und im 21. Jahrhundert wiederholt sich nun die Geschichte.

     

    2. Was wird im Gesetz unter der Bezeichnung „belarussisches Volk“ verstanden?

    Bei der Ausarbeitung des Gesetzes hat das Lukaschenko-Regime drei Formulierungen verwendet: Genozid „am belarussischen Volk“, „am Volk von Belarus“ und sogar: „an den Völkern von Belarus“. Die beiden letzten, neutraleren Versionen sind verworfen worden, weil beschlossen wurde, den Akzent auf das „belarussische Volk“ zu legen und praktisch die gesamte Bevölkerung der Vorkriegs-BSSR, die in ethnischer, religiöser und sprachlicher Hinsicht sehr vielfältig war, darin aufgehen zu lassen. Dieser Begriff wird den verschiedenen Opfergruppen, die es gab, auch sonst nicht gerecht: den ermordeten Juden im Holocaust und den Getöteten in der Zivilbevölkerung, den Gefallenen an der Front oder den Opfern aus dem Feldzug der Nazis gegen die Partisanenbewegung, um nur einige zu nennen.
    Das Gesetz wurde ganz bewusst so gestaltet, um der Bevölkerung von Belarus das Verständnis des Begriffs zu erleichtern und dem „Genozid am belarussischen Volk“ durch eine höhere Opferzahl mehr Gewicht zu verleihen. Der Begriff „Genozid“ allein reicht Lukaschenko und seinem Umfeld nicht aus. Er braucht maximale Verlustzahlen, um die belarussische Bevölkerung und die Weltgemeinschaft zu beeindrucken. Auch den Entschädigungsforderungen, die voraussichtlich an Deutschland auf Grundlage des neuen Gesetzes gestellt werden, soll dieser Begriff zusätzliches Gewicht verleihen. 
     

    3. Auf welchen Zeitraum zielen das Gesetz und somit das Verständnis der Begriffswahl „am belarussischen Volk“ denn genau ab?

    Das Gesetz bezieht sich auf den Zeitraum von 1941 bis 1951. Sowjetische Verbrechen im westlichen Belarus werden dabei aus ideologischen Gründen ausgeklammert. Außerdem wird die Nachkriegszeit bewusst einbezogen, um die damaligen polnisch-belarussischen Konflikte zum Thema zu machen. Schließlich gehört Polen in den Propaganda-Narrativen des Regimes heute zu den westlichen Staaten, die 2020 der offiziellen Erzählung nach über die Proteste einen Putsch gegen das Lukaschenko-Regime initiieren wollten. 
    In dem Gesetz werden alle Bürger der Sowjetunion, die sich im genannten Zeitraum auf dem Territorium von Belarus aufgehalten haben, zum „belarussischen Volk“ gezählt und dabei nivelliert, darunter auch Juden und Roma und auch Zuwanderer aus anderen Sowjetrepubliken. Im November 2021 hat Lukaschenko in einem Interview mit der BBC erklärt, Belarussen und Juden hätten während des Krieges das größte Leid erfahren. Aus seinen Worten geht klar hervor, dass er jüdische Menschen nicht als Teil des belarussischen Volkes ansieht; er zieht bewusst eine Grenze zwischen den Juden in Belarus und den Belarussen. Das Widersprüchliche daran: Das hindert ihn nicht, die jüdischen Opfer zu Opfern des „Genozids am belarussischen Volk“ zu erklären. Das Lukaschenko-Regime braucht zur Rechtfertigung die größte Zahl an Opfern, die irgend denkbar ist.
     

    4. In Bezug auf den Holocaust wird also die sowjetische Tradition der Legendenerzählung zum „Großen Vaterländischen Krieg“ übernommen?

    Der Einfluss der sowjetischen Tradition ist ganz offensichtlich. Die belarussische Führung war es seit jeher gewohnt, jüdische Menschen als solche weder zu erwähnen noch wahrzunehmen und verfolgt im Wesentlichen weiterhin diesen Kurs. Zu Sowjetzeiten wurde die Herkunft der jüdischen Opfer vertuscht, indem sie als „(friedliche) sowjetische Bürger“ bezeichnet wurden. Jetzt werden sie zum „belarussischen Volk“ erklärt.
    In der sowjetischen Erinnerungskultur kam der Holocaust nur am Rand vor. Und in der postsowjetischen Zeit galt er in Belarus als „jüdisches“ Thema. Die jüdischen Opfer galten als „unsere“, aber ihr Schicksal wurde als Tragödie der „anderen“ betrachtet. Nun hat man sich der jüdischen Opfer „erinnert“ – aber nicht mit Blick auf ihre Herkunft, sondern um sie im „belarussischen Volk“ aufgehen zu lassen. 
    Auf die Juden als solche besinnt sich das Lukaschenko-Regime nur, wenn es Israel oder den USA Avancen machen will. Die Verschwörungstheoretiker in den herrschenden Kreisen von Belarus glauben offenbar, dass die (westliche) Welt von Juden beherrscht werde und sie dieser vermeintlichen „Tatsache“ Rechnung tragen müssten.
     

    5. Ist diese Form des Antisemitismus ein fester Bestandteil in der Propaganda Lukaschenkos?

    In Belarus ist die Meinung verbreitet, es gebe dort praktisch keinen Antisemitismus und dass es ihn auch nie gegeben habe. Das stimmt natürlich nicht. Die Geschichte des Antisemitismus in Belarus ist noch sehr wenig erforscht.
    Und obwohl es nur noch wenige Juden im Land gibt, scheut die staatliche Propaganda nicht vor Antisemitismus zurück. Er taucht auf, sobald oppositionelle Journalisten und Intellektuelle oder ukrainische und westliche Politiker mit jüdischen Wurzeln das Regime attackieren. Dabei ist der Einfluss antisemitischer Narrative aus Russland in Belarus ziemlich stark zu spüren. Lukaschenko selbst hat keine Hemmungen, sich – offen oder verdeckt – antisemitisch zu äußern. Ein Beispiel dafür: Als Wolodymyr Selensky Russlands Angriff auf die Ukraine mit dem Angriff Nazideutschlands auf die UdSSR verglich, sagte Lukaschenko, der ukrainische Präsident, „der seiner Nationalität nach Jude ist“, solle sich bei diesem Thema „bedeckt halten und schweigen“ und behauptete, Belarussen seien bei der Verteidigung von Juden in der Ukraine und in Belarus gefallen.
    Für Lukaschenko ist Selensky also in erster Linie ein „Jude“, der nicht das Recht hat, über die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs zu sprechen und den Belarussen noch dankbar dafür sein muss, dass sie sein Volk vor dem Genozid der Nazis gerettet hätten. 

     

    6. Es gab seit 2020 auch zahlreiche Repressionen gegen Historiker und Wissenschaftler. Steht dieses  Vorgehen im Zusammenhang mit diesem Gesetz?

    Das Lukaschenko-Regime braucht eigentlich keine speziellen Gesetze, um Historiker und Wissenschaftler zu verfolgen. Mit dem jetzt verabschiedeten Gesetz wird allerdings tatsächlich ein neuer Straftatbestand geschaffen: die öffentliche Leugnung des „Genozids am belarussischen Volk“. Es drohen bis zu zehn Jahre Haft. 
    Es kann und wird höchstwahrscheinlich sowohl gegen Wissenschaftler als auch gegen den Normalbürger verwendet werden. Man darf sich da nichts vormachen. Es gab schließlich auch schon Anklagen wegen „Rehabilitierung des Nationalsozialismus“, wie beispielsweise gegen den belarussischen Journalisten Andrzej Poczobut von der polnischen Gazeta Wyborcza, der sich seit April 2021 in Haft befindet.

     

    7. Wie reagiert die im Land verbliebene Wissenschaft auf das Gesetz?

    Als über das Gesetz beraten wurde, gab es tatsächlich Diskussionen, allerdings außerhalb von Belarus. Schon vorher hatten es Historiker – besonders die, die sich mit Stalins Verbrechen und den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs befassten –, in der Ära Lukaschenko schwer und waren immer Repressionen ausgesetzt. Jetzt bleiben den Experten für Kriegsgeschichte, die sich noch in Belarus befinden, im Grunde noch vier Optionen: Sie können sich den neuen Begriff zu eigen machen und propagieren, sei es aus Überzeugung oder aus Opportunismus; sie können ihren Forschungsschwerpunkt auf weniger brisante Themen verlagern; sie können ihren Beruf aufgeben oder das Land verlassen. Offene Kritik an dem aufgezwungenen Begriff kann schwerwiegende Folgen bis hin zu Gefängnisstrafen nach sich ziehen. 

    8. Mit dem Gesetz geht es also alles andere als um Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen? 

    Die Erforschung und Aufarbeitung der Kriegsereignisse – einschließlich eines so schwierigen Themas wie der Beteiligung der lokalen Bevölkerung an den NS-Verbrechen gegen die Juden – kann das Anliegen einer demokratischen Gesellschaft sein, die Wesen, Ausmaß, Ursachen und Folgen der Gräueltaten begreifen möchte. Eine solche Gesellschaft will historische Erfahrungen nutzen, um sich weiterzuentwickeln. Das diktatorische Regime Lukaschenkos hat dieses Anliegen nicht und kann es auch gar nicht haben. Auf offizieller Ebene behandelt man die Geschichte in Belarus lieber nach dem Grundsatz „Geschichte ist in die Vergangenheit gekippte Politik“, es geht um die angesprochene Instrumentalisierung. Und in dieser Hinsicht nutzt Lukaschenko Geschichte auch, um seinen Machterhalt zu sichern. Das neue Gesetz dient dazu, Dissens schon im Ansatz zu verhindern, die eigenen Vorstellungen von der Vergangenheit durchzusetzen und damit die Position des Regimes zu festigen.

     

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Alexander Friedmann 
    Übersetzer: Anselm Bühling
    Veröffentlicht am: 18. Mai 2022

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