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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Abhängig – die Öl-Krankheit

    Abhängig – die Öl-Krankheit

    Russland ist der zweitgrößte Erdölexporteur der Welt, dennoch lebt ein großer Teil der Gesellschaft in Armut. Obwohl der Ölpreis seit 2016 relativ hoch ist, sinkt im Land das Realeinkommen. Wie geht das zusammen?

    Was auf den ersten Blick unlogisch klingt, ist fast überall zu beobachten: Venezuela, Irak, Nigeria – die Liste der Länder mit reichen Ressourcen und armen Menschen ist lang. Für all diese Länder sind Rohstoffe kein Segen, sondern ein Fluch – ein Ressourcenfluch. Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist die holländische Krankheit: In den 1960er Jahren wurden in den Niederlanden große Erdgasvorkommen entdeckt. Durch die gestiegenen Exporterlöse ist auch die Landeswährung gestiegen, was die Exporte verteuerte und damit auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit anderer Wirtschaftssektoren schwächte.

    In Russland läuft es jedoch anders: Schon 2018 dümpelte der Rubelkurs dahin, während der Ölpreis relativ hoch war – ein Phänomen, das der Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew analysierte. 

    Woran krankt die russische Wirtschaft? Eine vieldiskutierte Diagnose stellt der russische Historiker Alexander Etkind. In seinem kürzlich erschienen Buch Priroda sla: Syrje i gossudarstwo (dt. Die Natur des Bösen: Rohstoffe und Staat) seziert der Geschichtsprofessor das Wirtschaftssystem Russlands und umreißt dabei ein neues Krankheitsbild: die russische Krankheit. Kommersant-Ogonjok bringt Auszüge aus dem Buch.

    Rohstoffabhängigkeit – das ist ein gut untersuchtes Phänomen in der Politikwissenschaft. Der wichtigste Schluss, den man aus der reichhaltigen Literatur zum Ressourcenfluch ziehen kann, ist der, dass an dieser Abhängigkeit nichts Fatales ist. Ist man sich erstmal darüber im Klaren, welche Gefahren sie birgt, so kann man diese mit ernsten, konzentrierten Anstrengungen überwinden. Rohstoffabhängigkeit ist eben kein Fluch, sondern eine freie Entscheidung. Je höher die Ölpreise und je weniger produktiv die übrige Volkswirtschaft, umso verführerischer ist die Falle.

    Rohstoffabhängigkeit ist eben kein Fluch, sondern eine freie Entscheidung

    Der Wirtschaftswissenschaftler und Politologe Michael Ross hat vier Besonderheiten von Einnahmen aus dem Ölgeschäft aufgeführt: Sie sind riesig (die Regierungsapparate in Ölstaaten sind um die Hälfte größer als die ihrer Nachbarn, die über keine Ölvorkommen verfügen); ein großer Teil des Haushalts hängt nicht von den Steuerleistungen der Bürger, sondern von direkten Einnahmen aus Staatsbesitz ab; diese Einnahmen wiederum sind instabil, weil sie vom Ölpreis auf den Weltmärkten und den natürlichen Bedingungen abhängen; und schließlich sind die Einnahmen intransparent und geheim. So kann sich die Elite optimal an Öleinnahmen bereichern. Aufgrund des geringen Arbeitsaufkommens sind Ölstaaten unabhängig von der Bevölkerung: Die wird nicht wirklich gebraucht, solange sie nur bitte keine Unruhe stiftet.

    Daher ist für solche Staaten eine Art Stände-Struktur kennzeichnend – die strikte Trennung zwischen einer unabsetzbaren, im Luxus lebenden, wohlbewachten Elite einerseits, und der Bevölkerung andererseits, die erst vor kurzem der Naturalwirtschaft entwachsen ist. 

    Die Elite rechtfertigt ihre Existenz stets mit ihren Managerfähigkeiten und ihrer Sorge für die Menschen. Und tatsächlich kann die Elite einen Teil der Mehreinnahmen an die Bevölkerung umverteilen. Da die Empfänger dieser Wohltaten aber keine Möglichkeit haben, auf die Mehreinnahmen einzuwirken, bleiben diese Ausgaben oft unproduktiv. Das politökonomische Prinzip der Demokratie – „no taxation without representation“ – funktioniert in Ölstaaten nicht, weil diese eben nicht von Steuern abhängig sind. Allein das Öl vermag es, Finanzströme zu generieren, die den Steuereinnahmen ganzer Staaten entsprechen. Frühere Formen der Ressourcenabhängigkeit – etwa von Zucker oder Wolle – waren partieller Natur: Die Elite versklavte zwar einen Teil der Bevölkerung, doch der andere Teil blieb frei. Öl versetzt fast alle in Abhängigkeit. Es führt nicht zu totaler Sklaverei, bringt aber auch keine echte Freiheit.

    Öl versetzt fast alle in Abhängigkeit. Es führt nicht zu totaler Sklaverei, bringt aber auch keine echte Freiheit

    Nach UNO-Angaben ist die Ausbeutung von Bodenschätzen weltweit – neben der Rüstungsindustrie – derjenige Wirtschaftssektor mit der stärksten Gender-Ungleichheit. Zu dem einen Prozent der Bevölkerung, das in der Öl- und Gasindustrie beschäftigt ist, muss man weitere rund fünf Prozent hinzurechnen, die die Pipelines, Geldströme und Oligarchen bewachen. All diese Soldaten, Offiziere und Wachleute sind ebenfalls Männer. Die politökonomischen und die genderpsychologischen Merkmale dieses Menschentyps lassen sich mit dem Begriff „Öl-Macho“ zusammenfassen. 
    Dann ist da noch die große Gruppe der Juristen (in Russland sind das ein Prozent der Bevölkerung, vier Mal so viel wie in Deutschland), die damit beschäftigt ist, Konflikte zu klären. Ihre Hauptaufgabe ist nicht Kapital zu generieren, sondern zu schützen, die Banken und Pipelines zu bewachen, die Grenzen gegen Feinde zu verteidigen und die Elite vor der Bevölkerung zu schützen. 

    Insgesamt entstehen so zwei Klassen von Bürgern: Eine privilegierte Minderheit, die die kostbare Ressource fördert, schützt und mit ihr handelt – und alle anderen, deren Existenz von der Umverteilung der Rente aus diesem Handel abhängt. Diese Situation schafft starre, fast schon ständische Strukturen. 

    Starre, fast schon ständische Strukturen

    So wie der Schutz vor Piraten eine Schlüsselaufgabe zu Zeiten des Tabak- und Zuckerhandels war, nimmt auch in der ölabhängigen Volkswirtschaft das Sicherheitspersonal eine herausgehobene Stellung ein. Der kritische Punkt ist nicht die Förderung, sondern der Transport, besonders dessen Sicherheit. Daher stehen an der Spitze ölfördernder Länder nur selten Ölindustrielle – sondern eher Militärs oder Geheimdienstler, also Fachleute für Sicherheitsfragen.

    Im idealtypischen Fall verwandelt sich das Land in einen Öl- und Gaskonzern, der externen Verbrauchern direkt die Rohstoffe liefert und für die Sicherheit der Förderung, des Transports und des Exports sorgt. [In Russland – dek] gelingt das aber nicht. Hier leben viele, die eine solche Konstruktion stören. Zwei Drittel des in Russland geförderten Gases und ein Viertel des Erdöls werden im Lande selbst gebraucht. Die Regierung sucht nach Wegen, diesen Verbrauch zu senken. 

    Aus der Sicht eines Staates, der vom Ölexport lebt, ist die Bevölkerung überflüssig. Das heißt nicht, dass die Menschen leiden und sterben müssen. Der Staat kümmert sich um sie, aber nur soweit, wie es dem Staat genehm ist. Statt selbst zur Quelle des Volksvermögens zu werden, verwandelt sich die Bevölkerung in ein empfangendes Objekt der Wohltätigkeit, die von Seiten des Staates gewährt wird.

    Statt selbst zur Quelle des Volksvermögens zu werden, verwandelt sich die Bevölkerung in ein empfangendes Objekt der Wohltätigkeit, die von Seiten des Staates gewährt wird

    Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hat sich die Entwicklung weltweit beschleunigt – außer in den OPEC-Staaten, wo das jährliche Wirtschaftswachstum negativ war. Nach 1973 hat sich die Produktion der OPEC-Staaten kaum verändert, während andere ölfördernde Staaten ihre Produktion vervierfachten. Die politischen Prozesse unterschieden sich zwar, doch zeugen die Zahlen von Kapitalflucht, zunehmender Ungleichheit, patriarchalen Strukturen und von Ineffizienz – also den typischen Merkmalen von Ölnationen.

    1977 beschrieb The Economist die holländische Krankheit, den wirtschaftlichen Rückgang, der in den Niederlanden erfolgte, nachdem in der Nordsee unweit von Groningen Gasvorkommen entdeckt worden waren. Selbst in diesem entwickelten Land hatte das Entstehen eines mehr als gewinnträchtigen Wirtschaftssektors dazu führen können, dass andere Branchen unterdrückt wurden. 

    Allein das Öl vermag es, Finanzströme zu generieren, die den Steuereinnahmen ganzer Staaten entsprechen / Foto © Acodered/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0
    Allein das Öl vermag es, Finanzströme zu generieren, die den Steuereinnahmen ganzer Staaten entsprechen / Foto © Acodered/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

    Trotzdem haben die Niederlande, und nach ihnen Norwegen, Kanada und Australien die Probleme mit Rohstoffexporten überwunden. Man hatte gelernt, die holländische Krankheit dadurch zu heilen, dass die Öldollars in Staatsfonds flossen – grundlegend neue staatlich-gelenkte Institutionen.
    In Russland, im Iran, in Venezuela und Nigeria können wir einen Teufelskreis der Rohstoffabhängigkeit beobachten. Diese Staaten zerstören Humankapital, weil sie Rohstoffe fördern und dabei keine vernünftige Verwendung von Rohstoffeinnahmen auf die Beine stellen. Wenn sie sich dann mit mangelnder Kompetenz, schrumpfender Produktivität und kaputten Institutionen konfrontiert sehen, werden sie noch abhängiger von den natürlichen Ressourcen. Diese Gesellschaften kommen von einer Krise in die nächste und verschmutzen dabei die Umwelt. Folge dieser umgekehrten Entwicklung ist eine Entmodernisierung, der Verlust des bereits erreichten Bildungs- und Gleichheitsniveaus, die zunehmende Lähmung der Gesellschaft und die Willkür des Staates. 

    Ein Musterbeispiel hierfür ist Russland mit seinem Ressourcenreichtum, seinem ungesicherten Recht auf Eigentum, seinem politischen Autoritarismus und seinen Rekorden, was das Thema Ungleichheit angeht.

    Die holländische Krankheit ist eine Kombination aus Ressourcenabhängigkeit und guten oder wenigstens passablen Institutionen. Folglich können wir also die Kombination aus Rohstoffabhängigkeit und schlechten Institutionen als „russische Krankheit“ bezeichnen.

    Die Kombination aus Rohstoffabhängigkeit und schlechten Institutionen können wir als ,russische Krankheit‘ bezeichnen

    Russland hat in den vergangenen 18 Jahren aufgrund des Öl- und Gasexports im Schnitt zehn Prozent mehr exportiert als importiert. Das ergibt in der Summe weitaus mehr als die 200 Prozent kumulativen Wirtschaftswachstums. Allerdings sind die dabei berücksichtigten Vermögensposten, staatliche wie private, sehr viel langsamer gewachsen. Grund hierfür war die Kapitalflucht

    Das Offshore-Vermögen in russischen Händen beläuft sich auf 800 Milliarden US-Dollar oder 75 Prozent des jährlichen Nationaleinkommens. Das Vermögen im Ausland ist genauso groß wie sämtliche Vermögen innerhalb Russlands. Mit anderen Worten: Die aktiven Wirtschaftseinheiten (einschließlich Regierung, Unternehmen und Bürger) haben ihr Kapital zur einen Hälfte im Ausland und zur anderen Hälfte in Russland. Diese Kapitalausfuhr wird durch den Charakter der russischen Einnahmen begünstigt: Von allen Bereichen der Weltwirtschaft ist der Ölsektor weltweit der intransparenteste. Einmal ausgeführt, nimmt dieses Kapital – eine umgewandelte Energieform – an unterschiedlichen Orten unterschiedliche Qualitäten an: in der Schweiz die eines Bankkontos, in Frankreich die eines Chalets, in Deutschland die eines Unternehmens, in den USA die von Aktien. 

    Juristisch blieben diese Vermögenswerte zwar umstritten, doch Streitereien waren jeweils schnell beendet, da das in jeder Hinsicht beträchtliche Kapital auch der Empfängerseite nützt: Eine Schweizer Bank erhält Gebühren, Londoner Immobilien steigen im Wert und neue Unternehmen bringen den Ländern, in denen sie ihren Sitz haben, Steuereinnahmen. 
     
    Betrachten wir also einmal eine typische Situation in den internationalen Beziehungen, nämlich den Handel zwischen zwei Staaten: einem ressourcenabhängigen und einem, der auf Arbeitskraft setzt. Das ist ein Spiel zu zweit, bei dem der eine kostbare Ressourcen verkauft, der andere sie einkauft und sie dann in ein Produkt der Arbeitsleistung seiner Bevölkerung umwandelt. Die klassische Politökonomie mit ihrer Arbeitswerttheorie bezieht sich nur auf eine der beteiligten Seiten, nämlich den Staat, der auf Arbeitskraft setzt, und beschreibt nicht die Probleme des ressourcenabhängigen Staates. 

    Die Politökonomie lehrt, dass ein Staat, der auf Arbeitskraft setzt, aus Sorge um seine Effizienz die innere Konkurrenz, Eigentumsrechte und das öffentliche Wohl stärkt sowie technischen Fortschritt und soziale Mobilität gewährleistet. Das alles bleibt in einem ressourcenabhängigen Staat aus, weil die Herrschenden es für ihr staatliches Gewerbe nicht benötigen. In einem solchen Land existieren das Öl und die Ölindustrie und die (bei der Förderung überflüssige) Bevölkerung jeweils für sich. Das alles ist hinlänglich als Ressourcenfluch bekannt: Die Institutionen entwickeln sich nicht, die Natur degeneriert, die Bevölkerung verkümmert. Das ist aber noch nicht alles.

    Die Institutionen entwickeln sich nicht, die Natur degeneriert, die Bevölkerung verkümmert. Das ist aber noch nicht alles

    Da die Herrscher des Ressourcenstaates die Eigentumsrechte in ihrem Land nicht sicherstellen, sind sie auch nicht in der Lage, sich auf ihr eigenes Kapital zu verlassen, dieses im Land zu halten und es an ihre Kinder weiterzugeben. Die Herrschenden leiden gemeinsam mit ihren Untertanen unter dem Mangel an öffentlichen Gütern – wie etwa fairen Gerichten oder sauberer Luft.

    So erfolgt der nächste Schritt: Die Elite des ressourcenabhängigen Staates hortet ihre Guthaben in Staaten, die auf Arbeitskraft setzen. Selbst wenn diese Gelder dort nach unten durchsickern und den Armen und Kranken zugutekommen, so geschieht das nicht am Ort ihrer Herkunft, sondern an ihrem Aufenthaltsort. Das ist auch der Ort, wo die Elite ihre Konflikte löst, ihre Häuser kauft und wo ihre Familien leben. Auf paradoxe, wenn auch nachvollziehbare Weise investiert diese Elite in genau jene Institutionen, die sie bei sich zu Hause ignoriert oder sogar zerstört: in faire Gerichte, gute Universitäten und saubere Parks.

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  • Welche Veränderungen hat 2014 gebracht?

    Welche Veränderungen hat 2014 gebracht?

    Russische Wissenschaftler, Philosophen und Intellektuelle antworten auf die wichtigste Frage des Jahres.

    Oleg Aronson, Philosoph

    Was dieses Jahr geschehen ist, hatten viele bereits auf die eine oder andere Weise vorhergeahnt. Dennoch ist es nicht leicht, über die Veränderungen im Jahr 2014 zu reden. Meiner Meinung nach betreffen sie nicht nur die politischen und wirtschaftlichen Umstände, sondern vor allem etwas, das ich unser moralisches Gespür nennen würde. Man kann zwar kaum sagen, dass dieses Gespür selbst nun ein anderes wäre als vorher, aber es war im vergangenen Jahr intensiven Attacken ausgesetzt, Attacken auf die Emotionen und das Bewusstsein: 2014 war ein Kriegsjahr, mit allem, was dies mit sich bringt.

    Der Krieg in der Ukraine ist in keiner Weise ein lokaler Konflikt und auch nicht einfach nur eine politische Rivalität unter Staaten oder eine banale Aggression. Die globale Welt, in der wir leben, hat die Epoche der Eroberungskriege bereits hinter sich, heute rennt niemand mehr geopolitischen Phantasmen hinterher. Welche Kriege in einer globalen Welt möglich sind, können wir uns bislang überhaupt nur begrenzt vorstellen: Wir wissen das eine oder andere über die Einsätze der USA im Irak oder in Afghanistan, aber diese Erfahrungen kann man nicht übertragen, denn bei diesen Kriegen wird der Feind noch im klassischen Sinne verstanden. Der Krieg in der Ukraine ist etwas anderes, er hat eher Ähnlichkeit mit einem Bürgerkrieg, allerdings mit einem, der nicht innerhalb der Ex-UdSSR vor sich geht, sondern auf dem Territorium der globalisierten Welt als ganzer.

    In diesem Krieg offenbart sich, wie vollkommen unangemessen sich Russland derzeit politisch gesehen verhält. Mehr als alles sonst fällt ein vollkommen unverhohlener Zynismus ins Auge. Je mehr die Politiker über Frieden sprechen, desto mehr entsteht der Eindruck, dass der Frieden an sich unmöglich ist.

    Ich denke, dass in einer wirtschaftlich globalisierten Welt alle Kriege die Tendenz haben, zu Bürgerkriegen zu werden, also zu Kriegen, in denen es keinen politischen Freund oder Feind gibt, oder es sie nur der Bezeichnung nach gibt, und in denen das Politische sich überhaupt als eine Fiktion erweist. Diese Art von Kriegen findet sozusagen im  Mass-Media-Modus statt. Die Kriegshandlung selbst ist dabei nur eine besondere Art von Effekt – wenn auch ein besonders dramatischer. Wir alle wissen, dass es Opfer gibt. Aber der eigentliche Krieg wird mit den Waffen der Medien geführt, und mit diesen Waffen wird im Grunde auch getötet. Beenden kann man solch einen Krieg nur, indem man die Medien radikal depolitisiert. In Russland sehe ich dafür bislang keine Anzeichen.

    In der globalen Welt braucht Krieg keinen konkreten Feind mehr. Der Krieg selbst verdrängt an Wichtigkeit den Gegner. Auch die Ukraine ist eigentlich ein zufälliger Feind. Im Grunde spielt die Trennung in politische Freunde und Gegner keine Rolle mehr, der Gegner kann jeder sein. Für die Politik ist nur wichtig, dass der Krieg weitergeht.

    Michail Gelfand, Professor für Bioingenieurwesen und Bioinformatik an der Lomonossow-Universität Moskau

    Der Krieg in der Ukraine, den Russland angezettelt hat, hat ausnahmslos alles verändert. Alle weiteren Ereignisse dieses Jahres sind Folgen dieses Krieges.

    Ljudmila Petranowskaja, Psychologin

    Die wichtigste Veränderung, was Russland angeht, besteht darin, dass von staatlicher Seite der Gesellschaftsvertrag annulliert worden ist. Dieser Vertag war bisher seinem Wesen nach ein Handel: Die Bürger verzichteten auf jegliche Kontrolle der staatlichen Machtausübung und erhielten dafür ein Grundmaß an Wohlstand und Stabilität. Im vergangen Jahr wurde den Bürgern dann gesagt, der Posten „Stabilität“ sei auszutauschen gegen den Posten „Großmacht“. Das sah für viele erst einmal verlockend aus. Aber schon gegen Ende des Jahres stellte sich heraus, dass von der Stabilität so gut wie gar nichts mehr übriggeblieben ist, der Wohlstand von Tag zu Tag dahinschmilzt, und mit der Großmacht hat es auch nicht so recht geklappt. Russland hat sich mit der ganzen übrigen Welt zerstritten, eine Menge alter Freunde verloren und seine Ziele nicht erreicht – mit Ausnahme desjenigen der Krim vielleicht. Aber auch da ist derzeit alles andere als klar, wie es weitergehen soll. Es wurde viel versprochen, aber nichts vollbracht. Faktisch gibt es jetzt überhaupt kein irgendwie greifbares Abkommen zwischen der Bevölkerung und der Staatsmacht mehr. Und das ist eine einschneidende Veränderung, denn zuvor gab es über 15 Jahre hinweg solch ein Abkommen und praktisch immer in der gleichen Form. Wie diese Situation sich weiterentwickelt, werden wir im nächsten Jahr erleben.

    Olga Sedakowa, Lyrikerin und Übersetzerin

    Das Jahr 2014 war nach meinem Empfinden eine Katastrophe. Wir (damit meine ich unser Land) haben eine ganz bestimmte Linie überschritten, und es gibt keinen Weg mehr zurück. Oder wenn es ihn gibt, dann ist er sehr schwierig zu finden. Zu Gorbatschows Zeiten sprach man von „allgemeinen menschlichen Werten“: Humanismus, Achtung vor dem Gesetz, eine generelle Vernünftigkeit, historische Zurechnungsfähigkeit … Dagegen ist das ganze abstoßende Gerede, das wir stattdessen jetzt als unsere angebliche nationale Identität serviert bekommen sollen, wirklich nichts als Schwachsinn. Es ist eine Mischung aus Protonazismus und Neostalinismus. (Neu ist in diesem Stalinismus allerdings die totale Gewissenslosigkeit: Zu Stalinzeiten hat man die Grausamkeit und Gemeinheit des Regimes versteckt oder wenigstens verschwiegen, nun aber zeigt man sie stolz herum). Hass und bisher nie dagewesene Dreistigkeit – das ist die Tonart der Musik, die jetzt gespielt wird.

    Ich habe in meinem ganzen langen Leben noch nie solch einen Unsinn gehört, wie man ihn jetzt überall zu hören bekommt. Und nicht nur in den Medien, obwohl die natürlich den Ton angeben. Auch unsere Mitbürger greifen das alles freudig mit auf! Man hört diese Obszönitäten heute selbst vom Nachbarn, den man noch vor einem halben Jahr für einen anständigen Menschen gehalten hat.

    Der kalte Krieg mit der Welt um uns herum hat begonnen. Und es beginnt auch ein (bisher noch) kalter Bürgerkrieg. Unsere Einschätzung davon, wer auf unserer Seite steht, wer unser nächster ist, hat sich ganz entschieden geändert. Es bricht überall etwas auseinander. In den Familien, im professionellen Umfeld, sogar in den Kirchengemeinden. Und es geht da nicht einfach um einen vorübergehenden Streit, sondern um eine tiefgehende Spaltung. Man hat sich so weit voneinander entfernt, dass eine Kommunikation nicht mehr möglich ist. Alles was bleibt, ist einander zu beschimpfen.

    Das ist natürlich alles nicht von heute auf morgen so gekommen, sondern hat eine Vorgeschichte. Aber was wir jetzt erleben, ist eine Stunde der Wahrheit. Dadurch wird die Lage nicht einfacher. Aber wir können immerhin die Augen nicht mehr davor verschließen, dass eine neue Zeit anbricht und wir uns ihr stellen müssen.

    Alexej Zwetkow, Schriftsteller und Essayist

    Es gibt diese Neujahrstradition, dem auslaufenden Jahr Flüche hinterherzuschicken und darauf zu hoffen, dass das neue Jahr besser wird. Es ist dabei schon fast unwichtig, was im scheidenden Jahr eigentlich gewesen ist, weil wir in jedem Fall etwas Besseres wollen. Dieses Mal ist es allerdings so, dass das vergangene Jahr tatsächlich Flüche verdient und 2015 sich schon sehr anstrengen müsste, um in die gleichen Niederungen abzustürzen. Aber auch das kann geschehen.

    Wer hätte je gedacht, dass 100 Jahre nach dem Beginn eines Krieges, in dem drei Imperien zu Grunde gegangen sind und die ganze damalige Weltordnung dazu, jemand den Versuch unternehmen würde, ein viertes solches Imperium zusammenzuschweißen, und mit derart tragischen Folgen für die Nachbarn. Und tragisch ist das natürlich nicht nur für die Ukraine, die hoffentlich noch die Chance hat, aus diesem ganzen Schlamassel heil herauszukommen. Es ist auch ein Drama für Russland selbst, denn vor uns selbst können wir nirgendwohin fliehen. Und auch die Hoffnung auf die Generation, die nach dem Zerfall der UdSSR aufgewachsen ist und die hätte freier und glücklicher sein sollen als wir, ist auch erst einmal dahin. Wenn es vielleicht auch einem Teil dieser Generation gelingen wird, sich wie Schiffbrüchige irgendwie zu retten. 

    Das Schlimmste ist der Verlust von Freunden – oder von denen, die man für Freunde gehalten hat. Wenn es nur Missverständnisse wären – Missverständnisse kommen nun einmal vor, und es gibt fast immer einer Möglichkeit, sie aufzuklären. Aber jetzt sieht es so aus, als würde sich die gemeinsame Welt, in der man zu leben glaubte, auf immer spalten. Das ist sehr schmerzhaft. An die Toten kann man wenigstens gute Erinnerungen behalten, viel schlimmer ist es, Lebende aus seinem Gedächtnis zu streichen.

    Allerdings sind diejenigen, die man in diesen Zeiten als Freunde behalten hat, dann umso wertvoller. Ganz zu schweigen von denen, die neu dazugekommen sind, zusammen mit der Ukraine, in der diese neuen Freunde leben und aus der ich ursprünglich komme und wo ich nun längst vergessene Kontakte wiedergefunden habe.

    Michail Jampolski, Philosoph

    Im Jahr 2014 hat Russland die Zone von Berechenbarkeit und Rationalität, ja überhaupt die von sinnvollen Kausalitäten verlassen. Alle Normen sind zerstört und das Land ist in eine politische und wirtschaftliche Krise gestürzt. Das soziale Gefüge besitzt keine stabile Konfiguration mehr, es befindet sich in einer Turbulenzzone. In der Systemtheorie nennt man dies ein instabiles Metasystem. In solch einem Zustand kann sich der geringste Einfluss ungeheuer verstärken und zu vollkommen unvorhersehbaren Resultaten führen. Anstelle vorausschauender Planungen kann es jetzt nur noch kurzfristige Überlebensstrategien geben. Man findet in Russland heute keinen einzigen Menschen mehr, der in der Lage wäre, langfristig zu investieren, und das nicht nur, was Geld, sondern auch, was die eigene Kraft angeht. Die Institutionen, welche die Gesellschaft hätten stabilisieren können, sind in ihren Strukturen geschwächt oder überhaupt hinfällig geworden. Das Gefühl, dass sich das ganze politische System nur an einem Menschen festhält – dem Präsidenten – wird immer stärker. Dieses Gefühl hat einen neuen Personenkult hervorgebracht, aber zugleich die Schwächen der Fundamente der russischen Gesellschaft offenbart: Es gibt keine Gerichte, keine politischen Parteien, keine soliden staatlichen Institutionen, keine funktionierende Wirtschaft … Das alles ändert das Bewusstsein der Menschen radikal. Und es bringt alle Maßstäbe von Zeit durcheinander. Eine mögliche 10-jährige Haftstrafe für den Oppositionspolitiker und Blogger Alexej Nawalny entspricht dann fast schon einer lebenslangen Haft – oder nur einer dreimonatigen, man kann es überhaupt nicht sagen. Die Perspektive von Zeit ist überhaupt verschwunden. Es entsteht und verbreitet sich eine Vorahnung des absoluten Systemkrachs. Und diese Transformation der Zeitperspektive und der Erwartungen wird selbst wiederum zu einem gewaltigen Destabilisierungsfaktor. Kurz gesagt, es sieht so aus, als ob das Jahr 2014 das Ende einer ganzen Epoche gewesen ist.

    Alexander Etkind, Philologe und Historiker

    Für Europa und für den Rest der Welt war 2014 das Jahr Russlands. Bei sehr vielen Menschen hat dieses Jahr ihre bisherige Vorstellung über den Charakter des russischen Staates verändert, über seine Legitimität und Lebensfähigkeit. Ich denke, in Russland selbst wird eine solche Neubewertung auch noch stattfinden, vielleicht sogar schon im nächsten Jahr.

    Anna Jampolskaja, Philosophin

    Ein großer Teil meiner Bekannten gehört zu denen, die man in Europa als Linke bezeichnet und in Russland als Liberale. Sie alle sind in eine Art Depression verfallen, ja in Verzweiflung. Es ist klar geworden, dass unsere soziale Gruppe, die sich lange Jahre als intellektuelle Avantgarde der Gesellschaft bezeichnet hat, mit der Mehrheit der Bevölkerung keine gemeinsame Sprache mehr hat. Wir haben keinen Traum mehr, den wir dem Menschen auf der Straße anbieten könnten. Das Wort haben jetzt die Traditionalisten, und sie verkünden: „Vorwärts in die rosige Vergangenheit!“ Und so befinden sich die europäischen ultrarechten und Putinisten derzeit im Aufstieg, und die ehemaligen Revolutionäre und Modernisten können nur wie ein Mantra wiederholen: „Freiheit“, „Gerechtigkeit“ … Diese Worte haben aber durch übermäßigen Gebrauch ihre beschwörende Kraft längst verloren.

    Niemand, auch wir selbst nicht, glaubt noch daran, dass man eine gerechte, freie Gesellschaft erschaffen kann. Wir sind nicht in der Lage, uns selbst, geschweige denn den anderen, ein positives Bild von Zukunft aufzuzeigen. Wir haben keine Hoffnung mehr. Ich denke aber, dass unsere Niedergeschlagenheit, unsere Verzweiflung und intellektuelle Kraftlosigkeit nichts mit einer tatsächlichen oder eingebildeten Besonderheit Russlands zu hat. Sie ist ein Zeichen unserer Zugehörigkeit zum europäischen Schicksal. Und deswegen ist es so wichtig, die Herausforderungen anzunehmen und diese Zeit mit erhobenem Haupt zu überstehen.

    gekürzt – dek.

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    „Der Kommissar ist ein sehr netter Mensch.“