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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Schöne neue Welt?

    Schöne neue Welt?

    Überraschungen seien nicht zu erwarten gewesen, wichtig sei, dass sie sich getroffen haben, sich alles wieder etwas normalisiere. Die eigentliche Arbeit gehe jetzt erst los. So könnte man im Großen und Ganzen die russischen wie deutschen Einschätzungen des Putin-Biden-Treffens am gestrigen Mittwoch, 16. Juni 2021, in Genf zusammenfassen. Dem ging unter anderem voraus, dass Biden im Frühjahr – noch ziemlich frisch im Amt – im TV die Frage „Denken Sie, dass Putin ein Killer ist?“ mit „Das tue ich“ beantwortet hatte.

    Beim gestrigen Treffen in Genf nun einigten sich beide Staatschefs darauf, dass die jeweiligen abgezogenen Botschafter wieder nach Moskau und Washington zurückkehren, in Fragen der Rüstungskontrolle strebe man einen „Stabilitätsdialog“ an. Auch Gespräche über Cybersicherheit seien geplant. Biden sagte zudem, man habe Russland klargemacht, dass die USA Menschenrechtsverletzungen weiterhin kritisieren würden.

    Nach dem Treffen betonten beide Staatschefs in getrennten Pressekonferenzen den konstruktiven Ton der Zusammenkunft. US-Präsident Biden fasste zusammen, dass niemand Interesse an einem neuen Kalten Krieg habe. Inwiefern das Treffen dennoch restaurativen Charakter trage und an Zeiten der alten Bipolarität erinnere – das kommentiert Alexander Baunow auf Carnegie.ru.

    Überraschungen seien nicht zu erwarten gewesen – so der Tenor zum Treffen Bidens und Putins in Genf / Foto © kremlin.ru, CC BY 4.0
    Überraschungen seien nicht zu erwarten gewesen – so der Tenor zum Treffen Bidens und Putins in Genf / Foto © kremlin.ru, CC BY 4.0

    Auch die Russen lieben ihre Kinder – dieser Satz war ein Vorbote für das Ende des Kalten Krieges. Nach dem Gipfel in Genf haben wir von Präsident Putin erfahren, dass Präsident Biden seine Mutter liebt und während der Verhandlungen auf sie zu sprechen kam. Wenn es den Staatsoberhäuptern der beiden Länder nur mit Mühe gelingt, das gemeinsame politische Terrain zu sondieren, so suchen sie es im Einfachen und Menschlichen. 

    Das neue Russland

    Russlands politisches System wird immer weniger westlich, geradezu herausfordernd unwestlich, und das Gipfeltreffen mit dem wichtigsten demokratischen Staatsoberhaupt hat diesen Umbau nicht verlangsamt, sondern, im Gegenteil, beschleunigt. Als hätte man sich bei dem Treffen mit Biden darauf vorbereitet, ein neu formatiertes Russland zu präsentieren, mit dem und über das man spricht.

    Weder im außen- noch im innenpolitischen Verhalten des Kreml gab es vor dem Gipfel Schritte, die als Versuch gelten können, gefallen zu wollen. Ein Angleichen oder auch nur ein Versprechen sich anzugleichen wurde nicht nur aufgeschoben, sondern abgebogen.

    Russlands politisches System wird immer weniger westlich, geradezu herausfordernd unwestlich

    Während des vergangenen Jahres wurde die Entwicklungphase Russlands abgeschlossen, die man symbolisch als Gorbatschow-Jelzin-Etappe bezeichnen könnte. Die Verfassungsänderungen besiegelten den Bruch. Die Vielzahl an Änderungen markieren nicht so sehr den Beginn einer neuen Etappe, vielmehr verleihen sie der Quantität schon angesammelter Änderungen eine neue Qualität und institutionalisieren das Putinsche Russland.

    Putin ist nach Genf gefahren, um dort im Namen dieses neuen Russland zu sprechen, das sich nun nicht mehr entwickelt, indem es Institutionen nach westlichem Vorbild aufbaut oder gar imitiert. Diese Aufgabe ist von der Agenda gestrichen. Russland geht nicht mehr auf einem souveränen Weg auf ein gemeinsames Ziel zu, jetzt ist sein Ziel selbst souverän. 

    Das Neue Russland verzichtet weiterhin nicht auf Marktwirtschaft und prinzipiell offene Grenzen. Aber: Hier muss Glasnost nun nicht zwingend zur westlichen Meinungsfreiheit, Pluralismus nicht zum demokratischen Wettstreit werden und der Markt muss nicht geöffnet werden für Unternehmen aus dem Westen. 

    Und genau deshalb hatte der bevorstehende Gipfel auch keinerlei Einfluss auf den Umgang mit der Opposition und den unabhängigen Medien oder auf die Unterstützung Lukaschenkos. Im Gegenteil: Im Vorfeld des Treffens mit Biden hat der Kreml den Ausbau eines autoritäreren Staates nicht gestoppt, sondern beschleunigt. Die Versuche Bidens (und zuvor ausländischer Journalisten), Putin wegen der Leiden russischer Oppositioneller zu beschämen, prallten auf eine Mauer des Unverständnisses und führten zu Beschuldigungen der Gegenseite. Das Koordinatensystem, in denen solche Anschuldigungen Gewicht haben, existiert für Putin nicht mehr. 

    Aus Russlands Handeln vor dem Gipfel folgt, dass die Diplomatie der Zugeständnisse im Austausch für Lob und Anerkennung kein tragfähiges Modell mehr ist. Moskau will zeigen, dass Zugeständnisse nun gegen Zugeständnisse getauscht werden müssen oder gegen Androhungen von realem Schaden. Also hat Biden eine Liste von 16 Themengebieten entrollt, in denen Cyberattacken Tabu sind: „Drohungen gab es keine, wir haben nur gesagt, wie wir auf eine Verletzung der amerikanischen Souveränität reagieren werden.“ 

    Die Diplomatie der Zugeständnisse im Austausch für Lob und Anerkennung ist kein tragfähiges Modell mehr

    Russland hat hier den Vorteil, dass es ein Land mit höherer Schmerzgrenze ist, das zur Durchsetzung seiner Interessen zu größeren Opfern bereit ist – und dessen Führung sich nicht vor Opposition und Presse verantworten muss. Der Westen stützt sich seinerseits auf eine ganze Bandbreite finanzieller und technologischer Überlegenheiten, mit denen er Druck auf Russland ausüben kann. Im Ergebnis wird nun der zweite Versuch gemacht, eine bilaterale Kommission für Cyber-Gefahren einzurichten – den ersten unter Trump hatten Kongress und Staatsapparat blockiert.

    Das neue Amerika

    Putin brachte das neue Russland mit zum Gipfel, Biden das neue Amerika. Dies ist ein Amerika, das die Beziehungen zu seinen Verbündeten, die Einheit des Westens und das Ansehen der Demokratie wiederherstellt. Bidens Projekt ist dabei offen restaurativ, doch Putins Projekt, zumindest für das System der internationalen Beziehungen, ebenfalls. 

    Die Beziehungen zu Russland müssen von nun an offiziell nicht auf Russlands potentieller Ähnlichkeit zum Westen gründen. Sie sind auch nicht abhängig davon, wie der Westen Russlands Zustand bewertet – sondern sie richten sich ausschließlich auf gemeinsame Interessen in den Bereichen, wo sie denn bestehen, gegen einen gemeinsamen Feind, falls sich so einer finden lässt, um Zusammenstöße dort zu vermeiden, wo sie auftreten könnten.

    Bidens Projekt ist offen restaurativ, doch Putins Projekt ebenfalls

    Darüber hinaus wurde den beiden entscheidenden Supermächten zu den besten Zeiten ihres Zusammenwirkens angeboten, im Interesse der gesamten Menschheit gemeinsam gegen weltumspannendes Übel vorzugehen – angefangen bei Faschismus und Kolonialismus bis hin zur Hilfe für Entwicklungsländer gegen Hunger und Analphabetismus. Die Plattform „gegen den gemeinsamen Feind“ bringt Putin den USA gelegentlich nahe: Er schlägt eine Zusammenarbeit gegen den islamistischen Terror vor, gegen die Pandemie oder die globale Erwärmung. Die amerikanischen Präsidenten waren einer solchen Zusammenarbeit gegenüber bislang nicht sehr aufgeschlossen, würde doch Russland dadurch, wenn auch nur scheinbar, den eingebüßten Status zurückerlangen.

    Biden kann einer solchen Zusammenarbeit jedoch zustimmen. Einen hohen Stellenwert in seiner Vorstellung von bilateraler Zusammenarbeit hat das Klima. Das Pariser Klimaabkommen hat sich stark eingeprägt, weil Putins und Trumps Positionen sich nicht trafen. Und das bedeutet, wenn man sich Moskau bei diesem Thema annähert, geht man nicht auf Putin zu, sondern handelt gegen Trump. 
    Auch das klassische Thema der START-III-Verlängerung und die nukleare Rüstungskontrolle wurden von Trump vernachlässigt. Demnach kann Biden auch hier mit Putin zusammenarbeiten, ohne dabei im Schatten eines nachgiebigen Trump zu stehen. 

    Schon während des Kalten Krieges lag Biden als Berufspolitiker das Thema der Verhinderung eines nuklearen Konflikts zwischen den beiden prinzipiell verschiedenen Staaten am Herzen. Und auch der Kreml freut sich über die Wiederbelebung der guten alten Tradition der Atomgespräche zwischen den Supermächten. Dazu gaben beide Seiten sogar eine gemeinsame Erklärung ab, obwohl von dem Gipfel gar keine Beschlüsse erwartet worden waren.

    Ukraine und Belarus, Syrien und Libyen

    Die beiden Seiten waren so sehr von globalen Themen in Anspruch genommen, dass sie sich allem Anschein nach nicht ausführlich mit lokalen Konflikten beschäftigten. Die Themen Ukraine und Belarus, Syrien und Libyen wurden zwar angesprochen, allerdings nicht ausreichend für jene, für die diese Themen am wichtigsten sind. Die Journalisten ließen es sich nicht nehmen, Biden dafür Vorwürfe zu machen, genauso wie dafür, dass er es verpasst hatte, Putin offen anzuprangern.

    Das Ausbleiben einer gemeinsamen Pressekonferenz war die positive Antwort Bidens auf die wichtigste Frage der russischen Außenpolitik: „Respektierst Du mich?“. Eine positive öffentliche Antwort oder zumindest das Ausbleiben einer öffentlichen negativen Antwort war die Bedingung für das Treffen sowie für Gespräche mit Moskau generell.

    Die neue Welt

    Nach dem Wahlsieg Bidens hat vor unseren Augen ein wichtiger Umschwung stattgefunden. Als die Demokraten in das Weiße Haus einzogen, schien es, als ob der Hauptkonflikt der Präsidentschaft Trumps zwischen den USA und China beigelegt und Russland nun isoliert und hart bestraft würde. Einige Monate später sehen wir, dass sich die Rhetorik der neuen Regierung in Bezug auf China verschärft hat.
    Biden trifft sich früher mit Putin als mit Xi Jinping. In seinen Aussagen über China tauchte die These von der künstlichen Entstehung des Corona-Virus in einem Labor auf, was bislang fälschlicherweise für ein Trump-Thema gehalten wurde.
    China ist nun nicht mehr willkürliche Zielscheibe für Trumps persönliche Wut, sondern objektiver globaler Rivale – und es ist nun Aufgabe jeder US-Regierung, ihn einzudämmen. Doch bevor es an diese grundlegende Aufgabe geht, ist es wünschenswert, die russische Frage irgendwie zu lösen. Sie zu lösen, indem man Russland enger an die westliche Welt bindet, ist nicht gelungen. Bleibt also nur, Russland unschädlich zu machen und es dabei so zu lassen, wie es laut seiner Führung sein will, solange das von der Mehrheit der Bevölkerung noch nicht angefochten wird.

    China ist nun objektiver globaler Rivale – und es ist nun Aufgabe jeder US-Regierung, ihn einzudämmen. Doch bevor es an diese grundlegende Aufgabe geht, ist es wünschenswert, die russische Frage irgendwie zu lösen

    Biden hat die theoretische Chance nicht vertan, Russland aus der aktiven Konfrontation herauszuführen und das Beziehungschaos, das auf den Trümmern von Russlands westlichem Weg entstanden ist, langsam zu ersetzen durch den Aufbau einer neuen vertraglichen Ordnung mit einem also doch wieder nicht-westlichen Russland.
    Für Putin bietet das die Möglichkeit festzuklopfen, dass mit Russland nicht in der Annahme seiner künftigen westlichen Qualitäten verhandelt wird, sondern mit Russland als das, was es ist, wie schon zu Zeiten der alten Bipolarität. Die auf dieser Grundlage getroffenen Vereinbarungen verlieren auch dann nicht an Gültigkeit, wenn Russlands derzeitiges Staatsoberhaupt länger an der Macht bleiben sollte, als es in früheren, westlicher orientierten Zeiten vorgesehen war.

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  • Sputnik V und die Werte des Westens

    Sputnik V und die Werte des Westens

    Propagandistische Finte Moskaus oder ein ganz normaler Impfstoff: Sputnik V sorgt besonders im Westen immer wieder für neue Diskussionen. Nachdem bekannt wurde, dass auch Deutschland einen bilateralen Vertrag für den Ankauf des russischen Impfstoffs aushandeln will, gewinnt das Thema an zusätzlicher Brisanz. 

    Rund 50 Staaten verimpfen Sputnik V bereits. In der EU befindet sich das Vakzin seit Anfang März in einem beschleunigten Prüfungsverfahren der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA). Laut dem Fachmagazin The Lancet verfügt der Impfstoff über eine hohe Wirksamkeit, allerdings bestehen weiterhin Zweifel und Unklarheiten bezüglich möglicher Nebenwirkungen. EMA-Mitarbeiter beklagen dabei mangelnde Transparenz und Kooperation des Herstellers.

    Auch wenn die Zulassung schnell über die Bühne gehen sollte, werde Sputnik V in der EU kaum eine Rolle spielen können. Das hatte zuletzt EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton bekräftigt: Bis entsprechende Produktionskapazitäten aufgebaut sind, dürften die bisherigen vertraglichen Hersteller schon genug Vakzin geliefert haben.

    In der politisierten Impfstoffdebatte kann Russland gegenüber dem Westen derzeit punkten, argumentiert Alexander Baunow. Russland, so der Chefredakteur von Carnegie.ru, sei durchaus erfolgreich dabei, „die selbsterklärten Werte des Westens in ihrer Widersprüchlichkeit kollidieren zu lassen“. Im Runet wurde sein zuspitzendes Meinungsstück kontrovers diskutiert: Kritiker bemängeln unter anderem ein zu rosiges Bild der Corona-Situation in Russland, wo die Übersterblichkeit aktuell so hoch ist wie in kaum einem anderen Land auf der Welt. Andere halten Baunow zugute, dass er dem Westen durchaus den Spiegel vorhalte. 

    Die neuen Wellen der Pandemie unterscheiden sich stark von der ersten. Die Menschen horten keine Lebensmittel, Seife oder Toilettenpapier mehr. Niemand beschwert sich darüber, dass Masken oder Desinfektionsmittel fehlen. Der anfängliche Mangel ist längst behoben: Weder gewöhnliche Bürger noch Ärzte müssen, wie wir es in Reportagen sahen, improvisierte Masken nähen oder waschen, um sie wiederzuverwenden.

    Nur Moskauer mit besonders selektiver Wahrnehmung behaupten noch, die Regierung und die Stadtverwaltung drangsaliere die Bürger mit Polizeikontrollen und mit Verboten für Reisen ins Ausland. Wie ein exotisches Märchen klingen anderswo auf der Welt die Berichte über das Land, in dem man zu Konzerten und ins Theater gehen, auf die Datscha, in die Berge oder ins Ausland fahren kann. Genau wie die Erzählungen über die Großstadt, in der sich Impfwillige unabhängig von Geschlecht, Alter und ihrer Staatsangehörigkeit in Einkaufszentren impfen lassen können.

    Genau diese Gerüchte aus Moskau werden zu einem politischen Problem – in einer Zeit, in der man nicht nur Gebiete und Armeen, sondern auch Fernsehsender, Twitter-Accounts und Impfstoffe in Kategorien von Freund und Feind unterteilt. 

    In den ersten Monaten der Pandemie waren strenge Maßnahmen und außerordentliche finanzielle Hilfen ein Symbol für verantwortungsvolles Handeln und Fürsorge einer Regierung für ihre Bürger. In dieser Phase gewannen die disziplinierten und wohlhabenden westlichen Gesellschaften, die über ein hohes Maß an Vertrauen zueinander und zu ihrer Regierung verfügen.

    Neues Symbol der Fürsorge ab der zweiten Welle: der Impfstoff

    Doch in und nach der zweiten Welle wurde die Impfung und eine ausreichende Versorgung mit Impfstoff, also die Fähigkeit, mit den minimal notwendigen Beschränkungen auf die Pandemie zu reagieren, zu einem solchen Symbol von Fürsorge.

    Auch wenn Russland nicht beweisen konnte, dass es mit der Pandemie besser fertig wurde, konnten Europa und die USA auch nicht das Gegenteil beweisen. Das aber wäre ausgesprochen wichtig gewesen, weil die Demokratie auf dem Prinzip der Überlegenheit gründet, wegen der man ihr nacheifern soll. Der russische Autoritarismus hingegen will als ebenbürtig gelten, und das erfordert nicht unbedingt Nachahmung. 

    Das wird besonders deutlich an der Haltung zu den Impfstoffen des jeweils anderen. Für Russland ist es wichtig, dass sein Impfstoff gleichrangig zu den westlichen zugelassen wird, damit der Westen und insbesondere Drittländer ihn ohne diplomatische Schwierigkeiten nutzen können. Für den Westen ist es notwendig, dass seine und im Idealfall auch Drittländer die westlichen Impfstoffe, nicht aber Sputnik V nutzen. Am Umgang mit dem Impfstoff offenbart sich: Im Konflikt des Westens mit Russland haben wir einen klaren Fall vom Kampf um Überlegenheit gegen den Kampf um Gleichheit.

    Westen versus Russland – Kampf um Überlegenheit versus Kampf um Gleichheit

    Während der Westen gewinnen muss, genügt Russland ein Gleichstand, um die Partie für sich zu entscheiden. Unter diesen Vorzeichen könnte die Zulassung von Sputnik V ein fragiles Gleichgewicht stören. 

    Es ist für den Westen schon ein ernsthaftes Problem, dass sich Sputnik V von einer „propagandistischen Finte Moskaus“ in einen gleichrangigen Impfstoff verwandelt hat. Denn ein Argument für die Überlegenheit von Demokratien besteht darin, dass sie – im Unterschied zu Autokratien – ihre Bürger nicht belügen und die Lügen der Diktatoren entlarven. Würde Sputnik V zugelassen, wäre es ein Eingeständnis, dass Putin die Wahrheit gesagt hat, seine Gegner ihn aber der Lüge bezichtigten. Und das wäre eine für viele nicht zulässige Normalisierung der Verhältnisse.

    Hatte es Putin aus politischen Überlegungen sehr eilig zu erklären, Russland habe einen Impfstoff entwickelt, so hatten es die westlichen Sprecher genau so eilig, diese Aussage als Propaganda abzutun – damit manövrierten sie sich in eine schwierige Lage. Man kann Putin nach wie vor einen Fehlstart vorwerfen. Die Verkündung der Zulassung des weltweit ersten Impfstoffes, als noch nicht alle Studien abgeschlossen waren, war überstürzt. Aber ihm einen Fehl-Finish vorzuwerfen, ist ohne jeden Sinn und Zweck.

    Insgesamt kein unfaires Rennen bei der Impfstoffentwicklung

    Das erschüttert das stabile Konstrukt, jede unbequeme Information aus Russland könne als Lüge deklariert werden. Außerdem sät es Zweifel bei den Bürgern der Demokratien. Mit einer Zulassung von Sputnik V für den Westen würden die Staats- und Regierungschefs quasi für Putin und gegen sich selbst arbeiten. Wobei die Impfgeschwindigkeit in den westlichen Ländern jene in Russland sowohl in absoluten Zahlen als auch prozentual übersteigt. Sogar in der EU (die hinter den USA und Großbritannien liegt) waren Mitte März etwa zehn Prozent der Bevölkerung geimpft – in Russland knapp fünf Prozent. Doch in Europa wird nach Altersgruppen geimpft, während sich in Russland jeder sofort impfen lassen kann, der es möchte. Das erzeugt zusätzlich den Eindruck, Sputnik V wäre in ausreichender Menge vorhanden, während in Europa ein Mangel herrscht.

    Der gemächliche Impfprozess in Russland findet vor dem Hintergrund sinkender Fallzahlen statt, während in vielen europäischen Ländern die Ansteckungen steigen. In Moskau wird sogar in Einkaufszentren und Theatern geimpft, wohingegen die europäischen Länder darüber klagen, dass nicht einmal für die Risikogruppen genügend Impfstoff zur Verfügung stehe. 

    In Russland herrscht Impfstoffüberfluss, in Europa Mangel und Rückstand

    Die Möglichkeit der Impfung für alle erzeugt den Eindruck von Überfluss und Erfolg, gemessen am europäischen Mangel und Impfrückstand. Russland für eine Lüge zu kritisieren, ist schwieriger geworden. Nachdem sich die Kritik an Sputnik V als unberechtigt erwiesen hat, glauben westliche Bürger ihren Repräsentanten nicht mehr vorbehaltlos, wenn sie Russland der Lüge bezichtigen.

    Ein politisches Problem für den Westen ist auch, dass Russland seinen Impfstoff Drittländern anbieten möchte, bevor die eigene Bevölkerung geimpft ist. Damit wird es zu einem ernsthaften Konkurrenten auf einem Feld, auf dem sich der Westen stillschweigend als Sieger wähnte: auf dem Feld der Werte – des menschlichen Lebens, des Humanismus und des Wohlwollens von Privilegierten gegenüber weniger Privilegierten.

    Ein Beweis für die Überlegenheit der Demokratie ist die Tatsache, dass eine Demokratie das Leben ihrer Bürger nicht für politische Zwecke gefährdet. Brüssel, das zu Beginn der Pandemie zaghaft agiert und zugelassen hatte, dass Europa im Kampf gegen das Virus in nationale Fronten zerfällt, gewann in der Phase der Impfungen die Führung zurück. Die europäischen Länder haben sich darauf geeinigt, dass gemeinsame Organe in Brüssel für den Einkauf und die Verteilung des Impfstoffes zuständig sein sollen. Diese Entscheidung wurde getroffen, um Konkurrenz zu vermeiden, denn je größer der Absatzmarkt, desto bessere Preise können bei den Verhandlungen mit den Herstellerfirmen ausgehandelt werden. Die westlichen Regierungen haben alle Urheber- und Marktrechte bei den Entwicklerfirmen belassen. Das gilt als eine Art Gerechtigkeit: Wer in die rettenden Präparate investiert, soll profitieren. Das führt aber auch dazu, dass während einer Pandemie tausende geheime Verhandlungen geführt und hunderte undurchsichtige Verträge mit willkürlichen Preisen abgeschlossen werden.

    Weder die Preise noch die weltweite Verteilung des Impfstoffes haben etwas mit den Ideen des Humanismus, der Gleichheit und der Unterstützung von historisch benachteiligten Ländern zu tun. Zwar hat die EU Maßnahmen ergriffen, um nicht intern zu konkurrieren, aber das gilt nicht für den Rest der Welt. Da konkurrieren die Reichsten mit den Armen, und erwartungsgemäß gewinnen die Reichen.

    Erwartungsgemäß gewinnen die Reichen

    Derzeit bestehen weltweit Verträge für etwa zehn Milliarden Dosen verschiedener Impfstoffe. Das würde genügen, um fast die gesamte Weltbevölkerung zu impfen, aber die Dosen sind ungleich verteilt. Führend sind bei der Zahl der Verträge und Einkäufe die USA; bei den Einkäufen pro Kopf liegt Kanada vorn, das Verträge für Impfdosen abgeschlossen hat, mit denen es seine Bevölkerung sechsmal impfen könnte. In Kanada hat die Epidemie relativ gefährliche Ausmaße erreicht, aber auch Australien, wo es nach der weltweiten Definition keine Epidemie gibt, hat seine Bürger zu 247 Prozent mit Impfdosen versorgt. Eine hohe vertraglich vereinbarte Versorgung sehen wir auch in der EU mit mehr als 200 Prozent und in Großbritannien mit mehr als 400 Prozent. Doch Europa gehört zu den am stärksten von der Pandemie Betroffenen. 

    Nicht mit Impfstoff versorgt sind erwartungsgemäß arme Länder Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und sogar des Balkans (beispielsweise der Kosovo und Bosnien). 

    Ein großes Chaos herrscht bei den Preisen. Die EU zahlt für eine Portion AstraZeneca 3,5 US-Dollar, Südafrika 5,25 US-Dollar und das für die Hersteller unattraktive Uganda 8 US-Dollar. Die Initiative COVAX, die von der WHO mitentwickelt wurde, um durch Sammelkäufe die armen Länder zu versorgen, kommt ins Stocken und greift nicht: Noch reicht es nicht mal für die Reichen. 

    Entscheidung für den Westen zahlt sich nicht aus

    Besonders schwierig ist die Lage für die Nachbarstaaten der EU und Russlands, die sich für die westliche Variante entschieden haben: die Ukraine, Georgien, Moldawien. Sie schließen einen Kauf und die Produktion des russischen Impfstoffs aus Prinzip aus. Doch wegen der harten Konkurrenz innerhalb der EU-Länder bekommen sie auch keinen westlichen Impfstoff. Ihre Entscheidung für den Westen wurde also in dieser brisanten Frage nicht gewürdigt.

    Diese fehlende Würdigung kann zu einer Politisierung der Impfstoffzulassungen und zu Problemen bei Einreisebestimmungen führen: Wird Sputnik V nämlich für die EU zugelassen, stehen die ehemaligen Sowjetstaaten, die sich für den Westen entschieden, aber keinen Impfstoff erhalten haben, vor der Situation, dass die mit Sputnik V geimpften Russen noch vor ihnen nach Europa reisen können. 

    Das gilt es zu vermeiden, deswegen sind die Nachrichten über die Zulassung des russischen Impfstoffes für Europa auch so widersprüchlich. Einerseits wird er diskutiert, andererseits, so verkünden hohe EU-Funktionäre, brauche die EU ihn nicht. Man könnte versuchen, die Zulassung von Sputnik V zu verzögern, bis ein wesentlicher Teil der Bevölkerung der verbündeten Länder mit westlichen Impfstoffen geimpft ist. So wäre eine Zulassung von Sputnik V durch Brüssel kein Eingeständnis der Schwäche und kein Verrat an den Verbündeten in der Eindämmungspolitik gegen Russland. Doch einige Länder der EU wehren sich gegen diese Verzögerung, weil sie nicht genügend westlichen Impfstoff erhalten und außerdem Einbußen durch das Ausbleiben der russischen Touristen haben. 

    Sputnik V könnte westlichen Regierungen in ihrer Abwehrpolitik schaden

    Wegen bevorstehender Wahlkämpfe kann es sich kaum eine westliche Regierung erlauben, Impfstoff an ärmere Länder abzugeben, solange die eigene Wählerschaft nicht geimpft und der Lockdown nicht aufgehoben ist. Die russische (und auch die chinesische) Regierung dagegen bleiben verschont vor kompetitiven Wahlen und können den Impfstoff Drittländern anbieten, bevor die eigene Bevölkerung geimpft ist. Diese ist obendrein nicht zu Hause eingesperrt und hat es deswegen gar nicht eilig, sich impfen zu lassen. Der Westen kann das als einen unfairen Wettbewerbsvorteil betrachten. 

    In den Augen derjeniger, die den Westen und seine Verbündeten vor russischer Einmischung bewahren wollen, wäre schon die Zulassung des russischen Impfstoffs eine Schwächung der Abwehrbereitschaft. Die Dankbarkeit für die durch Sputnik V geretteten Leben und Unternehmen könnte sich schlecht auf die Abwehrbereitschaft auswirken. Alles zusammen erklärt, warum die westlichen Regierungen, die ihre Vorrangstellung hochhalten, und Russlands Nachbarn, die sich als Grenzland der westlichen Kultur begreifen, einen normalen Umgang mit dem russischen Impfstoff ablehnen.

    Der Westen hat nicht nur den Anspruch, Reichtum und Effizienz zu demonstrieren, sondern auch einen Anspruch auf die globale Verantwortung. Die Ambitionen, faire Regeln für die Welt aufzustellen, werden dadurch untermauert, dass das menschliche Leben in westlichen Demokratien mehr wert ist als in allen anderen Gesellschaften.

    Der Impfprozess und die Politisierung des feindlichen Impfstoffes zeigen, dass es in erster Linie um das Leben der Bürger der Demokratien selbst geht. Ja, westliche Wissenschaftler haben den Großteil des Impfstoffs entwickelt und westliche Unternehmen produzieren ihn. Der Verpflichtung, diesen Impfstoff mit Ärmeren zu teilen, kommen sie bislang eher symbolisch nach. Es gibt keinerlei Versuche, künstliche Gleichberechtigung zu konstruieren, Quoten oder eine positive Diskriminierung einzuführen: Setzen Sie erst sich eine Maske auf. Danach helfen Sie dem Kind.

    Weltweiter Pathos von Gleichberechtigung wird aufgeweicht

    Black Lives Matter ist de facto nur auf die privilegierten Gesellschaften wie die USA und Europa begrenzt – und das weicht das Pathos der weltweiten Kampagne für Gleichberechtigung etwas auf. Die erklärten und die tatsächlichen Ziele werden noch viel widersprüchlicher, wenn wir erfahren, dass das Gesundheitsministerium der USA es als Erfolg verbucht, Brasilien daran gehindert zu haben, den russischen Impfstoff einzukaufen – als Abwehr gegen den schädlichen Einfluss von Russland, Kuba und Venezuela. Es wirkt ganz so, als würden westliche Regierungen die linke Kritik an kapitalistischen Staaten bewusst bestätigen, derzufolge sie nur bestünden, um die Interessen von Großkonzernen zu vertreten.

    Moskaus Strategie besteht nicht zum ersten Mal darin, ein Bündnis zu erzwingen, das nicht auf gemeinsamen Werten gründet, sondern gegen einen gemeinsamen Feind gerichtet ist – sei es der Terrorismus, die Piraten vor Somalia, der sogenannte Islamische Staat oder das Coronavirus. 

    Momentan gelingt es Russland durchaus, die selbsterklärten Werte des Westens in ihrer Widersprüchlichkeit miteinander kollidieren zu lassen. Indem westliche Demokratien ihr Handeln ausschließlich danach ausrichten, nicht in die Falle eines Bündnisses mit autoritären Staaten zu geraten, verlieren sie genau die Werte aus dem Blick, die sie diesen Staaten vor Augen halten. Das deutet auf den Verlust jener Überlegenheit hin, die sie eigentlich festigen wollen, indem sie den russischen Impfstoff nicht zulassen.

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  • Zitat #9: „Nawalny kämpft nicht für Meinungsfreiheit, sondern um die Macht“

    Zitat #9: „Nawalny kämpft nicht für Meinungsfreiheit, sondern um die Macht“

    Zwei erste große Interviews mit Alexej Nawalny nach seiner Nowitschok-Vergiftung sind in der vergangenen Woche erschienen: Das erste ist auf Deutsch, in Der Spiegel. Christian Esch und Benjamin Bidder, der derzeitige und der ehemalige Moskau-Korrespondent des Blattes, hatten Nawalny in Berlin getroffen. „Ich behaupte, dass hinter der Tat Putin steht, und andere Versionen des Tathergangs habe ich nicht“, wird er im Spiegel zitiert. Allein die Tatsache, dass er mit Nowitschok vergiftet worden sei, verweise auf Geheimdienste wie den FSB oder den Auslandsgeheimdienst SWR, die in der Lage seien, den Nervenkampfstoff herzustellen und einzusetzen. 
    Kreml-Sprecher Peskow erklärte daraufhin, hinter Nawalny stünde der US-Geheimdienst CIA. Ungeachtet dessen wiederholte Nawalny seine Version der Dinge auch in seinem zweiten großen Interview – diesmal gab er es zusammen mit seiner Frau Julia in einem russischen Medium, dem YouTube-Kanal von Juri Dud. Im reichweitenstarken Staatsfernsehen ist Nawalny ein Tabu, aber die Videos von Dud finden ebenfalls ein (wenn auch kleineres) Millionenpublikum – auf YouTube, quasi als Samisdat des Online-Zeitalters.

    Im Spiegel-Interview wird Nawalny auch dazu gefragt, weshalb er 2011 den „Russischen Marsch“, eine Kundgebung von Nationalisten, mitorganisiert habe. Er distanzierte sich nicht von seinem damaligen Tun: „Ich sehe kein Problem in der Zusammenarbeit mit allen, die im Grundsatz antiautoritäre Positionen vertreten“, sagte er. Und weiter: „Ihr in Deutschland habt schon die Demokratie. Wir müssen erst einmal eine Koalition aller Kräfte schaffen, die für die Abwählbarkeit der Machthaber eintreten, für die Unabhängigkeit der Gerichte. Deshalb habe ich eine Zeit lang versucht, das liberalnationalistische Lager der Opposition zu einen.“
    Gerade im liberalen russischen Lager machte sich Nawalny mit solchen Positionen aber auch viele Feinde. 
    Alexander Baunow hat auf Carnegie.ru die „Wiederauferstehung“ des Alexej Nawalny analysiert – und inwiefern der Oppositionspolitiker dadurch dem Kreml sogar noch gefährlicher werden könnte.

    [bilingbox]Nawalny hat noch nie so ganz zum Liberalen gereicht und war noch nie ein Dogmatiker. Sprich, er ist ein Mensch mit einer Unterstützerschaft, die in ihrer Breite bewusst nicht festgelegt ist und die enorm zulegt, wenn die Umstände für ihn günstig sind. Jetzt nach der Vergiftung sind beispielsweise sowohl seine positiven als auch seine negativen Umfragewerte gestiegen, und mit ihnen ist sein Bekanntheitsgrad in die Höhe geschnellt. Außerdem kämpft Nawalny im Gegensatz zu vielen ehemaligen Oppositionellen nicht um das Recht, Putin zu kritisieren, nicht für Meinungs- und Versammlungsfreiheit, sondern um die Macht als solche.~~~Навальный всегда был недостаточно либерал и совсем не догматик, то есть человек с заведомо неопределенно широкой базой, которую могло увеличить в разы любое благоприятное для него стечение обстоятельств. Например, сейчас после отравления заметно выросли его и положительный, и отрицательный рейтинги, а вместе с обоими подскочила узнаваемость. Кроме того, в отличие от многих старых оппозиционеров Навальный борется не за право критиковать Путина, не за свободу слова и собраний, а именно за власть. [/bilingbox]

    In ganzer Länge erschien der Artikel am 02.10.2020 auf carnegie.ru unter dem Titel Woskresschi politik. Stary Kreml i nowy Nawalny (dt. „Der auferstandene Politiker. Alter Kreml und neuer Nawalny“). Das russische Original lesen Sie hier. Die englische Version finden Sie hier.

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    Kontrovers diskutiert im russischen Internet wird derzeit dieses Interview mit Alexander Baunow zum Thema Syrien. Baunow schreibt als Journalist in verschiedenen unabhängigen Medien vor allem über außenpolitische Themen, zuvor war er mehrere Jahre im diplomatischen Dienst der Russischen Föderation tätig. Seit 2015 ist er zudem senior associate des Carnegie Center Moskau, eines international aufgestellten Thinktanks. Die Fragen an Alexander Baunow stellte für Colta.ru Arnold Chatschaturow.

    Das Interview hat vor allem in regierungskritischen Kreisen skeptische Reaktionen hervorgerufen, da Baunow aus einer relativ regierungsnahen Perspektive argumentiert. Insbesondere wurde eine Tendenz zur Verharmlosung der Repressionen und Menschenrechtsverletzungen durch das Regime Assad schon in der Zeit vor dem Bürgerkrieg beklagt sowie ein ungenügendes Hinterfragen der tatsächlichen Ziele der russischen Luftschläge. Andererseits hat das Material Beifall erhalten dafür, dass es nicht der Versuchung erliegt, jegliches außenpolitische Handeln des Kreml reflexhaft zu verurteilen: Baunow sieht in Russlands Syrien-Einsatz einen durchaus sinnvollen Versuch, nach der Ukraine-Krise wieder einen Dialog mit dem Westen anzubahnen – der seinerseits zunächst abwartend beobachte, ob man Russland diesmal vertrauen könne.

        Keine zwei Tage nach Wladimir Putins Rede vor der UN-Generalversammlung [am 28. September – dek] hat Russland die ersten Luftschläge in Syrien ausgeführt. Die Frage ist allerdings, gegen wen?

        Die russische wie die syrische Führung versichern, dass die Luftschläge sich gegen den Islamischen Staat richten. Die syrische Opposition erklärt, sie selbst und die Zivilbevölkerung seien das Ziel der Angriffe. Allerdings ist für die Opposition ein Szenario, in dem Russland Assad hilft, in jedem Fall ein Alptraum: Selbst wenn die Intervention sich tatsächlich nur gegen den IS richtet und die Opposition in keiner Weise tangiert, stärkt das indirekt Assad, weil es ihn an einer der Fronten entlastet, und nimmt der Opposition die Chance auf einen klaren Sieg. Deshalb ist sie daran interessiert, die Sache von Anfang an so darzustellen, als würde Russland sie bekämpfen. Jede Seite verfolgt ihre eigenen Interessen, man kann also niemandem ohne weiteres glauben, sondern muss abwarten, bis Beweise vorliegen. Wären die Informationen über diese Luftschläge von OSZE-Beobachtern gekommen – die es in Syrien natürlich nicht gibt –, oder auch, sagen wir, von Frankreich, dann könnte man ihnen viel eher vertrauen.

        Der zweite Punkt ist, dass der IS kein Staat mit festen Grenzen ist, sondern eine Organisation, die sich selbst zum Kalifat erklärt hat. Auf den Karten, die wir in den Medien sehen, sind die Gebiete, die Russland am Mittwoch bombardiert hat, nicht in den IS-Farben dargestellt. Die Lage vor Ort ist viel komplizierter, und eine einzelne Einheit von Kämpfern in irgendeinem Dorf ist in diesen Karten nicht zwangsläufig erfasst. Um das zu wissen, braucht man kein Syrien-Spezialist zu sein, es genügt, sich an den russischen Bürgerkrieg zu erinnern: Auch damals gab es bis auf wenige Ausnahmen keine geschlossenen Territorien.

        Jede Seite verfolgt ihre eigenen Interessen, man kann also niemandem ohne weiteres glauben, sondern muss abwarten, bis Beweise vorliegen.

        Die dritte Frage ist, wen außer dem IS es in Syrien noch gibt und ob alle übrigen Kräfte tatsächlich der vielzitierten demokratischen Opposition angehören, die in Wirklichkeit weniger eine demokratische als eine sunnitische Opposition ist. Die New York Times zum Beispiel schreibt, die russischen Luftschläge hätten Stellungen der Al-Nusra-Front zum Ziel gehabt. Aber diese Al-Nusra-Front ist ein Ableger von Al Qaida, und sie hat schon zu einer Zeit, als der IS noch nicht in Syrien agierte, in der christlichen Stadt Maalula im Südwesten des Landes – einem einzigartigen Ort, wo bis heute Aramäisch gesprochen wird – ein Massaker angerichtet. So eine Gräueltat steht denen des IS in nichts nach. Sollten Stellungen der Al-Nusra von den Luftschlägen getroffen worden sein, muss man also sagen, das haben sie verdient.

        Warum hat man für die Luftschläge keine eindeutig zuzuordnenden Gebiete gewählt?

        Hätte man sich vor allem aus Imagegründen oder zu diplomatischen Zwecken zu bombardieren entschlossen, dann hätte man sich andere Ziele suchen müssen, in einem homogeneren Teil der Karte. Es gibt dort ja Wüsten, Oasen, Flusstäler, und die detaillierten Karten zeigen ein wesentlich komplexeres Bild. Ich denke, bei der tatsächlichen Auswahl der Ziele haben drei Überlegungen den Ausschlag gegeben. Zum einen bombardieren die amerikanischen Bündnispartner den IS schon seit einem Jahr, sie haben schon tausende Einsätze geflogen, insofern wäre es gar nicht so einfach, hier noch ein eigenes Ziel zu finden. Zweitens war natürlich klar, dass die sonderbare Warnung an die Amerikaner, sie sollten ihre Flüge einstellen, keine Wirkung haben würde, so dass die russische Luftwaffe womöglich gleichzeitig mit der amerikanischen, britischen oder türkischen über IS-Gebiet geflogen wäre. Und da Russland sein Vorgehen auf taktischer Ebene bisher nicht abgestimmt hat (auch wenn sich das bald ändern dürfte), wäre das nicht ungefährlich gewesen.

        Wenn ein Land nicht frei ist, folgt daraus, dass wir schleunigst für den Sturz des dortigen Regimes sorgen müssen? Oder sollten wir erst einmal sehen, wer dieses Regime ablösen könnte?

        Drittens schließlich gab es eine Gruppe von Zielen, die die westliche Koalition grundsätzlich nicht angegriffen hat. Das von der syrischen Regierung kontrollierte Gebiet beschränkt sich ja zum einen auf Damaskus und Umgebung, zum anderen auf die Küste mit den Ausläufern des Libanon-Gebirges, von Tartus über Latakia in Richtung des türkischen Antakya. Die wichtigste Straße dazwischen führt durch sunnitisches Gebiet, an ihr liegen die Städte Homs und Hama, und zwischen diesen Städten wiederum lagen die Ziele der gestrigen Luftschläge. Wir reden hier also von der einzigen Straße, die die beiden von der Regierung kontrollierten Landesteile verbindet. Wenn diese Verbindung abgeschnitten wird, zerfällt das Gebiet in zwei Teile. Das würde Assad schwächen, er wäre viel leichter zu besiegen. Die Ziele, die die syrische Armee Russland gegenüber benannt hat, sind folglich lebenswichtige Punkte.

        Über die syrische Opposition herrscht viel Unklarheit. Gibt es überhaupt neutrale Gruppen in ihren Reihen, oder ist sie durchweg islamistisch?

        Was und wer die syrische Opposition ist, das ist ein Thema für sich. Die Revolution im Iran wurde von Kommunisten, liberalen Demokraten, antiwestlicher Intelligenzia, Studenten und Islamisten gemeinsam gemacht. Die stärkste Gruppe waren am Ende die Islamisten. Ähnlich verhält es sich auch in Syrien: Der Teil der Bevölkerung, der Assad sein Vertrauen entzogen hat, setzt sich aus ganz verschiedenen Gruppen zusammen, aber die stärkste Kraft unter ihnen sind die Islamisten. Und auch diese Gruppe ist in sich wieder sehr heterogen – das Spektrum reicht von relativ gemäßigten Organisationen wie der Muslimbruderschaft bis zur Al-Nusra-Front, die schon ganze Städte abgeschlachtet hat. Natürlich sind die gebildeten Männer in westlichen Anzügen, die vor die Fernsehkameras treten und die Losungen der Opposition proklamieren, nur die mediale Seite des Widerstands – vor Ort laufen Männer in ganz anderen Anzügen und mit Maschinenpistolen herum. Andererseits sind ja auch die Vertreter der Assad-Regierung europäisch gekleidete, weltliche Männer und Frauen ohne Kopftuch – vergessen wir nicht, dass Syrien schon seit einem halben Jahrhundert eine säkulare Diktatur ist.

        Die gesamte westliche Welt wendet sich heute gegen die syrische Staatsführung. Welche politischen Perspektiven hat Assad Ihrer Meinung nach, genießt er im Volk noch Vertrauen?

        Ich bin selbst weniger als ein Jahr vor Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien gewesen, und ich kann sagen, dass die Entwicklung damals nicht vorherzusehen war. Von einer maroden Diktatur, die kurz vor dem Fall steht, von einem beim Volk verhassten Schreckensregime war nichts zu spüren, diese Stimmung gab es nicht. Es gab sie in Libyen, und es gibt sie heute im Iran, aber in Syrien gab es einen damals noch jungen Diktator (er ist auch heute noch ziemlich jung), an den sich Hoffnungen knüpften – und er hat ja auch wirklich eine gewisse Liberalisierung in Angriff genommen, vor allem im Bereich der Wirtschaft. Er hatte in London gelebt, dort studiert und als Arzt gearbeitet. Er war kein Isolationist, im Gegenteil: Die Regierungszeit des jüngeren Assad verbindet man mit einem vorsichtigen Umbau des arabischen Sozialismus zu einer zunehmend weltoffenen Marktwirtschaft. Damaskus Anfang der 2000er und Anfang der 2010er Jahre, das waren zwei völlig verschiedene Städte, und auch das Land insgesamt hatte sich verändert. Auf einmal gab es private Initiativen, es gab westliche Hotels, Restaurants, Handel – noch kein Starbucks Café, aber weit weg war auch das nicht mehr.

        Im Bezug auf die Ukraine wurde eine Unmenge von Mythen in die Welt gesetzt – in Bezug auf Syrien ist das anders. Hier konstruieren beide Seiten ihre Realität etwa im selben Maß.

        Das Wesen eines Regimes ist ja nicht das einzige, was zählt, man muss auch sehen, in welche Richtung es sich entwickelt. Das syrische Regime war vor dem arabischen Frühling dabei, sich zu liberalisieren, und eben deshalb hat es sich als so stabil erwiesen. Ben Ali war innerhalb von zwei Wochen weg vom Fenster, bei Mubarak dauerte es gerade einmal sechs Wochen, Gaddafi konnte sich vier Monate halten, und das auch nur, weil er die Hauptstadt verließ und sich ins Gebiet seines Clans zurückzog. In Syrien geht der Bürgerkrieg in sein fünftes Jahr. Ein blutiger Tyrann, der in einem Bürgerkrieg fünf Jahre lang die Hauptstadt kontrolliert, wird offensichtlich nicht nur von seinem eigenen Geheimdienst unterstützt, sondern auch noch von anderen Kräften. Hinter ihm stehen zumindest die 30 Prozent der Bevölkerung, die religiösen Minderheiten angehören: Sie sehen durch Assads Herrschaft ihr Überleben gesichert. Dazu kommt ein Teil der Sunniten, die ja auch nicht alle unter der Scharia leben wollen. Die Entscheidung zwischen der Scharia und einer säkularen Diktatur fällt nicht zwangsläufig zugunsten der ersteren aus. Es gab schließlich auch Afghanen, die die sowjetische Herrschaft der der Taliban vorzogen. Mich wundert das überhaupt nicht. Umfragen zufolge (wie genau deren Ergebnisse in Syrien derzeit sein können, ist natürlich schwer zu sagen) unterstützt etwa ein Viertel der syrischen Bevölkerung den IS.

        Warum hat sich die westliche Koalition dann so auf Assad eingeschossen?

        Das ist sehr die Frage. Ich vermute, die Vorgeschichte war in etwa die: Als erstes wurde Ben Ali abgesetzt – ein säkularer Diktator und prowestlicher Politiker, dann Mubarak, ebenfalls ein Partner des Westens, dann Gaddafi, der dem Westen verhasst war, aber gerade in seinen letzten Jahren angefangen hatte, die Beziehungen zum Westen zu normalisieren und westliche Ölfirmen ins Land zu lassen. Damals hatte man das Gefühl, auch Assad würde nicht mehr lang im Amt bleiben. Warum sollte man ihn also nicht stürzen? Syrien hatte ja fünfzig Jahre lang zum antiwestlichen Lager gehört, es war eher mit der Sowjetunion und dem Iran verbündet, der dem Westen gleichfalls eher unangenehm war. Aber die Wette auf den friedlichen Wandel ging nicht auf. Und im nächsten Schritt setzte die Dynamik der Verstrickung ein: Nachdem es nicht gelungen war, Assad mit Hilfe friedlicher Demonstrationen zu stürzen, nachdem Assad diese Demonstrationen gewaltsam niederzuschlagen begonnen hatten, musste man eben auf anderen Wegen helfen. Wenn man ständig in eine Partei eines Konflikts investiert, diese Seite aber nicht siegt, kann man ab irgendeinem Punkt, wenn die Investition zu groß geworden ist, trotzdem praktisch nicht mehr zurück. Natürlich ist Assad in den Jahren des Bürgerkriegs wirklich ein blutiger Tyrann geworden, seine Armee hat viele Menschen getötet. Andererseits haben die, die gegen ihn kämpften, ungefähr genauso viele Menschen getötet – oder zumindest so viele, wie sie konnten. Aber was die Zeit vor dem Bürgerkrieg angeht, können Sie die komplette westliche Presse durchforsten: Zwischen 2004 und 2011, grob gesagt, werden Sie nicht einen Hinweis auf Assad als Geschwür am Leib der Menschheit finden, selbst in den kritischsten Menschenrechtsberichten nicht. Assad wird dort in etwa derselben Weise kritisiert wie die Diktatoren der Nachbarländer auch.

        Eine massenhafte Unterstützung für das syrische Brudervolk zeichnet sich – anders als beim Thema Ukraine – in Russland nicht ab.

        Die Welt besteht ungefähr zur Hälfte aus illiberalen Regimen. Innerhalb dieser Gruppe gibt es aber verschiedene Entwicklungstendenzen, die man beobachten muss. Wenn ein Land nicht frei ist, folgt daraus, dass wir schleunigst für den Sturz des dortigen Regimes sorgen müssen? Oder sollten wir erst einmal sehen, wer dieses Regime ablösen könnte? In Syrien geht es ja nicht nur um einen Regimewechsel. Der Preis dafür sind 250.000 Menschenleben und 4 Millionen Flüchtlinge. Ob die Sache diesen Preis wert ist, ist sehr die Frage – zumal die Lage vorher nicht so schrecklich war. Es gab die regional üblichen Repressionen. Ich verstehe, dass man bei dem Wort „Repressionen“ gerechten Zorn empfindet, aber im Grunde sah es in jedem anderen unfreien Land ganz genauso aus. Zu Beginn des arabischen Frühlings war Syrien ein wesentlich angenehmerer Ort als Saudi-Arabien oder auch die Vereinigten Arabischen Emirate oder Katar, vom Jemen ganz zu schweigen. Die ganze Region wird autoritär regiert; mit Ausnahme von Israel, dem Libanon und der Türkei, die fast schon zu Europa gehört, gibt es dort keine Demokratien.

        Wer trägt die Hauptschuld an dem, was heute in Syrien geschieht?

        Der Westen sagt: Assad hätte gleich abtreten müssen, dann wäre es nicht zum Bürgerkrieg gekommen. Ben Ali und Mubarak sind gegangen, und es gab keinen Bürgerkrieg. Nur, warum sind sie gegangen? Nicht aus freien Stücken, sondern weil der Machtapparat und die Bevölkerung ihrer Hauptstädte nicht mehr hinter ihnen standen. In Damaskus gab es keine großen Demonstrationen, alles fing in kleineren Provinzstädten in der sunnitischen Zone an. Es war nicht so, dass die örtlichen Liberalen und Demokraten auf die Straßen der Hauptstadt gegangen wären und den Rücktritt des Diktators gefordert hätten. Wenn Sunniten in einem überwiegend sunnitischen Gebiet gegen die gottlose Hauptstadt demonstrieren, dann kann man diesen Vorgang nicht guten Gewissens als Demokratiebewegung beschreiben. Insofern unterschied sich der Fall Syrien schon vom Beginn des arabischen Frühlings an stark von den anderen Fällen – eine kritische Masse von Demonstranten in der Hauptstadt gab es dort nicht. Und dann, wer hat überhaupt eine Vorstellung von den Namen und Gesichtern, die die syrische Demokratiebewegung ausmachen? Der Krieg dauert schon über vier Jahre, aber diese Leute sind im Grunde nicht vorhanden, oder nur sehr schemenhaft. Es gibt Sprecher, es gibt eine Leitung, aber Führer der Demokratiebewegung, bekannte Gesichter, Identifikationsfiguren, gibt es nicht. Wir haben also auf der einen Seite eine säkulare Diktatur, und auf der anderen etwas ziemlich Undefinierbares.

        Der Westen sieht sich das derzeit an und überlegt, inwieweit das zutrifft und ob man Russland vertrauen kann.

        Wäre es auch zu einem Bürgerkrieg gekommen, wenn Assad zurückgetreten wäre? Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten. Für einen Zerfall des Staates gab es in Syrien, wie auch in Libyen, durchaus eine Menge Voraussetzungen. Es gibt dort eine kurdische Zone, eine schiitische, eine alawitische und eine sunnitische. Die Leute hätten sich auch ohne Assad einfach gegenseitig abschlachten können, so wie man es im benachbarten Libanon zwanzig Jahre lang getan hat. Dafür braucht man keinen Diktator.

        Die offizielle Position Russlands im Syrienkonflikt ist also ganz angemessen?

        Wenn wir Syrien mit der Ukraine vergleichen, dann ist Russlands Position im ersten Fall wesentlich angemessener. Im Bezug auf die Ukraine wurde eine Unmenge von Mythen in die Welt gesetzt – in Bezug auf Syrien ist das anders. Hier konstruieren beide Seiten ihre Realität etwa im selben Maß. Der furchtbare, bei allen verhasste Assad ist ungefähr genauso eine Konstruktion wie eine Opposition, die ausschließlich aus Al-Qaida-Anhängern besteht. Aus dem, was man von russischen Regierungssprechern und Diplomaten hört, spricht nicht weniger vernünftige Einschätzung der Situation als aus den Reden von John Kerry.

        Mit der Intervention in Syrien hat Russland sich aus einem Land, das Krieg gegen die Ukraine führt, in eines verwandelt, das die Islamisten bekriegt – ein wesentlich ehrenhafterer Status. Ein Ende des Krieges in der Ukraine würde an den Sanktionen natürlich nichts ändern und an der Rhetorik ebensowenig, aber bis dahin wird das alles schon Schnee von gestern sein. Man wird Russland nicht daran hindern, den IS zu bekämpfen, man wird nur verlangen, dass es die von der Opposition kontrollierten Gebiete nicht anfasst. Idealerweise werden auch die USA ihren Juniorpartnern das Signal geben, Assad in Ruhe zu lassen und sich auf den IS zu konzentrieren. Das Problem der Staatsführung muss man später lösen: Assad jetzt zu stürzen, wo der IS in den Vororten von Damaskus steht, wäre reiner Wahnsinn und völlig unverantwortlich, es würde nur zu noch mehr Blutvergießen führen. Dass man allerdings nach dem Ende des Konflikts nicht zum Vorkriegszustand zurückkehren kann, dem stimme ich absolut zu. Nach einem Bürgerkrieg kann nicht eine der Konfliktparteien friedlich regieren. Verantwortliches Handeln bestünde in meinen Augen jetzt darin, die Opposition und die Regierung daran zu hindern, sich gegenseitig auszuradieren. Beide Koalitionen – der Westen, die Opposition und die Kurden auf der einen Seite, und Assad, Russland und der Iran auf der anderen – müssen den IS zerschlagen und sich dann auf eine Übergangsregierung einigen, die verschiedene Kräfte einschließt. Und wahrscheinlich auch auf einen Rücktritt Assads, der das Land immerhin auch schon 15 Jahre regiert – lang genug. Aber bevor man die Haut der Hydra aufteilt, muss man sie erst einmal erlegen – und davon sind wir weit entfernt.

        Welche Ziele verfolgt Russlands Führung in Syrien, und wie wird ihr Vorgehen im Inland wahrgenommen?

        Eine massenhafte Unterstützung für das syrische Brudervolk zeichnet sich – anders als beim Thema Ukraine – in Russland nicht ab. Eine Ausnahme sind allenfalls die Patrioten unter den Politologen, die am liebsten ständig die Seekriegsflotte irgendwohin entsenden würden, weil wir schließlich eine Großmacht sind. In der Bevölkerung allgemein ist die Unterstützung dagegen ziemlich gering. Den Amerikanern zeigen, wo der Hammer hängt – ja, aber unsere Jungs nach Syrien schicken – damit erreicht man keine 86 Prozent Zustimmung. Wir haben es hier also nicht mit einem Versuch zu tun, die Umfragewerte [des Präsidenten – dek] zu verbessern und das Land zusammenzuschweißen. Das Ziel ist vielmehr ein diplomatisches: Es geht darum, die Isolation zu überwinden, in die Russland nach der Krim, dem Donbass und der Boeing geraten ist. Man versucht, ein neues Kapitel anzufangen, und wie wir sehen, durchaus mit Erfolg. Dahinter steht der Wunsch, sich mit dem Westen zu versöhnen, aber nicht, indem man auf Knien angekrochen kommt, sondern indem man seinen Einfluss und seine Unentbehrlichkeit demonstriert. Der Westen sieht sich das derzeit an und überlegt, inwieweit das zutrifft und ob man Russland vertrauen kann. Haben die Russen sich wieder einmal wie Leute verhalten, die nicht nach den Regeln spielen – oder wie eine eigenständige Macht, die sich dem amerikanischen Führungsanspruch zwar entzieht, mit der man aber trotzdem etwas zu tun haben kann? Wenn es keinerlei Chance einer Verständigung gäbe, dann hätten sich wohl weder Putin und Obama noch Lawrow und Kerry getroffen.

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