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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Die große Relativierung

    Die große Relativierung

    Im zweiten Jahr des russischen Angriffskrieges fiel nicht nur die Gegenoffensive der Ukraine enttäuschend aus. Auch unter den Unterstützern Kyjiws bröckeln die Einheit und die Entschlossenheit. Dazu habe auch der neue Krieg im Nahen Osten beigetragen, argumentiert Alexander Baunow von der Carnegie-Stiftung. Kriegsgegner in Russland und außerhalb würden einander zunehmend fremd.

    Panzersperren vor der „Mutter Ukraine“ in Kyjiw. Die Statue wurde 1981 in der Sowjetunion als „Mutter Heimat“ errichtet und 2023 umbenannt / Foto: © IMAGO, EST&OST

    Das Jahr 2023 ist zum Jahr der großen Relativierung geworden. Im Frühling, Sommer, Herbst und Winter 2022 erlebte Europa einen Schock: Russland, das größte und militärisch stärkste Land des Kontinents, ist tatsächlich fähig, genau wie es die heutigen Erwachsenen als Kinder erzählt bekamen, einfach so, ohne jeden Vorwand, Panzer, Raketen und Kampfjets über die Grenze zu schicken, Städte zu bombardieren und unter Beschuss zu nehmen, Gebiete zu erobern und zu annektieren, um den Lebensraum für das eigene ungerechtfertigt gekränkte Volk zu vergrößern, und seine Politiker können reden wie wahnsinnig gewordene Diktatoren aus historischen Kinofilmen.   

    Ganz Europa erfasste das Gefühl: Das ist ein Angriff auf uns alle. Sogar in Russland selbst war diese Gefühl verbreitet. Ukrainische Flaggen wurden gehisst, wo früher nicht einmal Nationalfahnen hingen – an Museen und Theatern, an europäischen Botschaften in fremden Hauptstädten, an Baustellen und Autobahnraststätten. Ukrainischen Staatsbürgern standen die Grenzen offen wie niemandem je zuvor – ohne Einschränkungen, ohne dass sie einen Aufenthaltstitel beantragen mussten, sogar mit einer Arbeitserlaubnis in jeder beliebigen Branche.

    Schließlich hatte genau jene Armee angegriffen, deren Manöver man jahrzehntelang gefürchtet und von der man gesagt hatte, dass ihr Marsch auf europäische Hauptstädte auch ohne Atomwaffen nur wenige Tage dauern würde. Und sie benahm sich stellenweise noch grausamer, als man es von ihr erwartet hatte. Der Einsatz von Bodentruppen eines europäischen Staates gegen sein Nachbarland löste schon für sich genommen einen Schock aus, doch der Anblick zerstörter Städte, von Menschen, die sich bei Kerzenlicht in den Metrostationen drängten, von Gräbern in den Innenhöfen von Wohnblocks mit Namensschildern aus Pappe übertraf alle Filme und Serien, die je von einem Einmarsch der Russen gehandelt hatten.

    Die augenblickliche Identifizierung mit den Opfern motivierte zu entschlossenem Handeln. Sanktionen in Handel, Finanzwirtschaft und Verkehr, die vor dem Einmarsch noch sehr unwillig und nur als äußerste und hypothetische Maßnahmen diskutiert wurden – der Ausschluss aus Zahlungssystemen, die Einstellung des Flugverkehrs, das Einfrieren von Vermögen, ein Embargo, das der eigenen Wirtschaft schadet –, wurden mit einer Geschwindigkeit beschlossen, die alle überraschte. Als die ukrainischen Streitkräfte überraschend hartnäckig Widerstand leisteten, flossen finanzielle und militärische Hilfen in die Ukraine, deren Dimensionen man vor dem Krieg nicht annähernd in Betracht gezogen hatte.               

    Nach mittlerweile knapp zwei Jahren hat diese Anteilnahme ihre Intensität verloren. Europa und Amerika sehen die Ukraine zwar noch immer als Opfer, das Hilfe und Mitleid verdient, die US- und EU-Bürger fühlen sich jedoch selbst nicht mehr unmittelbar bedroht. Ein Verbündeter wurde angegriffen, ein Protegé, aber nicht sie selbst. Nicht, dass sie von Russland sofort den Anfang des Dritten Weltkriegs erwartet hätten, aber die Verschiebung wichtiger politischer und moralischer Grenzen deutete auf seinen möglichen Ausbruch hin und ließ einen schnellen Verlauf befürchten. Doch er blieb aus.  

    Die Stärke des ukrainischen Widerstands hat erst überrascht. Dann führte sie dazu, dass man sich im Westen entspannte

    Auf paradoxe Weise spielte die Stärke des ukrainischen Widerstands, die entscheidende Erfolge für Russland verhinderte, zumindest in einer Hinsicht gegen die Ukraine: In Europa und Amerika entspannte man sich wieder. Die Russen sind einmarschiert und sie marschieren weiter, aber man weiß jetzt, dass sie noch lange nicht ankommen werden, vielleicht auch nie. Was wie der Anfang eines Dritten Weltkriegs aussah, entpuppte sich als zweiter Jugoslawienkrieg – wieder ein lokaler Konflikt an der europäischen Peripherie, der mit dem Zerfall eines verspätet sterbenden autoritären Imperiums zu tun hat und mit dem man sich schwer identifizieren kann. 

    Es kam zu einer Entfremdung, zu seiner teilweisen Verdrängung aus dem eigenen Alltag/Erleben/Leben. Die ukrainischen Flaggen werden weniger, mancherorts sieht man bereits mehr palästinensische, und an Solidaritätskundgebungen mit der Ukraine nehmen immer weniger Menschen teil. Die These von der praktisch vollständigen Identifikation mit dem Opfer wurde von der Antithese der Entfremdung und Verdrängung des Kriegs an die Peripherie abgelöst.

    Nach dem Schema These und Antithese: Die praktisch vollständige Identifikation mit dem Opfer wurde von der Entfremdung und Verdrängung des Kriegs an die Peripherie abgelöst.      

    Der erste Auftritt Selenskys vor einem fremden Parlament beeindruckte. Mit jedem weiteren Auftritt nimmt die Wirkung ab

    Genauso wie der gesamte Krieg hat auch das Image von Präsident Selensky eine Relativierung erfahren. Dadurch, dass der Krieg so langsam, so weit weg und so fremd geworden ist, hat sich das Bild verändert, das die Welt von Selensky hat. So wie der Krieg ist er [dem Westen – dek.] fremd geworden, ein eigenartiger, peripherer Held. Ein Held – durchaus, aber keiner, der „zu uns gehört“.  

    Eine Heldentat ist immer leichter zu begreifen, wenn es sich um ein einmaliges Ereignis handelt. Klassische Tragödien sind rund um einmalige Heldentaten konstruiert. Der Präsident des Landes, das sich so tapfer verteidigt, verlässt unter Kugelhagel die Hauptstadt, um in Felduniform in einem ausländischen Parlament aufzutreten, wo er tosenden Applaus erntet und widerstandslos ein Hilfspaket entgegennimmt. Beim ersten Mal. Beim zweiten, dritten und vierten Mal ist es schwieriger, denselben Effekt zu erzielen.

    Wahlen zu gewinnen ist einfacher, als populär zu bleiben. Selensky verschwindet allmählich von den Titelblättern. Das unangenehme Bild des russischen Präsidenten in einem normalen Anzug erscheint weltweit dem Normalbürger auf einmal doch geläufiger als das angespannte, heroische Image Selenskys, der allein durch seinen Anblick eine emotionale Reaktion einfordert, zu der immer mehr die Kraft fehlt – Spannung hält man ja nicht so lange aus.              

    Die Abkühlung im Außen hat die Situation im Inneren angeheizt. In die ukrainische Politik ist die gewohnte (und ganz natürliche) Konkurrenz zurückgekehrt, und damit einhergehend der Verdacht, dass der aktuelle Held womöglich nicht der Einzige ist, dass an seiner Stelle ein anderer stehen könnte, und wer weiß, vielleicht sogar ein noch tapfererer.

    Der Heroismus des Staatsoberhaupts birgt noch einen weiteren gefährlichen Aspekt: Mit seiner eigenen Heldenhaftigkeit verlangt er auch von anderen Heldentum. Als Zielscheibe Nummer eins sieht er jedoch, anders als die Könige im Mittelalter, davon ab, seiner Truppe vorauszugaloppieren oder in einem Baldachin über dem Schlachtfeld zu thronen. Vom beherzten Retter ist er zu einem geworden, der andere in den Tod schickt.            

    Die Stabilisierung des Bösen

    Der Stillstand an der Front schwächt die Argumente jener, die dazu aufrufen, die Aggression durch entschiedenes Handeln zu stoppen. Immerhin hat die Aggression ja quasi von selbst nachgelassen.

    Putins Truppen sind nur zu lokalen Offensiven in der Lage, die die Front fast nicht verschieben. Auch die Ukraine verteidigt sich derzeit eher, als Land zu befreien. In Moskau will man keine Mobilmachung, man hofft einfach, dass der Ukraine bald die Soldaten für die Verteidigung ausgehen, und dann reichen die russischen für den Angriff. 

    Als klar wurde, dass ein verpatzter Anfang nicht automatisch ein verpatztes Ende bedeuten muss, ist Putin regelrecht aufgeblüht. Nachdem er selbst mutwillig die Stabilität zerstört hat, derer er sich früher rühmte, ist eine neue Form der Stabilität auf den Trümmern der alten entstanden. In diesem neuen Gleichgewicht spielen dieselben Gruppen eine Rolle. Es bringt sowohl Neues als auch unwiderbringliche Verluste, aber es hält. Die Antwort auf die Frage, wie lange Russland noch Krieg führen kann, bleibt unterdessen vage: Solange es muss, kann es auch.     

    Man könnte meinen, die russische Wirtschaft sei aufgrund der enormen Militärausgaben überhitzt, sie leide unter hoher Inflation und einem Mangel an Technologien, die Zinsen der Zentralbank seien höher als je zuvor. Doch nicht einmal hier denkt jemand an die „Sanktionen aus der Hölle“, die so schlimm geklungen hatten. Das Verbot von Überweisungen an ausländische Banken und internationale Börsen provozierte einen Boom von Investitionen im Inland: Geld einfach auf dem Konto liegen zu haben, ist in Zeiten extrem hoher Kriegssteuern zu riskant. Staatliche und private Rüstungsinvestitionen brachten 2023 ein Wirtschaftswachstum von 3,5 Prozent, die verarbeitende Industrie verzeichnete ein Wachstum von 7,4 Prozent, und ganz nebenbei glich sich das Gefälle zwischen armen und reichen Regionen aus.  

    Während sich die Russen, die dem Krieg entflohen, mit der Eröffnung von Bankkonten herumschlugen, konnte Russland dank der Form der Sanktionen mit dem Verkauf von Gas nach Europa 200 Milliarden Dollar zusätzlich einnehmen. Und russisches Erdöl, das an Bord eines  nicht versicherten Tanker eines Zwischenhändlers einen russischen Hafen verlässt, wird zum internationalen Produkt und, wenn auch mit Preisnachlass, auch von westlichen Verbrauchern bezahlt. Die Frage, die alle quälte, ob denn das gewohnte Leben mit dem Krieg vereinbar sei, wurde positiv beantwortet – in Russland wie im Rest der Welt.        

    Der moralische Schock, den die Bevölkerung westlicher Länder beim Anblick der zerstörten zwar ost-, aber doch europäischen Städte erlebte, konnte Gesellschaften in weiterer Entfernung von Europa nicht erfassen. Für sie sind getötete Ukrainer ungefähr so wie für den westlichen Durchschnittsbürger getötete Afghanen: relativ ferne Opfer. Auch die Sanktionen werden nicht von allen mitgetragen. Tiefgreifende und flächendeckende sekundäre Sanktionen des Westens gegen Drittländer sähen aus wie ein Wirtschaftskrieg gegen Entwicklungsländer und sind somit undenkbar.    

    Durch die relativ geringe Intensität des Kriegs und Putins bevorstehende Wiederwahl als Präsident mit breiter Unterstützung führt kein Weg an einer langfristigen Nachbarschaft mit einer neuen, übleren Version von Russland vorbei. Es kehrt die Idee zurück, dass man mit Russland – egal in welcher Version – ein Auskommen finden muss, und damit wird die Krieg führende Diktatur durch internationale Kontakte sowohl im Osten als auch im Westen legitimiert werden.  

    Wenn diese Kontakte zum Westen wieder aufgenommen werden, dann werden die Sanktionen angesichts der russischen Staatseinnahmen in internationalen Handelsgeschäften wie eine Bestrafung einzelner Bürger wirken – sie treffen diejenigen, die man eben erwischen kann. Wobei es doch auch in solchen Fällen üblich ist, dass die Bürger mit dem Staat gemeinsam leiden und nicht an seiner statt. Und keiner hat eine Antwort auf so verfluchte Fragen wie: Was, wenn in Russland aufgrund der fehlenden technischen Wartung ein Passagierflugzeug abstürzt? 

    Die gleichzeitige Unterstützung Israels und der Ukraine ist weniger widersprüchlich, als Kritiker behaupten. Es geht hier weniger um Kriegsgegner, die auf einmal zu Kriegsbefürwortern geworden sind (allerdings trifft das längst nicht auf alle zu), sondern um Menschen, die in beiden Konflikten jeweils die Seite unterstützen, die trotz all ihrer himmelschreienden Unvollkommenheiten Zivilisationen westlichen Typs repräsentiert. Darüber hinaus sind, wenn man die alles verkomplizierenden Vorgeschichten außer Acht lässt, beide Kriege eine Reaktion auf Aggression.   

    Israels Krieg gegen Gaza hat den proukrainischen Konsens zerschlagen

    Dennoch hat der Krieg Israels gegen Gaza die Kräfte der Bündnispartner der Ukraine zerstreut, die weltweite Aufmerksamkeit abgezogen und den proukrainischen Konsens zerschlagen. Jene, die sich einig waren über die Verurteilung Russlands und die Unterstützung der Ukraine, sind sich über Israel und Palästina in die Haare geraten und werfen einander vor, die falsche Meinung zu vertreten. Die angespannte Diskussion über den neuen Konflikt hat Anlass zum Zweifel gegeben, ob es nicht auch bezüglich Russland und Ukraine sein kann, dass keiner vorbehaltlos recht hat.   

    Der Nahostkrieg hat den in der Ukraine nicht nur von den Titelblättern verdrängt. Legt man die beiden Konflikte übereinander, dann stimmen bei gewissen Fragen die Konturen nicht überein: bei der Annexion von Territorium, der Fremdverwaltung von dessen Bevölkerung, bei zivilen Opfern im Zuge von Kampfhandlungen. Der Vergleich mit Israel ist gerade da unvorteilhaft für Kyjiw, wo man Länder abseits des Westens davon überzeugen will, die Ukraine zu unterstützen.  

    Russland ist es gelungen, die Welt in jene zu spalten, die den Einmarsch in die Ukraine als eigenes Drama erlebt haben, und jene, die gleichgültig blieben. Für die einen geht es hier um Fragen der allgemeinmenschlichen Moral, für die anderen um ganz normale Geopolitik wie eh und je und überall. Zu Letzteren zählen die meisten nicht westlichen Länder, und der Nahostkonflikt machte es ihnen leichter, bei ihrer Meinung zu bleiben. Die Antwort auf die Frage, „ob man leben kann, wenn nebenan Krieg ist“, fiel positiv aus – sowohl für die meisten Menschen als auch für die meisten Staaten. Es geht, sogar wenn es zwei Kriege sind.

    2022 schien es, als sei mit einem Mal die große Klarheit ausgebrochen. Eineinhalb Jahre später bildet diese Klarheit keine tragende Basis mehr

    Vor einem Jahr schien es, als sei die große Klarheit ausgebrochen. Der Krieg zerstörte Leben, vernichtete Pläne, entriss vielen ihr Zuhause, lieferte dafür eine unerschütterliche moralische Stütze und ein maximal belastbares Fundament für eine neue Einigkeit über unwichtig gewordene Unterschiede hinweg. Zuvor war die Möglichkeit einer solchen Einigkeit unklar, unter anderem aufgrund unterschiedlicher Ideen, mit der perfiden Diktatur zu koexistieren, die trügerische Hoffnungen nährte. Die Ablehnung des Kriegs brachte die verschiedensten Menschen mit unterschiedlichsten Erfahrungen zusammen, und es sah so aus, als würde dieses sie verbindende Wichtige nie mehr verschwinden.     

    Eineinhalb Jahre später ist diese Klarheit vielleicht auf individueller Ebene noch da, bildet  jedoch keine einende Grundlage mehr. Die gemeinsame moralische Basis gleicht mittlerweile einem zerbrochenen Spiegel, in dem jede Scherbe zwar dasselbe widerspiegelt, aber jeweils für sich. Die Ablehnung des Kriegs wurde vom Maß aller Dinge zu einer Meinung, die man je nach Lebenslauf, Wohnort, Umfeld und sogar Staatsbürgerschaft annimmt oder auch nicht.

    Russische Kriegsgegner werden in Kyjiw nicht mehr als Verbündete gesehen

    Von der spontanen, intuitiv richtigen Geste, russische Kriegsgegner automatisch als Verbündete zu sehen – wie Selensky es tat, indem er für eines seiner ersten Interviews russische Journalisten einlud –, ist ein beachtlicher Teil der ukrainischen Gesellschaft dazu übergegangen, eine solche Verbundenheit gar nicht erst für möglich zu halten, und ein Teil der russischen Gesellschaft folgte. Andere wiederum schotteten sich ganz ab: Na gut, dann müsst ihr es eben ohne uns schaffen.  

    In beiden Fällen geht es nicht um alle, vielleicht nicht einmal um die Mehrheit, doch allein das Aufkommen solcher Ideen reichte aus, um ein eventuelles ukrainisch-russisches Bündnis gegen den Krieg im Keim zu ersticken. Aus Angst davor, die Opfer des Angriffs zu verletzen, begannen viele im Westen, sich von Gleichgesinnten in Russland abzugrenzen. Die eine, absolute Ablehnung von Krieg und Diktatur hat sich in mehrere relative verwandelt.        

    Wenn die vorbehaltlose Verurteilung der Aggression als einziges Kriterium, das unter den neuen Bedingungen zählt, in Zweifel gezogen wird, wird automatisch auch das Neue und Einzigartige dieser Bedingungen in Zweifel gezogen. Und somit wird die aktuelle Aggression relativiert: „Der Krieg hat bereits 2014 begonnen, wo wart ihr damals? Wir kannten Putin doch genau, Russland hat sich immer so verhalten und so weiter. Und wenn es schon immer so war, gibt es auch keinen Grund, sich jetzt aufzuregen.   

    Das zum Schweigen verurteilte Russland empfand lange Zeit Dankbarkeit, dass einige ihr Zuhause aufgaben, um vom Ausland aus ihre Stimme zu erheben

    Die grenzübergreifende Einheit der Kriegsgegner begann ab Mitte September 2022 zu bröckeln und setzte dies das ganze Jahr 2023 auch innerhalb der russischen Gesellschaft fort. Viele Monate nach Kriegsbeginn empfand das auf sich selbst zurückgeworfene und zum Schweigen verurteilte Russland so etwas wie Anerkennung jenen gegenüber, die ihr Zuhause aufgaben, um einer zum damaligen Zeitpunkt allgemeinen Stimmung Ausdruck zu verleihen. Auf diese Haltung – danke, dass ihr sprecht und schreibt, ihr rettet unsere Würde – trifft man jetzt seltener.

    Die Lage ist so gut wie aussichtslos. Die freie Presse und generell das intellektuelle öffentliche Leben konnten nach Kriegsbeginn in Russland nicht in bisheriger Form weitergehen. Und außerhalb der Staatsgrenzen hörten sie mit der Zeit auf, jene zu repräsentieren, die im Land geblieben sind. Das liegt nicht nur an Internet-Sperren und auch nicht am unterschiedlichen Alltag. Innerhalb Russlands bildet sich schrittweise eine neue Sprache heraus, eine neue Art, über schmerzhafte Themen zu sprechen, neue Modi, mit anderen Worten und anderen Intonationen seinen Widerspruch zu markieren. Die innere und die äußere Sprache sind nicht komplett unterschiedlich, aber auch nicht komplett gleich. Dass man also in verschiedenen Sprachen vom selben sprechen wird, scheint unausweichlich.       

    Gegen Ende des zweiten Kriegsjahres ist die Trennung der beiden russischen Gesellschaften diesseits und jenseits der russischen Staatsgrenze abgeschlossen. Die Macht und Bedeutung von Statements gegen den Krieg hat sich indessen ebenfalls abgenutzt. Im Frühling und Sommer 2022 war jedes Wort, jedes Interview maßgeblich und dreist, man wurde bestraft oder auch nicht, aber jetzt wirken dieselben Worte wie eine Wiederholung von bereits Gesagtem.   

    Die Entwicklung von russischen Staatsbürgern, die gegen den Krieg protestiert haben, und die von Präsident Selensky sind sich in dieser Hinsicht ähnlich. Die Zeit, die gefüllt werden muss und daher Wiederholungen verlangt, zerreibt, verwischt und entwertet die Worte und Taten. Und genau wie für Selensky gilt für jeden Kriegsgegner, der seine Stimme erhebt: Je länger der Krieg dauert, desto größer wird das Risiko, einen Fehler zu machen, etwas Falsches zu sagen. Der Aggressor hat weniger Risiko, vor dem schwarzen Hintergrund der Aggression fällt ein verbaler  Fauxpas nicht so auf, der Hauptfehler ist schon begangen, ihn zu vertiefen ist schwer.         

    Die Separation der beiden Kriegsgegner in und außerhalb Russlands wird durch das Vorgehen der westlichen Bürokraten beschleunigt. Mit dem nachvollziehbaren Wunsch, die Kriegsbefürworter nicht einfach in Ruhe weiterleben zu lassen, als wäre nichts gewesen, zielen sie darauf ab, die Verbindung zwischen dem Innen und dem Außen endgültig abreißen zu lassen. Drei potenziell enorm wichtige Verbindungen – die russisch-ukrainische, die russisch-europäische und die russisch-emigrantische sind zu Opfern der Relativierung geworden.

    Der ideale Beobachter, das ideale Opfer und das ideale Mitleid sind Vergangenheit

    Im Frühling 2022 erzeugte der Schock über den Angriff eine künstliche Reinheit der Atmosphäre. Details rückten in den Hintergrund, ermöglichten es vorübergehend, dass ideale Beobachter einem idealen Opfer ideales Mitleid entgegenbringen, ohne einander zu kritisieren. Ideales Leid, ideale Solidarität. Wie leicht und schön ist es doch, die richtige Entscheidung mitzutragen, wenn plakative Gerechtigkeit siegt, das Böse bestraft wird, das Opfer sich treu bleibt und die Zeit und die Menschen das Bild nicht verderben. 

    Aber dieser Punkt ist überschritten. Die beinahe laborhafte Reinheit konnte sich unter natürlichen Bedingungen nicht lange halten. Anscheinend erleben wir in der dunklen Jahreszeit the darkest hour. Heute müssen wir die unter Theologen vielzitierte unitas in necessariis (dt. Einmütigkeit im Notwendigen) mit bewusster Anstrengung aufrecht erhalten, indem wir das vom Lauf der Zeit aufgezwungene soziale und politische Durcheinander überwinden. Andererseits wiegt eine unter natürlichen Bedingungen getroffene moralische Entscheidung schwerer, und der dabei herausgebildete ethische Maßstab für die Politik könnte zur universellen Norm werden.

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  • Debattenschau № 89: Prigoshin tot?

    Debattenschau № 89: Prigoshin tot?

    Am Mittwochabend ist ein Privatjet der Wagner-Gruppe in der Region Twer abgestürzt, alle zehn Insassen sind laut russischen Medien ums Leben gekommen. An Bord soll sich der Chef der Söldnergruppe Jewgeni Prigoshin befunden haben, ebenso deren Kommandeur und Mitbegründer Dimitri Uktin.

    Genau vor zwei Monaten hatte Jewgeni Prigoshin seinen Aufstand der Wagner-Söldner gegen die russische Militärführung angeführt: Sie hatten die Millionenstadt Rostow am Don besetzt, Militärkolonnen rollten bereits auf Moskau zu, doch dann wurde der spektakuläre „Marsch der Gerechtigkeit“ überraschend abgeblasen. Vermittelt hatte das nach außen Alexander Lukaschenko, Alexej Djumin soll dabei eine zentrale Rolle gespielt haben. Putin hatte noch am Morgen des 24. Juni öffentlich von „Verrat“ und einer unweigerlichen Bestrafung gesprochen. Doch im Endeffekt konnte sich Prigoshin weiterhin frei in Russland bewegen, die Wagner-Söldner sind zum Teil wie vereinbart nach Belarus gegangen oder wurden in die russische Armee eingegliedert. 

    Angesichts dieser Vorgeschichte halten es viele Beobachter für ausgeschlossen, dass der Flugzeugabsturz ein Unfall war. dekoder hat erste Reaktionen von russischen und belarussischen Kommentatoren übersetzt.

    Alexander Baunow/Facebook: Mafia-Methode

    Russland wird schon seit über eineinhalb Jahrzehnten als ein Mafia-Staat beschrieben. Aus dieser Logik heraus erklärt auch der Analyst Alexander Baunow auf Facebook den Tod von Prigoshin.

    [bilingbox]Eine Bestrafungsmethode in Diktaturen besteht darin, den Feind/Verräter vor seiner Vernichtung für sich zu gewinnen oder sich zumindest mit ihm zu versöhnen, um so zu tun, als sei ihm vergeben worden. Das ist wie in Mafia-Filmen, wo sich rivalisierende Gruppen und ihre Bosse zusammentun, und anschließend die einen die anderen aus einer Torte erschießen, oder wie in Der Pate, wo sich alle versöhnen, bevor sie sich auslöschen.~~~Одна из технологий  наказания внутри диктатуры – приблизить врага/предателя перед уничтожением, или хотя бы помириться сделать вид, что прощен. Это как в фильмах про мафию, враждующие группы и их боссы собираются вместе, чтобы потом одни расстреляли других из торта, или в «Крестном отце» всё мирятся прежде чем  уничтожать.[/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Tatjana Stanowaja/Telegram: Eine Lehre für potenzielle Nachfolger

    Nicht einmal die russischen Propagandaorgane verbreiten die Version, dass der Absturz ein Unfall war. Die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja argumentiert auf Telegram, dass Prigoshins Ermordung eine Signalwirkung hat.

    [bilingbox]

    Was auch immer die Gründe für den Flugzeugabsturz sein mögen, jeder wird ihn als einen Akt der Rache und Vergeltung ansehen – und der Kreml wird das nicht groß verhindern. Aus der Sicht Putins – und vieler Silowiki und Militärs – soll der Tod Prigoshins allen potenziellen Nachfolgern eine Lehre sein […]

    Prigoshins Tod ist eine direkte Bedrohung für alle, die ihm bis zum Schluss treu geblieben sind oder ihn offen unterstützt haben. Dies wird eher abschrecken als zu Protesten anregen. Deswegen ist keine besondere Reaktion zu erwarten. Es wird Empörung und Unzufriedenheit geben, aber keine politischen Konsequenzen.

    ~~~

    Каковы бы ни были причины крушения самолета, все будут видеть это как акт возмездия и расправа, и Кремль не будет особенно мешать этому. С точки зрения Путина, а также многих среди силовиков и военных – смерть Пригожина должна быть уроком любым потенциальным последователям. […]

    Смерть Пригожина – прямая угроза для всех, кто оставался с ним до конца или открыто поддерживал. Это скорее напугает, чем вдохновит на протесты. Поэтому никакой особой реакции ждать не стоит. Негодование и недовольство будет, политических последствий – нет.

    [/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Ekaterina Schulmann/Telegram: Tarnung zum Untertauchen 

    In einer ersten Reaktion erinnert die russische Politologin Ekaterina Schulmann auf ihrem Telegram-Kanal daran, dass auch eine Inszenierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden kann.

    [bilingbox]Aber ein ausgebranntes Flugzeug ist auch eine gute Tarnung, um mit einem der vielen Ersatzpässe für immer unterzutauchen. Ab in die Pampa, wo keiner einen findet, bis Gras über die Sache gewachsen ist und die Spuren kalt sind. Mein Leben – ein Roman!~~~Но и для того, чтобы скрыться навсегда, взяв один из многочисленных запасных паспортов, сгоревший самолёт – тоже подходящий повод. Ворон костей не соберёт, концы в пепел, след простыл. Quel roman que ma vie![/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Michael Naki/Telegram: Alles ist so, wie es scheint 

    Manche witzeln über Michael Naki, er sei ein Prigoshinologe. Tatsächlich hat der populäre YouTuber und Militäranalyst schon im Februar 2023 vorhergesagt, dass Prigoshin keines natürlichen Todes sterben wird. Auf Telegram wendet er sich nun gegen die These, dass der Absturz eine Inszenierung sei. Für Naki ist alles in Wirklichkeit genauso, wie es auch scheint.

    [bilingbox]

    Erinnert ihr euch noch daran, als die Drohnen in den Kreml flogen? Da gab es alle möglichen Hypothesen, etwa dass der FSB da seine Finger mit drin hatte. Nichts davon konnte bestätigt werden, und ich denke, heute ist allen klar, dass es ukrainische Drohnen waren.

    Erinnert ihr euch noch an Prigoshins Meuterei? Damals hat kaum einer versäumt, sie als Inszenierung zu bezeichnen. Allerdings konnte niemand erklären, was der Zweck dieser Inszenierung war. Ich glaube, heute gibt es nur noch wenige Menschen, die an eine Inszenierung glauben.

    Jetzt haben wir die gleiche Situation. Ich kann weder zu 100 Prozent sagen, dass Prigoshin wirklich tot ist, noch, dass da irgendein raffinierter Plan dahintersteckt. Aber ich bin mir mehr als sicher, dass alles genauso ist, wie es auch aussieht. Putin hat Prigoshin demonstrativ getötet, und zwar auf eine Art und Weise, die keinen Raum lässt für Fantasien über einen Unfall oder Beteiligung der ukrainischen Streitkräfte.

    ~~~

    Помните, когда дроны прилетели в Кремль? Сколько там было всевозможных гипотез, что, мол, это дело рук ФСБ. Ни одна не подтвердилась, и, думаю, что сейчас всем очевидно, что это были украинские дроны.

    Помните мятеж Пригожина? Который только ленивый не назвал инсценировкой. Правда, никто не мог объяснить, в чем цель этой инсценировки. Думаю, что сейчас мало людей, которые все еще полагают, что это была инсценировка.

    Та же ситуация и здесь. Я не могу на 100% утверждать, что Пригожин точно мертв, и что нет каких-то хитрых планов. Но я более чем уверен, что всё именно так, как выглядит. Путин демонстративно убил Пригожина, причем способом, который не оставляет места фантазии на тему случайности или действий ВСУ.

    [/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Alexander Friedman/Telegram: Der Mann, der zuviel wusste

    Der belarussische Historiker und Analyst Alexander Friedman glaubt, dass der Tod Prigoshins auch als Warnung an Lukaschenko verstanden werden kann.

    [bilingbox]Auf jeden Fall wird Lukaschenko sagen können, dass seine Garantien für Prigoshin nur auf dem Territorium von Belarus und nicht für andere Teile des Unionsstaates galten. Der Tod von Jewgeni Prigoshin macht Alexander Lukaschenko in gewisser Weise zu einem „neuen Prigoshin”. Einerseits gibt ihm sein Tod die Möglichkeit (sollte der Kreml zustimmen), Teile der Gruppe Wagner unter seine Kontrolle zu bringen. Andererseits ist es die typische Geschichte eines Mannes, der zuviel wusste. Und das wird, wie wir heute gesehen haben, im Kreml nicht verziehen.~~~Александр Лукашенко в любом случае сможет сказать, что его гарантии Пригожину действовали только на территории Беларуси и не распространялись на другие части Союзного государства. Смерть Евгения Пригожина делает самого Александра Лукашенко в какой-то степени «новым Пригожиным». С одной стороны, она дает ему возможность (если будет на то согласие Кремля) поставить под свой контроль части ЧВК «Вагнер» в Беларуси. С другой стороны, это типичная история человека, который слишком много узнал. А такое, как мы сегодня увидели, в Кремле не прощают.[/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Alexander Klaskowski/Pozirk: Jede Menge Probleme für Lukaschenko

    Was passiert nun mit den Wagner-Söldnern in Belarus? Mit dieser Frage beschäftigt sich der belarussische Journalist Alexander Klaskowski auf Pozirk.

    [bilingbox]

    Lukaschenko kann den Tod des Wagner-Chefs nutzen, um die Spannungen in den Beziehungen zu den Nachbarländern der Europäischen Union und der NATO etwas zu senken.
    Eine andere Frage ist, ob Putin es eilig hat, diese toxische Mannschaft [die Wagner-Söldner – dek] einzusammeln oder dem belarussischen Machthaber zumindest Geld für den Unterhalt dieser problematischen Gäste zu geben. […]
    In jedem Fall hat der „kleine Bruder”, der in diesem Stück einen PR-Coup als Retter Russlands beim blutigen Aufstand leisten wollte, ordentlich viele Probleme übergeholfen bekommen.

    ~~~

    Лукашэнка можа скарыстаць смерць кіраўніка ПВК, каб трохі разрадзіць напружанне ў дачыненнях з суседнімі краінамі Еўразвязу і НАТО.
    Іншае пытанне, ці паспяшаецца Пуцін забіраць гэты таксічны актыў або хаця б даць грошай на ўтрыманне гэтых праблемных для беларускага правіцеля гасцей.

    В любом случае «младший брат», который хотел пропиариться в этом сюжете как спаситель России от кровавого бунта, получил на свою голову кучу проблем. 

    [/bilingbox]

    erschienen am 24.08.2023, Orignal

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  • Shamans Kampf

    Shamans Kampf

    Entschlossen schreitet Jaroslaw Dronow in Lederstiefeln über den Roten Platz, auf der Brust prangt ein Holzkreuz, den linken Arm ziert eine Armbinde mit der russischen Trikolore. „Wahrheit und Stärke sind auf unserer Seite, stolz wird unsere Nation alles überleben“, singt der als Shaman bekannte Popstar dazu in seinem Lied My (dt. Wir). Neben der offenkundigen Nähe zur NS-Ästhetik sorgte in den Sozialen Netzwerken für Diskussionen, dass die Veröffentlichung des Songs ausgerechnet mit dem Geburtstag Adolf Hitlers zusammenfiel.

    Der 31-jährige Dronow hat die Gnessin-Musikhochschule in Moskau abgeschlossen und gilt als Shootingstar der patriotischen Popmusik in Russland. Seine Karriere erlebte einen steilen Aufschwung mit dem Song Wstanem (dt. Wir erheben uns). Das Lied ist Gefallenen im Großen Vaterländischen Krieg gewidmet, erschien einen Tag vor Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine und wurde oft darauf bezogen interpretiert – entsprechend der russischen Propaganda, die schon seit 2014 versucht, die russische Aggression gegen die unabhängige Ukraine in Bezug zum sowjetischen Kampf gegen Hitlerdeutschland zu setzen. 

    Shamans neuester Song heißt Moi boi, was sich mit „Mein Kampf“ (russ. Moja borba) übersetzen lässt und auch so in den deutschen Untertiteln auf YouTube angezeigt wird, wie Social-Media-User sogleich bemerkten. Der Politikanalyst Alexander Baunow hat sich den Clip dazu angeschaut und seine Gedanken zu den Propaganda-Mechanismen dahinter auf Facebook notiert. 

    Der Sänger Shaman Dronow hat einen neuen Clip aufgenommen – Mein („Kampf“ durchgestrichen) Gefecht –, bei dem der empfindsame Betrachter eine Träne vergießen soll, angesichts eines Sammelsuriums von Bildern unrasierter, schießender Männer in Tarnuniform und zerstörter Gebäude und Straßen. Und die Zuschauer tun das auch folgsam.

    Betroffenheit angesichts der Zerstörung – und Mitgefühl für die Verursacher

    Dass die zerstörten Gebäude und Straßen zu eben jenen Städten gehören, die von den Männern in Tarnuniform beschossen werden, und dass die tränenvergießenden Zuschauer sowohl mit dem einen wie mit dem anderen mitfühlen sollen, verstört diese nicht im Geringsten. Hauptsache, die Melodie ist anrührend, die Stimme mitreißend und unser Junge auf der Bühne hübsch. Und mit den „Helden“ mitzufühlen und sich den Anblick der Leiden zu Herzen zu nehmen, das ist für den Zuschauer erhebend: Es belegt, dass er ein guter Mensch ist, und dass auch die Sache, die ihm am Herzen liegt, gut und gerecht ist. 

    Die Bilder der Ruinen in dem Clip ließen sich durch Aufnahmen von der Kathedrale und dem Haus der Wissenschaftler in Odessa ergänzen [die Russland am Tag der Veröffentlichung des Posts mit Raketen beschossen hat – dek]. Letzteres war ein Anwesen der Grafen Tolstoi, und seine Räumlichkeiten haben als Kulisse gedient: Sie waren die Räume des Schlosses von Versailles in Die drei Musketiere, dem vom feinfühligen Zuschauer geliebten, guten alten sowjetischen Film. Man könnte den Clip mit einem offenen Ende versehen, das allmonatlich mit neuen Bildern von Ruinen bestückt wird. Das dürfte für den aufmerksamen Betrachter zu keinerlei kognitiven Dissonanzen führen, und es wird ihn auch nicht in eine geistige Sackgasse manövrieren. Schließlich wird hier alles vom Herzen entschieden.

    „Wir sind hier Helden wie auch Opfer“

    Bei der ästhetischen Verarbeitung dieses Krieges durch das Massenpublikum gibt es die Besonderheit, dass positive Bilder (etwa unrasierte Helden) sich mit der eigenen emotionalen Welt verbinden, einer positiven, guten Welt. Negative Bilder hingegen (zerstörte Gebäude etwa) gehören zu einer fremden Welt, einer Welt des Schlechten und Bösen. Was soll da unklar sein? Die Helden sind positiv, die Ruinen negativ. Wir fühlen mit den Guten mit, sind stolz auf sie. Und wir haben Mitgefühl mit den Opfern des Bösen, der Anblick der Trümmer schmerzt uns – alles logisch.

    Shaman gilt als Shootingstar der patriotischen Popmusik in Russland / Foto © Komsomolskaya Pravda/Russian Image/imago images
    Shaman gilt als Shootingstar der patriotischen Popmusik in Russland / Foto © Komsomolskaya Pravda/Russian Image/imago images

    Das funktioniert wie eines der [propagandistischen – dek] Erklärungsmuster, dessen Logik genauso aufgebaut ist wie in dem Clip: Wir Slawen haben unter einem Krieg zu leiden, der in unsere russischen, slawischen Lande ein weiteres Mal durch fremde, feindliche Mächte getragen wurde – durch die Amerikaner und Europäer. Wir sind hier sowohl Helden wie auch Opfer. Wir schießen, und wir beklagen die Zerstörungen, die bei uns allen ferne, fremdländische Feinde angerichtet haben. Die Kathedrale ist also durch diese zerstört worden, wird aber unweigerlich zur nächsten Strophe wiederauferstehen.

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  • Recht auf Zerstörung

    Recht auf Zerstörung

    Im Häuserblock, der einst hunderte Menschen beheimatete, klafft eine gewaltige Lücke voller Trümmer: Die russische Armee hat am 14. Januar mit einem Marschflugkörper vom Typ Ch-22 einen Wohnblock im ostukrainischen Dnipro zerstört und dabei laut ukrainischen Angaben 46 Menschen getötet und Dutzende verletzt.

    Woher kommt die Gleichgültigkeit oder gar Zustimmung, mit der viele Menschen in Russland auf die Zerstörung von Wohnhäusern und ziviler Infrastruktur in der Ukraine blicken? Das fragt der politische Analyst Alexander Baunow auf Carnegie politika und sieht imperiale Denkmuster am Werk.

    Dnipro nach einem Raketenangriff am 14. Januar 2023 / Foto © State Emergency Service of Ukraine unter CC-BY SA 4.0

    Wladimir Putin hat wiederholt zu verstehen gegeben, dass er die Sowjetunion nicht wiedererrichten, sondern übertreffen will beziehungsweise sie bereits übertroffen hat. Er verkündete stolz, Russland sei flächenmäßig zwar kleiner als die UdSSR, überhole sie dafür jedoch bei der Produktion und Ausfuhr von Getreide sowie beim Seegüterumschlag (gemeint ist selbstverständlich vor dem Krieg). Die russische Armee sei nicht dank sowjetischer Technik stark, wie viele selbst patriotisch gestimmte Bürger glauben, sondern dank moderner Waffen, die ihren westlichen Pendants überlegen seien.

    Die Krim-Brücke, die Stalin (für viele Russen der größte Herrscher Russlands) anlässlich der Jalta-Konferenz hat bauen lassen, hielt nicht lange, bevor sie im Winter 1945 vom Packeis fortgerissen wurde. Putins Brücke ist für Jahrhunderte gedacht. Und genauso soll auch Putins Russland ein stabileres, moderneres Gebilde sein als die UdSSR und das Reich der Romanows, die beide zerfielen. Auf der Suche nach diesem neuen, auf Jahrhunderte angelegten Gebilde und nach neuen stabilen Grenzen wurde auch der jetzige Krieg begonnen.

    Auf der Suche nach einer neuen Stabilität kommt es zu einer Abkehr von sowjetischen Konstrukten, wie der Freundschaft zwischen dem russischen und dem ukrainischen Volk, die jeweils eine eigene Republik bewohnen (für deren Gründung Putin das sowjetische Projekt unermüdlich kritisiert), und das zu Sowjetzeiten als ur-ukrainisch geltende Saporishshja wird nach einem hastigen „Referendum“ zu einer normalen russischen Region erklärt, ohne den geringsten Unterschied zu anderen zentralrussischen Regionen.

    Wo sollen die Grenzen von Putins Russlandprojekt verlaufen?

    Wo sollen nach Ansicht derer, die die Bombardierung von Kraftwerken rechtfertigen, die Grenzen von Putins Russlandprojekt verlaufen, das stabiler werden soll als das sowjetische und zaristische Imperium?

    Zur Beantwortung dieser Frage wird gewöhnlich die russische Sprache herangezogen: Dort, wo Russisch gesprochen wird oder wurde. Und zweitens: Dort, wo wir „unsere Siege“ errungen haben, in erster Linie während des Großen Vaterländischen Krieges. Dieses Prinzip könnte man folgendermaßen formulieren: Vom Faschismus befreite Gebiete können nicht feindlich sein. In den letzten Monaten verweist Putin vermehrt auf die Siege unter Peter I. und Katharina II., allerdings nicht nur auf die Siege, sondern auch auf die Aneignung dieser Gebiete, als hätte dort erst mit der Ankunft der Russen die Zivilisation Einzug gehalten.

    Daraus ergibt sich das dritte Kriterium, womit definiert werden soll, was uns gehört und was nicht: die sowjetische Industrialisierung und ganz allgemein die industrielle Erschließung von Gebieten. Also dort, wo die UdSSR aktiv die Industrie förderte und Staudämme, Kraftwerke, U-Bahnen, Eisenbahnstrecken und Fabriken baute. All das betrachtet die heutige Führung und der überwiegende Teil der russischen Bevölkerung als ihr Eigentum: Wir haben diese Gebiete gestaltet, deshalb gehören sie uns und dürfen nicht gegen uns verwendet werden.

    Kraftwerke und Fabriken gab es vor der Sowjetzeit nicht: ‚Wir haben die für euch gebaut‘

    Die russischen Normalbürger nehmen es leichtfertig, ja fast freudig hin, dass die russische Armee ukrainische Fabriken und Kraftwerke zerstört, die die Städte mit Strom und Wärme versorgen, weil sie sie als ihr Eigentum betrachten, frei nach dem Motto: „Wir haben die für euch gebaut.“ In ihren Augen handelt Russland rechtmäßig, wenn es sie vernichtet.

    Die von Putin verkündete „Entsowjetisierung“ der Ukraine bedeutet paradoxerweise gleichzeitig den Wiederaufbau von Lenin-Denkmälern als Teil des gemeinsamen Erbes (sie stehen in allen russischen Städten, warum sollen sie nicht auch bei euch stehen?) und die Zerstörung von Fabriken, Kraftwerken, Brücken und Straßen (ihr wolltet ohne uns leben, also lebt in der Steinzeit, ohne das, was Russland für euch gebaut hat). Das ist übrigens auch der Grund, warum sich Kasachstan, eines der Zentren der sowjetischen Industrialisierung, akut bedroht fühlt.

    Eine solche Haltung wie gegenüber der Ukraine findet eine Entsprechung innerhalb Russlands: Genauso behandelt die politische Führung (mit Unterstützung des Volkes) die russische Wirtschaft. Fabriken, Staudämme, Bergwerke – alles, was der sowjetische Staat aufgebaut hat und das später privatisiert, modernisiert und an das Leben in der Marktwirtschaft angepasst wurde, hat niemals wirklich aufgehört, Staatseigentum zu sein, das heißt einer Führungsclique zu gehören, die im Namen des Staates und des Volkes auftritt.

    Eine Haltung wie der Ukraine gegenüber findet sich auch innerhalb Russlands

    Seit der Privatisierung sind fast drei Jahrzehnte vergangen, aber in den Augen der Staatsführung sowie der meisten Russen sind die Großunternehmen nicht die Eigentümer, sondern lediglich „Halter“ der Vermögenswerte: Sie benutzen sie, solange man es ihnen erlaubt. Doch sobald der Kreml einen Unternehmer als Feind einschätzt, wird sein Unternehmen genauso vernichtet wie die Kraftwerke in der Ukraine: Was uns gehört, darf nur für uns sein.

    In Russland wird die industrielle und infrastrukturelle Entwicklung der ehemaligen Sowjetrepubliken zunehmend als Geschenk an die weniger entwickelten Peripherien betrachtet. Das ist ein weiterer Bruch mit der sowjetischen Identität, die darauf beruhte, dass die Fabriken, Brücken und Straßen im ganzen Land das Ergebnis einer multinationalen Anstrengung aller Völker der Union waren. Die russischen Bürger befürworten die Bombardierung der zivilen Infrastruktur in der Ukraine, weil sie diese als ihr Geschenk an die undankbaren Ukrainer betrachten, die es nicht zu Russlands Wohl verwenden.

    Die Russen betrachten die Ukraine, als wäre die Zeit angehalten worden: ‚Ohne uns und nach uns wird es hier nichts geben‘ 

    Die Sowjetregierung manipulierte auf eine ganz ähnliche Weise: In den 70 Jahren ihres Bestehens hat sie ihre Wirtschaftsindikatoren stets mit dem Höhepunkt der wirtschaftlichen Entwicklung im zaristischen Russland im Jahre 1913 verglichen – als ob es ohne die Sowjetunion keine wirtschaftliche Entwicklung gegeben hätte und andere Kennzahlen wie die Alphabetisierungsrate der Bevölkerung nicht gestiegen wären.

    Ebenso neigen der Kreml und die russischen Bürger dazu, im Hinblick auf die Ukraine und andere Teile des ehemaligen Imperiums zu vergessen, dass die Entwicklung dort mit oder ohne sie stattgefunden hätte, und dass es unmöglich ist, sich ein europäisches Land wie die Ukraine mit einer Bevölkerung von mehreren zehn Millionen Menschen ohne Kraftwerke, Schulen und Fabriken vorzustellen. In dem Teil der Welt, in dem sich die Ukraine befindet, hätte es Ende des 20. Jahrhunderts in jedem Fall Strom, fließendes warmes und kaltes Wasser in den Häusern der Städte und öffentliche Verkehrsmittel auf den Straßen gegeben.

    Die Russen betrachten die Ukraine, als wäre die Zeit angehalten worden – „ohne uns und nach uns würde und wird es hier nichts geben“ –, und begründen damit ihr Recht auf Erbeutung und Zerstörung. Der Übergang vom gemeinsamen sowjetischen „wir“ zu einem neuen „wir und sie“ wird vor unseren Augen vollzogen. Putins Krieg gegen die Ukraine stärkt nicht nur die nationale Identität der Ukrainer, indem er sie von ihren sowjetischen Merkmalen befreit, sondern er verändert auch die postsowjetische Identität einer riesigen Zahl von Bürgern im eigenen Land.

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  • „Nicht Russland ist populär, sondern Putin als Gegenspieler des Westens“

    „Nicht Russland ist populär, sondern Putin als Gegenspieler des Westens“

    Juri Dud ist einer der bekanntesten russischen YouTuber, der in seiner Sendung vDud zunächst vor allem Musikgrößen, schnell aber auch Akteure aus unterschiedlichsten – auch politischen – Lagern vor die Kamera holte. Inzwischen ist auch Juri Dud zum sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt. YouTube ist in Russland allerdings nicht blockiert, seine Sendung erreicht Aufrufe in Millionenhöhe. 

    Über acht Millionen Aufrufe verzeichnet auch das Interview, das Dud im August mit Alexander Baunow führte. Der ehemalige Diplomat Baunow war Chefredakteur von Carnegie.ru, des russischen Onlinemediums vom Moskauer Zentrum des US-amerikanischen ThinkTanks Carnegie. Das Zentrum musste am 8. April seinen Betrieb einstellen, die Seite Carnegie.ru funktioniert seitdem nur noch als Archiv. Zuvor waren dort Experten ganz unterschiedlicher politischer Ausrichtung zu Wort gekommen. 

    Kurz nach dem 24. Februar hat auch Alexander Baunow Russland verlassen und lebt nun im Exil. Im Interview mit Juri Dud spricht er darüber, wie Russland in den Autoritarismus schlitterte, warum Putin teilweise auch im Westen Zuspruch findet, und gibt Antwort auf die Schlüsselfrage des postsowjetischen Russlands: W tschom sila? Worin liegt die Kraft?

    „Der Fehler bestand darin zu glauben, die langen Jahre des Autoritarismus seien eine Impfung gegen eine Wiederholung." – Alexander Baunow im Gespräch mit Juri Dud / Foto © Screenshot aus der Sendung
    „Der Fehler bestand darin zu glauben, die langen Jahre des Autoritarismus seien eine Impfung gegen eine Wiederholung.“ – Alexander Baunow im Gespräch mit Juri Dud / Foto © Screenshot aus der Sendung

    Juri Dud: 2001 war Wladimir Putin hier [in Griechenland]. Du warst damals Mitarbeiter der russischen Botschaft in Athen und hast die Rede geschrieben, die er gehalten hat. Du sagtest, dass etwa 80 Prozent des Textes aus deiner Feder stammen. Zwei Zitate: „Wir … haben den Autoritarismus in seiner schweren Form durchlebt und eine Immunität gegen ideologische Unfreiheit entwickelt, eine Immunität, die auch für die alten Demokratien von Nutzen sein kann. In den vergangenen zehn Jahren haben wir einen schwierigen Weg zurückgelegt und die einzigartige Erfahrung gesammelt, wie man einen Staat und ein politisches Leben aufbaut. Das russische Volk hat einen demokratischen Staat aufgebaut. Der Mechanismus der freien Wahlen funktioniert auf allen Ebenen. Die Grundfesten des Föderalismus sind erstarkt. Russland hat eine Zivilgesellschaft bekommen.“ Und das zweite Zitat: „Ohne Demokratie, ohne die konsequente Integration in globale Prozesse können wir uns heute eine erfolgreiche Zukunft für Russland nicht vorstellen.“ Wie klingt das für dich jetzt, 21 Jahre später? 

    Alexander Baunow: Wie das wunderschöne Russland der Zukunft. Ich habe mich geirrt, wir beide haben uns geirrt … Ich glaube, dass er in dem Moment das gesagt hat, was er denkt, denn niemand hätte ihn dazu gebracht, etwas zu sagen, das er nicht denkt. Der Fehler bestand darin zu glauben, die langen Jahre des Autoritarismus seien eine Impfung gegen eine Wiederholung. 

    Der Fehler bestand darin zu glauben, die langen Jahre des Autoritarismus seien eine Impfung gegen eine Wiederholung

    Vor 20 Jahren dachte ich, die „autoritäre Impfung“ wäre zuverlässig, eine Spritze, die dich so etwas nie wiederholen lässt. Aber offenbar stimmt das nicht, im Gegenteil, die Menschen gehen aus autoritären Perioden mit einem gebrochenen Willen zur Diskussion hervor. Sie werden leider nicht geimpft, sondern vergiftet. Das eine ist eine Impfung, das andere eine Überdosis, der Körper muss gegen das Mittel ankämpfen, weil das Immunsystem nicht mehr dagegen ankommt. Offenbar hat es unser Immunsystem nicht geschafft. Die Dosis war zu hoch.

    Stimmt es, dass Putin hier [in Griechenland] ziemlich populär ist?

    Es ist nicht der physische Putin oder sein Gehirn, die populär sind, sondern seine Funktion. Und seine Funktion besteht im Widerstand gegen den Westen. Diese Funktion erfreut sich in der ganzen nicht-westlichen Welt großer Beliebtheit.
    Der Reichtum auf der Welt ist ungleich verteilt. Der Teil der Welt, der ärmer ist als der andere, sucht eine Erklärung dafür. Die Erklärung besteht meistens in einem: Wir sind besser. Die Zynischeren, Dreisteren, die ohne Werte – haben uns betrogen, sie haben uns irgendwo unterwegs geschnitten und überholt. Und jetzt beuten sie uns aus. Es braucht jemanden, der die Situation wieder geradebiegt. Jemanden, der den Reichen erklärt, dass sie zwar die Macht haben, aber wir die Wahrheit. Das macht Putin weltweit so populär – es geht darum, dass da jemand kommt, ein Land, das „denen“ in unserem Namen sagt: Ihr seid nicht reicher als wir, weil ihr besser seid, sondern schlechter.

    Es ist nicht der physische Putin oder sein Gehirn, die populär sind, sondern seine Funktion. Und seine Funktion besteht im Widerstand gegen den Westen

    Das hatte merkwürdige Auswirkungen. Denn diese Position ist sehr attraktiv für jemanden, der gelobt werden möchte. Und schauen wir uns den frühen Putin an: Wo sucht er dieses Lob? Natürlich im Westen. Er gratuliert Bush zum Wahlsieg, schließt Militärstützpunkte. Und auf der anderen Seite haben wir die linke Intelligenz in Griechenland oder Frankreich, in Lateinamerika, in der arabischen Welt und die sagt ihm: „Wie konntet ihr Russen das mit der Großmacht so vergeigen? Ihr wart doch das Gegengewicht zu diesen Amerikanern, jetzt kennen die gar nichts mehr, wir können uns gar nicht retten. Wie konnte das nur passieren?“

    Dann kommen noch die aus Osteuropa, traumatisiert durch die Teilung Polens, die Besetzung des Baltikums, den Molotow-Ribbentrop-Pakt. Die sagen: „Die Russen sind grausam, wir kennen sie gut. Jede russische Staatsmacht ist böse. Holt sie nicht zu uns in den Westen. Rettet uns vor ihnen. Stellt lieber die Berliner Mauer weiter östlich wieder auf.“

    Und schließlich gibt es noch die Inder, Chinesen, Griechen … die Bevölkerung der ärmeren, nicht-westlichen Entwicklungsländer, die sagen: „Wo bleibt ihr denn? Wir vermissen euch!“ Und drängen in diese Richtung. Und wenn du, sagen wir mal, eine Position auf dem Globus suchst, die dich von der Masse abhebt, die dich wichtig macht, bedeutend, deine Eitelkeit befriedigt, die Eitelkeit deines Landes, deiner Nation, dann lässt du dich allmählich, Stück für Stück davon überzeugen, dass dir das selbst auch gefällt. Aber die Hauptsache ist, es gibt jemanden, der überzeugt werden will, und du fängst an, auf diese globale Nachfrage zu reagieren.

    Dann ist also der Hauptgrund für Putins Beliebtheit, dass er sich auf Kosten von Komfort und Sicherheit des eigenen Volkes gegen Amerika stellt?

    Es gibt einen guten Marker, der das veranschaulicht. Wenn man zwei Balken in Umfrage-Grafiken miteinander vergleicht, sieht man, dass nicht Russland populär ist, sondern Putin in seiner Funktion als Gegenspieler des Westens. Ist Putin populär? Ja. Finden Sie ihn cool? Ja. Wollen Sie in Russland leben? Finden Sie Russland als Land gut? Nein, nein und nochmal nein. Putin als Gegengewicht zum Westen, als jemand, der es quasi im Namen der Wahrheit auf sich nimmt, diese verlogenen, verfressenen [Westler] zu bestrafen, ist beliebt, aber in Russland leben wollen wir nicht.

    Ist Putin populär? Ja. Finden Sie ihn cool? Ja. Wollen Sie in Russland leben? Nein, nein und nochmal nein

    In den 1990er Jahren diskutierten wir mit den Griechen, die sagten: „Warum ist eure Supermacht auseinandergefallen, wie konntet ihr das so verkacken?“. Was haben wir bitteschön verkackt? Wir mussten für Essen anstehen, versteht ihr das denn nicht? Das will nicht in deren Kopf, dass wir vielleicht ein Gegenpol zu Amerika waren und die Welt bipolar, aber das alles auf Kosten des Sowjetmenschen, der für Lebensmittel Schlange stand.

    Ich möchte mit dir über die russische Diplomatie sprechen. Wie beurteilst du das, was jetzt daraus geworden ist?

    Unser Thema ist ja: Wir wollen so sein wie Amerika, ebenbürtig. Sie haben Belgrad bombardiert, auch wir können Städte bombardieren, sie sind im Irak einmarschiert, auch wir können irgendwo einmarschieren. Aber schauen wir uns den diplomatischen Hintergrund bei dieser Geschichte an. Ein Großteil der Welt war sich einig, dass Milošević und Hussein schlecht sind. Du kannst sie gut finden, zu Opfern erklären, das ist deine Sache, aber die Vorbereitungen liefen so ab, dass der größte Teil der Welt sie für böse hielt. Jetzt behauptet die russische Diplomatie steif und fest, die Regierung in Kyjiw sei illegitim und habe die Macht in der Ukraine durch einen Staatsstreich an sich gerissen. Wer auf der Welt außer Russland denkt das? Ich habe das Gefühl, die russische Diplomatie ist nicht einmal selbst davon überzeugt, denn seit den Ereignissen von 2014 wurden [in der Ukraine] mindestens zwei Mal Präsidentschafts- und Parlamentswahlen durchgeführt. Es ist also eine gewählte Regierung. Das ist das Eine. 
    Das Andere: Als die Amerikaner in den Irak und in Jugoslawien einmarschierten, standen große internationale Koalitionen hinter ihnen. Du kannst diese Kriege schlimm finden, sogar schrecklich, aber das waren ganz reale alliierte Mächte, eine reale Koalition aus zahlreichen legitimen, voneinander unabhängigen (in manchen Punkten vielleicht nicht, aber dennoch) Staaten.

    Und der Erfolg der Diplomatie bemisst sich danach, wie viele Verbündete du hast?

    Ja, Verbündete und Freunde. Russland hat heute keine Verbündeten, höchstens Fans. Russland ist eine Art Gladiator, oder vielmehr ein Zirkusathlet in der Manege. Und es verwechselt die Anfeuerungsrufe der Masse mit einer Allianz.

    Es ist das Eine, den abstrakten Stinkefinger gegen Amerika gut zu finden, und etwas ganz anderes, Mariupol und all die anderen Dinge zu sehen

    Wir haben gesagt, dass die Dritte Welt, die Entwicklungsländer, die linke Intelligenz in Italien, Spanien, Griechenland, Lateinamerika den USA den Stinkefinger zeigen will, und sie dasjenige Land anfeuert, dessen Leader sich dazu erdreistet. Aber in Wirklichkeit sehen wir, dass die Griechen geschockt sind – denn es ist das Eine, den abstrakten Stinkefinger gegen Amerika gut zu finden, und etwas ganz anderes, Mariupol und all die anderen Dinge zu sehen. Und hierin unterscheiden wir uns von den Griechen, Italienern und Spaniern: Sie haben Mitgefühl, echte Empathie. Sie leiden wirklich mit.

    Und wir nicht?

    Ich glaube, nein. Ich meine nicht die Intelligenzija mit ihrem Feingeist, sondern den durchschnittlichen Fernsehzuschauer. Der durchschnittliche Fernsehzuschauer hat oft nicht einmal mit seinem Landsmann Mitleid, der vielleicht zur falschen Zeit am falschen Ort war. Die Rückholung der ureigenen russischen Gebiete erfordert es eben, dass wir unsere ureigenen russischen Menschen opfern. Was soll’s, wir haben schon Schlimmeres gesehen. Aber die Griechen haben Mitgefühl mit den Leidenden. Deshalb: Stinkefinger hin oder her, aber wenn sie sehen, wie das in Wirklichkeit ist, wie Amerika im Osten der Ukraine bestraft wird, dann heißen sie das nicht gut. Man sollte die Fan-Stimmung in den nicht-westlichen Ländern nicht überbewerten. Das sind keine Stimmungen von Alliierten, das sieht man sehr gut an den formell Verbündeten Russlands in der Eurasischen Wirtschaftsunion und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit.

    Außerdem hat sich niemand für den Krieg ausgesprochen, abgesehen von Lukaschenko. 

    Ja, und der ist sowieso schon involviert. Von seinem Gebiet aus sind ja die Truppen im Norden der Ukraine eingefallen. Alle anderen sind nicht für den Krieg. Erstens beteiligen sie sich nicht, zweitens halten sie sich möglichst raus. Drittens reißen sie sich nicht mal besonders darum, wirtschaftlich zu helfen.

    Du hast gesagt, in Russland assoziiert man Demokratie mit Entbehrungen, weil mit der Demokratie damals die hungrigen 1990er ins Land zogen. Verstehe ich dein Konzept richtig, dass daran auch der Westen schuld ist, weil man es versäumt hat, für das postsowjetische Russland eine Art Marschall-Plan zu machen?

    Ich würde nicht von Schuld sprechen, ich würde es Kurzsichtigkeit nennen. Der Erste Weltkrieg wurde mit einem bezüglich Deutschland, Ungarn und Österreich nicht sehr vorausschauenden Frieden beendet. Die Weimarer Republik, die Teilung Ungarns, wie das alles gelöst wurde, das erzeugte für Jahre im Voraus revanchistische Stimmungen und versetzte nicht nur irgendwelchen Imperialisten einen Stich, sondern den Durchschnittsbevölkerungen von Österreich, Deutschland und Ungarn. Wenn wir das sagen, rechtfertigen wir nicht den Nationalsozialismus, sondern versuchen die Gründe zu verstehen, warum in Deutschland gerade diese Kräfte an die Macht kamen.

    Ich glaube, dass der Kalte Krieg ein etwas zu triumphalistisches und kurzsichtiges Finale hatte. Es gab zwar die eine oder andere Geste, irgendwelche Versuche der Beteiligung, der Einbeziehung Russlands in den Klub der großen westlichen Staaten, ein paar Respektserweisungen, von der finanziellen Unterstützung durch den IWF mal abgesehen, all das gab es sehr wohl. Aber offenbar fehlte die Konsequenz und die strategische Dimension. 

    Ich glaube, dass der Kalte Krieg ein etwas zu triumphalistisches und kurzsichtiges Finale hatte

    Das heißt, Russland verschwand als Bedrohung. Gott sei Dank. Es verschwand und war vergessen. Idealerweise hätte man dafür sorgen müssen, dass die Demontage des sowjetischen Imperiums und die Errichtung einer Mehrparteien-Demokratie mit einem wirtschaftlichen Wachstum einhergehen. 

    Was hätte es dafür gebraucht? Einfach einen landesweiten Geldregen?

    Das mit dem Geldregen wäre auch schwierig gewesen … Na ja, irgendwas hätte man sich überlegen müssen. Es hätte ein paar relativ naheliegende Dinge gegeben. Zumindest die Staatsschulden hätte man erlassen können, die ja in den 1990ern abgestottert wurden. 

    Aber da wird wieder abgewogen: Ist es euch eher schade ums Geld oder habt ihr eher Angst, dass sich alles zum Schlechten wendet? Damals war es ihnen schade ums Geld, und Angst hatten sie keine. Hätten sie geahnt, was aus Russland in den nächsten 30 Jahren wird, wären sie freigiebiger gewesen. Damals wollten sie einfach kein Geld in ein nebulöses, undurchschaubares Land fließen lassen, in dem es sich irgendwie in Luft auflösen, in den Tschetschenienkrieg gesteckt oder sonstwie gestohlen werden konnte. Und überhaupt, vor allem: wozu? Der Feind war ja entschärft. Und man hatte nicht das Gefühl, dass dieser Feind wieder gefährlich werden könnte. Das war kurzsichtig. 

    Wenn wir in die Gegenwart zurückkehren, dann gibt es einen plausiblen Plan für die Ukrainer. Zwar schon mit ein paar verwaschenen Konturen, doch was sagt der Westen zur Ukraine? Erstens werden wir euch helfen, euren Staat vor der kompletten Zerstörung durch den mächtigen Nachbarn zu bewahren. 
    Zweitens werden wir euch so gut es geht helfen, vor allem die nach dem 24. Februar 2022 besetzten Gebiete zurückzuerobern. Des Weiteren werden wir …

    … euch Geld geben … 

    … euch Geld geben für den Wiederaufbau oder die Russen dazu zwingen, euch Geld für den Wiederaufbau zu geben. Und wir verleihen euch jetzt sofort den EU-Kandidatenstatus, geben euch damit einen Riesenvorschuss. Und wieder – auch jetzt wieder: kein Plan für Russland. 

    ‚Und dann sehen wir weiter‘ ist kein Plan.

    Was bekommt Russland zu hören? Erst mal müsst ihr raus aus der Ukraine. Okay, gut. Ihr müsst Reue zeigen. Alles andere wird von der Radikalität der Emotionen jener abhängen, die diesen ganzen Horror beobachten: Ihr werdet drei Generationen Buße tun, ihr werdet zwei Generationen Buße tun, ihr werdet eine Generation Buße tun. Buße ist das Eine, aber ein Plan für ein übles Land ist etwas anderes. Dass Russland etwas sehr Böses tut, daran besteht kein Zweifel. Das ist eine Feststellung. Und was ist der nächste Schritt? Für die Ukraine gibt es nämlich klar formulierte Vorschläge. Für Russland nur: Stürzen wir Putin, Putin wird sterben, Putin muss weg, und dann sehen wir weiter. „Und dann sehen wir weiter“ ist kein Plan.

    Was meinst du, was erwartet Wladimir Putin? Was für eine Zukunft?

    Ich glaube, wenn er keine ernsten gesundheitlichen Probleme hat, dann erwarten ihn ein paar Jahre ausklingende Herrschaft über dieses isolierte, aufgepeitschte Russland. 

    Hast du eine Antwort auf die Frage, was nach ihm kommt?

    Nach ihm kommt die Modernisierung. Entweder plötzlich oder allmählich. Weil er künstlich die Zeit anhält. Sie zieht sich in die Länge, danach werden wir sie einholen müssen. Dieser aufgepeitschte Zustand ist sehr erschöpfend, sowohl für die Bevölkerung als auch für die Elite. Denn dieser Zustand bedeutet, dass der Preis jeder falschen Entscheidung sehr hoch ist. Du und ich, wir sind sozusagen unabhängige Menschen, mit unabhängigen Berufen. Unser Kriterium ist der Erfolg, auf die eine oder andere Art.
    Das Kriterium eines Menschen, der Teil des Systems ist, ist es, keins auf den Deckel zu kriegen. Davon ausgehend trifft er seine Entscheidungen. Deswegen heißt es, innerhalb des Systems wird Eigeninitiative bestraft. Und wann erhöhen sich die Chancen, von oben eins auf den Deckel zu kriegen? Natürlich in einer aufgeheizten Situation, weil der Preis für einen Fehler dann steigt, der repressive Faktor ebenfalls erhöht wird und die Brutalität der Repressionen zunimmt. Auch die Elite einer aufgepeitschten Nation leidet: Sie wird härter kritisiert, trägt mehr Verantwortung, und auch hier ist der Preis für falsche Entscheidungen höher. Auch die Elite ist lieber entspannt. 

    Du hast Russland verlassen. Wann war das?

    Ich habe Russland Ende Februar verlassen. Das war zunächst eine geplante Reise, ich musste nach Kasachstan und kam dann zurück nach Moskau. Nach meiner Rückkehr bemerkte ich, dass ich mich nicht sehr wohl fühle in einem Land, das diese Entscheidung getroffen hat, von dem aus diese Befehle erteilt werden. Aus zwei Gründen: Erstens entsteht eine Dissonanz zwischen dem Alltag, dem normalen Leben, und jenem abnormalen Verhalten, das sich das eigene Land erlaubt. Ich glaube, viele sind vor dieser Dissonanz geflüchtet, wenigstens für ein paar Wochen, um mit sich ins Reine zu kommen. 

    Ich habe mich nicht mehr wohl gefühlt in einem Land, das diese Entscheidung getroffen hat, von dem aus diese Befehle erteilt werden

    Und zweitens: Es ist ein Raum ohne Regeln, weil das Gefühl von Berechenbarkeit komplett verschwunden ist, seit unser Staat diese zwar angekündigte, aber trotzdem ungeahnte Tat begangen hat. Und wenn du siehst, dass dein Staat nach logischen Gesichtspunkten und im Hinblick auf das eigene Wohlergehen und das Glück seiner Bevölkerung unberechenbar agiert, dann fühlst du dich extrem unsicher. Einfach, weil du in einem Raum landest, in dem es keine Regeln gibt und keine rote Linien. Weil die wichtigste rote Linie, na ja, abgesehen von der atomaren, im Grunde schon überschritten ist.

    Meine letzte Frage: Worin liegt die Kraft?

    In der Liebe. 

    Warum?

    Na ja … Freiheit ohne Liebe ist zu Furchtbarem fähig, Bildung ohne Liebe führt zu keinen richtigen Entscheidungen, Intellekt ohne Liebe ist auch nur eine kalte Maschine. Das wäre meine durchaus evangelistische Antwort … 
    In der Antike gab es eine geistige Klammer – die Ilias. Darin gibt es eine […] Episode, in der Hektor getötet wird und sein Vater Priamos sich als Hirte verkleidet und den verfeindeten Achilles in seinem Schiffslager aufsucht. Er tritt an seinen Feind Achilles heran und bittet ihn um die Leiche seines Sohnes. Diese Leiche hat Achilles gerade geschändet. Also, da kommt dieser Vater, Oberhaupt des feindlichen Staates wohlgemerkt, den Achilles eigentlich sofort verhaften und töten lassen müsste. Aber nicht nur, dass Achilles Priamos nicht tötet, sondern er händigt ihm auch die Leiche aus und begleitet ihn voller Mitgefühl von seinem Lager zurück in die feindliche Stadt. 
    Das Erste, was ein griechischer Junge oder ein griechisches Mädchen also lernt, wenn er oder sie diesen fundamentalen Text, dieses Kernstück ihrer Kultur liest, ist, dass ihre Feinde Menschen sind, mit denen man mitfühlen kann, die genauso lieben, denen man sogar helfen muss und die mit einem selbst auf derselben ontologischen Stufe stehen. Kein „wir sind die Guten, die Fremden sind böse“, kein „wir haben die fiesen Trojaner besiegt und können das jederzeit wiederholen und feiern jedes Jahr den Sieg“. Die Botschaft dieses grundlegenden Textes lautet: Auch wenn du einen Feind hast, weißt du, wer er ist. 

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    Von der „Spezialoperation“ zum Krieg

    Knapp acht Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine eskaliert Russland die Situation weiter: In einer TV-Ansprache hat Wladimir Putin am 21. September eine „Teilmobilmachung“ verkündet. Offiziell 300.000 Reservisten will der Kreml in den Krieg schicken. Der Begriff „Teilmobilmachung“ ist im Gesetzestext allerdings dehnbar, was die Drohkulisse noch zusätzlich verstärkt. 

    Hinzu kam aus Moskau am Dienstag die Ankündigung, die russisch (teil)besetzten Gebiete der Ukraine durch sogenannte „Referenden“ quasi zu annektieren. Damit würde Russland insgesamt rund ein Fünftel des ukrainischen Territoriums zum eigenen Staatsgebiet erklären. Sollte die NATO (durch ihren Helfershelfer Ukraine) das selbsterklärte russische Territorium angreifen, würde Russland sich notfalls auch mit Atomwaffen verteidigen, warnte Putin in seiner TV-Ansprache – das, so der Kreml-Chef, sei kein Bluff.

    Manche Beobachter bewerten diese Schritte als Bereitschaft zu einem „totalen Krieg“, andere verweisen auf militärische Erfolge der Ukraine und sehen Putin in die Ecke gedrängt: Die Eskalation sei eigentlich ein Signal zur Verhandlungsbereitschaft und der Versuch, eine für Russland möglichst günstige Position zu schaffen. 

    Auf dem Portal Carnegie politika fragt der Analyst Alexander Baunow, warum Putin die neue Eskalationsstufe zündet und welche Folgen sie womöglich nach sich ziehen wird.

    Innerhalb eines Tages hat die Duma [am 20. September] ohne jede Vorbereitung oder Ankündigung in zweiter und dritter Lesung Änderungen im Strafgesetzbuch eingeführt. Diese sehen harte Strafen während einer Mobilmachung vor, falls sich jemand dem Wehrdienst entzieht, sich nicht meldet, sich dem Feind ergibt oder Befehlen verweigert.

    Gleichzeitig haben alle ganz oder teilweise durch russische Truppen besetzten ukrainischen Gebiete die Bitte geäußert, umgehend „Referenden“ über eine Angliederung an Russland durchzuführen. Bereits jetzt – ebenso rasant – werden konkrete Daten genannt: schon Ende dieser Woche.

    Die inoffiziell für den Abend [des 20. Septembers] angekündigte Ansprache von Wladimir Putin wurde auf den Morgen verschoben. Dahinter könnten die letzten Zuckungen eines Apparat-internen Tauziehens gestanden haben, oder die letzten diplomatischen Bemühungen der westlichen Regierungschefs angesichts des Übergangs in ein neues Stadium – nächtliche Anrufe aus Berlin, Paris, Washington. Oder bloß die Arbeit an der Rede [ausgestrahlt am Morgen des 21. Septembers], die Putin für historisch hält und die dennoch förmlich und trocken geriet, bedrohlich und beschwichtigend zugleich – mit einem Feind, der vor den Toren steht, einer Mobilmachung, die nur in Teilen stattfindet, und einem Verteidigungsminister Schoigu, der schon alles irgendwie erklären wird.

    „Referenden“ und „Teilmobilmachung“: Wozu?

    Die Kombination aus all dem ist eine Botschaft an den Westen: Ihr habt es gewagt, in der Ukraine gegen uns zu kämpfen, dann versucht jetzt mal, in Russland selbst gegen uns zu kämpfen (besser gesagt, in dem Gebiet, das wir zu russischem Gebiet erklären). In der Hoffnung, dass er es nicht wagen wird.

    Gleichzeitig ist es ein Angebot, den Konflikt dort oder in etwa dort zu beenden oder einzufrieren, wo die Frontlinie jetzt verläuft: Ihr wolltet die alten, milderen Bedingungen nicht akzeptieren, also müsst ihr nun mit den harten leben, und die, die dann folgen, werden noch härter sein. In der Hoffnung, dass sie Angst bekommen.

    Innenpolitisch bewirken diese drei Ereignisse, dass aus einer „Spezialoperation“ auf fremdem Territorium die Verteidigung russischen Bodens wird. Das verleiht den Machthabern traditionell fast unbegrenzte Rechte gegenüber der Bevölkerung. Auch wenn dieser Abklatsch von einem allumfassenden Volkskrieg, für den es keinen ersichtlichen Grund gibt, ein riskantes Unternehmen bleibt, wird man die entsprechenden Instrumente zunächst nur sparsam einsetzen.

    Rechtfertigung für die nächste Eskalationsstufe

    Das Überschreiten der russischen Grenze durch ausländische Truppen, wo immer sie verläuft (auch wenn sie morgen woanders verlaufen sollte als gestern), gibt Putin sicherlich das formale Recht und quasi die moralische Rechtfertigung für die nächste Eskalationsstufe. Die „Spezialoperation“ zum Krieg zu erklären, Maßnahmen zur Mobilmachung zu ergreifen, ukrainische Objekte zu attackieren, die man vorher nicht zu attackieren gewagt hat, und überzeugender mit Atomwaffen zu drohen.

    Diese Entscheidung führen viele auf die angebliche Unterstützung und Zustimmung zurück, die Putin von den großen nicht-westlichen Ländern beim Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit in Samarkand bekommen habe. Wahrscheinlich war es jedoch eher umgekehrt: Putin hat von den größten nicht-westlichen Ländern das Signal bekommen, [den Krieg] möglichst schnell zu beenden. Und aufzuhören, in ihrem Namen zu sprechen, da er sie damit mit jener Schwäche und Inkompetenz beschmutzt, die Russland demonstriert hat, das sich zur militärpolitischen Avantgarde der nicht-westlichen Welt erklärt.

    Wenn ein Ende unmöglich ist, dann schiebt man die Schuld auf die anderen und verwandelt den eigenen Überfall in einen Verteidigungskrieg

    Alles deutet darauf hin, dass die zeitlichen, personellen, materiellen und diplomatischen Ressourcen der „Spezialoperation“ zur Neige gehen. Putin unternimmt nun einen entschlossenen Schritt, um alles schnell zu beenden, indem man Gewinne und Verluste festhält. Und wenn ein Ende unmöglich ist, dann schiebt man die Schuld auf die anderen und verwandelt den eigenen Überfall in einen Verteidigungskrieg, in der Hoffnung, dass die Bürger diesen für legitimer halten und man freie Hand für alle weiteren Entscheidungen hat. Das Problem ist, dass Russlands Gegenspieler nicht finden, dass Russland aus diesem Krieg überhaupt mit einem Gewinn hervorgehen sollte.

    „Spezialoperation“ vs. Krieg

    Seit Anbeginn des Krieges wurde der wesentliche Konflikt innerhalb der russischen Staatsmacht nicht zwischen einer Friedens- und einer Kriegspartei ausgetragen – die Stimmen gegen den Krieg und sogar die zugunsten eines Kompromisses wurden schnell zum Schweigen gebracht. Der Konflikt bestand zwischen der Kriegspartei und der Partei der Spezialoperation. Man könnte auch sagen, die Parteien des kleinen vs. großen Erfolgs, oder die Parteien des professionellen Kriegs vs. die Parteien des Volkskriegs.

    Die Partei der Spezialoperation orientierte sich an den Erfahrungen Russlands in Südossetien, der Krim und Syrien und richtete sich darauf, das Kämpfen um den Erfolg den Profis zu überlassen. Der Krieg sollte an der Peripherie des nationalen Lebens verbleiben, während das Leben innerhalb des Landes insgesamt so weitergehen sollte wie zuvor.

    Lange Zeit erschien es der russischen Führungsriege günstiger, den Anschein des normalen Lebens zu wahren und die Marktwirtschaft und die Konsumgesellschaft als beste Garanten für die Überwindung der Sanktionen anzusehen. Das könnte sich nun ändern.

    Russische Offizielle sagen recht häufig, was sie tatsächlich denken. Wenn Putin behauptet, Russland führe gegen die Ukraine keinen Krieg, sondern unternehme dort eine begrenzte „Spezialoperation“, hat er im Rahmen seines Koordinatensystems nicht gelogen. Russland hat mit einem Teil seiner Streitkräfte Kriegshandlungen unternommen, nicht durchweg alle Ziele angegriffen, hat Flächenbombardements vermieden und vor allem nicht seine Wehrpflichtigen-Armee hinzugezogen.

    Beim Wort Krieg erscheinen in den Köpfen der Durchschnittsrussen, zu denen auch Putin gehört, Bilder aus den Filmen und Wochenschauen über den Zweiten Weltkrieg. Daher dachte die russische Führung nach wie vor, dass sie etwas anderes macht, auch wenn die Folgen der Spezialoperation immer mehr an jene Bilder erinnern.

    Das ist die grundlegende Vorgehensweise der Geheimdienste: Während die Bevölkerung friedlich vor sich hinlebt, machen die Profis ihren Job

    Bis vor Kurzem noch konnte man Putin als Vertreter, wenn nicht gar als Chef der Partei der Spezialoperation bezeichnen. Nachdem er sämtliche früheren Gleichgewichte zerstört hat, sorgt er jetzt, auf den Ruinen der Apparate, für ein Gleichgewicht zwischen denen, die übrig blieben. Sein ganzer Hintergrund als ehemaliger Geheimdienstler hat ihn zu einer „Spezialoperation“, und nicht zum Krieg greifen lassen. Schließlich ist das die grundlegende Vorgehensweise der Geheimdienste: Während die Bevölkerung friedlich vor sich hinlebt, machen die Profis ihren Job.

    Die Invasion in die Ukraine wurde auch deshalb nicht als Krieg, sondern als „Spezialoperation“ bezeichnet, weil sie nicht auf mehrere Jahre angelegt war. Wir haben gesehen, dass Putin in den verschiedensten Situationen nicht in Jahren denkt, sondern in „Spezialoperationen“, gewöhnlich mit einem Zeitrahmen von maximal ein paar Monaten. Da gab es die „Spezialoperation“ um seinen Einzug in den Kreml 1999/2000, die Operationen zur Vernichtung von NTW und YUKOS, die „Operation Nachfolger“ 2008, die Rückkehr an die Macht 2011/12, die „Nullsetzung“ seiner früheren Amtszeiten sowie der Zweite Tschetschenienkrieg und die Annexion der Krim. All diese „Spezialoperationen“ fanden in einem Zeithoritonz von höchstens einem halben Jahr statt. Es gibt keinerlei Zweifel, dass der Zeitraum für die Invasion in die Ukraine ähnlich geplant war; das haben Regierungsvertreter offen angedeutet.

    Im Sommer war ein halbes Jahr vorbei, der Erfolg jedoch ausgeblieben. Das hat ganz von selbst eine Suche nach neuen Lösungen in Gang gesetzt, die über eine „Spezialoperation“ hinausgehen. Doch selbst in dem Moment, da die Schwierigkeiten an den Fronten offensichtlich wurden, hatte es Putin nicht eilig, den Krieg ganz nach oben auf die Agenda des russischen Staates zu setzen und ihn auf die gesamte Gesellschaft auszuweiten – und hat ihn der operativen Peripherie überlassen.

    Die Niederlage gegen die ukrainische Armee bei Charkiw gab den Anstoß zum Sieg der Partei einer allgemeinen Mobilmachung und eines Volkskriegs. Diese Niederlage hätte dazu nötigen können, die „Referenden“ über eine Angliederung der eroberten Gebiete an Russland aufzuschieben oder gänzlich abzusagen. Schließlich ist der Verlust eines Teils des eigenen Landes eine sehr viel größere Schmach als der Verlust fremder Gebiete mit unbestimmtem Status.

    Putin hat sich aber für das Gegenteil entschieden. Die allgemein verbreitete Sicht der Bevölkerung in Russland auf die eigene Geschichte besagt, dass Russland zwar einen militärischen Misserfolg erleiden könnte, wenn es mit begrenzten Kräften jenseits seiner Grenzen kämpft, dass es aber in einem Volkskrieg auf eigenem Boden stets siegreich ist. Das ist der Kerngedanke dieses simplen Kniffs: Wir machen die eroberten Gebiete juristisch zu unserem Land, es war ja eh einst unser Land, und der Sieg wird unser sein.

    Nicht die Beute ist das Hauptziel, sondern vielmehr die Möglichkeit und die Entschlossenheit, Beute zu machen

    Russische Stimmen haben verkündet – und je militanter sie sind, desto häufiger war das der Fall –, dass die Ziele der „Spezialoperation“ auf jeden Fall erreicht werden. Diese Formulierung ist deshalb bequem, weil die genannten Ziele derart schwammig und unbestimmt sind, dass man sie flexibel ändern kann. Wenn es nicht gelingt, die ganze Ukraine einzunehmen, kann man sich auch mit dem Süden und Osten begnügen. Wenn es dort nicht klappt, kann man sich auf das Territorium der Gebiete Donezk und Luhansk beschränken. Gelingt auch das nicht, und so stellt sich die Lage gerade dar, muss man das nehmen, was man hat, indem man den Status seiner Beute anhebt und sie zu neuen Regionen Russlands erklärt. Schließlich ist nicht die Beute das Hauptziel, sondern vielmehr die Möglichkeit und die Entschlossenheit, Beute zu machen, also zu demonstrieren, dass mit Russland nicht zu scherzen ist und dass Russland darauf ein Anrecht hat.

    In den letzten Wochen ist selbst diese fiktive Errungenschaft verloren gegangen. Um sie wiederzuerlangen, legt Putin wieder einmal die Latte höher und hofft, dass die anderen aussteigen und nicht so hoch gehen. Wenn er damit wiederum falsch liegt, wird er beweisen müssen, dass er auch dieses Mal nicht geblufft hat. Das könnte er möglicherweise auf noch zerstörerischere Weise tun.

     

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    Zitat #15: „Die Lüge vergiftet und zermalmt den Menschen das Hirn“

    FAQ #7: Russlands Referenden: Warum nur Schein – und wozu?

  • Alla Pugatschowa positioniert sich gegen den Krieg – Reaktionen

    Alla Pugatschowa positioniert sich gegen den Krieg – Reaktionen

    Mit nur einem Post auf Instagram löste sie ein kleines Erdbeben aus: Alla Pugatschowa, die Grande Dame der sowjetisch-russischen Popmusik, verurteilt darin erstmals öffentlich den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und bittet das Justizministerium, sie in die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ aufzunehmen – aus Solidarität mit ihrem Ehemann, dem berühmten Comedian Maxim Galkin, der seit Freitag in dem Register geführt wird. Galkin hatte sich schon früher gegen den Krieg geäußert und daraufhin seine Sendung im staatlichen Ersten Kanal verloren. Nun beschuldigt ihn das Justizministerium, angeblich von der Ukraine finanziert zu werden.

    „Er ist ein ehrlicher, ordentlicher und aufrichtiger Mensch, ein wahrer und unbestechlicher Patriot Russlands, der seiner Heimat ein Aufblühen und ein friedliches Leben wünscht, Meinungsfreiheit und ein Ende des Sterbens unserer Jungs für illusorische Ziele, die unser Land zu einem Geächteten machen und das Leben der Bürger erschweren“, schreibt Pugatschowa über ihren Mann. Der Post wurde hunderttausendfach gelikt und geteilt.

    In russischen Staatsmedien wurde meist nur der vordere Teil zitiert – und die Distanzierung vom Krieg ignoriert. In den Sozialen Medien und unter den Kommentatoren unabhängiger Medien erhielt Pugatschowa dagegen viel Beifall mit ihrer öffentlichen Positionierung. dekoder zeigt ausgewählte Reaktionen.

    Foto © Alexander Miridonow/Kommersant
    Foto © Alexander Miridonow/Kommersant

    Kirill Martynow: „Der Selensky für das patriarchale Russland“

    Pugatschowa wird in breiten Teilen der Gesellschaft geschätzt – für Kirill Martynow, Chefredakteur der Novaya Gazeta Europe, wäre sie daher eine geeignete Kandidatin für die nächste Präsidentschaftswahl:

    [bilingbox]Die Präsidentschaftskampagne „Pugatschowa 2024” mit dem Symbol der roten Rose und dem Slogan „Eine Million rote Rosen für den Frieden” ist so einfach, dass Sie sich nichts anderes mehr ausdenken müssen. Alla Borissowna, Sie sind der Selensky für das patriarchale Russland.~~~Президентская кампания Пугачевой-2024 с символикой алой розы и слоганом „миллион алых роз за мир“ это так просто, что даже придумывать ничего не нужно. Алла Борисовна, вы Зеленский патриархальной России.[/bilingbox]

    erschienen am 18.09.2022, Original

     
    Eine Million Rosen von Alla Pugatschowa (1982)

    The New Times: Putin ist eine unbedeutende politische Figur aus der Ära von Alla Pugatschowa

    Alla Pugatschowa ist unbezweifelt eine Autorität von epochaler Bedeutsamkeit. Dazu gibt es sogar einen Witz aus Sowjetzeiten, an den Andrej Kolesnikow in seiner Kolumne für The New Times erinnert:

    [bilingbox]Einer der bekanntesten Witze aus der Zeit der Stagnation: „Frage: Wer ist Leonid Iljitsch Breshnew?“ Antwort: „Eine unbedeutende politische Figur aus der Ära von Alla Borissowna Pugatschowa.“ Alla Borissowna hat als Frau der Epoche sowohl Breshnew als auch Andropow, als auch Tschernenko überlebt. […] Und nun gibt es einen Neuzugang in der Truppe der unbedeutenden politischen Figuren aus der Ära von Alla Borissowna Pugatschowa – diesen hohen Status hat sich Wladimir Wladimirowitsch Putin verdient.~~~Один из самых известных анекдотов времен застоя: «Вопрос: Кто такой Леонид Ильич Брежнев. Ответ: Мелкий политический деятель эпохи Аллы Борисовны Пугачевой». Алла Борисовна в статусе женщины-эпохи пережила и Брежнева, и Андропова, и Черненко, […] И вот отряду мелких политических деятелей эпохи А.Б. Пугачевой прибыло — этого высокого статуса удостоился Путин В.В.[/bilingbox]

    erschienen am 19.09.2022, Original

    Sergej Medwedew: Warum kann sie nicht die Ukraine nennen?

    Bei aller Zustimmung ist der Politologe Sergej Medwedew über den Wortlaut gestolpert – und glaubt, dass sich Pugatschowa hätte noch mehr erlauben können:

    [bilingbox]Wie alle freue ich mich über die Geste der Primadonna, doch wundere ich mich über ihre Motivation. Besteht das Problem etwa im „Tod unserer Jungs” und in der „Erschwerung des Lebens der russischen Bürger”? Sie kann sich ja alles Mögliche erlauben, auch den Gebrauch der Wörter „Krieg” und „Ukraine”. Tja, wahrscheinlich reicht das für das Publikum. Politisch ist das eine wichtige Äußerung, staatsbürgerlich eine wahrhafte Tat, und menschlich bin ich nicht ihr Richter und Redakteur, es stieß mir bloß auf. ~~~Я, как и все, рад жесту примадонны, но ее мотивация меня удивляет. Разве проблема в „гибели наших ребят“ и в „утяжелении жизни российских граждан“? Уж она-то может позволить себе, что угодно, включая слова „война“ и „Украина“. Впрочем, наверное, для аудитории хватит и этого. Политически это важное высказывание, граждански это поступок, а человечески я ей не судья и не редактор, просто резануло слух.[/bilingbox]

    erschienen am 18.09.2022, Original

     
    Alla Pugatschowa mit ihrem Song Primadonna im Finale des Eurovision-Songcontest 1997

    Ekaterina Schulmann: Wer nicht alles für die Ukraine arbeitet …

    Die nach Deutschland emigrierte Politologin Ekaterina Schulmann witzelt auf Telegram über den Vorwurf des Justizministeriums, dass Pugatschowas Mann Galkin und andere „ausländische Agenten“ angeblich von der Ukraine finanziert werden:

    [bilingbox]Wo hat die Ukraine denn das Geld her, um all diese Einzelpersonen zu finanzieren, die zu ausländischen Agenten erklärt wurden? Das ist ja kein Land, das ist ein Eldorado. Gordejewa arbeitet für sie, Galkin, Morgenshtern, Chodorkowski, Tschitschwarkin, Makarewitsch, Simin und sogar Belonika – die alle werden von der Ukraine bezahlt. Und das auch noch in Kriegszeiten, wo es ja noch so viele andere Ausgaben gibt. Wäre jetzt Frieden, dann könnte die Ukraine da wohl den ganzen Kreml aufkaufen.~~~Слушайте, а откуда у Украины денег столько на финансирование всех этих физлиц-иностранных агентов? Не страна, а какое-то Эльдорадо. И Гордеева на них работает, и Галкин, и Моргенштерн, и Ходорковского с Чичваркиным, и Макаревича, и Зимина и целую Белонику – всех Украина содержит. И это в военное-то время, когда других расходов полно. В мирное, наверное, вообще Кремль целиком скупит. [/bilingbox]

    erschienen am 16.09.2022, Original

    Alexander Baunow: „Heimat sind nicht die Mitglieder des Politbüros“

    „Heimat ist nicht der Arsch des Präsidenten, den man ständig bespeicheln und küssen muss“, rief Rocklegende Juri Schewtschuk bei einem Konzert im Mai. Alexander Baunow, ehemals Chefredakteur von Carnegie.ru, beschreibt auf seiner Facebook-Seite, was für ihn Heimat bedeutet:

    [bilingbox]In den 1980er Jahren stellte ich mir nicht die Frage, was Heimat war: Pugatschowa, Grebenschtschikow, Makarewitsch, Zoi oder die Mitglieder des Politbüros? Warum sollte es jetzt eine Frage sein? Verwundert sehe ich, wie bei einigen, darunter ganz jungen Menschen, diese Frage aufkommt. Quält euch nicht, die Antwort ist längst da, obwohl man sie natürlich noch einmal geben kann, wenn man sich nicht das Vergnügen nehmen lassen will, die Frage selbst zu beantworten. Die Heimat sind nicht die Mitglieder des Politbüros.~~~В 80-е у меня же не было вопроса родина – это Пугачева, Гребенщиков, Макаревич, Цой, или это члены политбюро? А сейчас почему он должен быть? С удивлением вижу, как у некоторых, в том числе младше годом рождения, этот вопрос возникает. Не надо мучиться, ответ давно дан, хотя можно дать его еще раз, не отказывая себе в удовольствии отвечать на этот вопрос самостоятельно. Родина это не члены политбюро.[/bilingbox]

    erschienen am 18.09.2022, Original

     
    Alla Pugatschowa und Udo Lindenberg singen gemeinsam Wozu sind Kriege da? (1987)

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    Viktor Zoi

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  • Cancel Culture im Namen des „Z“

    Cancel Culture im Namen des „Z“

    Ich beteilige mich nicht am Krieg, so lautete der Titel des Theaterstücks, das am Moskauer Gogol Center am 29. Juni aufgeführt wurde. Dann fiel der Vorhang. Es war der letzte – für das Gogol Center selbst. Die Moskauer Stadtverwaltung tauschte den künstlerischen Leiter aus, gab dem Haus wieder seinen alten Namen Gogol Theater, wollte aber nicht von „Schließung“ sprechen.

    Zum experimentellen und schließlich international ausgezeichneten und renommierten Gogol Center war das Theater 2012 geworden, als Kirill Serebrennikow die Leitung übernahm. So viel künstlerische Freiheit jedoch währte nicht lange, 2017 wurde Serebrennikow verhaftet und unter Hausarrest gestellt. Im Juni 2020 wurde er wegen angeblicher Veruntreuung staatlicher Gelder schuldig gesprochen und zu einer dreijährigen Bewährungsstrafe verurteilt. 2022 hat Serebrennikow Russland verlassen. Im Mai eröffnete der Wettbewerb in Cannes mit seinem Film Tchaikovsky's Wife. Dabei sprach sich Serebrennikow nicht nur gegen den Krieg aus, sondern auch gegen ein Verbot russischer Kultur. Außerdem forderte er, den Oligarchen Roman Abramowitsch wieder von der EU-Sanktionsliste zu nehmen – was ihm heftige Kritik einbrachte.

    Um Konzertabsagen und „Verbote“ russischer Kultur im Ausland ist in Russland eine Diskussion entbrannt. Michail Piotrowski etwa, Direktor der Sankt Petersburger Eremitage, heizte diese kürzlich in einem Interview mit der staatlichen Rossijskaja Gaseta an – das die Zeitschrift Osteuropa ins Deutsche übersetzt hat: Darin bezeichnete er den „Angriff auf unsere Kultur“ als „Abziehbild von dem, was zu Sowjetzeiten bei uns los war“. 

    Solche Kritik greift Alexander Baunow auf, bis zum Angriffskrieg in der Ukraine Chefredakteur von Carnegie.ru, und fragt: Wer ist es tatsächlich, der heute die russische Kultur zerstört?

    Viele finden es seltsam, über die Schließung eines Theaters zu weinen, während woanders Theater zerbombt werden. Dennoch wissen wir alle, dass der Angriff auf das Gogol Center von denselben Leuten initiiert und unterstützt wird wie der Angriff auf Mariupol, wobei das Gogol Center schon früher angegriffen wurde. Der Fall Serebrennikow war offenbar nur die Probe für die folgenden Schließungen, Verbannungen, Bombardierungen und Angriffe.

    Wenn man sich anschaut, wie die russischen Politiker bei ihrer Suche nach Vorwürfen gegen Feinde und Kampfziele mit Schaum vor dem Mund zwischen Faschisten, der NATO, den Angelsachsen und Transpersonen wechseln, fällt auf, dass sie sich neuerdings für die Wörter Cancelling und Cancel Culture begeistern. Im Namen der Kultur, in der alles erlaubt ist, kämpfen sie nun für die Freiheit und gegen „die Verbotskultur“.

    Ein Ende ist nicht in Sicht

    Dieser Kampf begann schon Ende Februar mit der Schließung von Grisha Bruskins Einzelausstellung in der Tretjakowka, als man es weltweit noch gar nicht geschafft hatte, auch nur eine einzige russische Ausstellung abzusagen. Und an dem Tag, an dem das Gogol Center und noch drei weitere Theater geschlossen wurden, erreichte der Kampf seinen vermeintlichen Höhepunkt – vermeintlich, weil das Ende noch nicht in Sicht ist. Uns erwarten noch die Entfernung russischer und ausländischer Bücher aus den Buchhandlungen, die Änderung der Lehrpläne, Verbote von Konzerten, Filme, die im Giftschrank landen, Kunsträte und Samisdat. 

    Paul McCartneys Songtitel ‚Back in the USSR‘ war offenbar prophetisch

    Die karnevaleske Verbrennung von Sorokins Büchern durch die Jugendorganisation Naschi 2004 im Park beim Bolschoi Theater erwies sich im Nachhinein als genauso prophetisch wie Sorokins Bücher selbst. Insofern ist es nicht überraschend, dass wir in einem Land leben, in dem es kein Gogol Center geben kann. Wir leben in einem Land, in dem Grebenschtschikow und DDT wieder zu Musikern geworden sind, die man nur in Privatwohnungen hören, und in das Paul McCartney erneut nicht einreisen kann. Wäre die Verbreitung von Musik, wie damals, vom Plattenverkauf abhängig, würden diese Platten längst nicht mehr verkauft. Auch Paul McCartneys Songtitel Back in the USSR war offenbar prophetisch. Denn streng genommen wird die Sowjethaftigkeit nicht anhand der Flaggenfarbe bestimmt, sondern genau daran: Sind die Beatles und ein Gogol Center dort möglich? Die Antwort ist: negativ. 

    Dieses Moskau und dieses Land gibt es nicht mehr

    Das Gogol Center ist natürlich der Ort, an dem ich häufiger war als an jedem anderen Ort in Moskau in den letzten zehn Jahren, und es ist ein weiterer Beweis dafür, dass es dieses Moskau (und dieses Land) nicht mehr gibt. Menschen, die in Nostalgie nach der realen (oder meistens eher imaginären) Sowjetunion schwelgen, klagen gern, unsichtbare Feinde hätten ihnen ihr Land gestohlen, und sind blind dafür, dass sie selbst einigen Dutzend Millionen ziemlich konkreter Menschen das Land gestohlen haben. Vielleicht sogar der Mehrheit – hieß es doch, dass es vor dem Krieg nicht nur ein paar Exoten gut ging, sondern tatsächlich der Mehrheit. Aber jetzt heißt es plötzlich, ohne den Krieg sei es ihnen schlecht gegangen. Wobei sich ein paar gerade sehr darüber freuen, wie sie sich am unsichtbaren Feind rächen, indem sie ihren Mitbürgern geliebte Dinge wegnehmen.

    Unauflöslicher Widerspruch

    Die Zerstörung der russischen Kultur in Russland geschieht unter Wehklagen über die ach so schlimme Cancel Culture gegen alles Freie und Russische, und wird begleitet von eifrigen Gesprächen über Importsubstitution. Der unauflösliche Widerspruch liegt auf der Hand. Stellen Sie sich mal ein Konstruktionsbüro oder eine Fabrik vor, wo erfolgreiche, konkurrenzfähige Autos produziert werden, die bei internationalen Wettbewerben ausgezeichnet werden und auf dem inländischen und internationalen Markt gefragt sind. Genau so eine Fabrik war, wenn man so will, das Gogol Center, und so ein Industriezweig war das russische Theater. Seltsamerweise sind wir es gewohnt, herausragend im Ballett zu sein, dabei waren wir in den letzten Jahren im Theater nicht weniger erfolgreich. Und während man darüber spricht, dass die Russen vom internationalen Markt ausgeschlossen werden, nur weil sie Russen sind, macht man jetzt eben jene Fabrik dicht, die auf dem Markt ausgesprochen erfolgreich gewesen ist. Das ist es nämlich, was gerade mit dem Gogol Center und dem gesamten Theater geschieht – einem der wenigen Industriezweige, die auf internationalem Niveau konkurrenzfähig waren.

    Das unsichtbare Z um den Hals

    Und das geschieht nicht wegen der Qualität des Produkts, sondern wegen des stereotypen Denkens im Obkom (ein echter Kerl fährt einen Moskwitsch), und weil die Erzeuger und die Käufer dieses Produkts sich niemals ein unsichtbares oder ein sichtbares Z um den Hals hängen würden. 

    Aber das gilt auch für alle anderen Industriezweige: Es wird keinen technischen Fortschritt oder sonst irgendeinen Durchbruch in Russland geben, solange das wesentliche Kriterium nicht das Wissen oder die Kompetenz eines Menschen ist, und auch nicht, was er herstellt. Sondern nur, ob er willens ist, sich den letzten Buchstaben des lateinischen Alphabets umzuhängen. 

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  • Kein großer Krieg – aber

    Kein großer Krieg – aber

    Jetzt also aufatmen? Am Freitag vergangener Woche noch hatten die USA die NATO-Länder gewarnt, es gebe konkrete Kriegspläne Russlands, ein Angriff auf die Ukraine sei für Mittwoch, 16. Februar geplant – den der ukrainische Präsident Selensky prompt zum nationalen Feiertag erklärte. Die USA verlegten ihre Botschaft von Kiew nach Lwiw in der Westukraine, zahlreiche NATO-Länder, darunter auch Deutschland, forderten ihre Landsleute auf, die Ukraine zu verlassen. 

    Das Vorgehen löste eine Debatte aus, welche Strategie hinter solchen öffentlichen Warnungen der US-Geheimdienste steckt. Sollte es darum gehen, mit der Warnung vor einem Krieg eben diesen zu verhindern? Und ist die Strategie nun aufgegangen? Schon am Dienstag, noch vor dem Treffen von Bundeskanzler Olaf Scholz und Wladimir Putin in Moskau, gab es Entspannungssignale: Der russische Außenminister Lawrow sagte, man wolle Gespräche mit den USA und der NATO fortführen. Später, auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Scholz, betonte Putin, Russland sei „bereit, den Weg der Verhandlungen zu gehen“. Alles wieder gut also? Oder wird die russische militärische Bedrohung der Ukraine den Westen noch lange beschäftigen? 

    Alexander Baunow kommentiert auf Carnegie.ru das Vorgehen der USA und Russlands sowie die (vermeintliche) Entspannung.

    Die Ankündigung eines fremden Krieges – für Biden war das eine günstige Strategie. Sollte es Krieg geben, hätte er Recht gehabt – wenn nicht, dann hat er Putin gestoppt. Gestoppt, ohne Zugeständnisse in prinzipiellen Fragen und – was für ihn wichtig ist – in Geschlossenheit mit den Verbündeten, im Namen des Westens als politisches Ganzes.

    Es wäre falsch daraus zu schließen, dass es ihm gleichgültig wäre, ob Putin nun einmarschiert oder nicht. Wenn du einen Krieg gestoppt hast, bist du stark. Wenn nicht, bist du nicht stark genug. Wenn nun Russland in die Ukraine einmarschiert, wäre die Reaktion, die sich der Westen erlauben kann, für viele ungenügend und inadäquat für ein solch extremes Ereignis. Doch wenn Russland nicht einmarschiert, wird der Westen stark aussehen – er ist also in der Lage, einen Aggressor aufzuhalten. Das ist einer der Gründe dafür, warum mit solcher Überzeugung von einer unabwendbaren Aggression gesprochen wurde. Je unabwendbarer, desto ruhmreicher ein beliebiger anderer Ausgang.    

    Biden als Leader eines geeinten Westens

    Eine Invasion scheint für den Westen tatsächlich wahrscheinlich. Und das betrifft nicht nur die plaktativen Schlagzeilen der Boulevardmedien, über die man sich ironisch äußern kann bis zum Abwinken. Aber die führenden Köpfe einflussreicher Staaten sind keine Boulevardblätter, sie mögen es nicht besonders, wenn man sich ironisch über sie erhebt, sie reißen sich nicht darum, zum Lacher zu werden. Doch genau das wäre die Wirkung der ungewöhnlich intensiven diplomatischen Aktivität und der nie gehörten Besorgtheit im Ton der Erklärungen, gäbe es dafür jenseits der Boulevard-Schlagzeilen keine ernste Grundlage.

    Ein globales Spektakel von diesem Ausmaß mit dem Ziel Russland zu diffamieren, kann man sich nur schwer vorstellen. Denn auch Vertreter Frankreichs und Deutschlands sind mit von der Partie – und die reißen sich gewöhnlich nicht darum, Russland einfach so in ein schlechtes Licht zu rücken. Für die, die wollen, finden sich zahlreiche andere Gründe, von dem mittlerweile halb in Vergessenheit geratenen Nawalny bis hin zu neuen Cyberattacken.

    Ähnliche stark war die mediale und politische Nervosität zum letzten Mal vor dem Einmarsch der amerikanischen Koalition in den Irak, allerdings waren seinerzeit die Vereinigten Staaten erst kurz zuvor Opfer des größten Terroranschlags der Weltgeschichte geworden. Frankreich und Deutschland gingen ihren eigenen Weg. Diesmal haben sich die vier Mächte – USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland – vielleicht nicht in einer Reihe aufgestellt, doch dafür als Gruppe gebündelt, mit Blick in dieselbe Richtung.

    Für Biden ist es wichtig, nicht als einsamer Alarmist dazustehen, erst recht nicht als Mitschuldiger an der Eskalation, sondern als Leader eines geeinten Westens. Die geteilte Besorgtheit und die Zusammenarbeit mit anderen westlichen Staatschefs schützen ihn vor Anschuldigungen, falls sich die Aufregung als unbegründet herausstellt.

    Truppenkonzentration als Instrument harter Diplomatie

    Es ist durchaus denkbar, dass Moskau tatsächlich zu irgendeinem Zeitpunkt ein gewaltsames Vorgehen der Ukraine [im Donbassdek] befürchtet hat – ermutigt durch den Wahlsieg Bidens, die aserbaidshanische Operation zur Rückholung Bergkarabachs, neue Waffen und so weiter. Als abschreckendes Signal wurden dann im vergangenen Frühling Truppen zusammengezogen und Richtung Ukraine geschickt.

    Daraufhin stellte sich heraus, dass ein Zusammenziehen von Truppen Richtung Ukraine als Instrument harter Diplomatie funktioniert. Es kam zu einer Reihe intensiver, nicht geplanter Kontakte zwischen der neuen amerikanischen Regierung mit dem Kreml und einem Gipfeltreffen der Präsidenten, das andernfalls womöglich noch lange auf sich hätte warten lassen. Überhaupt rückte Russland vom Rand ins Zentrum der Agenda der neuen [Biden-]Administration.

    Nachdem der Kreml mit der moderaten und kurzfristigen Konzentration von Truppen moderate Ergebnisse erzielt hatte, beschloss er den Wirkungsgrad dieses Instruments zu maximieren. Schon lange hatte Russland eine Beschwerdeliste angelegt, auf die der Westen in keiner Weise reagierte, ja, die er sogar als uninteressant und offensichtlich perspektivlos abtat. Und siehe da, es hatte sich ein Mittel gefunden, sodass er doch reagierte: Truppen in direkter Nähe zur Ukraine in einer solchen Menge und Zusammensetzung, dass es die Militärs für die Vorbereitung einer Invasion hielten.

    Marschbereitschaft und Feldzug unterscheiden sich darin, dass beim ersten noch niemand irgendwohin marschiert und das auch nicht unbedingt tun muss. Doch fordert der Einsatz solch extremer Instrumente auch beeindruckende Ergebnisse. Wird die Bedrohung zurückgenommen, ohne dass überzeugende Ergebnisse erzielt wurden, bedeutet das, dass die Androhung von Gewalt als Druckmittel beim nächsten Mal nicht funktionieren wird. Deswegen muss es entweder zur  Gewaltanwendung kommen oder es müssen beeindruckende Ergebnisse präsentiert werden. Oder man muss versuchen, mit den erreichten Ergebnissen zu beeindrucken. Bislang sind ein solches Ergebnis – abgesehen von der Wiederaufnahme einiger Themen: die einzigartig intensiven diplomatischen Kontakte.

    Jetzt also aufatmen?

    Ohne ein umfassendes diplomatisches Ergebnis und ohne den Entschluss zum gewaltsamen Vorgehen ist es nicht ausgeschlossen, dass Russland die Marschbereitschaft der Armee nahe der ukrainischen Grenze in eine ständige oder regelmäßig reaktivierbare Bedrohung verwandelt. Die würde der Ukraine mehr Schaden bringen als die westliche Hilfe Vorteile verschafft. Der Westen wird dadurch ebenfalls in Anspannung gehalten, sodass die Ukraine und der Westen letztlich zu größeren Kompromissen bereit sein könnten. Wenn nicht mit dem Schwert, dann also durch Zermürben.

     

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  • Undiplomatische Diplomatie

    Undiplomatische Diplomatie

    Das russische Säbelrasseln an der Grenze zur Ukraine hat sich längst zu einer euro-atlantischen Sicherheitsfrage ausgewachsen. In den letzten Tagen hat US-Präsident Biden sowohl mit Russlands Präsident Putin wie auch mit dem ukrainischen Präsidenten Selensky telefoniert. Von Russland forderte Biden Deeskalation, dem ukrainischen Präsidenten versicherte er, dass die USA im Fall eines russischen Angriffs der Ukraine „entschlossen“ reagieren würden. 
    Unterdessen drohte der Kreml im Fall von Sanktionen mit dem vollständigen Abbruch der Beziehungen. Moskau dementiert Angriffspläne und wirft vielmehr der NATO und der Ukraine Provokationen vor. In einem Mitte Dezember veröffentlichten Abkommensentwurf forderte Moskau, dass die NATO von einer Osterweiterung absehe, Waffen aus der Region abziehe und Manöver dort beende.

    Diese Forderungen Russlands analysiert Alexander Baunow, Chefredakteur von Carnegie, in einem Facebook-Post – und auch, wie mit solcher „undiplomatischen Diplomatie“ am besten umzugehen sei.

    1. Nicht nur großes Geld, sondern auch Diplomatie liebt die Stille. Das russische Außenministerium hat Washington per Internet ein Abkommen zur Unterzeichnung geschickt. Das ist ungewöhnlich.

    2. In diesem Abkommen sind nötige Zugeständnisse der Gegenseite aufgelistet, aber keine, die Russland einzugehen bereit wäre. Dabei liegt der Unterschied zwischen Diplomatie und militärischen Siegen gerade darin, dass alle Zugeständnisse machen.

    3. Bis auf wenige Ausnahmen braucht Diplomatie Zeit. Fristen setzt man nur dann, wenn man Taten folgen lassen möchte. Und enge Fristen mit harten Konditionen nur dann, wenn man es gleich doppelt möchte. Oder wenn man sicher ist, dass die gegnerische Seite keine Wahl hat. 

    Das neue Abkommen bemängelt keine Einzelheiten, sondern das gesamte Agieren des Westens

    4. Neben den ungewöhnlich direkten und übertriebenen/unerfüllbaren Forderungen in dem von Moskau vorgelegten Entwurf, steht darin auch noch alles, womit Russland unzufrieden ist und was es ändern möchte.

    5. In den vergangenen Jahren versuchte Russland immer wieder, über einzelne Punkte der westlichen Politik zu verhandeln, die Moskau missfielen: NATO-Osterweiterung, Militärstützpunkte, Austritt aus dem ABM-Vertrag und demzufolge Stationierung einer Raketenabwehr in Osteuropa, Unterstützung von Regierungswechseln und so weiter. Das neue Abkommen bemängelt keine Einzelheiten, sondern das gesamte Agieren des Westens und fordert, es als Ganzes zu ändern.

    6. Diese Forderungen sind für das Russland, das wir seit dem Ende der 1980er Jahre kennen, unmöglich, unerfüllbar, überhöht … Für ein Zeitalter der Konfrontation von Supermächten sind sie jedoch durchaus denkbar.

    7. Was veranlasst Russland wie eine Supermacht zu handeln? Wladimir Putin verweist immer nachdrücklicher auf die Ergebnisse seiner Regierungszeit, der sogenannten Putinära, für die russische Geschichte. In dieser Gesamtschau ist nicht nur der Status Quo der Ukraine, sondern auch der auf der Weltbühne nicht hinnehmbar. 

    Was veranlasst Russland wie eine Supermacht zu handeln?

    8. Wir stecken in einer globalen Perspektive fest, in der das postsowjetische Russland eines Gorbatschow und Jelzin als Norm gilt, Putins Russland hingegen als Abweichung, als Anomalie. Doch Putin ist schon länger an der Macht als Gorbatschow und Jelzin zusammen, und wird es (auch im Hinblick auf die Präsidentschaftswahl 2024) vielleicht noch länger bleiben.

    9. Der schlichte Vergleich der historischen Zeiträume (sogar ohne Berücksichtigung der wirtschaftlichen Entwicklung, der Modernisierung des Militärs und so weiter) erlaubt ihm, seine Regierungszeit als Norm und jene seiner Vorgänger als kurze Abweichung in der Geschichte Russlands zu betrachten, als eine Seite im Geschichtsbuch, die es möglichst schnell umzublättern gilt. 

    10. Innerhalb dieses Koordinatensystems sind die Ergebnisse der 1980er und 1990er Jahre nicht unumkehrbar. Neben den oben genannten Forderungen enthält der Entwurf für das Abkommen erstmals eine öffentliche Forderung der russischen Regierung, die gesamten Ergebnisse der 1980er und 1990er Jahre neu zu bewerten, nicht nur bestimmte Details.

    Revision der gegenwärtigen Ordnung

    11. Die neuesten Aktionen zielen darauf ab, der Welt mit allen Mitteln zu demonstrieren und ihr klarzumachen, dass Russland die gegenwärtige Weltordnung nicht als Norm betrachtet. Und ehe man es sich versieht, kann man dann – nach einigen Jahren nicht öffentlicher Gespräche, die ganz öffentlich mit überhöhten Forderungen eingeläutet wurden – zur Revision der gegenwärtigen Ordnung schreiten. Das wäre noch die glimpflichste Entwicklung der Ereignisse.  

    12. Das Abkommen, das man dem Westen zur Unterzeichnung vorlegt, wurde aufs Geratewohl erstellt. So eine Diplomatie ist nur zu bemühen, wenn man den diplomatischen Rahmen möglichst bald verlassen möchte, quasi: Wir haben es versucht, alle haben es gesehen (maximale Öffentlichkeit), wir haben die diplomatischen Mittel ausgeschöpft, nun schreiten wir zur Tat. Kampfhandlungen wären die härteste Fortsetzung dieser undiplomatischen Diplomatie. Der stellvertretende Außenminister Sergej Rjabkow hat bereits erklärt, dass Russland mit der Reaktion des Westens auf seine Vorschläge unzufrieden sei.

    13. Dennoch könnte das alles auch eine Diplomatie in Zeiten einer neuen Direktheit darstellen, neuer Formen und kategorischer Gesten. Das Antwort-Repertoire des Westens ist nicht allzu groß. Es gibt die Wahl zwischen dem Furchtbaren für alle und dem wenig Überzeugenden. Beides möchte man nicht. Deshalb bemüht man sich, das von Russland in ungewohnter Manier begonnene Gespräch vorerst nicht durch eine harsche Antwort abbrechen zu lassen. Denn die harsche Antwort könnte genau das sein, worauf Russland aus ist.

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