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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Patriarch Kirill

    Patriarch Kirill

    Kirill, seit 2009 Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche, bemühte sich in der Ausübung seiner Ämter stets, zwei Wirkungsbereiche miteinander zu vereinbaren: Durch seine wöchentliche Fernsehsendung Hirtenwort, die seit 1994 im Ersten Kanal läuft, positioniert er sich als Seelsorger des Volkes. Gleichzeitig trat er als „effektiver Kirchenmanager“ auf, indem er die Kirchenstruktur zum Zweck einer stärkeren Präsenz der Kirche in der Gesellschaft auszubauen versuchte. Seine Figur verbinden viele zugleich mit einer Vorliebe für irdische Genüsse: Die Annahme teurer Geschenke sowie seine Residenz am Ufer der Moskwa waren Gegenstand ausgedehnter öffentlicher Debatten. Kirill steht zudem für eine deutliche Annäherung von Kirchen- und Staatsführung in den vergangenen Jahren.

    Patriarch Kirill wurde 1946 als Wladimir Gundjajew in eine Leningrader Priesterfamilie geboren. Sein Vater und sein Großvater saßen in den 1930er Jahren als Gläubige und „politisch Unzuverlässige“ für mehrere Jahre im Straflager.

    Kirill selbst wurde 1984 zum Metropoliten von Smolensk und Kaliningrad ernannt, stieg 1989 zum Leiter des Außenamtes der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) auf, und wurde 2009 schließlich zum Patriarchen gewählt.

    Obwohl seine eigene Familie von Repressionen betroffen war, wurde Kirill nie ein kompromissloser Kritiker des Stalinismus und der sowjetischen Ideologie. Auch sein Verhältnis zum KGB in der UdSSR und zu den heutigen Geheimdiensten Russlands bleibt eine in der (Medien-)Öffentlichkeit kaum thematisierte, weiterhin aber heikle Frage.

    Ökumene und Hierarchisierung

    Im Westen ist Kirill vor allem durch seine ökumenische Tätigkeit während der Sowjetzeit bekannt: Er war unter anderem von 1971 bis 1974 Vertreter der ROK beim Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf. Damals setzte er sich für eine Annäherung der europäischen Kirchen und ihre gemeinsame Friedenstätigkeit in Europa ein.

    Nach dem Ende der Sowjetunion galt er deswegen in Europa – zumindest in christlichen Kreisen – als Hoffnungsträger, der Russland auf seinem Weg zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unterstützen würde.

    Im Zuge seiner Kirchenreformierung seit 2009 wurden kirchliche Gremien wie das Landeskonzil und die Gemeinderäte zugunsten der Bischöfe entmachtet1 und die Diözesen in kleinere Einheiten geteilt.2So stieg die Zahl von Kirill eingesetzter, junger Bischöfe. Dies sollte eine Koalition gegen den Patriarchen vor allem seitens der kritischen „alten Bischofsgarde“ verhindern – und unterband letzten Endes jeden innerkirchlichen Widerstand. Auf eine zunehmende Hierarchisierung wies auch der damalige Kirchensprecher Wsewolod Tschaplin hin.

    Präsentiert sich im TV gerne als Seelsorger des Volkes - Foto © Sergej Pyatakow unter CC-BY-SA 3.0
    Präsentiert sich im TV gerne als Seelsorger des Volkes – Foto © Sergej Pyatakow unter CC-BY-SA 3.0

    Kirche und Staat als gleichberechtigte Partner

    Unter Kirills Vorsitz entstanden mehrere zentrale Positionspapiere der Kirche, unter anderem die Sozialkonzeption der ROK (2000). Sie regelt das Verhältnis der Kirche zu Staat, Nation und Politik aber auch zu vielen anderen Fragen des gesellschaftlichen Lebens. Als Ideal der Beziehungen zwischen Kirche und Staat proklamierten die Verfasser das aus Byzanz übernommene Prinzip der Symphonie (Zusammenspiel) von weltlicher und geistlicher Macht.

    Nach dieser Vorstellung sind Kirche und Staat gleichberechtigte Partner mit eigenen voneinander getrennten Handlungssphären. Die Kirche unterstützt den Staat in geistlicher Hinsicht, der Staat sichert seinerseits die institutionelle Existenz der Kirche.

    Im Jahr 2008 wurde in einem weiteren Dokument die Position der Kirche zu Menschenrechtsfragen erweitert. Es stellt die westeuropäische Menschenrechtspraxis, der auch Russland als Mitglied des Europarates unterliegt, in Frage. Stattdessen versucht es, eigene Rechtsvorstellungen zu legitimieren, die „traditionellen“ Normen folgen und kollektive statt individuelle Rechte zu implementieren versuchen.3

    Die Sozialkonzeption schreibt die grundsätzliche Unabhängigkeit der Kirchenpolitik von der weltlichen Macht fest. Allerdings wird Kirill selbst sowohl von seinen Anhängern als auch seinen Kritikern als Befürworter der Kreml-Politik wahrgenommen. Kritiker werfen Kirill auch seine implizite Zustimmung zu repressiven Maßnahmen wie zum Beispiel dem Gesetz Über die Verletzung religiöser Gefühle vor. Proteste, sei es gegen die Regierung oder gegen den Bau neuer Kirchen, verurteilt der Patriarch als politisches Engagement, das die Einheit der russischen Gesellschaft gefährde.4

    Als Verfechter eines eigenständigen russischen Weges liefert Kirill so die ideologische Unterstützung für Putins Innen- und Außenpolitik. Dabei propagiert er zum Beispiel das Konzept der Russischen Welt auf dem Gebiet der GUS und liefert dafür eine quasi-religiöse Legitimierung.

    Im Zuge der Ukraine-Krise hielt sich die Kirill jedoch auffällig zurück – nicht zuletzt aus der Befürchtung, durch zu deutliches politisches Engagement auf Seiten des russischen Staates einen Großteil der Gläubigen in der Ukraine zu verlieren.

    Im Visier der Medien

    Immer wieder geriet Kirill ins Visier der Medien, die auf seine Vorliebe für irdischen Luxus aufmerksam machten: Zollfreie Alkohol- und Tabakimporte und deren illegaler Weiterverkauf in den frühen 1990er Jahren5 wurden ihm ebenso zum Vorwurf gemacht wie protzige Accessoires (zum Beispiel eine teure Uhr und eine Residenz in einem Naturschutzgebiet) und der Versuch, sich die Nachbarwohnung durch ein dubioses Gerichtsurteil anzueignen.6

    Auch solche Nachrichten könnten ein Grund dafür sein, dass in einer Umfrage aus dem Jahr 2014 nur ein Prozent der Befragten den Patriarchen als moralische Autorität bezeichneten. Er landet damit auf dem 8. Platz – hinter Wladimir Putin, Wladimir Shirinowski und sogar hinter dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei, Gennadi Sjuganow.7

    aktualisiert am 31.01.2020


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    Andrej Kurajew

    Der Erzdiakon Andrej Kurajew ist ein besonderer Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche. Er ist in der Öffentlichkeit stark präsent und eckt mit seinen kritischen Positionen häufig in der Kirchenhierarchie an. Im Jahr 2013 deckte er einen Missbrauchsskandal auf und wurde in der Folge aus mehreren Ämtern entlassen. Seine rege Publikationstätigkeit und seine öffentlichkeitswirksamen, kritischen Auftritte führt er trotzdem weiter.

    Eine Gestalt im schwarzen Priesterrock und mit langem Bart flitzt auf einem Motorroller durch die Moskauer Straßen. Der korpulente Fahrer fürchtet offensichtlich kaum die Reihen martialischer Geländewagen, wie sie nur in Moskau zu sehen sind. Er drängt sich souverän nach vorne – schließlich hat er noch einige Termine in Rundfunk- und Fernsehstudios oder muss noch dringend einen Kommentar bei Livejournal posten. Ob das alles einem Diener der eifrigsten Hüterin der Sitten und Tradition in Russland – der Russisch-Orthodoxen Kirche – zusteht, ist seit Jahren ein Diskussionsthema. Andererseits trägt Kurajew aufgrund seiner medialen Präsenz in Analogie zum offiziellen Titel des Oberhaupts der Kirche „Patriarch der ganzen Rus“ den Spitznamen „Diakon der ganzen Rus“.1 In jedem Fall steht fest: Diakon Andrej Kurajew gehört schon heute zu denjenigen Figuren der neuesten Geschichte der Öffentlichkeit Russlands, die eben diese Geschichte (mit-)schreiben.

    Foto © Blog Andrej Kurajew
    Foto © Blog Andrej Kurajew

    Kurajews Biographie ist symptomatisch für eine Zeit der Umbrüche, wie es die Zeit nach der Perestroika eben war: Geboren 1963 in einer Familie bekennender Atheisten, studierte er Geschichte und Theorie des wissenschaftlichen Atheismus an der Moskauer Staatlichen Universität. Nach eigenen Worten fand er durch die atheistische Literatur über die Orthodoxie zum Glauben und ließ sich noch während des Studiums taufen.

    In der ersten Phase seiner Tätigkeit, die mit der Zeit eines religiösen Booms in Russland zusammenfällt, agierte Kurajew als Missionar und gleichzeitig als Kritiker der damals neu entdeckten und im Volk populären theosophischen2 sowie der meist aus dem Westen angeschwemmten neuen religiösen Bewegungen – er wandte sich sogar gegen liberale Orthodoxe wie den Priester Alexander Men.

    Öffentliche Auftritte als Glaubenslehrer

    In den 2000ern beschäftigte Kurajew sich primär mit Lehrtätigkeit und öffentlichen Auftritten als Glaubenslehrer: Er reiste mit Vorlesungen und Vorträgen durch Russland und ins Ausland und verblüffte manchmal das Publikum mit seiner provokativen Metaphorik. Seine lebensnahe und lebendige Auslegung des christlichen Glaubens und seiner Praxis verschaffte ihm eine große Gefolgschaft. In dieser Zeit wurde ihm von der Kirchenleitung die Verfassung des Lehrbuchs Die Grundlagen der orthodoxen Kultur für den Religionsunterricht in russländischen Schulen anvertraut, was man als Anerkennung seiner Autorität in der Kirche deuten kann. Das Buch wird bis heute im Unterricht verwendet.

    Obwohl Kurajew sein ganzes mediales Kapital für die Kandidatur des Metropoliten Kirills eingesetzt hatte, wandte er sich nach Kirills Wahl zum Patriarchen im Jahr 2009 allmählich von ihm ab. Als Grund dafür gab Kurajew an, dass Kirills Kirchenpolitik nicht mehr christozentrisch sei: In seinen Reden und Predigten verdrängten politische Themen die Glaubensthemen und anstatt der Heilsgeschichte bediene Kirill sich historischer (Heils-)Mythen aus dem aktuellen patriotischen Diskurs Russlands.

    Kritik an der Kirchenführung

    Auch an den administrativen Reformen des neuen Patriarchen, sei es die Gründung neuer Diözesen oder konsultativer Organe und Kommissionen, übte Kurajew Kritik. Durch sie sollte zwar angeblich die Mission der Kirche vorangetrieben werden, doch laut Kurajew führten sie letztendlich dazu, dass das Handlungsfeld des einfachen Klerus und der Laien stark eingeschränkt und die Entscheidungskompetenz in den Händen des Patriarchen Kirill konzentriert wurde.

    Im Skandal rund um das Punk-Gebet von Pussy Riot forderte Kurajew eine allein pastorale Reaktion, warnte vor Verfolgung der Aktivistinnen und stand damit in Opposition zur orthodoxen – und sich beleidigt fühlenden – Öffentlichkeit. Ende 2013 veröffentlichte Kurajew in seinem Blog Briefe von Seminaristen, die über sexuelle Belästigung durch Vertreter des Lehrkörpers im Priesterseminar Kasan klagten. Dass auf diese und viele ähnliche – auch anderweitig dokumentierte – Vorfälle keine Reaktion der Kirchenleitung folgte, sondern die Fälle verschwiegen und verschleiert wurden, veranlasste Kurajew, mehreren Bischöfen Amtsmissbrauch vorzuwerfen: Die Vorgesetzten verleiteten junge Männer zu sexuellen Handlungen – oft im Austausch für einen Karriereschub.

    Verlust der öffentichen Ämter

    Die Reaktion des Moskauer Patriarchats ließ nicht lange auf sich warten: Kurajew verlor seine Professorenstelle an der geistlichen Akademie Moskau und wurde aus der Theologischen Synodalkommission ausgeschlossen.3 Im Folgenden wurde sein Lehrauftrag an der Moskauer Staatlichen Universität nicht verlängert, was Kurajew auf eine Initiative des Patriarchen zurückführte.

    Das alles hielt Kurajew nicht davon ab, weiter seine kritische Meinung zu vielen, auch politischen Angelegenheiten öffentlich zu äußern. Nach dem Beginn der Ukraine-Krise verurteilte er öffentlich den allgegenwärtigen Jubel in Russland hinsichtlich der Krim-Annexion und warnte vor den langfristigen negativen Folgen sowohl für die einfache Bevölkerung Russlands als auch für die russische Kirche. Da sein Blog zu einem der meistgelesenen in Russland gehört und er als beliebter Redner bei (vor allem liberalen) Medien gefragt ist, kann Kurajew auch ohne seine zuvor zahlreichen Ämter öffentlich wirksam sein. Außerdem dient er weiter als Diakon in einer Moskauer Kirchengemeinde.


     

    1. Zwar trägt er seit 2009 den Ehrentitel „Erzdiakon“, welcher normalerweise einem Diakon für besondere Verdienste oder nach fünf Jahren Dienst verliehen wird. Im alltäglichen Gebrauch wird die Bezeichnung Diakon bevorzugt. ↩︎
    2. Hiermit sind insbersondere die theosophischen Ideen von Elena Blawatskaja und Nikolaj und Elena Roerich gemeint. ↩︎
    3. Ökumenisches Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft in Ost und West: Russland: Erzdiakon Andrej Kurajev seiner Ämter enthoben ↩︎

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