Der Russe ist einer, der Zäune liebt

Wohnhäuser, Datschen, Gräber, alles wird in Russland eingezäunt, gerne auch blickdicht. Wladimir Rubinski recherchierte für Kommersant über den russischen Wunsch nach Abgrenzung, der, ausgerechnet, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs seinen Lauf nahm.

Der flächendeckende Zaunbau in Russland kam mit dem Privateigentum. „Als nach der Perestroika massenhaft Datschen in der Moskauer Vorstadt gebaut wurden, wurden sie sogleich hoch umzäunt“, erinnert sich der Kulturwissenschaftler und Historiker für Architektur Wladimir Paperny. „Nicht selten tauchten die Zäune sogar noch vor dem Ziegelsteinpalast auf.“

In der Sowjetunion habe der Staat das Monopol gehabt, Absperrungen und Grenzen zu errichten. Doch Anfang der 1990er sei dieses Monopol zerschlagen worden. „Weil es plötzlich Privateigentum gab, ging die Idee der Abgrenzung von der zentralisierten staatlichen auf kleinere Institutionen und Privatleute über“, so Paperny. „Die Zentralmacht, die die Zäune baut, zerfällt in kleinere Machteinheiten, die nun ihrerseits  Zäune bauen.“

Schutz vor ungebetenen Gästen

Zu dem Thema äußert sich auch Pjotr Saposhnikow, Generaldirektor der Firma Stroisabor, einem der Marktführer der Branche in Moskau und Umgebung. „Die Leute fingen damals – das war Anfang der 1990er – damit an, Privathäuser zu bauen“, erinnert sich Saposhnikow. „Zu der Zeit gab es viele kriminelle Machenschaften, die Menschen wollten sich vor ungebetenen Gästen schützen. Seitdem hat es nicht mehr aufgehört. Dem einen geht es um Schutz, dem anderen darum, etwas zu verbergen. Die Leute haben Angst, etwas zu zeigen.“

Vom Wunsch nach Abgrenzung zeugen auch die Zugangssysteme in Mehrfamilienhäusern. „Um in seine Wohnung zu gelangen, muss man im Schnitt fünf armierte Türen passieren: drei im Treppenhaus, die vierte im Vorraum auf dem eigenen Stockwerk und die fünfte – die eigentliche Wohnungstür. Dabei haben wir keine besonders hohe Kriminalitätsrate, wir sind nicht in Johannesburg oder Kolumbien“, bemerkt Sergej Medwedew, Politologe und Historiker der Moskauer Higher School of Economics.

Sergej Medwedew: „Nirgendwo sonst auf der Welt habe ich gesehen, dass Zäune die Grabmale überragen.“ / Foto © Wassili Schaposchnikow/Kommersant

Das große Bedürfnis nach Absperrung lässt sich laut Wladimir Paperny damit erklären, dass über 70 Prozent der Moskauer in Kommunalkas gelebt hätten; die eigene Wohnung stelle daher einen Umbruch in den sozialen Beziehungen dar. 

Ein anderer symbolträchtiger Raum für Zäune ist der Friedhof. „Zäune sind das Hauptmerkmal russischer Friedhöfe. Nirgendwo sonst auf der Welt habe ich gesehen, dass Zäune die Grabmale überragen. Die Zäune sind wichtiger als die Kreuze“, sagt Sergej Medwedew.

Auf dem Friedhof sind die Zäune wichtiger als die Kreuze

Im 20. Jahrhundert habe in der Sowjetunion in kürzester Zeit eine Massenumsiedlung vom Land in die Stadt stattgefunden: Anfang des Jahrhunderts hätten 15 Prozent in Städten gelebt, Ende des Jahrhunderts seien es bereits 70 Prozent gewesen. So stelle der Friedhof einen Ort dar, wo der Mensch endlich bekommt, was ihm sein Leben lang fehlte: Privatsphäre und eigene Grenzen.

Einen Zaun-Bauboom gab es dann Anfang der 2000er Jahre. Bis 2014 wuchs der Markt in der Region Moskau laut Pjotr Saposhnikow exponentiell. Großzügig aufgerundet, wurden pro Jahr allein in der Region Moskau von zehn bis fünfzehn großen Privatunternehmen etwa 3000 Kilometer verschiedenster Zäune errichtet. Würden alle Unternehmen, nicht nur die großen, zehn Jahre lang so produzieren, könnte man den Äquator verzäunen, wie es im Fachjargon heißt. Und wir sprechen hier nur von Privatunternehmen, nur von der Region Moskau, und fast nur von Datscha-Grundstücken.

„Wie viele Zäune es in ganz Russland gibt, weiß keiner, aber man kann anhand von Datschengrundstücken über ihre Länge spekulieren“, erklärt Andrej Treiwisch vom Institut für Geografie der Russischen Akademie der Wissenschaften. Nach Einschätzung der russischen Gärtnervereinigung gibt es in Russland etwa 16 Millionen Datschengrundstücke. Beziehe man noch die altsowjetischen Datschen und die „Fertigbau-Vorstadtpaläste“ mit ein, komme man auf etwa 20 Millionen. 

Selbst wenn man von den Angaben des Rosstat ausgehe, der 79.000 private Gärtner-, Gemüseanbau- und Datschenvereinigungen verzeichnet, erreichten die Zäune eine Länge von 790.000  Kilometer (sie könnten die Erde fast 20-mal umrunden).

Der Zaun symbolisiert die Macht des Eigentümers

Auf der Moskauer Rubljowka, der hermetischen Wohnwelt für Geschäftsleute und Staatsbeamte, sind die Zäune blickdicht und sechs bis acht Meter hoch. Ähnlich hohe Sichtschutzzäune gibt es sonst nur um Klöster und Gefängnisse herum. „Der Zaun ist ein Segregationsmerkmal im städtischen Raum. Er symbolisiert die Macht des Eigentümers“, bemerkt Alexej Krascheninnikow.

Für einen amerikanischen Farmer sei ein Zaun in erster Linie eine Markierung, um Streitereien über die Grenzen seines Eigentums zu vermeiden. So etwas sei nur bei entwickelten Institutionen von Recht und Eigentum möglich, und schließe die Hoffnung auf ein faires Gericht mit ein. 

In Russland liegen die Dinge anders. „In einer Gesellschaft, wo jeder Mensch in der Angst lebte, der Staat oder ein anderer Mensch könne jeden Moment in seinen Bereich eindringen, ist der Zaun ein Symbol des Strebens nach Ruhe und privatem Raum“, schreibt Maxim Trudoljubow in seinem Buch Ljudi sa Saborom (dt. Menschen hinterm Zaun: Privatraum, Macht und Eigentum in Russland). Ihm zufolge gibt es mindestens drei Gründe für die Beständigkeit von Zäunen in Russland: „Erstens waren und sind sie Denkmäler für den nie vollends verwirklichten Traum von Privatheit. Zweitens dienen sie als Pseudolösung für die Probleme mit dem Eigentum – unzulängliche Legitimität und geringer Schutz. Drittens sind Zäune ein konkreter Ausdruck von gegenseitigem Misstrauen der Menschen. Zäune erfüllen überall auf der Welt denselben Zweck, aber bei uns hat sich die Notwendigkeit von Zäunen länger gehalten und ist offenbar stärker ausgeprägt als in anderen Gesellschaften.“

Pjotr Saposhnikow: „Dem einen geht es um Schutz, dem anderen darum, etwas zu verbergen.“ / Foto © Dimitri Skljarenko/Wikimedia

„Zu Sowjetzeiten hat in der Stadt eine andere Kultur dominiert, die mit dem kommunalen Leben und Treiben zusammenhing“, erklärt Alexej Krascheninnikow. Das sei vergleichbar gewesen mit der europäischen Tradition vom Leben in einer local community. Nähmen informelle städtische Gemeinschaften eine zentrale Rolle ein, begünstige dies kooperatives Verhalten unter den Menschen. Allerdings habe es in der Sowjetunion einen kleinen, aber entscheidenden Unterschied gegeben: „In der westlichen Tradition waren die Bewohner auch Eigentümer. Sie waren in den Regierungsorganen vertreten und hatten ein Stimmrecht. Sie waren Bürger.“ Die Basis des Ganzen sei Selbstorganisation gewesen – in der Sowjetunion sei diese dagegen dagegen unterdrückt und de facto erstickt worden. 

Der Zaun verdeckt die unansehnliche Wirklichkeit

Der russische Zaun hat noch eine weitere Funktion: Er verdeckt die unansehnliche Wirklichkeit. 

2011 hat die Regierung von Uljanowsk im Zuge der Vorbereitungen auf den Besuch des damaligen Präsidenten Dimitri Medwedew einen Gartenverein mit einem zwei Meter hohen Sichtschutzzaun abgeschirmt. Allerdings vergaß man, eine Tür einzubauen. Den Eigentümern schlug man vor, sich zu gedulden, bis der Präsident wieder abgereist sei. Im selben Jahr empfing man Medwedew auch in Lytkarino mit einem Zaun. Dort hatte man ein dreistöckiges Haus, das einer Baracke ähnelte, auf diese Weise „dekoriert“. Auf solche Zäune sind auch Wladimir Putin und Sergej Sobjanin bei ihren Reisen gestoßen.

Ein aktuelleres Beispiel: Die Regierung von Samara beabsichtigt zur Fußballweltmeisterschaft dekorative Zäune von zwei bis zweieinhalb Meter Höhe entlang der Gästeroute zu errichten. Ausländer, die zur WM kommen, werden also mit allen Ehren empfangen – wie die führenden Politiker des Landes.

„Den meisten ist es recht so“, erklärt Sergej Medwedew. „Viele sehen die Dinge, wollen aber nichts anrühren, weil sich diese soziale Ordnung etabliert hat. Diese Ordnung infrage zu stellen, hieße das gesamte politische System infrage zu stellen.“

Der Historiker betont, dass jede Kultur, insbesondere aber die sowjetische und auch die russische, auf eine Begrenzung der Bewegung im Raum ausgerichtet sei. Die Entscheidung, was und wie zu begrenzen sei, werde im Endeffekt von einzelnen Personen getroffen, denen dieses Recht von der Regierung übertragen wurde. „Gerade verwirklichen sich alte, langfristige Modelle der russischen Geschichte, die leicht eingefroren waren“, erklärt Sergej Medwedew. „Das alles rührt von einem Halbkriegsstaat her, der auf sein Überleben bedacht ist. Gerade werden archaische Schichten der russischen Psyche wiederbelebt, und mit diesem russischen Archaismus drängt auch die Sache mit den Zäunen an die Oberfläche.“

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