Wie Russland lernte, die Bombe zu lieben

„Kaum eine Ausgabe der Nachrichten kommt heute ohne Beiträge über das nukleare Potenzial Russlands aus“, so Andrej Loschak in seinem Kommentar für Colta.ru. Er fragt sich: Wird die Atombombe zur neuen Nationalidee?

Vor zwölf Jahren war ich in der Demokratischen Volksrepublik Korea, um dort heimlich einen Beitrag für Namedni zu drehen. Ich wunderte mich damals über die vielen Plakatwände, die Straßen Pjöngjangs waren voll davon. Anstelle der üblichen Reklame gab es Militärplakate mit riesenhaften furchtlosen Nordkoreanern drauf, die kleinen feigen Amerikanern auf allerlei Art zusetzten. Das war ebenso komisch wie erstaunlich: Die lokale Propaganda schenkt den USA solche Aufmerksamkeit, während die Mehrheit der Amerikaner kaum eine Ahnung davon hat, dass es die Nordkoreaner überhaupt gibt.

Wasserstoff-Bombe AN602, auch Zaren-Bombe genannt, in Originalgröße. Die im wissenschaftlichen Team des späteren Bürgerrechtlers Andrej Sacharow entwickelte Bombe wurde im Oktober 1961 bei einem Atomtest gezündet und verursachte damals die stärkste je von Menschen erzeugte Explosion. Foto © Sergej Nowikow

Das kleine und schwache Nordkorea ist für seine Autarkie darauf angewiesen, dass man es fürchtet – sowohl innerhalb wie auch außerhalb des Landes. Weiter hat sie nichts zu bieten – keine Technologien, keine Reichtümer, keine Kultur. Die einzige Nachricht aus Nordkorea, die es regelmäßig in die Top Ten schafft, ist die Meldung, dass sie die Atombombe haben. Angst und Schrecken einflößen, den Menschen drohen, das ist alles, was bleibt, wenn die Seele verkauft ist. Nicht umsonst wird im Hooligan-Jargon ein Messer als „Argument“ bezeichnet – es stimmt schon, wenn einem damit einer vor der Nase herumfuchtelt, wirkt es tatsächlich überzeugend, aber im Allgemeinen ist der Gebrauch eines derartigen „Arguments“ vor allem ein Zeichen von Dummheit, Niedertracht und Schwäche.

Angst und Schrecken einflößen, den Menschen drohen, das ist alles, was bleibt, wenn die Seele verkauft ist

Als ich damals 2004 in Nordkorea war, glaubte man in Russland fest und unerschütterlich an Kohlenwasserstoffe. „In gas we trust“, so lautete das Credo der Regierenden. Ich weiß noch, wie Leonid Parfjonow in einer Namedni-Ausgabe eine Rede Putins vor der Föderationsversammlung mit dem Auftritt des Vorstandsvorsitzenden eines Mineralölkonzerns vor seinen Aktionären verglich. Seinerzeit hatte der Präsident keine andere Idee, als den Pipelines und Förderrohren ordentlich Profit zu entlocken. Die Brosamen, die von dem Gelage für das Volk abfielen, nannte man Stabilität. Und die Menschen glaubten gerne daran. Nach seinem Abgang 2008 wäre Putin denn auch als erfolgreicher Topmanager in die Geschichte des Landes eingegangen. Doch er ging nicht.

Die Brosamen, die von dem Gelage für das Volk abfielen, nannte man Stabilität

Seit dieser Zeit fielen die Preise für Energieträger mehrfach in den Keller, und es wurde klar – aus einer ephemeren Substanz wie dem Erdgas eine nationale Idee machen zu wollen, ist zumindest dumm. In Russland kam eine dumpfe Unzufriedenheit auf, der Topmanager erwies sich als doch nicht so effektiv. Viele nannten den Präsidenten sogar plötzlich einen Dieb, forderten ehrliche Wahlen und verwiesen dabei auf die westliche Demokratie. Das daraufhin inszenierte patriotische Projekt ließ die Russen angesichts der alptraumhaften Perspektive, sich in ein nächstes Gayropa zu verwandeln, enger zusammenrücken, aber zur nationalen Idee wurde es nicht. Niemand zeigte sich in der Lage, mitreißend zu erklären, was es mit „unseren Traditionen“, der geistigen Klammer und dem Sonderweg auf sich hat. Und je weiter man auf dem Sonderweg voranschritt (Leskow hielt diesen Weg übrigens für eine Sackgasse), desto steiler ging es mit der Stabilität bergab und die Feinde, die schuld waren an unserem Unglück, wurden immer mehr.

Unerwartet aktuell war plötzlich die Erfahrung der nordkoreanischen Genossen: Die kriegerische Songun-Doktrin wurde zur neuen Ideologie der russischen Machthaber, und die Atombombe als gewichtigstes Argument zu ihrem Symbol. Vor zwölf Jahren kam mir Nordkorea wie ein absurdes Relikt der Vergangenheit vor, wie eine Parodie auf eine Antiutopie aus dem 20. Jahrhundert. Inzwischen ist mir die Lust vergangen, über Nordkorea zu spotten, denn das Land, in dem ich lebe, ist gerade dabei, sich in ein Nordkorea zu verwandeln. Russland erinnert heute an Dr. Seltsam. Wir haben angefangen die Bombe zu lieben, als uns klar wurde, dass wir etwas Cooleres und Stärkeres sowieso nicht haben. Die Bombe ist unsere wichtigste „Klammer“, unser schwerwiegendstes Argument. Es ist offensichtlich, dass es bei uns in nächster Zeit ebenso wenig für einen Elon Musk oder einen Steve Jobs reichen wird wie für irgendwelche Wissenschafts-Nobelpreisträger. Aber die Bombe – die gute alte sowjetische Atombombe -, die ist da und rührt sich nicht vom Fleck. Wenn man uns schon nicht achten will (wofür eigentlich?), so soll man uns wenigstens fürchten.

Das Land, in dem ich lebe, ist gerade dabei, sich in ein Nordkorea zu verwandeln

Kaum eine Ausgabe der Nachrichten kommt heute ohne Beiträge über das nukleare Potenzial Russlands aus. Den Anfang machten natürlich die berühmt gewordenen Eskapaden von Dimitri Kisseljow zur Zeit der Krim-Annexion: „Obama ist vor Angst ergraut“, „wir können die USA in radioaktive Asche verwandeln“ und so weiter. Wohl genau für das feinfühlige Erfassen dieses Trends wurde er in der Folge mit Huldigungen überschüttet. Selbst der Präsident vergleicht die Atomwaffe zärtlich mit den Krallen und Zähnen eines freundlichen kleinen Bären, dem die Feinde das Fell abziehen wollen.

2015 beklagt sich eben jener Moderator Kisseljow auf einer Pressekonferenz bei Putin: „Es kann natürlich sein, dass ich an Paranoia leide, aber ich spüre förmlich den Würgegriff der NATO, ich fühle, wie ihr Ring sich immer weiter schließt und ich keine Luft mehr bekomme!“ „Keine Angst, wir haben doch selbst alle im Würgegriff“, beschwichtigt Putin und geht zu seinem Lieblingsthema über: den Kräften der nuklearen Abschreckung.

Das Verteidigungsministerium hat letztes Jahr vorgeschlagen, einen neuen Feiertag einzuführen: den Tag der Kernwaffe – zum Gedenken an die Erprobung der ersten sowjetischen Atombombe. Ein Karikaturist der Nachrichtenagentur RIA Nowosti veröffentlicht eine Karikatur, die seinen ständigen Helden – einen etwas heruntergekommenen Bären – zeigt, wie er als Reaktion auf den gesunkenen Ölpreis Obama mit einer Rakete vor dem Gesicht herumfuchtelt. Gegenüber der amerikanischen Botschaft in Moskau hängt ein Plakat mit der Aufschrift „Obama ist ein Mörder“, und auf den Straßen sind Autos mit antiamerikanischen Aufklebern unterwegs.

„Die Ölpreise werden nie mehr hochgehen“ - „Ich habe da was – damit geht alles hoch.“ Karikatur von Witali Podwizki, veröffentlicht auf RIA Nowosti. Später wurde sie von der Website heruntergenommen. Quelle: buyro.ru

Ich war diesen Sommer zwei Wochen in den USA – ich habe nicht einen einzigen Anti-Putin-Aufkleber gesehen. Die Amerikaner kümmern sich einen Dreck um ihn – sie haben wichtigere und interessantere Dinge zu tun. Dieser Krieg findet ausschließlich in unseren Köpfen statt – und zwar als Projektion der Launen des Präsidenten. Die Fixiertheit auf das Feindbild enthüllt einen ungeheuerlichen Provinzialismus; nicht von ungefähr ist das Internet voll von Witzen zum Thema „Noch nie ging es den Russen so schlecht wie unter Präsident Obama“. Wenn das nicht Nordkorea ist!

Es ist traurig, es sich einzugestehen, aber Russland ist heute eine Art internationaler gewaltbereiter, kriminalitätsaffiner Gopnik mit einem „Argument“ in der Hosentasche. So weit wurde der Militarismuskult nicht einmal von der kommunistischen Propaganda getrieben, die wenigstens den Versuch machte, sich als Friedenstaube zu verkaufen, die dem Ansturm der Falken aus dem Pentagon Einhalt gebietet. Für den Verteidigungskomplex gibt Russland das Zehnfache dessen aus, was es in Gesundheit und Bildung investiert (rund 30 Prozent gegenüber 3 Prozent), wobei die Verteidigungsausgaben unablässig steigen, während die Mittel für den medizinischen Bereich bereits seit Jahren gekürzt werden. Krankenhäuser werden geschlossen, Arzneimittel werden nicht gekauft, Geräte gehen kaputt – nahezu täglich wird darüber berichtet. Im Grunde bezahlen wir alle schon heute – ohne jeden Atomkrieg – für die Liebe des Präsidenten zur Bombe, nämlich mit unserer Gesundheit.

Mit ihrer militaristischen Paranoia versuchen sie alle zu infizieren, selbst die Kinder. Vor ein paar Wochen war ich bei einer von den Nachtwölfen veranstalteten Neujahrsshow. Ich war gespannt, wofür die Biker die 9 Millionen Rubel ausgegeben hatten, die sie als Präsidenten-Fördergelder für den Bereich Nichtkommerzielle Organisationen eingestrichen hatten. Dabei waren wirklich renommierte Organisationen wie der Hospiz-Hilfsfonds Vera und die Stiftung Freiwillige helfen Waisenkindern leer ausgegangen.

Selbst der Präsident vergleicht die Atomwaffe zärtlich mit den Krallen und Zähnen eines freundlichen kleinen Bären, dem die Feinde das Fell abziehen wollen

Die einstündige Show bei frostigen Temperaturen erschütterte durch eklektizistische Scheußlichkeit. Nach etwa sieben Minuten trat eine anzüglich gekleidete Frau mit amerikanischem Akzent auf, die sofort gegen alles Russische loswetterte und immerzu wiederholte: „Bei euch ist alles Mist und auch diese Neujahrsfeier ist voll daneben!“ Die bunte Truppe der Feinde [Russlands] bestand aus Sultan Erdogan, einem Nazi mit schwulem Gebaren, einem Hipster mit MacBook unterm Arm und einem Rockmusiker, in dem Andrej Makarewitsch zu erkennen war. Ihnen gegenüber standen einfache russische Menschen, aus patriotischen Gründen unterstützt vom Unsterblichen Koschtschej: „Wir sind vielleicht Räuber und Unholde, aber unser Blut ist russisches Blut!“ Anschließend besiegten die Russen unter Führung von Koschtschej, dem Unsterblichen, natürlich die Taugenichtse. Dabei bretterten die einen wie die anderen auf amerikanischen Motorbikes durch die Kulissen, eine Eins-zu-eins-Kopie von Mad Max, übrigens auch zu erkennen an einer riesigen Aufschrift mit dem Titel des Actionstreifens.

Später fragte ich den siebenjährigen Sohn von Freunden, der die patriotische Halluzinose bis zur Hälfte mitangeschaut hatte, bevor er sich zum Aufwärmen ins Café verzog: „Was würdest du sagen, worum ging es bei der Vorstellung?“ Der Junge kratzte sich am Kopf und sagte unsicher: „Irgendwie um Krieg?“

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