Warum gehen wir nicht auf die Straße?

Am 1. Juli haben Russlands Wahlberechtigte über die Verfassungsänderung abgestimmt. Mit einem Häkchen – bei Ja oder Nein – sollten sie über 206 Änderungen abstimmen: darunter etwa die Ehe als Institution zwischen Mann und Frau, und die Nullsetzung der Amtszeiten Putins. Offiziell wegen der Corona-Pandemie waren diesmal auch Wahllokale an „einem Ort unter freiem Himmel“ erlaubt, es lief eine mehrtägige „Vorab-Abstimmung“, noch vor dem eigentlichen Abstimmungstag, dem 1. Juli, und in zwei Regionen konnten Stimmen auch online abgegeben werden. So gab es Wahllokale in Kofferräumen und auf Baumstümpfen, Wahlurnen wurden in Hausflure getragen. 
Die unabhängige Wahlbeobachtungsorganisation Golos kritisierte, dass weder eine freie Wahl noch eine unabhängige Wahlbeobachtung unter diesen Umständen wirklich möglich sei – außerdem sei kaum nachprüfbar, wer sowohl online als auch offline abgestimmt hat. Schließlich gab die Zentrale Wahlkommission ZIK ein Zwischenergebnis von über 70 Prozent Zustimmung bereits vor Schließung der letzten Wahllokale bekannt – was in Russland unüblich ist und als Manipulation kritisiert wurde. Analysten wie Sergej Schpilkin sprechen von den größten Wahlfälschungen und -anomalien in der Geschichte der Russischen Föderation. Das ungewöhnliche Prozedere werten manche Beobachter als Testlauf für die Dumawahl 2021.
Das Vorgehen und auch das Ergebnis (knapp 78 Prozent Zustimmung) hält die Redaktion des unabhängigen Online-Mediums Projekt für eine moralische Niederlage – nicht nur des Systems, sondern auch der Bürger, die jetzt nicht auf die Straße gehen. Ein Kommentar.

Die radikale Umschreibung der Verfassung durch den Kreml im Jahr 2020, die es Putin erlaubt, noch länger im Amt zu bleiben, droht als eines der schlimmsten Ereignisse für die Zivilgesellschaft in die Geschichte einzugehen. Unterschieden sich die Menschen schon vor der Corona-Epidemie in ihren Überzeugungen, so hat Corona sie auch noch physisch voneinander entfernt. Am Ende blieb jeder Kritiker allein mit sich und seinem Wahlzettel.

Die Kampagne zur Verfassungsänderung begann noch vor dem Ausbruch von COVID-19 in Russland, nahm aber so schnell Fahrt auf, als stünde das Virus schon vor der Tür. Das sorgte bei einigen für Irritation: Anfangs schien es, als wolle Putin die Macht gar nicht bei sich konzentrieren, sondern sie sogar mit dem Parlament teilen. Doch schon bald wurde klar, dass die neue Version des Grundgesetzes kein Konzept von Checks and Balances festschrieb, sondern dass stets Putin das Machtzentrum sein würde, und das nicht nur im Amt des Präsidenten. 

Das alles kam nicht überraschend: Experten hatten schon lange damit gerechnet, dass der Mensch, der de facto seit 20 Jahren an der Macht war, diese nicht plötzlich aufgeben würde. Die Frage war bloß, wie konkret er das bewerkstelligen würde. Die Verfassungsänderung war also in dieser Hinsicht einzig ein Moment der Ehrlichkeit: Genau, so wird es sein.

Unverhohlene Offenheit: Genau, so wird es sein

Diese unverhohlene Offenheit und die Perspektive noch viele Jahre in Putins Russland – im wahrsten Sinne des Wortes – zu leben, hätten zum Anlass für Proteste werden können. Trotz der Augenwischerei mit der Rentenanpassung, „dem staatsbildenden Volk“ oder dem Verbot der Geschichtsklitterung. Hätten, wurden sie aber nicht. Genauso wenig wie es am 24. September 2011 zu Protesten kam, als der damalige Präsident Dimitri Medwedew den Wiedereinzug Wladimir Putins in den Kreml verkündete, der seine nächste, damals erst dritte Amtszeit antrat. Es dauerte noch mehr als zwei Monate bis Tausende Menschen auf die Straße gingen – dafür brauchte es erst die massiven Fälschungen bei der Dumawahl im Winter, und später bei der offiziellen Präsidentschaftswahl im März 2012. Zunächst vereinte die Menschen die Forderung nach fairen Wahlen, nach einer Anerkennung ihrer Stimme. Darin trafen und solidarisierten sich die Anführer der Opposition (der rechten wie der linken, und der Menschenrechtsbewegung).

Als 2020 Putins Amtszeiten auf Null gesetzt wurden, gab es keinen Zusammenschluss der Opposition. Keine allgemeine Strategie des Widerstands: Sollte man gegen die Verfassungsänderung stimmen oder die Abstimmung boykottieren? „Jelzins“ Verfassung von 1993, die die Regierungszeit einer Person zwar sehr dehnbar, aber wenigstens überhaupt begrenzte, fand keine überzeugenden Verteidiger, deren Stimme laut genug gewesen wäre. 

Die Verfassung war für die meisten bloß ein Stück Papier mit irgendeiner Erklärung, pathetisches Geschwurbel

Aber vermutlich hätten sie auch kein Publikum gefunden. Wie Umfragen des Lewada-Zentrums belegen, war die Verfassung für die meisten bloß ein Stück Papier mit irgendeiner Erklärung, pathetisches Geschwurbel, aber sicher kein gesetzgebendes Dokument mit direkter Auswirkung auf das politische System. Wenn sie also weder Wahrheit noch Gewicht hat und man sie verdrehen kann, wie es gerade passt, braucht man sie auch nicht zu verteidigen (so unter anderem die Meinung von Alexej Nawalny). Dennoch sahen viele den Vorschlag, die Verfassung durch ein paar Sozialleistungen zu ergänzen, als eine Chance an, endlich einmal etwas „Nützliches“ für die einfachen Leute zu tun. (Dass diese Leistungen längst in anderen Gesetzen festgeschrieben sind, wissen die wenigsten.) Doch obwohl die Mehrheit die „Sozialreformen“ unterstützte, befürworteten nicht einmal alle Putin-Anhänger die Nullsetzung der Amtszeiten. Die Gesellschaft teilte sich in zwei gleich große Lager.

Gespaltene Gesellschaft

Diese unerwartete Spaltung hat sich jedoch kein einziger russischer Oppositionspolitiker zu Nutze gemacht, weder von der systemischen noch der nichtsystemischen. Das kann man in Teilen mit politischem Pragmatismus erklären: Es war klar, dass der Kreml unbedingt, koste es, was es wolle, eine hohe Beteiligung und hohe Zustimmungsraten für die Änderungen erreichen möchte, und so konnte die Opposition nicht ernsthaft mit einem Scheitern der Abstimmung rechnen (und selbst der Erfolg eines Boykotts ließe sich nur schwer mit verlässlichen Zahlen belegen). 

Aber es gab auch ein ethisches Problem: Man konnte nicht zu Protestaktionen aufrufen (die während der Pandemie verboten sind), aber selbst ein Aufruf, zur Abstimmung zu gehen [und mit Nein zu stimmen – dek], hätte so ausgesehen, als würde man das Risiko einer Ansteckung mit dem Coronavirus einfach ignorieren – das konnte sich nur Putin selbst erlauben, als er die Russen am 30. Juni zur Teilnahme an der Abstimmung aufforderte.

Fernseherverpackung dient als Wahlurne

Eine weitere Rolle spielte sicher auch die Komik des Abstimmungsprozesses selbst: Diese ganzen Wahllokale in Kofferräumen, auf Hockern und Bänken mit Urnen aus Pappkarton. Es ist schwer den Feind in Form einer Fernseherverpackung [als Wahlurne – dek] ernst zu nehmen.

„Und wie gefällt euch das Wählen auf dem Fußballfeld so?“ – Tweet des Wahlkampfstabs von Alexej Nawalny vom 25. Juni 2020

Es gab viele Witze, aber auch Beschwerden über vielfältige Verstöße im Verlauf der Abstimmung: So berichtet die Wahlbeobachtungsorganisation Golos über fast 700 mutmaßliche Verstöße. Das Hautproblem: Wählernötigung. Doch das passiert de facto bei allen wichtigen Wahlen. Diesmal gab es eine massenhafte fast einwöchige Vorab-Abstimmung, auch online, wo eine ebenso massenhafte, unabhängige Beobachtung unmöglich war. Allein dieses Format der „Willensbekundung“ ließ nicht groß hoffen auf wirklich ehrliche Wahlen, vor allem in den Regionen. Dass, wer wollte, zwei, drei, ja sogar vier Mal abstimmen konnte – für sich selbst, die Oma und für die ganze Sippe – das war schon in den ersten Tagen dieser Vorab-Abstimmung klar. Schon allein die Umstände ihrer Durchführung boten die Möglichkeit zu manipulieren – ja, zwangen einen schon fast dazu. Das an sich demoralisiert schon: Was für einen Unterschied macht es, wie man abstimmt und ob man überhaupt abstimmt, wenn die ganze Abstimmung im Grunde zum reinsten Chaos geworden ist, das auch noch von den Behörden verwaltet wird?

Moralisches Versagen

Verärgerte Bürger, die davon noch nicht völlig paralysiert und apathisch geworden waren, fanden sich vor ihren Notebooks, ihrem Facebook, wieder, allein mit ebenso verstörten Menschen, und stellten einander immer wieder ein- und dieselbe Frage: Was tun?

Klar, man kann sich jetzt über die 20 bis 30 Prozent an Nein-Stimmen freuen. Aber gleichzeitig gibt es 70 bis 80 Prozent an Ja-Stimmen [das derzeitige Ergebnis ist 77,92 Prozent Ja-Stimmen und 21,27 Nein-Stimmen – dek]. Ungefähr so viel, wie der Kreml erreiche wollte. Man kann versuchen Trost zu finden in Debatten über die Kurzlebigkeit der neuen Putinschen Verfassung. Aber es ist nicht gesagt, dass sie kürzer wirkt als die Erinnerung an das moralische Versagen im Sommer 2020.
Am Abend des 1. Juli kamen nicht mehr als 300 Leute [zu einer Protestaktion gegen die Abstimmung – dek] zum Puschkin-Denkmal in Moskau, in Petersburg waren es noch weniger.
Übrigens: Auch am 4. Dezember 2011 konnte keiner voraussehen, dass schon binnen weniger Tage Zehntausende auf die Straße gehen würden.


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