Ende April hat die ukrainische Rada ein neues Sprachgesetz beschlossen. Es soll das Ukrainische stärken und sieht es unter anderem als einzige Sprache in öffentlichen Einrichtungen vor. Außerdem ist etwa auch eine höhere Quote für Ukrainisch in Filmen und TV- und Radiosendungen vorgesehen (bei landesweiten Medien soll sie von 75 auf 90 Prozent steigen, bei Regionalsendern von 60 auf 80 Prozent). Landesweit soll das Erlernen der ukrainischen Sprache gefördert werden. Gleichzeitig sieht das Gesetz Geldstrafen vor, wenn die neuen Regelungen nicht eingehalten werden.
Seit der Unabhängigkeit 1991 ist das Ukrainische alleinige Amtssprache, mit dem Krieg in der Ostukraine und nach Angliederung der Krim 2014 wurde die russische Sprache zunehmend zum Politikum. So wurde das neue Sprachengesetz verabschiedet unmittelbar nachdem Russlands Präsident Putin einen Erlass unterzeichnet hatte, der es den Bewohnern der besetzten Gebiete erleichtern soll, die russische Staatsbürgerschaft zu erhalten.
Bereits im Vorfeld hatte es heftige Debatten um das neue Gesetz gegeben. Tatsächlich ist die Ukraine ein zweisprachiges Land, wobei Ukrainisch vorwiegend im Westen, Russisch vorwiegend im Osten und Süden gesprochen wird. Viele Ukrainer sind bilingual: So sprechen einer aktuellen Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) zufolge 46 Prozent der Befragten hauptsächlich oder ausschließlich Ukrainisch mit ihrer Familie, 28,1 Prozent Russisch und 24,9 Prozent Ukrainisch und Russisch (die umkämpften Gebiete im Donbass und die Krim sind von solchen Umfragen ausgenommen).
Der neu gewählte ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky, der vorwiegend Russisch spricht, kündigte schließlich auch an, das Gesetz nach seinem Amtsantritt prüfen zu wollen.
Auf Republic kommentiert Wladimir Pastuchow, Politologe am Londoner University College, das neue Sprachengesetz und befindet, es sei „das beste Geschenk, das man Putin in fünf Jahren Krieg machen konnte“.
Irgendwie bekommt man den Eindruck, als hätte man weder in Moskau noch in Kiew verstanden, was bei dieser Wahl eigentlich passiert ist – und ob überhaupt was passiert ist. Bis jetzt tun alle so, als wäre Selensky ein Stein im Schuh des „großen Spiels“, das die „ernsthaften Männer“ miteinander spielen. Und die sind entschlossen, in der Zeit bis zur Amtseinführung eine so vielversprechende Agenda vorzulegen, dass dem neuen Präsidenten das Lachen vergeht. Poroschenko wirkt bei diesem Unterfangen nicht weniger einfallsreich als Putin. Blitzartig beförderte er die Sprachenfrage, die lange irgendwo in der Mitte der To-do-Liste vor sich hin geschmort hatte, ganz nach oben. So wird Selensky sich zum Auftakt wohl nicht mit prosaischen Dingen wie Korruption abgeben dürfen, sondern gleich eine Grundsatzdiskussion führen. Diese wird nicht leicht und allem Anschein nach langwierig.
Die Kompassnadel spielt verrückt
Was die europäische Integration angeht, spielt die Kompassnadel offenbar völlig verrückt und zeigt in eine ganz andere Richtung – in der man mit europäischen Werten kreativer umgeht als in der EU selbst. Ein kurzer Blick auf die europäische Praxis zeigt, dass die Ukraine hier alles andere als im Trend liegt.
In Finnland, wo die schwedischsprachigen Finnen etwa fünf Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind die Amtssprachen Finnisch und Schwedisch; jede Schule muss das Recht auf schwedischsprachigen Unterricht für schwedische Muttersprachler gewährleisten. Auf den Åland-Inseln ist Schwedisch die einzige Amtssprache. Darüber, dass die Straßennamen dort allesamt zweisprachig sind, hat schon jeder geschrieben, der sich nicht zu schade war. Und selbstverständlich senden die Medien für jedes Publikum in der jeweiligen Sprache.
In Belgien verteilen sich die beiden großen Sprachgruppen – Französisch und Niederländisch – auf etwa 40 zu 60 Prozent. Es erstaunt nicht weiter, dass beides Amtssprachen sind. Erstaunlich ist allerdings, dass wegen eines winzigen deutschsprachigen Bevölkerungsanteils Deutsch die dritte Amtssprache ist.
Mindestens seltsam
Vor diesem Hintergrund sieht die Ukraine, die das Russische nicht als Amtssprache anerkennen will, mindestens seltsam aus – nach vorsichtigsten Schätzungen beträgt hier der Anteil der russischen Muttersprachler 30 Prozent. Natürlich können Verweise auf fremde Erfahrungen nichts beweisen – auf der Welt gibt es alle möglichen Erfahrungen.
Und die Einwände liegen auf der Hand. Die Schweden versuchen nicht, Finnland zu besetzen, und die Deutschen marschieren nicht durch Antwerpen. Das ist richtig, auch wenn die Schweden Finnland einst besetzt hatten und die Deutschen durch Antwerpen marschiert sind. Aber das ist lange her, und es ist Gras drüber gewachsen, wohingegen die hybride russische Intervention sich im Netz weiterentwickelt. Deshalb muss das Sprachengesetz als eine Art Notgesetz in Kriegszeiten betrachtet werden, das die nationale Sicherheit der Ukraine gewährleisten soll. Und so wird es heute im Grunde auch begründet.
Sprache in Zeiten des Krieges
Ich will das nicht grundsätzlich bestreiten. Ich will nur sagen, dass Russland wirklich alles dafür getan hat, damit so ein Gesetz in der Ukraine entstehen konnte, und dass es die volle Verantwortung dafür trägt, dass der Status der russischen Sprache in einem Land mit einer der weltweit größten russischsprachigen Gemeinden geschwächt wird, ja unter Umständen zu Trash verkommt. Es bringt nichts, auf Poroschenko zu schimpfen, wenn an den eigenen Händen Blut klebt. Nachdem ich das gesagt habe, erlaube ich mir allerdings, den Nutzen dieses Gesetzes für die Ukraine zu bezweifeln, und zwar innerhalb genau der Logik, mit deren Hilfe es vorangetrieben wird: der Logik eines Staates im Krieg.
Wie ein ukrainischer Kommentator auf meinem Blog bei Echo Moskwy treffend bemerkte, besteht das Problem der russischen Sprache in der Ukraine darin, dass dort, wo sie sich konzentriert, schnell auch der russki mir mit der Kalaschnikow auf den Plan tritt. Dieses Problem ist absolut real. Angesichts der anhaltenden russischen Aggression im Osten der Ukraine werde ich nicht darüber streiten, wie moralisch es ist, das Problem lösen zu wollen, indem man den Gebrauch der Sprache einschränkt, die für ein knappes Drittel der eigenen Bevölkerung grundlegend ist. Ich will nur anmerken, dass mir das gesetzte Ziel völlig utopisch erscheint, und aller Voraussicht nach wird genau das Gegenteil erreicht: Die nationale Sicherheit des jungen ukrainischen Staates wird nicht gestärkt, sondern gefährdet.
Die breite Masse wird vergrämt
Auf dem Papier lässt sich alles Mögliche verordnen, auch die russische Sprache über Nacht aus dem Verkehr ziehen. Aber im Leben ist das unmöglich. Mit welchen Konsequenzen muss man rechnen? 15 Prozent der russischsprachigen Bevölkerung werden sich vielleicht wirklich bemühen, schnellstens auf Ukrainisch umzusteigen und zu vollwertigen Staatsbürgern zu werden. Nochmal so viele werden versuchen, nach Russland auszureisen, deutlich mehr jedoch in die EU (danke, Visafreiheit – die sagt nichts zum Thema Sprache). Doch die breite Masse wird vergrämt und gedemütigt zurückbleiben und sich mit den Gegebenheiten arrangieren, wobei sie ihre Minderwertigkeit im Rahmen der Neuerungen auf Schritt und Tritt zu spüren bekommen wird: Ihre Kinder werden in der Schule nicht in ihrer Muttersprache lernen können, sie werden weder Filme noch Theaterstücke in ihrer Muttersprache sehen, bei keinem Amt in ihrer Muttersprache vorsprechen können und so weiter.
Im Großen und Ganzen ist dieses Gesetz das beste Geschenk, das man Putin in den ganzen fünf Jahren Krieg machen konnte
Und wie wird sich das auf die nationale Sicherheit der Ukraine auswirken? Im Großen und Ganzen ist dieses Gesetz das beste Geschenk, das man Putin in den ganzen fünf Jahren Krieg machen konnte. Die Rolle, die dieses Gesetz bei der Bildung der russischen Fünften Kolonne in der Ukraine spielt, ist womöglich so bedeutend, dass man schon jetzt allen Mitwirkenden per Geheimdekret den Titel „Held der Russischen Föderation“ verleihen könnte.
Wenn diese Fünfte Kolonne bislang als Frucht entzündeter Phantasie des radikal eingestellten Flügels der ukrainischen Intelligenz existiert hatte, allenfalls als Potenzial, dann materialisiert sie sich jetzt buchstäblich aus dem Nichts, und allein beim Donbass wird es nicht bleiben. Von Odessa bis zum Dnepr wird die Situation wieder genau so verworren sein wie ganz zu Beginn des „russischen Frühlings“.
Die überstürzte Verabschiedung des Sprachengesetzes kann genauso wenig mit der Sorge um nationale Sicherheit begründet werden wie mit dem Prozess der Eingliederung in die EU. Objektiv betrachtet rückt das Gesetz die Ukraine weiter weg von europäischen Standards und gefährdet die nationale Sicherheit noch stärker, weil es in einer Grundsatzfrage zu einer beunruhigenden neuen Spaltung der Gesellschaft führt. Nach den Gründen und Ursprüngen der Eile muss man also woanders suchen …
Genau zu diesem Zeitpunkt sollte man sich erinnern, dass die Ideen, die dem just verabschiedeten Gesetz zu Grunde liegen, schon lange vor dem Ausbruch des Krieges mit Russland existierten, ja noch bevor die Ukraine den EU-Integrationskurs eingeschlagen hatte, und sich bei Teilen der ukrainischen Intelligenz großer Beliebtheit erfreut hatten. Sie waren ein Teil dessen, was man als den „ukrainischen Traum” bezeichnen könnte – dem Streben weg von Russland hin zu einem unabhängigen ukrainischen Staat. Der Schlüsselbegriff ist hier „weg von Russland“.
Flucht aus der russischen Sprachzone
Ein wesentlicher Teil dieser Unabhängigkeit bestand für viele Ideologen eines ukrainischen Nationalstaates in der kulturellen Unabhängigkeit, der Befreiung vom Kleiner-Bruder-Komplex. Viele sahen das Erlangen der kulturellen Eigenständigkeit schon vor einem halben Jahrhundert in der Flucht aus der russischen Sprachzone.
Der Krieg mit Russland war also nie der Grund, warum die Partei, die für die Verdrängung der russischen Sprache eintritt, gewonnen hat. Ohne diesen Krieg hätte diese Partei aber kaum je eine echte Chance gehabt, ihr radikales Projekt umzusetzen. Putin kann daher als Koautor des Projekts gelten. Mit seiner Ukraine-Politik hat er geholfen, den Traum des radikalsten Flügels der ukrainischen Intelligenz zu verwirklichen. Zumindest vorerst.
An sich ist der Wunsch, die Ukraine zu ukrainisieren, historisch wie politisch gerechtfertigt. Fraglich ist die Wahl der Mittel und des Tempos. Kein Staat der Welt kann ohne einen einheitlichen Sprachraum existieren. Der Wunsch, einen solchen Raum zu schaffen und zu schützen, ist daher vollkommen adäquat.
Ferner besteht kein Zweifel, dass sich in der Ukraine – genau wie in einer ganzen Reihe anderer ehemaliger russischer Kolonien – eine Schieflage ergeben hat, als sich dieser universelle Sprachraum nicht auf der Basis der Sprache der Titularnation herauszubilden begann, sondern auf der einer großen ethnischen Minderheit (wobei ein nicht unwesentlicher Teil der ethnischen Ukrainer Russisch als Muttersprache empfindet). Sprich: Auch ein Vierteljahrhundert nach dem Zerfall der UdSSR ist Russisch in der Ukraine immer noch die Sprache der innerukrainischen Verständigung.
Die Wahl der Mittel
Es ist völlig klar, dass keine normale Entwicklung des ukrainischen Nationalstaates möglich ist, solange die Situation sich nicht umkehrt und Ukrainisch zu jener universellen Sprache wird, welche die kulturelle, wirtschaftliche und politische Integrität festigt. Bis zu diesem Punkt verstehe und unterstütze ich die Beschützer der ukrainischen Sprache. Doch dann kommen wir zur Wahl der Mittel. Entweder man erschafft den Sprachraum, indem man die Verbreitung des Ukrainischen fördert oder indem man die Verbreitung des Russischen zurückdrängt. Das heißt, man hat die Wahl zwischen einem diskriminierenden und einem nicht-diskriminierenden Modell.
Das Sprachengesetz wurde eilig unter dem Druck der Radikalen Maidan Partei beschlossen, die um ihre letzte Chance fürchtete, ihr Ideal in die Tat umzusetzen. Das Gesetz ist mehrdeutig und enthält eine Reihe von Bestimmungen, die als gegeben gelten können und sollten.
Unumstritten ist der Status des Ukrainischen als Amtssprache, vernünftig erscheint die Forderung, dass sie obligatorisch auf allen Bildungsstufen gelehrt werden soll, gerechtfertigt ist die Forderung, dass jeder Staatsbürger sie in der einen oder anderen Form beherrschen soll, wobei im öffentlichen Dienst das fließende Beherrschen verpflichtend ist. Selbst in der Forderung, dass fremdsprachige Filme und Theateraufführungen mit ukrainischen Unter- beziehungsweise Übertiteln versehen gehören, liegt eine gewisse Logik. Man darf in dieser Frage nicht die Auffassung vieler Anhänger des russki mir übernehmen, die meinen, es würde irgendwie ihre Rechte und ihre Würde verletzen, wenn man von ihnen fordert, die Landessprache des Landes zu lernen, in dem sie leben und deren Staatsbürger sie darüber hinaus sind.
Die Situation sieht jedoch anders aus, wenn es um diskriminierenden und äußerst selektiven Maßnahmen in Bezug auf russische Muttersprachler geht. Hier nur die wichtigsten: Unmöglich ist die freie Entfaltung der kulturellen Identität durch die Einschränkung von muttersprachlicher Lehre auf allen Bildungsebenen, durch begrenzten Zugang zu Informationen und kulturellen Gütern in der jeweiligen Muttersprache, durch eingeschränkten Zugang zum Rechtssystem aufgrund von sprachlicher Angreifbarkeit und durch weitere Auswüchse der Diskriminierung aufgrund der Sprache. Solche Maßnahmen machen nicht so sehr das Ukrainische zum universellen Mittel der Kommunikation, sondern vielmehr das Russische zur Sprache der Spaltung. Das eigentliche, ausdrückliche Ziel wird nicht erreicht – es wird kein gemeinsamer Sprachraum geschaffen.
Die tieferen Ursachen für die Popularität des diskriminierenden Ansatzes bei einem großen Teil der ukrainischen Intelligenz liegen auf der Hand, und sie stehen in keinem Zusammenhang mit dem Krieg und der daraus resultierenden psychologischen Sprengkraft der Diskussion. Der Grund ist die Ungeduld, der Unwillen und die Unfähigkeit zu warten. Die heutige Sprachsituation in der Ukraine ist über Jahrhunderte gewachsen, und es braucht mitunter viel Zeit, um die Stellung der beiden Sprachen umzukehren. Ein nicht-diskriminierender, motivationsbasierter Weg würde Jahrzehnte mühevoller Arbeit bedeuten. Aber das Ergebnis soll ja noch zu Lebzeiten sichtbar werden, am besten sofort. Das führt zu einem Sprach-Bolschewismus mit seiner Philosophie des großen Sprungs. Wenn man schon nicht das Ukrainische schnell verbreiten kann, dann kann man doch wenigstens das Russische schnell verdrängen. Wie jeder andere große Sprung ist das eine Utopie.
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