Ukrainisches Sprachen-Manöver

Heftige Debatten um ein neues Bildungsgesetz in der Ukraine: In Schulen soll ab der fünften Klasse Ukrainisch die Unterrichtssprache sein. Das betrifft in erster Linie die Schulen der Minderheiten, die dann ab der fünften Klasse nur noch die eigene Geschichte oder Literatur in ihrer jeweiligen Sprache lehren dürfen. So will es ein neues Bildungsgesetz, das derzeit für heftige Diskussionen sorgt – nicht nur in den Nachbarländern, sondern auch im Inland.

Hauptargument der Bildungsreformer ist, dass viele Absolventen der Minderheitenschulen nicht ausreichend gut Ukrainisch könnten, um dann an einer ukrainischen Hochschule zu studieren.

Doch vor allem Russisch ist in der Ukraine stark präsent: Je nach Fragestellung geben in unterschiedlichen Umfragen 30 bis 40 Prozent der Ukrainer das Russische als ihre Muttersprache an. Die Frage, ob man Russisch oder Ukrainisch spricht, ist allerdings mehr und mehr ein Politikum – angesichts von Ideen wie Russki Mir und spätestens seit der Angliederung der Krim an Russland und dem Krieg in der Ostukraine.

Die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti titelte sogleich „Russisch wird aus den Schulen vertrieben“, doch auch in anderen Nachbarländern wie Ungarn regt sich heftiger Protest. Der ukrainische Minderheitenbeauftragte Wadim Rabinowitsch postete einen Kommentar auf Facebook, in dem er Präsident Poroschenko bittet, das Gesetz nicht zu unterschreiben, da es die Rechte der Minderheiten untergrabe.

Auf Republic begreift Oleg Kaschin das Gesetz als „Abschaffung russischsprachiger Schulen“. Theoretisch dürfen diese allerdings weiter bestehen, müssen aber ab der fünften Klasse hauptsächlich auf Ukrainisch unterrichten.

Kaschin kommentiert, dass die Ukraine mit dem neuen Gesetz nur nach der Logik ihres russischen Gegners handle – und mutmaßt gleichzeitig, ob alles nicht eventuell nur ein schlaues „Manöver“ für weitere Verhandlungen zwischen beiden Ländern sei.

Die angekündigte Abschaffung von russischsprachigen Schulen in der Ukraine – auf das entsprechende Gesetz hat Russland drei Jahre lang gewartet. Es hat darauf gewartet, damit es sagen kann: Seht her, diese Nazis, das ist ein Genozid, eine humanitäre Katastrophe, wir können nicht wegsehen, wir entsenden Truppen, und wenn wir keine entsenden, dann unterstützen wir jede Separatistenrepublik, die dort entsteht, oder helfen selbst, dass welche entstehen.

Russland hat drei Jahre lang auf dieses Gesetz gewartet – vergeblich. Man musste sich mit weniger bedeutenden Vorkommnissen zufriedengeben, darunter frei erfundenen (so die Geschichte vom „gekreuzigten“ Jungen). 

Russland hat auf die Nazis geschimpft, mit Katastrophen gedroht, Separatisten unterstützt und ihnen dazu verholfen, ihre Republiken auszurufen, hat, wenn auch heimlich, Truppen entsandt, Soldaten beerdigt – auch das heimlich. Wahrscheinlich ist es selbst darüber erschrocken, was es angerichtet hat. Und ist in diesen drei Jahren sehr viel zurückhaltender geworden. Hat das Wort Noworossija hervorgeholt und wieder vergessen, und als jemandem das Wort Malorossija wieder in den Sinn kam, wurde er offenbar dermaßen zusammengestaucht, dass er es gleich wieder vergaß. 

Das Motiv des ,Russki Mir‘ hat sich in der offiziellen Rhetorik erschöpft und ist versickert

Das Motiv des Russki Mir (dt. Russische Welt) hat sich in der offiziellen Rhetorik erschöpft und ist versickert. Über die Banderowzy berichtet nicht mal mehr die Komsomolskaja Prawda. Das Thema Russisch in der Schule ist mittlerweile in Russland selbst ein wunder Punkt – gerade erst wurde ein weiterer Sprachenstreit zwischen Moskau und Kasan durch einen Kompromiss beigelegt, und es war sicher nicht der letzte.

Vor drei Jahren wäre ein Verbot russischsprachiger Schulen in der Ukraine für Russland das Ereignis des Jahres gewesen, ein zweiter Brand von Odessa, und die Propaganda hätte es nicht besonders schwer gehabt, bei den Russen echte und aufrichtige Empörung auszulösen. Wahrscheinlich haben sich die Ukrainer deshalb drei Jahre lang zurückgehalten, damit Russland diese grundlegend verstörende Nachricht mit einer in dieser Situation maximal möglichen Gleichgültigkeit aufnimmt. 

In der Ukraine gibt es Landstriche mit einer ungarischen Mehrheit, aber künftig soll nur noch Ukrainisch als Unterrichtssprache erlaubt sein. Das ungarische Außenministerium reagierte mit einem empörten Statement, das rumänische Außenministerium zumindest mit einem Statement, Russland reagierte nicht einmal damit, denn was sollte in diesem Statement auch stehen?

Hätte die Ukraine russischsprachige Schulen vor drei Jahren verboten, wäre es für Russland das Ereignis des Jahres gewesen

Die Beziehungen werden leiden? Bereits geschehen. Wir werden Separatisten unterstützen? Schon passiert. Wir werden Truppen schicken? Sind längst da. Alle möglichen Worte sind bereits gesagt, manches Gesagte ist sogar schon wieder zurückgenommen. 

Russland hat das moralische Recht verspielt, die Ukraine für das verabschiedete Gesetz zu kritisieren, mehr noch – Russland scheint dieses Recht nicht einmal mehr für sich zu beanspruchen, dessen Notwendigkeit  teils schon vor drei Jahren erschöpft war, teils durch andere außenpolitische Bedürfnisse von Syrien bis Myanmar ersetzt worden ist. 

Die Ukraine wiederum hat das moralische Recht auf eine Entrussifizierung der Schulen bekommen und gefestigt – das Verbot russischsprachiger Schulen wird heute als Selbstverteidigungsmaßnahme wahrgenommen, denn die letzten drei Jahre haben gezeigt, dass die russische Sprache, wenn sie nicht eingedämmt wird, Volksrepubliken, burjatische Panzerfahrer und in persona den toten Motorola nach sich zieht. 

Russland hat das moralische Recht verspielt, die Ukraine für das verabschiedete Gesetz zu kritisieren

Der Zusammenhang von Sprache und Krieg erscheint derart unbestreitbar, dass sicher auch unter den russischsprachigen Bürgern der Ukraine viele sind, die es gut finden, wenn in den Schulen ihrer Kinder sämtliche Sätze des Pythagoras und Ohmschen Gesetze, jegliche Blütenstempelchen und -fädchen ins Ukrainische übersetzt werden, auch wenn sie es selbst gar nicht können. Sogar in der ATO war die Beteiligung russischsprachiger Ukrainer bekanntlich relativ hoch, und das Thema Schule wiegt, so wichtig es auch sein mag, immer noch weniger als der Krieg. 

Selbst wenn die Entrussifizierung der Schulen in Wirklichkeit lange vor dem Krieg geplant war – beweisen kann das heute niemand mehr: Das Gesetz wurde 2017 verabschiedet, der Krieg begann 2014.

Und hier ist das Paradoxe an der ukrainischen Schulreform: Deren Initiatoren gehen quasi davon aus, dass die Frage der russischen Sprache in der Ukraine eine Frage der russisch-ukrainischen Beziehungen ist. Das heißt: Nun ist es die ukrainische Seite, die die alten Kreml-Losungen von dem Russki Mir aufgreift, wonach Russland überall, wo russischsprachige Menschen leben, besondere Interessen hat. 

Vor drei Jahren hat Russland versucht, ein Monopol auf die russische Sprache für sich zu beanspruchen, und genau das war die größte Schwachstelle der ganzen Russki-Mir-Rhetorik. Kein Staat der Welt hat die Exklusivrechte an irgendeiner Sprache. Es fällt ja auch, sagen wir mal, Großbritannien nicht ein, die USA zu seinem Interessenbereich zu erklären, nur weil die Amerikaner Englisch sprechen. 

Kein Staat der Welt hat die Exklusivrechte an irgendeiner Sprache

Auf einmal ist es nun die Ukraine, die ein Monopol Russlands auf die russische Sprache postuliert. Versteht man die Entrussifizierung als ein Mittel der Verteidigung gegen Russland, dann bedeutet das, dass die Ukraine dem russischen Staat Exklusivrechte auf das Russische zuspricht und Russland als Vaterland all derer anerkennt, die auf Russisch sprechen und denken. Übersetzte man das in die Sprache der Losungen, lautete die getreue Übersetzung: „Russland den Russen“ – etwas, das Russland selbst nie laut aussprechen würde und das Artikel 282 des russischen StGB unter Strafe stellt. 

Millionen künftiger Opfer der Entrussifizierung drohen durch eine Lücke zu fallen: zwischen der ukrainischen Vorstellung von Russland als Nationalstaat und dem, was Russland tatsächlich ist. Sie werden sich entweder gezwungen sehen, nach Russland zu gehen, wo niemand auf sie gewartet hat, oder – und das ist wahrscheinlicher – sich damit abfinden müssen, dass die primäre Sprache ihrer Kinder und Enkel Ukrainisch sein wird.

Wieder einmal müssen Menschen, die auf Russisch sprechen und denken, feststellen, dass sie keine Heimat haben und dass die Bewahrung der eigenen Identität ihre Privatsache ist, mehr noch – ein Luxus, den sich nicht jeder leisten kann und den die Mehrheit nicht braucht. Prorussische Kommentatoren (allen voran ehemalige ukrainische „Regionale“ [Anhänger der Partei der Regionendek]) drohen mit gesellschaftlichen Ausbrüchen und Protesten, doch das klingt nicht sehr überzeugend – die Wahrscheinlichkeit russischsprachigen Protests ist in der Ukraine momentan ziemlich gering. Der Russki Mir ist und bleibt eine Propaganda-Mär, die nur bei politischer Notwendigkeit aus den staubigen Schränken hervorgeholt wird, so wie es vor drei Jahren geschehen ist. Aber die Russen jenseits der russischen Staatsgrenze werden mithilfe eines still und leise verabschiedeten Gesetzes zu unglücklichen Geiseln gemacht.

Nur ein gewaltiges Мanöver?

Womöglich ist aber gerade diese demonstrative Geiselhaft als Zeichen der Hoffnung zu sehen. Einer riesigen nationalen Minderheit (zwischen einem Drittel und der Hälfte der Bevölkerung des Landes) ein grundlegendes Menschenrecht zu entziehen, das ist ein allzu gewaltiges, allzu monströses Projekt – und allzu fragwürdig in Bezug auf seine Realisierbarkeit. Es wirkt mehr wie ein Instrument im Gefeilsche mit Russland, und Anlass für solche Händel hat die Ukraine immer genug. 

Mit diesem gewaltigen Manöver hat Kiew sich neuen Raum für Zugeständnisse geschaffen: Bei den nächsten Verhandlungen in Minsk könnte das Thema der russischen Schulen leicht gegen ein Entgegenkommen von russischer Seite eingetauscht werden. Und vielleicht werden wir dann schon morgen offizielle Stimmen aus Russland hören, die von einem weiteren Triumph des Russki Mir sprechen: Die Ukraine nimmt das Verbot russischsprachiger Schulen zurück, und dafür werden die Grenzen in den Donezker und Luhansker Gebieten wiederhergestellt – so oder so ähnlich.

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