In Trauer gespalten

Die Explosion in der Sankt Petersburger Metro im April 2017 löste unmittelbar heftige Diskussionen in Sozialen Netzwerken und Medien aus, es gab Verschwörungstheorien und Mutmaßungen, wer wohl die Drahtzieher sind: Der IS? Radikale Ukrainer? Das Regime selbst?

Staatschef Wladimir Putin hatte sich an dem Tag zu Gesprächen mit dem belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko selbst in Sankt Petersburg aufgehalten. Spätabends kam er an den Tatort, legte Blumen nieder, ein Gespräch mit der Presse gab es nicht.

Auf Carnegie.ru analysiert Andrey Pertsev die Reaktionen von Gesellschaft und Regierung. Unter anderem stellt er fest, dass das Attentat von Sankt Petersburg die russische Gesellschaft nicht eine. Vielmehr zeige es auf, wie gespalten sie ist. 

Foto ©  Alexander Korjakow/Kommersant

Die russischen Behörden begründen neue Verbote und Einschränkungen fast immer mit dem Kampf gegen den Terror. Das Jarowaja-Gesetz, Strafen für Reposts, die Rolle der Silowiki im Leben des Landes und sogar die Intervention in Syrien – all diese Maßnahmen wurden als für die Sicherheit Russlands notwendig präsentiert.

In Europa, wo Freiheit und Toleranz in den Vordergrund gerückt worden sind, finden Terroranschläge statt – wollt ihr das etwa? Also beschwert euch nicht! So ungefähr lautete der Dialog zwischen Kreml und Gesellschaft.

Tragische Ereignisse – Terroranschläge, katastrophale Unfälle, Naturkatastrophen – vereinen die Menschen, und Trauer schweißt stärker zusammen als Freude. Wir trauern um die Opfer.

Aber es ist kein Frevel, wenn wir über die Reaktionen von Gesellschaft und Regierung auf den Terroranschlag nachdenken. Eine Diskussion zu den Ursachen und Folgen stellt keineswegs eine Verhöhnung des Gedenkens an die Opfer dar, allein schon deshalb, weil sie zum Ziel hat, dass es weniger solcher Ereignisse gibt.

In Europa finden Terroranschläge statt – wollt ihr das etwa? Also beschwert euch nicht! So ungefähr lautete der Dialog zwischen Kreml und Gesellschaft

Der Kampf gegen den Terror in allen möglichen Spielarten war viele Jahre ein Eckpfeiler für die russische Regierung, stand am Urbeginn und bildete die Grundlage für einen neuen Gesellschaftsvertrag.

Wladimir Putin trat seinerzeit als Präsident an, der willensstark war und bereit, für Ordnung zu sorgen und gegen den bewaffneten Untergrund im Nordkaukasus vorzugehen.

Die Vernichtung von Terroristen wurde Anfang der 2000er Jahre zunächst fortgeführt, bevor – der offiziellen Mythologie zufolge – Stabilität einkehrte, weniger in der Wirtschaft als vielmehr im Bereich der Sicherheit.

Nachdem der Islamische Staat (eine in Russland verbotene Terrororganisation) damit begonnen hatte, in europäischen Staaten Terroranschläge zu organisieren, verstärkte sich dieses Gefühl einer relativen Sicherheit. Dies umso mehr, als offizielle Personen und Propaganda subtil unterstrichen: Wir haben Mitgefühl, dennoch tragen die europäischen Regierungen auch eine gewisse Teilschuld an den Anschlägen.

Der Antiterror-Konsens bestand lange vor dem Krim-Konsens, und er war stets fester und effektiver. Ihr wollt in Ruhe leben? Also nehmt bestimmte Dinge hin, und ihr werdet es nicht bereuen: Ihr werdet nicht in die Luft gesprengt und nicht erschossen.

Die Ansicht, dass es in Russland keinen Terrorismus gebe (mit Ausnahme des Nordkaukasus, wo die Lage immer eine besondere war), gerade wegen des harten Regimes, war bald allgemeine Überzeugung. Die scheinbare Sicherheit wog das meiste auf – zum Beispiel Probleme im sozialen Bereich oder die Korruption: Hier gibt es zwar noch Verbesserungsbedarf, dafür ist im Sicherheitsbereich alles in bester Ordnung.

Aber jetzt zeigt sich, was der Preis dafür ist: Jeder Terroranschlag, der nicht verhindert werden kann, ist für den Kreml ein äußerst heftiger Schlag gegen die Grundfesten dieses Gesellschaftsvertrags.

Die Fragen-Palette an die Staatsführung ist sehr breit, und überall schwingen Vorwürfe gegen den Kreml mit

Nach den Terroranschlägen in Sankt Petersburg ist die Fragen-Palette an die Staatsführung sehr breit, und überall schwingen auf die eine oder andere Weise Vorwürfe gegen den Kreml mit.

Da wären einmal Verschwörungstheorien: Der Terroranschlag kommt den Antikorruptions-Protesten in die Quere, also würden sie der Regierung nützen. Die Präsidentschaftswahlen stehen an, und da käme ein Schwerpunktthema gerade recht, zumal es für Wladimir Putin durchaus vertraut ist. In Wirklichkeit ist dieses Thema für den Kreml aber sehr ungünstig, eben weil es so vertraut und gewohnt ist.

Im Jahr 2000 war es durchaus der Auftakt für ein nationales Projekt. Jetzt aber würde eine Rückkehr zum Thema Terror unweigerlich offensichtliche Fragen aufwerfen: Warum ist nach 17 Jahren Priorität in Sachen Sicherheit alles hin? Es wäre kein Zukunftsprogramm, sondern eine Hinwendung zu Fehlern der Vergangenheit.

Umso mehr, als man uns erklärt hat, dass es Bombenexplosionen und Angriffe in den europäischen Ländern deshalb gäbe, weil die Regierungen dort schwach und unfähig seien. Und jetzt geschieht ein Terroranschlag in unserem Land – heißt das, unsere Regierung ist genauso … ?

Kein Land, keine Stadt, niemand ist vor Terroristen sicher. In Europa haben die Menschen ihre Regierungen nach den Anschlägen nur zurückhaltend in die Pflicht genommen: Es wurde nicht gut genug aufgepasst, das ist schlecht, aber die ganze Sache ist einfach sehr ernst.

In Russland gibt es in Bezug auf Terrorbekämpfung nur ein Ganz oder gar nicht – und es war die Regierung, die dies so absolut gesetzt hat. Wenn du nur lange und hartnäckig genug allen erklärst, dass du der Allerbeste bist, ständig auf Fehler der anderen zeigst und dann aber selbst eine Panne erlebst, dann wird die umso schärfer wahrgenommen.

Allem Anschein nach ist man sich im Kreml sehr wohl klar darüber, wie ernst das Problem ist, nur weiß man nicht so recht, wie man damit umgehen soll. Wladimir Putin besuchte den Ort des Anschlags, obwohl man eine solche Reaktion des Präsidenten nicht erwartet hatte und es ihm vom Föderalen Dienst für Bewachung FSO untersagt worden war.

Der Präsident hat spontan gehandelt, das wird durch die Videoaufnahmen klar, auf denen Angehörige des FSO den Bürgersteig von zufälligen Passanten räumen. So etwas hat Putin hat seit langem nicht unternommen.

Der Kreml weiß nicht so recht, wie er mit dem Problem umgehen soll

Ungeachtet der offensichtlichen Verwirrung von Kreml und Propaganda rechnet der aktive Teil der Gesellschaft mit neuen Repressionen seitens der Regierung, und mit einer Verschärfung des Internet- und Versammlungsrechts. Die unklare Reaktion des Kreml wird als Heimtücke interpretiert: Erst versteckt man sich, und dann geht man gegen die letzten bürgerlichen Freiheiten vor.

Im Endeffekt sind in den Medien zum wiederholten Mal die radikalen regierungsfreundlichen Aktivisten und Propagandisten tonangebend: Das Portal Life beeilt sich zu vermelden, dass Andrej Makarewitsch, seit langem ein Feind der Patrioten, seine Konzerte nicht absagen werde, und dass man sich in der Ukraine über den Anschlag freue. Experten sprechen von Spuren, die auf westliche Geheimdienste hinweisen würden. Alexander Prochanow hat im Ersten Kanal einen Zusammenhang zwischen den Anschlägen und den oppositionellen Demonstrationen hergestellt. Und Ramsan Kadyrow ruft dazu auf, sich um den Führer der Nation zu scharen.

Statt die Nation zu einen, gerät die Tragödie von Sankt Petersburg zum Anlass, wechselseitig Feinden und heimtückischen Verschwörungen nachzuspüren. Das macht einmal mehr die tiefe Spaltung der Gesellschaft sichtbar. Und mit dieser Spaltung geht das Regime in den Präsidentschaftswahlkampf.

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