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Kanonen auf Telegram

Seit über einer Woche liefern sich Telegram und Roskomnadsor einen Wettlauf, der an die Geschichte von Hase und Igel erinnert: Jedes mal, wenn die Beamten IP-Adressen von Telegram blocken, weicht der Messenger auf andere aus und entgeht damit der Blockade. Während Telegram-Chef Pawel Durow tausende neue Nutzer verzeichnen kann, versucht Roskomnadsor weiter mit allen Mitteln, Telegram zu blockieren: Mittlerweile sind in Russland fast 20 Millionen IP-Adressen gesperrt, ein großer Teil davon dürfte gar nichts mit dem Messenger zu tun haben.

In der Novaya Gazeta sieht Kirill Martynow einen „Bürgerkrieg“ heraufziehen und fragt, wie weit die „Flächenbombardierung des Internets“ noch gehen kann.

Der Konflikt zwischen der russischen Regierung und dem Messenger-Dienst Telegram hat qualitativ einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Spielregeln der ganzen Branche drohen verändert und die Zensur auf eine neue Ebene gehoben zu werden. Der Gesellschaftsvertrag, wie er über die letzten Jahre gewachsen ist, setzte stillschweigend voraus, dass die russischen Silowiki, Gesetzgeber und Funktionäre des Roskomnadsor so tun, als würden sie in Russland verbotene Informationen blockieren, und die Nutzer und Dienste tun ihrerseits so, als hätten sie keinen Zugriff darauf. Nach diesem Modus läuft es beispielsweise mit einem der weltweit größten sozialen Netzwerke LinkedIn, das zu Microsoft gehört und [in Russland] seit 2016 gesperrt ist.

Sergej Golubizki bemerkte kürzlich in einem Artikel für die Novaya Gazeta, dieser ganze „Krieg gegen das Internet“ trage ausschließlich rituellen Charakter. Die Geschichte um die Telegram-Sperrung verwandelt das Ritual nun offenbar in einen Bürgerkrieg.

Bürgerkrieg im Internet

Am 16., beziehungsweise 17. April hat Roskomnadsor mehr als 2,4 Millionen IP-Adressen gesperrt [Stand 24. April: fast 20 Millionen – dek], die zu großen Subnetzen von Google- und Amazon-Diensten gehören. Zum Vergleich: Vor Beginn der Telegram-Blockierung hatten auf der schwarzen Liste von Roskomnadsor 38.000 IP-Adressen gestanden.

Um an Telegram heranzukommen, musste die Behörde zum größten Angriff auf die Infrastruktur des Internets in der gesamten Geschichte der Zensur in Russland ausholen.

Roskomnadsor hatte offenbar vermutet, dass Pawel Durow für seinen  Messenger eine Standardvorgehensweise entwickelt hatte, um Sperrungen zu umgehen, und zwar unter Einbeziehung der Cloud-Dienste großer Internetkonzerne, speziell von Amazon. Und darauf hatten sich die Beamten vorbereitet. Die Flächenbombardierung des Internets durch Roskomnadsor sorgte für beunruhigende Gerüchte in der IT-Branche. Am Abend des 16. April tauchten die ersten Meldungen auf: von Störungen in Kassensystemen des Einzelhandels, Problemen bei der Sprachübertragung des Messengers Viber, Unregelmäßigkeiten bei Microsoft-Diensten, darunter Office-Anwendungen und Onlinefunktionen von Spielekonsolen.

So wurde, ohne Rücksicht auf Opfer und Verluste, die russische Gesetzgebung durchgesetzt.

Ohne Rücksicht auf Opfer und Verluste

Gegen Mittag des 17. April konnte der Großteil der russischen User die Telegram-App immer noch ohne VPN nutzen, wenn auch nicht störungsfrei. Der Versuch des Roskomnadsor, den Messenger auf Kosten der Abschaltung der Cloud-Dienste von Drittanbietern zu vernichten, war gescheitert. Wie Fachleute berichten, hatte Telegram eine Funktion namens DC_update aktiviert. Diese dient unter normalen Umständen dazu, die Server-Adresse, mit der sich der Nutzer verbindet, ständig zu aktualisieren und so die Geschwindigkeit und Stabilität der App zu erhöhen. Bei einer Sperrung erlaubt diese Funktion, in Echtzeit zig Millionen von IP-Adressen, die Google, Apple oder Microsoft gehören und auf welche Telegram zugreifen kann, nach verfügbaren Adressen zu durchsuchen und den Datenverkehr [der App – dek] darüber zu leiten. Die Telegram-Weboberfläche bleibt dabei aufgrund der technischen Besonderheiten der verwendeten Protokolle weiterhin blockiert.

Anders gesagt: Um Telegram zu sperren, müsste Roskomnadsor im ganzen Land sämtliche internationalen Dienste abschalten – darunter Finanz-, Office- und Unterhaltungsdienste, von Apple Pay bis Xbox Live. Die Zahl der blockierten IP-Adressen würde auf Dutzende von Millionen ansteigen, die Provider hätten entsprechende Ausfälle, und Russland wäre de facto abgeschnitten vom World Wide Web.

Roskomnadsor hat wohl den Kürzeren gezogen

Kurz, um Durow zu besiegen, müsste man sich von dem Segen der Zivilisation verabschieden. Es sieht ganz danach aus, als hätte Roskomnadsor in diesem rasanten Schlagabtausch den Kürzeren gezogen. Doch dieser Schluss ist nur zu ziehen, wenn man annimmt, dass in der Behörde im Großen und Ganzen vernunftgeleitete Menschen sitzen, und ihrem Chef Alexander Shаrow kein direkter Befehl der Geheimdienste vorliegt, Telegram mit allen Mitteln zu zerschlagen.

Klar ist im Moment nur, dass Roskomnadsor zum ersten Mal in seiner Geschichte auf solchen Gegendruck stößt; zum ersten Mal versucht er landesweit, einen so großen und technisch so anspruchsvollen Dienst zu deaktivieren, und damit ist er nun einen direkten Konflikt mit GAFA eingegangen (dieses Kürzel bezeichnet in Europa die vier weltweit führenden Internetriesen, mit einer Gesamtreichweite von mehreren Milliarden Menschen: Google, Apple, Facebook und Amazon).

Als das Ausmaß des Problems klar wurde, haben die russischen Zensoren, wie es aussieht, vorerst eine Pause eingelegt und begnügen sich mit kleinen Rachefeldzügen gegen User, die sich mittels Proxy und VPN vorsorglich gegen ein Telegram-Blackout gewappnet hatten: Sie blockieren Seiten mit entsprechenden Einstellungen – offenbar ohne jede gesetzliche Grundlage.

Geschenk für Telegram

Zwei weitere Handlungsstränge sind für das Verständnis des Ganzen wichtig.

Erstens: Die Ereignisse sind ein wahres Geschenk für Durow und sein Unternehmen. Die Zahl der Telegram-Nutzer stieg auf über 200 Millionen, 15 Millionen davon sind in Russland aktiv. Ein Wegfall des russischen Markts wird das Business-Modell des Messengers nicht in den Ruin treiben, welches sich, wie jetzt bekannt wurde, auf die Entwicklung eines globalen Bezahlsystems mit einer eigenen Kryptowährung konzentrieren wird.

Darüber hinaus genießt Durow bereits jetzt eine unbezahlbare Reputation: als Kämpfer für die Freiheit und die Privatsphäre im Internet und als wichtigster Gegenspieler der russischen Regierung. Angesichts der aktuellen internationalen Atmosphäre bedeutet das, dass die Anhängerschaft von Durows Projekt schneller wachsen wird als je zuvor. Den Zuwachs der Abonnenten im Zuge der Sperrungen erwähnten selbst die großen russischsprachigen Kanäle, obwohl man diese Information nicht allzu optimistisch sehen sollte – einen beträchtlichen Teil der unpolitischen Nutzer in Russland könnte das instabile und „verbotene“ Telegram durchaus verlieren.

„Patriotische“ Dienste und Bürger

Zweitens: Es ist äußerst unterhaltsam, die Aktivitäten diverser „patriotischer“ Dienste und Bürger zu verfolgen. Längst nicht alle sind dem Ratschlag vom Internet-Berater und vom Pressesprecher des Präsidenten, German Klimenko und Dimitri Peskow, gefolgt, zu einem Messenger aus den 1990ern zu wechseln: ICQ. Der aktuelle Betreiber der Plattform, die Mail.ru Group, brachte umgehend einen Telegram-Klon unter dem Namen TamTam heraus. Kurz vor der Sperrung des Messengers schalteten russische Wirtschaftsblätter wie Kommersant und Vedomosti eine breit angelegte Werbeaktion für den Dienst.

Jetzt werden auf TamTam aktiv Klone von populären Telegram-Kanälen erzeugt. So gibt es auf TamTam beispielsweise am 17. April schon ganze zwei Nesygars – mit 89, beziehungsweise 13 Followern.

Eine Order, zu TamTam zu wechseln, bekamen auch die Mitarbeiter einiger Staatsmedien, aber wie man munkelt, kommunizierte jedenfalls noch vor wenigen Tagen das gesamte Management über die bisher verschont gebliebene WhatsApp. Einige russische Bürger lassen sich seit dem Mittag des 16. April ganz loyal nicht mehr auf Telegram blicken und demonstrieren so ihre Treue und in den meisten Fällen nicht unentgeltliche Liebe zum Kreml.

Das Private ist politisch

Andererseits war zum Beispiel auf dem Telegram-Account von Wadim Ampelonski, dem Ex-Pressesprecher des Roskomnadsor, der aktuell wegen Hinterziehung unter Hausarrest steht, in der Nacht zum 17. April Aktivität zu verzeichnen. Und so bewahrheitet sich einmal mehr, was die zeitgenössische Philosophie postuliert: Das Private ist politisch.

Telegram steckt den Schlag ein und bereitet sich darauf vor, der Welt das libertäre Wunder vom Sieg über die russische Zensur zu offenbaren – um daran dann tüchtig zu verdienen. Die Frage ist, was der nächste Zug des Roskomnadsor sein wird. Schließlich vermeldeten die Beamten noch vor einigen Jahren ihre Bereitschaft, das Land vom weltweiten Internet abzutrennen. Zum Schutz der Souveränität, versteht sich.

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